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Verborgenes und Unglaubliches im Museum Museen sind Orte des Entdeckens und Staunens: Hier begegnen wir unserem kulturellen Erbe. Doch wie gesichert ist dieses Weltbild? Was wir über unsere Ahnen und versunkene Welten wissen, ist nur Stückwerk. Selbst weltberühmte Entdeckungen wie die Venus von Willendorf, die Gletschermumie „Ötzi“ oder die Pharaonenschätze Tutanchamuns sind immer noch voller Rätsel. Weitaus größer sind die Fragezeichen bei Gegenständen, die wegen ihrer bizarren Charakteristik, ungewöhnlichen Altersdatierung oder ihrer wundersamen Geschichte als „Kultobjekte“ gelten. Reinhard Habeck hat sich in Museen, Archiven und Privatsammlungen auf Spurensuche begeben. Was er dabei entdeckt hat, offenbart bisher Unbekanntes aus dem Dunkel unserer Vergangenheit. Der Würfel von Wolfsegg Verschollen geglaubtes Eisenrelikt aus dem Kellerarchiv: kurioser Meteorit, raffinierte Fälschung oder Artefakt einer versunkenen Zivilisation? Antike optische Vergrößerungslinsen Perfekt geschliffene „Lesesteine“ oder Überbleibsel prä-astronomischer Teleskope? Der Löwenmensch aus der Altsteinzeit Welcher Genius schuf vor 40.000 Jahren in der Schwäbischen Alb die erste Elfenbeinplastik eines Mischwesens? Der Rätsel künstlicher Kopfumformung Bizarres Schönheitsideal, elitäres Statussymbol oder unbekannte Menschenrasse? Wunderlampen der Frühzeit Mythologische Märchen oder vergessenes und wiederentdecktes High-Tech-Wissen? Skurriles aus Baden bei Wien Dr. Galls Schädelsammlung, ein Höfling aus Afrika und der Schneckenkönig.
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Seitenzahl: 234
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Mysteriöse Museumsschätze
Reinhard Habeck
Mysteriöse Museumsschätze
Rätselhafte Funde versunkener Welten
Gewidmet drei fantastischen Freunden und weltoffenen Forschern der „Next-Mystery-Generation“, die vieles bezweifeln, aber nichts für unmöglich halten:
Andreas „Desmond“ Kirchner
Mario Rank
Dietmar Rücker
STYRYABUCHVERLAGE
Wien – Graz – Klagenfurt
© 2017 by Styria Verlag in der
Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-990-40472-0
Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop
www.styriabooks.at
Coverfotos: Wikimedia Commons/Dagmar Hollmann (vorne);
Wikimedia Commmons/Elfenbeinschnitzerei Übermuseum Bremen (hinten);
Reinhard Habeck (Rücken)
Covergestaltung: Emanuel Mauthe
Buchgestaltung und Satz: Hannes Strobl, Satz·Grafik·Design, Neunkirchen
Lektorat: Elisabeth Wagner
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
Bemalter Gipsabguss des Kriegerkopfes aus dem Ostgiebel des Aphaia-Tempels
auf Ägina im Museum der Universität Tübingen
Cover
Titel
Impressum
Auftakt: „Schau’n Sie sich das an!“
GUT GEBRÜLLT, LÖWENMENSCH!
Kreative Geistesblitze
Die vergessene Entdeckung des Löwenmenschen
Lokaltermin im Museum Ulm
Geschlechterzwist und Mutanten
Verzierung, Schmuck oder Urzeit-Code?
Der Alpenschamane
Als Gott eine Frau war
DER WOLFSEGGER EISENKLOTZ
Am falschen Ort zur falschen Zeit
OOPArt aus Vöcklabruck
Der älteste Report
Falsche Fährten
Der Meteoritenirrtum
Lokalaugenschein im Heimathaus
DIE LETZTEN ALPENRÄTSEL
Das Archiv unserer Ahnen
Kuriose und mysteriöse Musterbeispiele
Corni Freschi und die experimentelle Archäologie
Doktor Priulis Denkwerkstatt
Das Heiligtum von Cemmo
Die Vorwelt war knallbunt
Neue Sensationsfunde im Val Camonica
WUNDERLAMPEN DER ANTIKE
Wiener Spurensuche
Das Totenbuch des Chonsu-Mes
Nes-schu-tefnut und die Schlangensteine
Licht für den Pharao
Alte Fragen, neue Erkenntnisse
Mythologische Zeugnisse
Carnuntum und das ewige Licht
KELTENKULT UND UNTERSBERG-MYTHOS
Artemis und die heiligen Schlafmützen
Wahrhaft sagenhaft!
Opfergaben für imaginäre Berggötter?
Salzige Mumien und glotzende Fratzen
Noch mehr keltische Raritäten
Ungeklärtes Vermächtnis
Die Lazarus-Handschriften
DER TEUFEL ALS „GHOSTWRITER“
Der Pakt mit dem Teufel
Inspiration aus älterer Quelle?
Die Seele des Codex Gigas
Rätselhafte Herkunft
Fratzengesicht und Bilderrätsel
Verstecktes Original
Der Teufel schläft nicht
DIE SKURRILE SCHÄDELSAMMLUNG DES DOKTOR GALL
Auf ins älteste Museum Niederösterreichs!
Exotische Souvenirs, der Badener Schneckenkönig und „Andreas Hitler“
Kopfjagd und Schädellehre
Wer ist wer?
Tragische Schicksale
Goethes wahres Gesicht
Phrenologische Sackgasse
DER FLUCH DES ZLATOROG
Die Sage vom weißen Gamsbock
Verhinderte Thronfolge
Der Sakrileg-Schuss vom Bluntautal
Auf der Pirsch im „Haus der Natur“
Ein rumänisches Fluchopfer?
Tödliche Vorahnungen
Das Attentat der Zufälle
Schlusswort mit Dank und einer Bitte
Quellen und Literatur
„Man findet oftmals mehr, als man zu finden glaubt.“ Pierre Corneille (1606–1684) französischer Dramatiker
Museen, Galerien und Bibliotheken sind verstaubte Anstalten! Wer braucht sie noch im digitalen Zeitalter? Bietet das Internet nicht längst viel umfassendere und bessere Einblicke zum Erbe unserer Urväter? Und ist es nicht sowieso viel bequemer, diese Schätze in aller Ruhe vor dem heimischen Bildschirm zu betrachten? Das können nur Stubenhocker behaupten, die noch nie ein Museum von innen gesehen haben. Google, Wikipedia und Co. helfen bei Nachforschungen, aber sie können nicht virtuell Plätze ersetzen, wo Dinge noch Dinge sind, die man real besichtigen kann. Museen sind durchaus lebendige Orte, wo wir hautnah erfahren, dass Gegenstände noch wirklich und authentisch sind, aufgeladen mit der geheimnisvollen Aura ihrer bewegten Geschichte.
Das ist der Grund, weshalb ich meine Bücher nicht nur vom Schreibtisch aus zu Papier bringe. Das wäre mir zu wenig. Wenn ich über einen mysteriösen Fund berichte, will ich ihn in natura gesehen haben. Das ist nicht in jedem Fall möglich, aber doch in den meisten. Wer in die museale Wunderwelt eintaucht, wird immer etwas entdecken, das zum Staunen zwingt. Manchmal erst auf den zweiten Blick, beim Bemühen, die Geschichte hinter der Geschichte zu erfahren.
Die Kunstschätze und Sammlungen haben einen Bildungsauftrag, in dem Erinnerungen und Wissen zum Werdegang unserer Zivilisation vermittelt werden. Doch wie gesichert ist dieses Weltbild? Kunsthistoriker und Archäologen haben viele Geheimnisse der Menschheitsgeschichte erforscht und gelüftet. Was wir über unsere Vorfahren und versunkene Welten beweisbar wissen, ist dennoch nur Stückwerk. Selbst weltberühmte Entdeckungen wie die altsteinzeitliche Venus von Willendorf, die Gletschermumie „Ötzi“ oder die Pharaonenschätze Tutanchamuns sind immer noch voller Rätsel. Weitaus größer sind die Fragezeichen bei bizarren Gegenständen, die wegen ihrer schwer deutbaren Charakteristik, ungewöhnlichen Altersdatierung oder wegen ihrer rätselhaften Historie sowie ungeklärter Fundumstände mit dem Etikett „Kultobjekt“, „Zierrat“ oder „Kuriosum“ versehen wurden. Was war ihr ursächlicher Zweck? Viele der rätselhaften Funde befinden sich heute in Privatbesitz oder liegen unbeachtet in dunklen Museumsdepots. Das interessierte Publikum erfährt darüber kaum Erhellendes, weiß oft gar nicht von deren Existenz. Bei der Recherche zum vorliegenden Buch bin ich wieder auf merkwürdige Relikte gestoßen, die teils in Archiven zu verstauben drohen oder sogar als verschollen gelten. Doch die meisten Exponate, die ich vorstelle, können problemlos besichtigt werden.
Bei jedem Buch das gleiche Dilemma: Als Autor frage ich mich, welche Themen ich am besten aus dem gewaltigen Fundus wählen soll? Will man möglichst viele Schaustücke und Entdeckungen präsentieren, können wichtige Daten nur „angerissen“ werden. Es besteht die Gefahr, dass man sich hinterher den Vorwurf einhandelt, die Beschreibung der Exponate sei zu oberflächlich ausgefallen oder die ganze Publikation würde eher einem Lexikon entsprechen. Die andere Variante sieht vor, dass es nur einige ausgesuchte Museumsschätze sind, diese dafür aber genauer vorgestellt und hinterfragt werden. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Ich präsentiere acht Themenbereiche mit subjektiv ausgewählten Exponaten, die eine mysteriöse oder zumindest wunderliche Geschichte zu erzählen haben. Von kleinen „Ausflügen“ abgesehen, habe ich mich dabei auf Merkwürdigkeiten aus dem Alpenraum beschränkt. Als Freund fantastischer und alternativer Thesen bringe ich wie immer meine Fragen und Überlegungen dazu ein. Man kann ihnen folgen, muss aber nicht, denn „Patentrezepte“ zum Verständnis des geheimnisvollen Wissens unserer Urahnen gibt es nicht.
Jede Leserin, jeder Leser ist herzlich dazu eingeladen, die Geheimnisse „meiner“ Museumsschätze zu überprüfen. Dazu bietet sich an, die erstaunlichen Funde an den vorgestellten Schauplätzen sowie in den Sammlungen und Museen selbst in Augenschein zu nehmen. Das Motto dazu liefert eine legendäre Redewendung des österreichischen Kabarettisten Karl Farkas (1893–1971). Bei den Ankündigungen seiner spaßigen Kleinkunstrevuen pflegte der Wiener stets zu sagen: „Schau’n Sie sich das an!“ Das ist auch mein Appell. Wenn es mir gelungen ist, auf den folgenden Seiten in Wort und Bild einige Anregungen für die nächste eigene Spurensuche zu liefern, hat das Buch seinen Zweck erfüllt.
Viel Vergnügen bei den literarischen und realen Entdeckungsreisen!
Eingang Hohlenstein-Stadel: Fundort des Löwenmenschen
„Das Leben der Ahnen können wir nur erahnen.“
Walter Ludin (geb. 1945)
Schweizer Theologe, Priester und Journalist
Bezeichnung: Der Löwenmensch von Hohlenstein-Stadel und die Eiszeitkunst
Besonderheit: Aufrecht stehende Elfenbeinplastik mit Löwenkopf und menschlichem Rumpf, geschnitzt aus einem Mammutstoßzahn. Der Löwenmensch gilt als eines der ältesten und bedeutendsten Kunstwerke der Menschheit. Was die Figur einzigartig macht, ist nicht nur das Alter und ihre Größe (mit 31cm überragt sie andere vergleichbare Kleinplastiken der Eiszeit deutlich), sondern die Verschmelzung zwischen Tier und Menschengestalt. Was war die Inspiration? Welcher religiösen Vorstellungswelt entsprang dieses Meisterwerk? Zeigt es ein Fabeltier? Einen maskierten Menschen? Ist es das Urbild eines Schamanen? Oder Abbild einer übernatürlichen Gottheit?
Geschichte: Entdeckt wird es 1939 in der Schwäbischen Alb. Erst 1969 wird die archäologische Bedeutung von Hunderten Elfenbeinbruchstücken erkannt. Zusammengesetzt ergeben sie die Statuette eines Mischwesens. 2008 bis 2013 kommen überraschend weitere Teile der Figur zum Vorschein. In der Folge wird der Löwenmensch in einem Restaurierungsprojekt vervollständigt. Mit der Gestalt aus dem Kalkmassiv Hohlenstein (mit den Höhlen Kleiner Scheuer, Stadel und Bärenhöhle) werden in weiteren Höhlen der Schwäbischen Alb (Bocksteinhöhle, Vogelherdhöhle, Hohle Fels, Geißenklösterle und Sirgensteinhöhle) noch zahlreiche andere einzigartige Eiszeitkunstwerke und Gebrauchsgegenstände ausgegraben. Eine Entdeckung der jüngsten Jahre ist die „Hohlefels-Venus“ aus Elfenbein.
Alter: Zeitabschnitt vor 43.000 bis 31.000 Jahren, genannt „Aurignacien-Kulturstufe“.
Aufbewahrung: Der Löwenmensch befindet sich im Ulmer-Museum in Baden-Württemberg, Deutschland. Weitere eiszeitliche Funde der Schwäbischen Alb finden sich im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren, im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart und im Museum der Universität Tübingen (MUT). Vergleichsfunde: Naturhistorisches Museum Wien.
Das Auftauchen des anatomisch modernen Menschen in Europa wird mit der ältesten archäologischen Kultur der jüngeren Altsteinzeit in Verbindung gebracht. Wissenschaftler nennen diese Epoche Aurignacien, benannt nach einem Dorf im französischen Département Haute Garonne, wo im 19. Jahrhundert in einer Höhle die ersten Funde gemacht wurden. In dieser Epoche vor bis zu 43.000 Jahren waren kreatives und abstraktes Denken bereits voll entwickelt. Inmitten der letzten Eiszeit entstanden damals einzigartige Kunstwerke: kunstvoll bemalte und gravierte Steine, farbenprächtige Höhlenmalereien, meisterhafte Reliefs, filigraner Schmuck, geschnitzte Musikinstrumente, formreiche Werkzeuge und erstaunliche körperliche Kleinplastiken. Die bis jetzt bekannten ältesten Belege stammen aus den Höhlen am Südrand der Schwäbischen Alb. Was dabei verblüfft, ist die Modernität der Relikte. Schon Pablo Picasso (1881–1973) erkannte beim Anblick eiszeitlicher Kunstwerke: „Uns ist seither nichts mehr Neues eingefallen!“
Dank vieler eindrucksvoller Funde sind die Anfänge der Kunst recht gut dokumentiert. Dagegen wissen wir über die genialen Künstler relativ wenig. Es gibt aus dieser Epoche der Altsteinzeit kaum Skelettreste. Nach jüngstem Forschungsstand könnten zwei Milchzähne aus der Grotta del Cavallo („Höhle des Pferdes“) im süditalienischen Apulien der älteste Nachweis für den modernen Menschen in Europa sein. Sie wurden in einer geologischen Schicht gefunden, die auf 45.000 bis 43.000 Jahre datiert wird. Zu diesem Ergebnis kam 2011 ein Wissenschaftsteam unter der Leitung des Departments für Anthropologie der Universität Wien. Die Zähne, die bereits 1964 gefunden wurden, sind mit modernsten Techniken der Zahnmessung sowie der „virtuellen Anthropologie“ neu datiert und bewertet worden. Als bislang älteste anerkannte Funde des europäischen Homo sapiens gelten Kieferstücke und Zähne aus der südfranzösischen Fundstelle La Quina im Département Charente.
Im Museum der Universität Tübingen aufbewahrt: Elfenbeinplastik eines Wildpferdes, hergestellt vor 40.000 Jahren in der Schwäbischen Alb
Seltener Fund aus Krems-Wachtberg, ausgestellt im Naturhistorischen MuseumWien: zwei Säuglingsbestattungen aus der Altsteinzeit
Ihr Alter wird mit 38.000 Jahren angegeben. Sie sind somit etwas jünger als die ältesten Eiszeitkunstwerke der Schwäbischen Alb. Wenn die kunstvoll gestalteten Hinterlassenschaften vom Homo sapiens stammen, wovon wir ausgehen dürfen, muss seine Einwanderung früher angesetzt werden, als das Fossilmaterial nahelegt. Wer mehr als Zähne sucht: In der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien lagern die am besten erhaltenen Überreste unseres direkten Vorfahren, der Gattung intelligenter „Jetztmensch“, in Europa. Die Knochen wurden im tschechischen Mladeč gefunden und sind 31.000 Jahre alt.
Ein anderer seltener Fund der Altsteinzeit kam 2005 auf dem Wachtberg in Krems an der Donau zum Vorschein. Er führt 32.000 Jahre zurück in die Vorzeit. Damals erlebte eine Siedlergruppe des Homo sapiens einen traurigen Tag: Zwei Säuglinge mussten zur Ruhe gebettet werden. Liebevoll legten sie die Toten in eine mit rotem Farbstoff aufgefüllte Mulde, gaben ihnen eine Kette mit Schmuckperlen mit ins Grab und bedeckten die zarten Körper mit einem Mammutschulterblatt. Es sind die ältesten Knochenfunde des modernen Menschen in Österreich.
Die Doppelbestattung zweier Kleinkinder ist eine absolute Rarität und gilt als archäologische Sensation. Bisher ist in Österreich erst einmal ein derart altes Grab gefunden worden: in Spitz an der Donau. 1896 wurde es allerdings von der Besitzerin des Grundstücks aus Aberglauben zerstört und in den Bach geworfen. Wie viele Kunst- und Kulturschätze der Menschheitsgeschichte wurden wohl durch Ignoranz und Fanatismus zerstört, weil ihre wahre Bedeutung nicht erkannt wurde? Welche Artefakte der Menschwerdung verschwanden in dunklen Kellerarchiven der Museen, sind von der Wissenschaft vergessen worden und warten auf ihre Wiederentdeckung? Ich behaupte: Es gibt unzählige Container, Wandschränke und Regale voll mit brisanten Artefakten.
Joachim Hahn legte den Grundstein zur Renovierung des Löwenmenschen.
Wenn wir nach dem ersten, kreativsten und erstaunlichsten Kunstgegenstand des Homo sapiens fragen, landen wir beim „Löwenmensch“ vom Hohenstein-Stadel im Lonetal. Die Elfenbeinstatuette ist dem traurigen Schicksal des Vergessens und Verstaubens – Zufall und Fortuna sei Dank – gerade noch entrissen worden. Ihre Entdeckung, Wiederentdeckung, Restaurierung und erneute Restaurierung muten genauso abenteuerlich an wie die rätselhafte Figur selbst.
Rückblende: Wir schreiben den 25. August 1939. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs steht unmittelbar bevor. In der Stadel-Höhle der Schwäbischen Alb legt der örtliche Archäologe Otto Völzing (1910–2001) seit 1935 eiszeitliche Schichten frei. Er hat wie viele andere Helfer seinen Einberufungsbefehl erhalten. Die weiteren Ausgrabungsarbeiten müssen abgebrochen werden. Einer der Funde des letzten Tages sind rund 200 undefinierbare Bruchstücke. Der verantwortliche Leiter Robert Wetzel (1898–1962), Urgeschichtsforscher mit einem zweifelhaften Ruf nationalsozialistischer Gesinnung, erkennt zwar, dass es Splitter einer Elfenbeinplastik sind, doch damit endet das Wissen um die gerade entdeckte Figur auch schon. Die Grabungsfunde landen im Keller des Ulmer Museums.
Der Löwenmensch vor der Restaurierung 2013
Dort bleiben sie dreißig Jahre lang unbeachtet liegen, bis zum 8. Dezember 1969. Der Prähistoriker Joachim Hahn (1942–1997) arbeitet damals bereits seit Wochen im Museumsdepot. Seine Aufgabe: Sichtung und Bestimmung der Funde aus der Stadel-Höhle. Zwischen hunderten Kartons stößt er auf eine Schachtel mit der Aufschrift „HS 25.8.3920.m 6.Hieb“. Als er sie öffnet, erblickt er den „Schotter“ vom letzten Grabungstag anno 1939. Mit zwei Studenten beginnt er, die Elfenbein-Puzzleteile mühsam zusammenzusetzen. Nach wenigen Tagen offenbart sich vor den staunenden Augen der Wissenschaftler eine fantastische, aufrecht stehende Skulptur, die bald in der Presse als „Ulmer Tiermensch“ bekannt wird. Hahn selbst nennt das Mischwesen scherzhaft „Mugwump“. Der Name ist eine Anlehnung an eine Romanfigur des US-Schriftstellers William S. Burroughs (1914–1997).
Mitte der 1970er-Jahre gibt eine anonyme Glücksfee einen kleinen Behälter mit ein paar Fundstücken im Museum ab. Die Unbekannte erklärt, dass ihr Sohn die „Dinge“ beim unerlaubten Spielen in der Stadel-Höhle gefunden habe. Da das Datum der Übergabe und der Name der Überbringerin fehlen und außerdem der Zugang in den hinteren Raum der Stadel-Höhle mit einem Gitter versperrt ist, wird die Angelegenheit nicht weiterverfolgt. Erst in den 1980er-Jahren sieht sich die Basler Paläontologin Elisabeth Schmid (1912–1994) den Fund genauer an und erkennt, dass er wichtige Teile des „Ulmer Tiermenschen“ enthält. Es gelingt ihr gemeinsam mit Restauratoren, den Kopf der Figur weiter zu vervollständigen. Es wird deutlich: Das Haupt gehört einer Raubkatze. Der „Mugwump“ entpuppt sich als „Löwenmensch“. Bei dieser Bezeichnung ist es geblieben. Da trotzdem immer noch Teile des Oberkörpers fehlen und fast alle Menschendarstellungen aus dieser frühen Zeit weiblich sind, glaubt Schmid, es handle sich um eine Löwenfrau.
Als 2008 erneut Grabungen beginnen, stößt das Team um den Archäologen Claus-Joachim Kind völlig überraschend auf etwa 300 weitere winzige Splitter der Figur. Im Rahmen eines aufwendigen Restaurierungsprojekts kommt der anmutige Löwenmensch zu seiner vorläufigen Vollendung. Dabei helfen Methoden der Röntgen-Computertomografie, mit der das Meisterwerk virtuell in alle Einzelteile zerlegt und danach wieder zusammengesetzt wird. Danach folgt die Wiederherstellung am Original. Seit 2013 glänzt der Löwenmensch frisch geliftet hinter Panzerglas im Museum Ulm.
Das Ulmer Museum
Der Autor vor der Vitrine des Löwenmenschen
Am südlichsten Rand der Schwäbischen Alb liegt die Universitätsstadt Ulm. Sie ist berühmt für ihre bezaubernde Altstadt direkt an der Donau, dem mittelalterlichen Fischer- und Gerberviertel und das Münster, das mit 161 Metern den höchsten Kirchturm der Welt besitzt. Ein bekannter Zungenbrecher lautet: „In Ulm, um Ulm und um Ulm herum.“ Ich bin dem Ruf oft und gerne gefolgt. Zuletzt 2014, als der Historiker und Autor Willi Grömling (1944–2015) und seine Frau Ingrid für einen kleinen kunstbegeisterten Freundeskreis eine Sonderführung durchs Ulmer Museum arrangierten.
Es war der „goldrichtige“ Zeitpunkt, um dem jüngst renovierten Wunderwesen Reverenz zu erweisen. Das Museum dokumentierte gerade die spektakuläre Schau „Die Rückkehr des Löwenmenschen“ mit den neuesten Erkenntnissen zu den Uranfängen der Kunst und ihrer genialen Schöpfer. Dazu erschien ein Begleitbuch, das die spannende Auffindungsgeschichte, das aufwendige Restaurierungsprojekt und den faszinierenden Mythos rund um das altsteinzeitliche Prachtexemplar erklärt. Kurt Wehrberger hat den packenden Archäologiekrimi gemeinsam mit Fachkollegen verfasst. Der Kurator ist einer der profundesten Kenner der Eiszeitkunst in der Schwäbischen Alb. Bei seinem liebsten Studienobjekt kommt der Urzeitforscher ins Schwärmen: „In der fantastischen Gestalt des Löwenmenschen ist uns ein einzigartiges Relikt erhalten, das in eine Sphäre geistig-religiöser Vorstellungen der Menschen der letzten Eiszeit verweist. Die Figur gibt uns einen faszinierenden Einblick in das komplexe Weltbild unserer frühesten Vorfahren, das die tägliche Auseinandersetzung mit der Natur eindrucksvoll widerspiegelt. Seit der Auffindung im Jahre 1939 bleibt seine Geschichte und die Intention seiner Herstellung spannend.“
Hüter des Löwenmenschen: Kurt Wehrberger, stellvertretender Direktor des Ulmer Museums
Mit dem Löwenmenschen sind noch etwa 50 weitere fantastische filigrane Kunstwerke in vier Höhlen der Schwäbischen Alb entdeckt worden. Die Fundorte klingen kauzig: Hohlenstein-Stadel und Vogelherd (beide im Lonetal) sowie Geißenklösterle und Hohle Fels (beide im Achtal). Die ältesten handtellergroßen Plastiken sind 40.000 Jahre alt, die jüngsten 30.000 Jahre. Gleiches gilt für acht Flöten aus Geier- und Schwanenflügelknochen sowie Mammutelfenbein. Sie haben unterschiedliche Tonlagen und gehören zu den ältesten Musikinstrumenten der Welt. Das hohe Alter der Kunstwerke bereitet manchem klassischen Prähistoriker noch Kopfzerbrechen. Doch das Fazit aus den Radiokohlenstoffdatierungen und stratigrafischen Befunden ist eindeutig: Die Wiege der Kunst lag nicht anonym im „Irgendwo“, sondern direkt vor unserer Haustüre, mitten in Süddeutschland!
Menschlicher Körper mit Löwenkopf: Wandrelief der ägyptischen Göttin Sachmet
Bei meinem Besuch habe ich Glück und genieße eine besondere Ehre: Kurt Wehrberger, der auch stellvertretender Museumsdirektor ist, lässt es sich nicht nehmen, persönlich durch die archäologische Sammlung mit ur- und frühgeschichtlichen Exponaten aus über 80.000 Jahren Menschheitsgeschichte zu führen. Highlight ist und bleibt der „Löwenmensch“ aus der Aurignacien-Kultur, dem das Museum im 1. Stock einen eigenen, imposant gestalteten Themenbereich gewidmet hat. Jeder Gast, der vor der Vitrine des Löwenmenschen verweilt, ist fasziniert und erstaunt über die ästhetische Ausdruckskraft des aufrecht stehenden Wesens mit leicht gespreizten Beinen und herabhängenden Armen. Es hat zweifelsfrei den Körperbau eines Menschen. Der Kopf dagegen ist der eines Löwen. Die Schnauze deutet ein Lächeln an und der Blick ist in die Ferne gerichtet. Im Angesicht dieser Tier-Mensch-Figur werde ich an die Gestalt anderer Mischwesen erinnert, die mir aus der altägyptischen Mythologie bekannt sind: die mächtige Schutzgöttin Sachmet und die sanftmütige Katzengöttin Bastet. Beide werden meist stehend in Menschengestalt mit Tierkopf dargestellt. Auch im alten Babylon und später in der griechischen und römischen Historie wird von Hybriden – halb Mensch, halb Löwe – berichtet. Der Löwenmensch aus der Stadel-Höhle entstand jedoch locker 35.000 Jahre früher. Ein gewaltiger Zeitsprung, der nur unter Zuhilfenahme einer Zeitmaschine zu überbrücken wäre, dennoch springt dem Betrachter die optische Parallele der Wunderwesen ins Auge.
Er glaubte an eine „Übersinnliche Welterkenntnis“ und begründetedie Anthroposophie: Rudolf Steiner
Im Zuge der Neurenovierung und Ergänzung von Bruchstücken hat sich das Erscheinungsbild des Löwenmenschen verändert. Ging man wie erwähnt anfangs noch davon aus, dass die Statuette eine Löwenfrau verkörpert, sehen das Archäologen nunmehr anders: „Es ist ein Mann!“ Für die gelungene Umwandlung zum maskulinen Geschlecht wird ein dreieckiges Plättchen als Beweis angeführt, das im Schambereich in zugespitzter Form zum Boden weist. Es wird als „stilisiertes männliches Geschlechtsteil“ interpretiert. Doch mich plagen Zweifel. Könnte ein „Dreieck“ im Intimbereich nicht ebenso gut das genaue Gegenteil von Männlichkeit bedeuten? Oder sollte damit vielleicht ein Schurz angedeutet werden? Oder das Löwenfell? Könnte es als Schnitzwerk zwischen den Beinen stilisiert herunterhängen und den Eindruck eines männlichen Gemächts vermitteln? Hinzu kommt, dass immer noch viele Stellen an der Statuette fehlen. Das gilt besonders für Flächenbereiche des Ober- und Unterkörpers. Anderseits, wenn weiblich, muss man zugestehen, dass der Körper nicht den bekannten üppigen Frauenfiguren der Altsteinzeit entspricht. Also doch ein echter Kerl? Oder womöglich ein Mischwesen, nicht nur im Sinne von Tier-Mensch, sondern auch Weibchen-Männchen?
Die tollkühnste These postulierte der umstrittene österreichische Esoteriker und Philosoph Rudolf Steiner (1861–1925). Vom eiszeitlichen Kunstwerk in Gestalt eines Löwenmenschen konnte er nichts gewusst haben. Die Eiszeitplastik war zu seiner Zeit noch nicht entdeckt. In der von Steiner begründeten Anthroposophie werden spirituelle Weltanschauungen, christliche Mystik, religiöse Gnosis, fernöstliche Lehren und naturwissenschaftliche Erkenntnisse miteinander verbunden. Eine besondere Rolle spielt hierbei die „Akasha-Chronik“. Nach theosophischer Ideologie ist es das geistige Weltgedächtnis mit den feinstofflichen Aufzeichnungen aller Ereignisse aus fernster Vergangenheit. Spirituell begabte „Geistesforscher“ sollen imstande sein, dieses „gespeicherte“ weltumspannende Wissen abzurufen. 1913 beschrieb Steiner diese Fähigkeit als einen „nach rückwärts gerichteten hellseherischen Blick“. Daraus leitet sich die absonderliche theosophische Überzeugung ab, dass die Erde in Urzeiten von androgynen Wesen bevölkert war, die jeweils das weibliche und männliche Geschlecht in sich vereinten. Dazu zählten auch die Löwenmenschen. Mit dem Sündenfall, so wird behauptet, sei es dann zur Geschlechtertrennung gekommen. Aus den weiblichen Löwenmenschen, mit einer Art entgegengesetztem männlichen Astralkörper oder Ätherleib, sei das Frauengeschlecht hervorgegangen. Aus Stiermenschen im Stil von Minotaurus entsprang die Männerwelt.
Berühmte Sagengestaltder Antike: die Chimäre von Arezzo,eine Kreatur aus Löwe, Ziege und Schlange. Etruskische Bronzeskulpturim Archäologischen Museum von Florenz. Mischwesensind im Zeitalter genmanipulierter und künstlich geschaffenerLebewesen keine Utopie mehr. War die Zukunft bereits gestern?
Ein Erdball mit Mutanten? Groteske Mischwesen – halb Mensch, halb Tier – sind populäre Motive aus der Antike, der lebendigen Mythologie bei Naturvölkern, der Geisterwelt des Schamanismus, der bunten Fabelwelt, der fantasievollen Kunstgeschichte und dem Fantasy- und Science-Fiction-Genre der Gegenwart. Auch in der Realität ferner Zukunft? Wissen wir, sollte der Homo sapiens kein Auslaufmodell sein, wohin uns die Evolution und biomedizinischer Forschergeist noch führen werden?
Eine Meldung, die man für eine Fake News halten könnte, sorgte im Jänner 2017 für internationales Aufsehen: Forscher des „Salk Institute for Biological Studies“ in Kalifornien erschufen ein Mischwesen zwischen Mensch und Schwein. Die Ergebnisse wurden im medizinischen Fachblatt „Cell“ dokumentiert. Demnach war es den Wissenschaftlern gelungen, einen Schweineembryo mit menschlichen Zellen über vier Wochen am Leben zu erhalten. Sie wollten mit den Gentests herausfinden, ob in Tieren mit Menschenzellen menschliche Organe heranwachsen können. Bereits in den 1980er-Jahren gab es umstrittene Versuche, bei denen menschliche Gene in Mäuse eingepflanzt wurden. Biotechniker hoffen, auf diese Weise einmal Ersatzorgane für kranke Menschen „züchten“ zu können. Kritiker befürchten hingegen, dass ein Mischwesen allzu menschlich werden könnte und die Experimente außer Kontrolle geraten.
Technisch ist es heute möglich, selbst Teile des menschlichen Gehirns in Tiere zu übertragen. Die Ethik verbietet solche Experimente. Aber wird sich auch ein skrupelloser „Dr.Frankenstein“ im militärischen Geheimlabor ewig daran halten? Die Geschichte lehrt, dass der geistreiche Homo sapiens früher oder später versuchen wird, alles Denkbare in der Praxis auszuprobieren, ungeachtet jeder moralischer Bedenken. Dazu gehört auch die Erschaffung neuer Lebensformen, die es in der Natur nicht gibt. Nur ein fiktiver Brüller, oder könnte eine mythologische Chimäre wie der Löwenmensch eines Tages sogar zur leibhaftigen Wirklichkeit werden?
Einige Details am Löwenmenschen überraschen: Das linke Ohr weist ein Dutzend quer verlaufende Ritzungen auf. Deutlicher noch sichtbar beim linken Oberarm: Er ist mit sieben parallelen Kerben versehen, die reliefartig wirken. Eine symbolhafte Tätowierung? Möglich wäre es. Wir finden allerdings ähnliche Bearbeitungs- und Ritzspuren auf nahezu allen plastischen Kunstwerken der Eiszeit. Es ist nicht anzunehmen, dass Mammuts oder Wollnashörner mit Tattoos oder Brandzeichen im Ache- und Lonetal herumliefen. Manchmal sind es ganze Strichbündel, ergänzt um V- und X-Zeichen, sowie Reihen kleiner, runder Vertiefungen. Wenn sie auf Knochen verewigt sind, werden die Linien zuweilen als Schnitte erklärt, die durch Feuersteinklingen beim Abziehen des Tierfells entstanden sind. Die meisten Werkzeugspuren sind jedoch gezielt gesetzte Markierungen.
Viele Archäologen deuten sie lediglich als Ornamente, die der Verschönerung des Kunstwerks gedient haben sollen. Nicht wirklich überzeugend. Was spricht gegen die Annahme, dass die Regelmäßigkeit der Zeichen bestimmte Ereignisse, kalendarische Daten und andere fixierte Informationen symbolisieren? Entwickelte sich in der Schwäbischen Alb der Vorläufer der Schrift? Verbergen die vielfältigen Kerben, Linien, Kreuze, Symbole und Punkte einen altsteinzeitlichen Kommunikations-Code, von dem wir Superintelligenzler des 21. Jahrhunderts keine Ahnung mehr haben?
Die Frage stellt sich ebenso bei bemalten Knochenfragmenten und Geröllsteinen mit Linien und geometrischen Mustern. Sie wurden in mehreren Höhlen der Schwäbischen Alb gefunden. Einige wenige Stücke werden ins Zeitalter des Löwenmenschen datiert, der überwiegende Teil stammt aus der letzten Epoche der Altsteinzeit, die vor etwa 12.000 Jahren mit dem Ende der Kaltperiode ausklang. Besonders zahlreich wurden derartige „Bildsteine“ in der französischen Höhle Mas d’Azil im Département Ariège gefunden. Auf rund 1400 flachen, ovalen Kieselsteinen, etwa 10 Zentimeter groß, befinden sich aufgemalte Zeichen, die teilweise an Buchstaben des späteren phönizischen, griechischen und lateinischen Alphabets erinnern. Sie sollen bis zu 14.000 Jahre alt sein. Ähnliche „Symbolsteine“ wurden in einer Grotte bei Rochedane in Ostfrankreich entdeckt und in der Höhle von Birseck bei Basel, die allerdings Spuren gewaltsamer Zerstörung aufweisen.
Weshalb weisen die meisten plastischen Eiszeitkunstwerke geometrische Ritzspuren auf?
In vielen Höhlen der Eiszeit, auch in der Schwäbischen Alb, wurden bemalte Kieselsteine gefunden. Ihre Bedeutung ist unklar.
Filigrane Kleinode aus Mammutelfenbein. Was war ihr Zweck?
Joachim Hahn, jener emsige Urzeitdetektiv, der den „Löwenmenschen“ im Ulmer Museumsdepot wiederentdeckte und erstmals rekonstruierte, deutet die Bemalungen unverblümt als „symbolische Zeichen, ähnlich einer Gedächtnisstütze, die gewisse Botschaften übermittelte“. Bereits 1973 brachte der Paläontologe das Dilemma bei der Beurteilung dieser bemalten Muster auf den Punkt. In seinem Standardwerk „Eiszeithöhlen im Lonetal“ bedauert er: „Da uns aber der Schlüssel, der Code zu diesem möglichen Vorläufer der Schrift fehlt, können wir weder die Botschaft dieser abstrakten noch der figürlichen Zeichen lesen.“
Steckt vielleicht auch hinter den jüngsten Entdeckungen der Schwäbischen Alb kein Kult, sondern verlorenes Wissen? Gemeint sind einzigartige „Schmuckstücke“ aus Mammutelfenbein, die die Anfänge der Eiszeitkunst noch einmal weiter zurück in dunkle Vergangenheit rücken. Sie wurden in großer Zahl in mehreren Höhlen der „Löwenmensch-Region“ entdeckt und sind 42.000 Jahre alt! Für die Eiszeitforschung sind sie so bedeutend, dass sie als „Fund des Jahres 2017“ im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren einen Ehrenplatz erhalten haben. „Es ist der bislang älteste Nachweis für die komplexe Herstellung von Elfenbeinperlen weltweit“, erklärt dazu der Archäologe und Museumsleiter Professor Dr.Nicholas J. Conard.
Der Prähistoriker Nicholas J. Conard machte in den Höhlen der Schwäbischen Alb spektakuläre Entdeckungen, die den Ursprung der Eiszeitkunst weiter zurück in die Vergangenheit datieren.
Die geschnitzten Kleinode, meist nicht größer als ein Zentimeter, weisen eine Machart auf, die bisher nur aus der Schwäbischen Alb des Aurignacien-Zeitalters bekannt ist. Sie zeigen eine verblüffende Formenvielfalt und sind fast alle doppelt und dreifach gelocht. Prähistoriker vermuten, dass es Knöpfe, Abzeichen oder Wappen der damals im Ache- und Lonetal lebenden Menschen waren. Über den langen Zeitraum von 6000 Jahren ist dieser spezielle „Modestil“ nachweisbar. Dienten die Wertsachen nur als Zierrat? Oder könnten sie ebenso gut bereits fixierte Sprachinformationen enthalten haben?
Welche Bedeutung ist dem Löwenmenschen beizumessen? War er ein sakrales Kultobjekt? Das Abbild einer Gottheit oder ein angehimmeltes Fabelwesen? Ein heiliger Gegenstand? Gab es eine reale Person, die für das Mischwesen einst Pate stand? Ein Stammesoberhaupt oder ein Schamane in seiner Kluft, verkleidet mit Tierhäuten? Welcher kreative Impuls förderte vor mehr als 40.000 Jahren den genialen Schaffensdrang? Drängende Fragen, die vorerst unbeantwortet bleiben. Vielleicht für immer. Eines aber ist gewiss: Der Löwenmensch muss innerhalb seiner Gruppe eine besondere Verehrung genossen haben. Wie sonst ist es zu erklären, dass der unbekannte Künstler für die Herstellung seines Glanzstücks enorm viel Mühe, Zeit und Know-how investierte?
Die Lage der Figur im Mammut-Stoßzahn
Im Zuge der Restaurierungsarbeiten wurde festgestellt, dass der Löwenmensch aus einem rechten Stoßzahn eines ausgewachsenen Mammuts geschnitzt, geschabt, geraspelt und geschliffen wurde. Der Eiszeit-Michelangelo wählte dafür den härtesten Zahnbereich aus. Mehr noch: Die Krümmung des Stoßzahnes wurde bei der Fabrikation mitberücksichtigt und bei der aufrechten Haltung ausgeglichen. Der Könner hat nicht einfach auf gut Glück zu schnitzen begonnen. Er muss sein Werk vorher geplant und genau durchdacht haben. Zufall oder nicht: Der Nervenkanal des Zahns verläuft vom Schritt exakt durch die Mitte der Figur und tritt am Kopf wieder aus. Nach altindischen Sanskrit- und Yogalehren verlaufen im Körper genau dort die Energiezentren der sieben Hauptchakren.
Die Fundstelle des Löwenmenschen liefert weitere Indizien für seine überragende Stellung. Man entdeckte die Statuette in einer Nische im hinteren Bereich der Stadel-Höhle. Archäologen nennen sie seither „Kammer des Löwenmenschen“. In diesem Areal fanden sich besonders viele Schmuckgegenstände, darunter durchbohrte Fuchszähne und Elfenbeinanhänger. Sind es „Grabbeigaben“ für eine zeremonielle Bestattung des Kunstwerks? War die ganze Höhle ein Kultzentrum für totemistische Rituale? Ein geheimer Ort der Unterwelt, in den sich nur Eingeweihte vorwagten, um mit Verstorbenen, Tiergeistern und höheren Wesen in Kontakt zu treten?
Darstellungen anthropomorpher Mischwesen, die tierische und menschliche Merkmale in sich vereinen, deuten Prähistoriker als frühe Ausdrucksform für Jagdzauber und Schamanismus. Vereinzelte bildliche Wiedergaben finden sich vor allem in französischen Höhlen. Dazu zählt eine 75cm große Malerei an der Höhlendecke von Les Trois Frères (Département Ariège). Das Mischwesen wird der „Zauberer“ oder der „gehörnte Gott“ genannt. Ein anderes Beispiel ist eine 37cm hohe Gravur in Le Gabillou (Département Dordogne), die einen tanzenden „Bisonmenschen“ zeigt. Allerdings sind diese Höhlengemälde erst Jahrtausende nach der Löwenmensch-Statuette entstanden.