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«Der Mystik-Markt ist voll von Angeboten», sagt Adolf Holl, «... der geschäftliche Niedergang der alt-renommierten Gnadenfirmen (der Kirchen!) hat eine Menge unseriöser Unternehmen begünstigt ... die mischen östliche und westliche Geheimlehren zum garantiert wirksamen Seelen-Tee ... feiern schwarze Messen ... veranstalten Meditationskurse ...» Die Sehnsucht nach dem Sinn des Lebens, nach ewigen Werten und letzten Wahrheiten greift jede Neuerung begierig auf, die eine Flucht aus dem genormten Alltagsleben verheißt, das keinen Raum mehr zu lassen scheint für Träume, Wünsche, Wunder. Das ist ein Irrtum, meint Adolf Holl, Mystik läßt sich überall finden – im Alltag, beim Nachbarn um die Ecke, man muß sie nur als solche wieder erkennen lernen. Voraussetzung ist, daß wir Kopf und Herz leerräumen vom Fasziniertsein durch Pompöses und Bedeutendes, von der Ehrfurcht vor reinem Fachwissen, von der Fügsamkeit vor Autoritäten, von der Idealisierung der Vergangenheit. Wir müssen wieder lernen, Mißtrauen gegenüber «letzten Wahrheiten» wachzuhalten, Veränderungen zu befürworten und «kleine Weigerungen» zu wagen. Adolf Holl hält sich nicht an die herkömmlichen Regeln für das Abfassen von Sachbüchern. Seine vierzehn Lektionen für den Anfänger, der im alltäglichen Leben wieder Geheimnisse entdecken und nicht auf die große Erleuchtung warten will, sind eine amüsante und geistreiche Mischung aus autobiographischen Notizen, historischen Informationen und theoretischen Überlegungen. Sie regen an, die eigene Erlebnisfähigkeit im Täglichen wieder neu zu entdecken und zu fördern.
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Seitenzahl: 257
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Adolf Holl
Mystik für Anfänger
14 Lektionen über das Geheimnis des Alltäglichen
Ihr Verlagsname
«Der Mystik-Markt ist voll von Angeboten», sagt Adolf Holl, «... der geschäftliche Niedergang der alt-renommierten Gnadenfirmen (der Kirchen!) hat eine Menge unseriöser Unternehmen begünstigt ... die mischen östliche und westliche Geheimlehren zum garantiert wirksamen Seelen-Tee ... feiern schwarze Messen ... veranstalten Meditationskurse ...» Die Sehnsucht nach dem Sinn des Lebens, nach ewigen Werten und letzten Wahrheiten greift jede Neuerung begierig auf, die eine Flucht aus dem genormten Alltagsleben verheißt, das keinen Raum mehr zu lassen scheint für Träume, Wünsche, Wunder.
Das ist ein Irrtum, meint Adolf Holl, Mystik läßt sich überall finden – im Alltag, beim Nachbarn um die Ecke, man muß sie nur als solche wieder erkennen lernen.
Voraussetzung ist, daß wir Kopf und Herz leerräumen vom Fasziniertsein durch Pompöses und Bedeutendes, von der Ehrfurcht vor reinem Fachwissen, von der Fügsamkeit vor Autoritäten, von der Idealisierung der Vergangenheit. Wir müssen wieder lernen, Mißtrauen gegenüber «letzten Wahrheiten» wachzuhalten, Veränderungen zu befürworten und «kleine Weigerungen» zu wagen.
Adolf Holl hält sich nicht an die herkömmlichen Regeln für das Abfassen von Sachbüchern. Seine vierzehn Lektionen für den Anfänger, der im alltäglichen Leben wieder Geheimnisse entdecken und nicht auf die große Erleuchtung warten will, sind eine amüsante und geistreiche Mischung aus autobiographischen Notizen, historischen Informationen und theoretischen Überlegungen. Sie regen an, die eigene Erlebnisfähigkeit im Täglichen wieder neu zu entdecken und zu fördern.
Adolf Holl, geboren 1930 in Wien, Doktorate der Theologie und Philosophie, Universitätsdozent für Religionswissenschaft. Von 1953 bis 1972 Kaplan und Religionslehrer. 1973 kirchliches Lehrverbot, 1976 als Priester suspendiert. Lebt als freier Schriftsteller in Wien.
Warum hat meine Mutter keinen Haupttreffer gemacht?
Sie hat 40 oder 50 Jahre in der Österreichischen Klassenlotterie mitgespielt, mit einem Achtellos. Ein paarmal gewann sie den Einsatz zurück, und einmal, im Jahr 1935, einen Betrag in der Höhe eines Monatsgehaltes. Damit kaufte sie für mich eine komplette Garderobe, in vornehmen Stadtgeschäften. Ich war damals fünf Jahre alt. Meine Mutter arbeitete von 8–16 Uhr in einem Büro, und von 17–23 Uhr in einer Zeitungsredaktion. Sie war Sekretärin und Pressestenografin. Im Jahr 1938, zu Weihnachten, ging ich mit meiner Mutter in das Kaufhaus Gerngross auf der Wiener Mariahilferstraße. Ich wünschte mir eine Spielzeugeisenbahn, Marke Märklin, Spurweite 00. Ich bekam sie nicht, denn meine Mutter hatte zu wenig Geld.
Nicht einmal ein paar Schienen und diese Lokomotive da?
Nein, das können wir uns nicht leisten.
Warum habe ich damals keine Spielzeugeisenbahn bekommen?
Zweifellos war es für meine Mutter schmerzlich, meinen Wunsch nicht erfüllen zu können. Später, als ich schon selber Geld verdiente, sprach meine Mutter immer noch vom Haupttreffer. Sie wollte mir damit eine Freude machen. Über die Verwendung des Geldes im einzelnen sprach sie nie. Ihr genügte es, auf den Haupttreffer zu hoffen. Sie würde dann das Geld holen und mir geben.
Mehr wollte sie nicht.
Als meine Mutter schon älter war und ihre Doppelbeschäftigung aufgegeben hatte, ging sie nach dem Büro ganz gern in die Kapuzinerkirche in der Inneren Stadt. Sie wohnte dort der Messe bei und betete unter anderem auch zum heiligen Judas Thaddäus. Dieser Heilige hat in Wien einen sehr guten Ruf als Helfer in allen möglichen Anliegen. Wenn einer der Wünsche meiner Mutter in Erfüllung ging, bekam der heilige Judas Thaddäus eine Kerze.
In bezug auf den Haupttreffer versagte der heilige Judas Thaddäus. Meine Mutter war ihm deshalb nicht böse.
Auch der heilige Antonius (von Padua) stand bei meiner Mutter in hohem Ansehen. Der heilige Antonius ist besonders für Verlorenes zuständig.
Einmal, als meine Mutter einen Wellensittich in Pflege hatte, flog der Vogel aus dem Fenster. Meine Mutter betete zum heiligen Antonius, und eine halbe Stunde später sah sie vom Balkon eine Passantin, die den Sittich auf der Straße einfing.
Der heilige Antonius bekam eine Kerze.
Aber auch der heilige Antonius vermochte meiner Mutter keinen Haupttreffer zu vermitteln.
Zu Gottvater oder zur Heiligen Dreifaltigkeit insgesamt hat meine Mutter nie um einen Haupttreffer gebetet. Auch nicht zum Gekreuzigten im besonderen. Meine Mutter hatte eine Scheu, die höchsten Instanzen mit ihrer Bitte um einen Haupttreffer zu behelligen.
Zur Muttergottes hingegen betete meine Mutter auch um den Haupttreffer. Leider ohne Erfolg.
Als ich erwachsen war und Theologie studiert hatte, pflegte ich meine Mutter gelegentlich wegen ihrer Beziehungen zum heiligen Antonius und zum heiligen Judas Thaddäus zu hänseln.
Das war ein schwerer Fehler.
In den ersten Jahren nach Kriegsende, als die Lebensmittelversorgung sehr dürftig war, unternahm meine Mutter von Zeit zu Zeit Expeditionen in die ländliche Umgebung von Wien. Sie tauschte Wäsche und Schmuck bei den Bauern gegen Nahrungsmittel. Bei diesen Unternehmungen führte sie auch ein Paket Wahrsagekarten mit sich. Solche Karten sind in Fachgeschäften erhältlich, und eine kurze Gebrauchsanweisung wird mitgeliefert. Meine Mutter kaufte also Wahrsagekarten, und eine Bekannte sagte ihr die Grundregeln.
Meine Mutter war beim Kartenaufschlagen ganz geschickt, und die Bauern gaben ihr dafür ein paar Eier.
Obwohl ich zu dieser Zeit noch nicht Theologie studierte, übte ich Kritik an der wahrsagerischen Tätigkeit meiner Mutter. Ich sagte: Das ist ein Aberglauben!
Als die Zeiten besser wurden, habe ich die Wahrsagekarten vernichtet.
Auch das war ein schwerer Fehler.
Die Anhänglichkeit meiner Mutter an die Österreichische Klassenlotterie wurde gelegentlich von Zweifeln erschüttert. Meine Mutter sagte dann zu mir:
Glaubst du, soll ich weiterspielen?
Nein, sagte ich dann. Du siehst ja, daß du in den vielen Jahren noch immer nichts gewonnen hast.
Wiederum ein schwerer Fehler.
Meine Mutter hat trotzdem weitergespielt. Sie sagte:
Was nicht ist kann noch werden!
Dieser Satz drückt die gesamte Philosophie von Ernst Bloch aus.
Meine Mutter hat von Bloch nichts gelesen. Sie las Romane von Adlersfeld-Ballestrem, Galsworthy, Eschstruth, Ganghofer, Cronin.
Meine Mutter war in eine Leihbibliothek eingeschrieben.
Sie las gerne im Bett und schlief meistens beim Lesen ein.
Im Portemonnaie meiner Mutter befand sich ein Foto von mejner Promotion zum Doktor der Philosophie. Auf dem Bild war der Augenblick der Überreichung der Promotionsurkunde festgehalten. Mein Doktorvater, im akademischen Ornat, lächelte freundlich. Ich trug einen dunklen Anzug mit Priesterkragen und lächelte auch. Das war 1961. Meine Mutter befand sich damals bereits im Ruhestand. Sie war 44 Jahre und 10 Monate berufstätig gewesen, seit ihrem 17. Lebensjahr. Meine Geburt ereignete sich im 33. Lebensjahr meiner Mutter. Bald danach dürfte sie ihr erstes Los bei der Österreichischen Klassenlotterie gekauft haben. Mein Vater sah sich außerstande, meine Mutter finanziell zu unterstützen. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er ist schon lange tot.
Der Ruhestand meiner Mutter währte 15 Jahre und 4 Monate. Während dieser Zeit äußerte sie manchmal den Wunsch, mir ein größeres Geldgeschenk machen zu können. Vielleicht dachte sie immer noch an jene Spielzeuglokomotive, die sie mir nicht hatte kaufen können.
Die Österreichische Klassenlotterie besteht seit dem Jahre 1913. Sie untersteht dem staatlichen Glücksspielmonopol. Gespielt wird in sechs Hauptklassen und fünf Zwischenklassen. Jede Klasse bedeutet eine Ziehung (Auslosung), und die Spieldauer einer Lotterie beträgt etwa ein halbes Jahr. Die Zahl der Mitspieler beläuft sich derzeit auf rund 150000 Personen.
Jede dieser Personen wünscht sich einen Haupttreffer.
In jeder Lotterie gibt es nur einen Haupttreffer. Er wird auch «großes Los» genannt. Das große Los wird in der letzten Ziehung gezogen. Der zum Haupttreffer führende Vorgang wird «Zufall» genannt. Zufällig hat meine Mutter nie einen Haupttreffer gemacht. Eine (wissenschaftliche) Erklärung dafür gibt es nicht. Meine Mutter hat nach einer solchen Erklärung auch nie gesucht. Sie war über den ausbleibenden Haupttreffer nicht besonders unglücklich. Gelegentlich gestand sie mir, daß sie mit Gott gehadert hätte.
Ihre Versuche, den Zufall zu beeinflussen, waren religiöser Art, wie bereits erwähnt. Sie betete zum heiligen Judas Thaddäus und zum heiligen Antonius, allenfalls auch zur Muttergottes. Ihre Wünsche, die sie in ihren Gebeten vorbrachte, waren keineswegs dunkel. Sie wußte, was sie sich wünschte. Unter ihren Wünschen war auch jener nach einem Haupttreffer.
Er ging zeit ihres Lebens nicht in Erfüllung, was sie aber nicht hinderte, weiterzuspielen.
Diese Haltung ist gar nicht so selten unter den Menschen anzutreffen. Anderenfalls gäbe es keine Lotterien und keine Religionen.
Meine Mutter war nie politisch aktiv.
Ihre Stimme gab sie den Christlichsozialen, und erst im Jahr 1970 probierte sie es mit den Sozialdemokraten. Im Jahr 1938 stimmte sie gegen Hitler, und als sie von ihren damaligen Vorgesetzten aufgefordert wurde, der Partei beizutreten, weigerte sie sich. Man legte ihr dann nahe, aus der katholischen Kirche auszutreten, was sie aber auch nicht tun mochte. Da sie in ihrem Beruf tüchtig war, durfte sie dennoch ihren Posten behalten.
Ihr Achtellos wurde während dieser Zeit von der Deutschen Klassenlotterie ausgegeben.
Die erste mir erinnerliche politische Unterweisung von meiner Mutter erhielt ich im Alter von zehn oder elf Jahren. Ich war damals pflichtgemäß bei der Hitler-Jugend und erklärte meiner Mutter, daß jetzt das Tausendjährige Reich begonnen hätte.
Meine Mutter sagte: Nur Gott ist ewig.
Als ich meiner Mutter meinen Wunsch gestand, katholischer Priester zu werden, zeigte sie sich nicht sonderlich erfreut. Der einzige Rat, den sie mir gab, bestand in der Ermahnung, mir die Sache gut zu überlegen. Sie erkannte die Unwiderruflichkeit dieser Wahl. Später, als ich meine Wahl getroffen hatte, begann sie häufiger als vorher in die Kirche zu gehen.
Als ich anfing, gegenüber den kirchlichen Verhältnissen eine kritische Haltung einzunehmen, erteilte mir meine Mutter einen weiteren Rat. Sie sagte: Wenn du den Mund aufmachen willst, mußt du finanziell unabhängig sein.
Diesen Rat habe ich nicht befolgt, und der Wunsch meiner Mutter nach einem Haupttreffer erhielt dadurch eine neue Aktualität.
Die geduldige Spannkraft hinter dem Wunsch meiner Mutter nach einem Haupttreffer beginnt sich mir erst jetzt, nach ihrem Tod, langsam zu erschließen. Auch an die Wahrsagekarten denke ich mit Wärme, und der Schein der Kerzen, die meine Mutter dem heiligen Judas Thaddäus und dem heiligen Antonius gespendet hat, vermittelt mir den Eindruck von stiller Unverwüstlichkeit.
Das ist meine Mystik, und nicht nur meine. Sie ist öfter vorhanden, als man denkt, und ihr möchte ich meine Worte leihen. In den zahlreich erschienenen Büchern über Mystik kommt sie so gut wie gar nicht vor. Diese Bücher beschäftigen sich mit virtuosen Mystikern und Mystikerinnen, in sozusagen sensationeller Weise, mit lauter Außeralltäglichkeit drumherum.
Meine Mystik ist alltäglich, und mein Wissen soll dazu dienen, sie zu entdecken.
Die Leser meines Buches werde ich «Anfänger» nennen, weil ich mit ihnen eine Art Kurs veranstalten möchte. Die 14 Lektionen dieses Kurses haben folgendes Lehrziel:
Die geläufige Beherrschung der Alltagsmystik in Wort und Schrift.
Auf die Verwendung großspuriger Etiketten für mein Buch («Bewußtseinserweiterung», «Kreativitätstraining», «Ichstärkung» usw.) möchte ich verzichten.
Warum?
Das steht in der ersten Lektion.
Ich sage absichtlich «verlernen».
In diesem Buch bin ich nämlich unter anderem bemüht, die Köpfe der Anfänger von überflüssigen und hinderlichen Bildungsinhalten zu befreien. Ein Lehrer, der leer macht.
Ein Leerer.
In der klassischen Mystik des europäischen Mittelalters wird dieser Prozeß «Reinigung» genannt.
Leser meiner früher erschienenen Bücher werden mir bestätigen, daß ich vorm Entrümpeln keine Angst habe. Deshalb habe ich auch öfter hören und lesen müssen, ich ließe in meinen Schriften das Positive vermissen – sozusagen die neuen Möbel, die in die leergeräumte Wohnung gestellt werden.
Eine typische Anfängerreaktion. Sie entspringt der Angst vor dem Leerwerden.
Nur keine Angst! Ich räume keineswegs das ganze Dachstübchen aus.
Bezüglich der Faszination vom Bedeutenden usw. muß ich jedoch unerbittlich sein. Deshalb habe ich mein Buch auch mit Erinnerungen an meine Mutter angefangen. Meine Mutter war unbedeutend.
Alles, was in den Geschichtsbüchern fett gedruckt ist: uninteressant für die Mystik. Alexander der Große, Konstantin der Große, Friedrich der Große – weg mit ihnen. In meiner Mystik ist nicht einmal Gott groß.
Der bewundernde Blick in die Höhe, zu den Geistesriesen, Kapazitäten, Pyramiden, Domspitzen, Wolkenkratzern usw. muß «umgebrochen» werden. Dieser Ausdruck stammt von Ernst Bloch, und ich darf die entsprechende Stelle (aus dem «Prinzip Hoffnung») zitieren: «Zu einem Kind, das im Stalle geboren, wird gebetet. Näher, niedriger, heimlicher kann kein Blick in die Höhe umgebrochen werden.»
Die Bewegungsrichtung für die zu erzeugende Achtsamkeit ist damit folgendermaßen bestimmt:
Nähe (und nicht: Ferne)
Niedrigkeit (und nicht: Größe)
Heimlichkeit (und nicht: Unheimlichkeit).
Das ist die Bewegungsrichtung der Bibel, jedenfalls in ihren für mich wichtigen Partien.
Ein Zug nach unten, zum Unscheinbaren, Geringfügigen.
Ein kleines Land zwischen den hochkulturellen Machtblöcken Ägyptens und Mesopotamiens, kaum erwähnt in deren Chroniken: Israel.
Und dann der «wahre Israelit», Jesus aus Nazareth, dessen kurzer Lebenslauf in den damaligen Zentren des kulturellen und politischen Lebens ganz einfach nicht zur Kenntnis genommen wurde. Ein unbedeutender Schwärmer unter kleinen Leuten, am Rand des Imperiums.
Achtung, jetzt kommt ein Gedankensprung.
Ich springe aus dem Jahr 30 nach Christi Geburt in das Jahr 1939 nach Christi Geburt. (Solche Sprünge sind von mir kalkuliert, sie gehören zur Unterrichtstechnik, und ich werde sie nicht immer eigens ankündigen.)
Im Jahr 1939, während der Ferien, wohnte ich bei meiner Tante Rosa in Salzburg. Die Wohnung befand sich in der Wolf-Dietrich-Straße und bestand aus Zimmer, Küche und Kabinett. Ganz in der Nähe dieser Wohnung, in der Linzergasse, war das Geschäft der Tante Rosa. Es handelte sich dabei um eine sogenannte Lotto-Kollektur. Ein kleines Gassenlokal, in welchem man die Einsätze für das «Kleine Lotto» – die staatliche Nummern-Lotterie – tätigen konnte. Im kleinen Lotto sind Einsätze und Gewinne verhältnismäßig geringfügig. Die Ziehung erfolgt wöchentlich. Welche Nummern man setzt, hängt unter anderem von den Träumen ab. Bestimmte Trauminhalte sind aufgrund einer uralten Überlieferung mit gewissen Zahlen verbunden, und die Tante Rosa wußte selbstverständlich in diesen Dingen Bescheid. Es gab ferner einen Behälter mit kleinen Holzplättchen, auf welchen die Zahlen von 1–90 standen. Wer sich über die zu setzenden Nummern nicht klarwerden konnte, zog aus dem Behälter die nötigen Zahlen.
Meine Tante Rosa war außerdem Adventistin, was im katholischen Salzburg nicht eben häufig vorkommt.
Den Morgenkaffee bereitete die Tante Rosa auf einem Spirituskocher. Heute werden solche Kocher im Haushalt kaum mehr verwendet; auf Campingplätzen kann man sie jedoch noch antreffen.
Ich erinnere mich an eine Morgenstunde in der Wohnung der Tante Rosa. Die Sonne schien und warf schräge Schatten in die Wolf-Dietrich-Straße. Ich stand am offenen Fenster, und der Geruch der frischen Luft vermischte sich in meiner Nase mit dem des Spirituskochers und dem Aroma des Kaffees.
In diesem Augenblick fühlte ich mich glücklich, und das ist der Grund, warum ich mich an ihn erinnere. Ich war neun Jahre alt.
Heute würde ich sagen: Ich hatte damals mein erstes mystisches Erlebnis.
Darf ich bitten, den theologischen Stellenwert dieser kleinen Erinnerung zu beachten?
Größe und Dauer, die immer noch wichtigsten theologischen Kategorien, kommen in dieser Erinnerung nicht vor. Bestimmend sind vielmehr: Kleinigkeit und Flüchtigkeit.
In ihnen blüht für mich die lebendige Blume. Die geheimnisvolle Rose: rosa mystica.
Ferner ist anzumerken, daß der besondere Duft jener Morgenstunde selbstverständlich für mich allein da war. Weder weiß ich, warum jener Augenblick für mich zu einem glückhaften wurde, noch kann ich dieses Glücksgefühl anderen Menschen vermitteln. Nicht einmal für mich ist es wiederholbar.
Ich kann lediglich davon erzählen, und andere Menschen werden beim Lesen vielleicht angeregt, sich ihrer eigenen (vergessenen) mystischen Augenblicke zu erinnern.
Diese Vorgangsweise gehört ebenfalls zu meiner Unterrichtsmethode. Die meisten mir bekannten Mystikbücher gehen von der folgenden Voraussetzung aus: Die Leser verstehen von Mystik überhaupt nichts, und anhand von Berichten über bedeutende Mystiker und Mystikerinnen werden sie über das Wesen der Mystik unterrichtet.
Das ist falsch.
Ich glaube, daß jedermann seine kleinen mystischen Erfahrungen mit sich herumträgt – allerdings sind diese meist verschüttet und vergessen.
Meine Aufgabe besteht darin, solche Vergeßlichkeiten aufzubrechen.
Zu diesem Zweck muß ich als Kulturkämpfer auftreten.
Das ist eine ziemlich komische Rolle, und ich darf sie erklären.
Vom zartesten Kindesalter an gibt es in unserem Leben die belehrenden Zeigefinger. Sie weisen auf allerlei Bedeutendes, Großartiges, Gewaltiges. Sie wollen in uns Respekt, Ehrfurcht, Bewunderung erzeugen, in jedem einzelnen Fachgebiet, von der Religion bis zur Mathematik.
Nach acht oder zwölf Schuljahren ist dann die Kategorie der Bedeutsamkeit fest verankert:
Ein Millionär ist bedeutender als ein Altersrentner. Ein Fußballstar wichtiger als ein Postbote. Eine Schlagersängerin faszinierender als eine Friseuse.
Und so weiter.
Das ist schlecht für die Mystik, deren Blumen im verborgenen blühen.
Komisch ist meine Rolle deshalb, weil ich mit meiner Mystik auf völlig verlorenem Posten stehe. Wissenschaft, Kunst, Religion, Massenmedien, Politik, Wirtschaft – alle diese höheren Wesen werden von Bedeutsamkeit getragen. Und ich schlage vor, ausgerechnet dem Unbedeutenden und Unscheinbaren die Aufmerksamkeit zuzuwenden!
Eine komische Rolle, wie gesagt.
Meine einzige Chance, ein Publikum zu finden, liegt in den gelegentlichen Anwandlungen von Langeweile bei eben diesem Publikum. Es gibt Menschen, die trotz ihrem mit Bedeutsamkeiten angefüllten Kopf die Frage stellen: Was ist der Sinn des Lebens?
Das ist der Augenblick für meinen Auftritt.
Ich zaubere dann das längst Vergessene hervor, das von Geschichtsprofessoren und Theologen mehr oder weniger absichtlich Vergessene, Beiseitegeschobene, Unterdrückte, Ketzerische, Seltsame, Wunderliche.
Zum Beispiel meine Tante Rosa, die Adventistin mit ihrer Lottokollektur.
Das bedeutet: Eintretendenfalls das gerade Gegenteil von dem tun, was die Umgebung für richtig hält.
Ich bin mir durchaus bewußt, was für einen gefährlichen Ratschlag ich hiermit erteile. Verbrecher und Narren können sich auf ihn ebenso berufen wie Heilige und Genies.
Aber die Mystik ist nun einmal eine gefährliche Angelegenheit, und jeder, der sich mit ihr einläßt, muß eindringlich gewarnt werden. Er (oder sie) begibt sich in eine sehr fragwürdige Gesellschaft, wenn er (oder sie) sich für Mystik interessiert. Schon hinter der nächsten Ecke steht beispielsweise Charles Manson, ein äußerst wilder kalifornischer Mystiker. Es ist noch gar nicht so lange her, daß Manson und seine Familie die Polizei beschäftigt haben, und der Staatsanwalt mußte sich eingehend mit dem letzten Buch der Bibel befassen, mit der Apokalypse, zum Zwecke der Aufhellung des Seelenlebens von Manson.
Charles Manson sitzt derzeit im Gefängnis.
Hinter einer anderen Ecke lauert Timothy Leary, vormals Drogenpapst. Auch diese mystische Karriere ist nicht gerade glanzvoll verlaufen. Es gab Höhepunkte, gewiß; eine Zeitlang hatte Leary einen hohen Nachrichtenwert, bewegte sich in den abenteuerlichsten Kreisen, hatte viel Geld und viele Schulden, wurde von der Geheimpolizei verfolgt. Nach seiner letzten Verhaftung aber ist es still geworden um Leary, und die Drogenszene ist um eine Hoffnung ärmer.
Trotzdem: Charles Manson und Timothy Leary waren beide rücksichtslos, jeder auf seine Weise.
Also Vorsicht!
Die Mystik kann sehr gefährlich sein.
Auch meine Tante Rosa war rücksichtslos, auf ihre Weise. Ihr Entschluß, zu den Adventisten zu gehen, im katholischen Salzburg, ist weitaus weniger spektakulär als die Unternehmungen des Charles Manson oder der Ulrike Meinhof.
Immerhin: Meine Tante Rosa hatte ihre Lottokollektur. Als kleine Geschäftsfrau hatte sie darauf zu achten, ein angepaßtes und unauffälliges Benehmen an den Tag zu legen. Außenseiterei ist schlecht für den Geschäftsgang. Eine Adventistin in Salzburg wirkt wie eine Giraffe in Grönland: falsch am Platz. Nicht, daß die Salzburger besonders fromme Katholiken wären. Aber das Katholischsein gehört in Salzburg zu den Selbstverständlichkeiten, und die Heftigkeit der adventistischen Hoffnung auf den Jüngsten Tag erweckt beim katholischen Salzburger einen absonderlichen Eindruck. Meine Tante Rosa hat daher ihr adventistisches Privatleben nie an die große Glocke gehängt, sie war diesbezüglich vorsichtig.
Aber sie wurde Adventistin. Eine sogenannte Sektiererin.
Die landläufige und etablierte Religion setzt sich gegen abweichlerische Gruppen zunächst einmal mit Hilfe abschätziger Vokabeln zur Wehr. Das Wort «Sekte» ist solch eine abschätzige Bezeichnung. Gleichzeitig gilt, daß die Mystik – solange sie geblüht hat – immer unter den Randgruppen geblüht hat, im alten römischen Imperium, im deutschen Mittelalter, im heutigen Kalifornien.
Meine Tante Rosa kam zwar nie ins Gefängnis wegen ihrer adventistischen Überzeugungen. Aber mit dem Stigma der Absonderlichkeit hatte sie durchaus zu leben, zur Strafe für ihre bescheidene Rücksichtslosigkeit.
Ein Bravo für meine Tante Rosa.
Die Anfänger werden hiermit gebeten, in ihrem Leben die eine oder andere kleine Weigerung ausfindig zu machen.
Ich sage absichtlich «kleine» Weigerung, und nicht «große» Weigerung wie Herbert Marcuse das tun würde. Herbert Marcuse ist ein berühmter Philosoph und hat den Ausdruck von der großen Weigerung geprägt.
Viele kleine Weigerungen sind meiner Ansicht nach besser als wenige große Weigerungen.
Ich bin schon zufrieden, wenn jemand einmal die Schule geschwänzt hat.
Irgendeine kleine Weigerung ist eine unerläßliche Aufnahmebedingung für die Mystik.
Meine verstorbene Tante Rosa Dojacek aus Salzburg und der inhaftierte Charles Manson aus Kalifornien haben – bei allen sonstigen Unterschieden – ein gemeinsames Merkmal: Beide glaubten sie – wenn auch in verschiedener Weise – an einen nahe bevorstehenden katastrophalen Zusammenbruch des gegenwärtigen Weltsystems inklusive anschließender Neuordnung der Dinge.
Was Charles Manson jetzt glaubt, weiß ich nicht.
Zur Zeit der Ermordung von Sharon Tate (1969) glaubte er der fünfte Engel aus dem 9. Kapitel der Apokalypse zu sein. Zu einer solchen Behauptung würde sich meine Tante Rosa nie verstiegen haben. Aber auch für sie war die Apokalypse das wichtigste Buch der Bibel, und der baldige Weltuntergang stand für sie fest, so wie für alle Adventisten.
Im übrigen stand der baldige Weltuntergang auch für Jesus Christus fest. Seine Sprüche zu diesem Thema sind zahlreich. Die Tante Rosa kannte sie alle auswendig.
Wenn ich das in meinem Besitz befindliche Foto meiner Tante Rosa betrachte, dann werde ich an einen Vogel erinnert. Auf dem Foto steht sie ganz allein vor einer Mauer des Mirabell-Gartens in Salzburg, im Sonnenlicht. Sie ist klein von Gestalt, und ihren Kopf hält sie ein wenig zur Seite, wie ein lauschendes Huhn. Ihr Kleid ist aus einem einfachen geblümten Stoff und reicht bis fast zu den Knöcheln. In ihrer linken Hand hält sie eine Handtasche, und auf dem Kopf trägt sie einen Hut. Sie wirkt etwas verlegen, wie Menschen, die selten fotografiert werden. Ihren rechten Arm läßt sie locker herabhängen, und er verrät mir das Selbstbewußtsein der Tante Rosa. So steht sie da, trotz Verlegenheit und blendender Sonne: durchaus fest auf ihren beiden Beinen.
Das Foto habe ich selbst gemacht, mit einer Box-Tengor.
Ich habe es lieber als alle mir bekannten Heiligenbilder.
Wodurch unterscheidet sich meine Tante Rosa von Charles Manson?
Charles Manson ist ein gutes und noch dazu modernes Beispiel für einen extrem realitätsfernen Mystiker der apokalyptischen Tradition.
Manson ein Mystiker?
Hat nicht Manson den Auftrag erteilt, die Filmschauspielerin Sharon Tate zu ermorden?
Kann man einen derart gewalttätigen Menschen zu den Mystikern zählen?
Man kann. In dem Buch des Staatsanwaltes Bugliosi über den Mordfall Sharon Tate steht folgende Passage:
«Etwas an Mansons Weltanschauung war mir besonders rätselhaft: seine seltsame Einstellung zur Angst. Er verkündete ständig, Angst sei schön, und er riet seiner Family sogar, in einem ständigen Angstzustand zu leben. Ich fragte Watkins, was Manson damit gemeint habe. Manson habe unter Angst dasselbe verstanden wie Bewußtsein, sagte Watkins. Je mehr Angst man habe, desto stärker sei das Bewußtsein, desto mehr Liebe habe man. Wenn man sich wirklich ängstige, dann komme man zum ‹Jetzt›. Und wenn man im Jetzt sei, dann habe man das totale Bewußtsein.» (Watkins war ein Zeuge der Anklage. Er hatte zur Manson-Familie gehört.)
Kein Mystikspezialist wird bestreiten können, daß die Rede vom «Jetzt» zur Mystik gehört wie das Amen zum Gebet. Daß für Manson Angstzustände als Vehikel zum Erleben des erfüllten Augenblicks dienten, ist nicht so wichtig. Wichtig ist der Wunsch, im Nun zu leben. Im Nun leben heißt, zeitlos leben, nach Auskunft der mittelalterlichen deutschen Mystik. Heißt intensiv leben (erleben), außerhalb von Raum und Zeit, in der Gegenwart.
Die Rede vom «Jetzt» ist ein deutliches Indiz für die mystische Ader Mansons.
Ferner findet sich im Arsenal Mansons die Ekstatik, in dionysischer Form, also mit Stimulantien und orgiastischen Veranstaltungen. Manson verwandte halluzinogene Pilze, Marihuana, Mescalin, LSD. Die Orgien begannen mit der Einnahme der Drogen, es gab rituelle Tänze, die Entkleidungszeremonie. Manson leitete die Orgien, arrangierte Leiber, Kombinationen, Positionen.
Sinn und Zweck solcher Übungen: Heraus aus dem Normalbewußtsein. Das griechische «ek-» im Worte Ekstasis bedeutet «heraus».
Beste mystische Tradition.
Die apokalyptische Komponente in Mansons System drückt die Art und Weise seiner Auseinandersetzung mit der realen Außenwelt aus.
Diese Außenwelt ist die kalifornische des Jahres 1969. Sie entsprach den Vorstellungen Mansons überhaupt nicht.
Manson erwartete, mit Hinweis auf die Apokalypse, einen allgemeinen Negeraufstand, ein Schlachtfest größten Ausmaßes, mit dem Ziel der Vertilgung der Weißen.
Während dieses Blutbades wollte sich Manson mit den Seinen in eine unterirdische Höhle begeben. Dort würde die Familie auf 144000 Auserwählte anwachsen, und nach Beendigung des allgemeinen Mordens würden die Auserwählten hervortreten und von den Negern die Weltherrschaft übernehmen, mit Manson als Heiland an der Spitze.
Manson wußte auch, wo die unterirdische Höhle lag: unter dem «Death Valley» in Kalifornien. In diesem Tal lebte Manson mit seiner Familie, auf einem abgelegenen Anwesen, der Barker-Ranch. Der ausbleibende Negeraufstand ließ ihn auf den Gedanken kommen, den Negern zu zeigen, wie man es macht. Er befahl die Ermordung Sharon Tates, und die Art der Durchführung sollte den Eindruck erwecken, radikale Neger hätten das Blutbad veranstaltet. Manson hoffte auf den Ausbruch einer wilden Massenhysterie im Gefolge des Mordes. Der Mord an der Filmschauspielerin sollte das allgemeine Morden sozusagen in Gang bringen.
Diese Überlegung erwies sich als falsch.
Manson wurde von der Polizei festgenommen, zusammen mit 24 Familienmitgliedern, Anfang Oktober 1969, im Zuge einer Razzia.
Die Neger hatten sich nicht erhoben. Nur die Polizei war gekommen.
Hierbei handelt es sich um einen typischen Fall von Parusieverzögerung.
Die Parusieverzögerung war das Grundproblem der Urchristen.
Parusie (ein altgriechischer Ausdruck) bezeichnete zunächst den feierlichen Staatsbesuch eines Herrschers in der Provinz. Den frühen Christen bedeutete er die festliche Ankunft des Messias, im Zusammenhang mit dem Weltuntergang und der Neuordnung der Dinge. Die Wiederkunft Christi, auf den Wolken des Himmels, in Pracht und Herrlichkeit.
Dieses Ereignis trat bekanntlich nicht ein, und deshalb der Ausdruck Parusieverzögerung.
Urchristliches Gedankengut bei Charles Manson, ganz ohne Zweifel.
Manson war allerdings ungeduldiger als die alten Christen und meine Tante Rosa.
Am 15. Juni 1970 begann der Prozeß «Das Volk (Kaliforniens) gegen Charles Manson alias Jesus Christus alias Gott». (Manson hatte von sich behauptet, Jesus Christus und Gott zu sein.)
Der Prozeß wurde einer der längsten und teuersten in der Geschichte der USA. Er dauerte neuneinhalb Monate und kostete 1 Million Dollar. Wenig andere Prozesse haben so viel öffentliche Beachtung gefunden wie dieser. Er endete mit dem Todesurteil für Manson. Dieses Urteil konnte nicht vollstreckt werden, weil das Oberste Gericht von Kalifornien im Februar 1972 die Todesstrafe für verfassungswidrig erklärte. Charles Manson bekam lebenslänglich Gefängnis.
Sollte er jemals freikommen, dann frühestens nach 25 Jahren. Das wäre um das Jahr 2000 nach Christi Geburt.
Der Fehler Mansons: Er wollte bedeutend sein. Er hat vernachlässigt, was jeder Anfänger wissen müßte. Er hat nicht verlernt, vom Bedeutenden, Gewaltigen usw. fasziniert zu sein. Deshalb wurde aus ihm ein gescheiterter Mystiker. Er hat die zweite Lektion (Rücksichtslosigkeit) vor der ersten durchgenommen.
Meine Tante Rosa hielt sich hingegen an die richtige Reihenfolge.
Insbesondere vor Mystikdefinitionen sollen sich die Anfänger hüten. Solche Definitionen bringen sie nicht weiter, sie haben keinen Gebrauchswert für sie.
Bereits im Jahr 1900 wurden 26 wissenschaftliche Definitionen des Begriffes «Mystik» gezählt; heute hat sich die Zahl der Mystikdefinitionen sicher um das Doppelte vermehrt. Gibt es deshalb auch mehr Mystiker?
Wohl kaum.
Im Mittelalter hat es viele praktizierende Mystiker gegeben. Aber das Wort «Mystik» gab es damals noch nicht. Es wurde erst im 18. Jahrhundert erfunden, zu einer Zeit also, in der die Zahl der ausübenden Mystiker stark zurückging, im Zusammenhang mit dem beginnenden Industriezeitalter.
Im Mittelalter war lediglich das lateinische Eigenschaftswort «mysticus» in Verwendung. Es bedeutet soviel wie «geheimnisvoll». Das sollte genügen, um die Neugier zu wecken.
Für besonders hartnäckige Definitionsliebhaber sei dennoch eine Begriffsbestimmung von Mystik hier wiedergegeben, zur gründlichen Abschreckung:
«Mystik ist die Methode, durch kultische Handlungen, die nicht jedermann verständlich sind und geheimgehalten werden, um sie vor Profanierung zu schützen und durch ihnen entsprechende (später auch von ihnen losgelöste) seelische Erlebnisse, die nicht jeder haben kann, in Berührung mit dem Göttlichen, unter seinen unmittelbaren Einfluß und zur Kenntnis seiner Geheimnisse zu kommen. Diese Definition ist weit genug, um alle mystischen Erscheinungen zu umfassen, von den magisch-kultischen Gebräuchen, dem Essen und Trinken der göttlichen Substanz, der heiligen Hochzeit, der durch Erregungs- und Berauschungsmittel, Musik, Tanz und Askese eingeleiteten Ekstase, bis zur psychischen Technik der Meditation, Konzentration und Kontemplation und zur mystisch-philosophischen Spekulation, die sich nur noch mit dem seelischen Prozeß des mystischen Erkennens befaßt, ihn vergeistigt und durch eine besondere Denktechnik in einer eigenartigen Denkform ermöglicht.»