Mythen der Atomkraft - Gerd Rosenkranz - E-Book

Mythen der Atomkraft E-Book

Gerd Rosenkranz

3,9

Beschreibung

Hier das marode Atomlager Asse, dort das störungsanfällige AKW Krümmel: Die Schlagzeilen um die Nutzung der Atomkraft wollen nicht enden. Zeitgleich stellt die neue Bundesregierung Laufzeitverlängerungen in Aussicht, werden Lobbyisten nicht müde, die umstrittene Technologie als probates Mittel gegen die Erderwärmung zu preisen. Wer soll das verstehen? Der Band 'Mythen der Atomkraft' liefert das überfällige, atomkritische Know-how zur Debatte, zeigt Alternativen auf und entlarvt die Atomenergie als das, was sie ist: eine unverantwortliche und teure Risikotechnologie.

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Gerd Rosenkranz

Mythen der Atomkraft

Wie uns die Energielobby hinters Licht führt

Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung

ClimatePartner°

Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt.

CO2-Emissionen vermeiden, reduzieren, kompensieren –

nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag.

Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag

durch Investitionen in ein Gold-Standard-Projekt.

Mehr Informationen finden Sie unter: www.oekom.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2. Auflage, 2011

© 2010 oekom verlag, München

Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH Waltherstraße 29, 80337 München

Visuelle Gestaltung: Torge Stoffers

Alle Rechte vorbehalten.

eISBN: 978-3-86581-364-0

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Aus Erfahrung klug werden

Einleitung: Forsmark – 22 Minuten Angst und Schrecken

1 Erster Mythos: Die Atomkraft ist sicher

2 Zweiter Mythos: Die Gefahren durch Missbrauch und Terror lassen sich beherrschen

3 Dritter Mythos: Atommüll? Kein Problem!

4 Vierter Mythos: Es gibt genug vom Brennstoff Uran

5 Fünfter Mythos: Atomkraft dient dem Klimaschutz

6 Sechster Mythos: Wir brauchen längere Laufzeiten

7 Siebter Mythos: Die Atomkraft erlebt eine Renaissance

8 Das Ende vom Mythos Atomkraft

9 Vor der Entscheidung: Die Zukunft der Energieversorgung

Literatur

Vorwort: Aus Erfahrung klug werden

Als vor 25Jahren der Atommeiler in Tschernobyl explodiert ist, schien das Ende dieser Form der Stromproduktion gekommen. Tatsächlich kam der Neubau von Atomkraftwerken weitgehend zum Erliegen. Schweden und Deutschland beschlossen den Ausstieg aus der Atomenergie. Aber mit den Jahren verlor der Name Tschernobyl seine Bannkraft. Die Bundesregierung setzte den Konsens zum Atomausstieg außer Kraft, von einer globalen »Renaissance der Atomenergie« war gar die Rede. Das war gestern. Heute findet vor unseren Augen ein neues nukleares Drama statt. Die Besatzung des Kernkraftwerks Fukushima kämpft verzweifelt gegen die ganz große Katastrophe. Der Ballungsraum Tokio mit seinen 35Millionen Einwohnern ist keine 300 Kilometer entfernt.

Wird nun »Fukushima« zur neuen Chiffre für das Ende des Atomzeitalters? Fest steht, dass die Atomlobby in Politik und Energiewirtschaft in die Defensive geraten ist. Das gilt zumindest für den demokratischen Teil der Welt, wo der Einsatz von Risikotechnologien nicht einfach von oben verordnet werden kann. Tschernobyl konnte noch als das Versagen eines bankrotten kommunistischen Systems abgetan werden. Dagegen ereignet sich der aktuelle Atomunfall in einer hochindustriellen Zivilisation mit einer ausgeprägten Risikokultur. Ausgelöst wurde er von einer Naturkatastrophe. Sie legte mit einem Schlag die Verwundbarkeit der technischen Zivilisation offen. Naturkatastrophe und industrielle Katastrophe gingen ineinander über. Man kann einige hunderttausend Menschen im direkten Umkreis der havarierten Atommeiler evakuieren, aber eine Megametropole wie Tokio kann nur hilflos zusehen, wie sich der Unfall entwickelt und wohin der Wind weht. Gütertransport, Flugverkehr, Strom- und Wasserversorgung sind massiv eingeschränkt, die Industrieproduktion bricht ein, die Börsenkurse rauschen in den Keller. Ein ganzes Land taumelt dem Notstand entgegen.

Ist es Hysterie und Nabelschau, wenn angesichts dieser Ereignisse in Deutschland der Ruf nach dem Ausstieg aus der Atomenergie unüberhörbar wird? Zweifellos sind Ängste im Spiel. Sie als irrationale Aufwallung abzutun ist falsch. Die Angst vor der atomaren Katastrophe hat einen rationalen Kern. Welchen Beweis braucht es noch, dass den Sicherheitsschwüren der Atomlobby nicht zu trauen ist? Was gestern noch ein zu vernachlässigendes Restrisiko war, kann heute schon verheerende Wirklichkeit werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Unwahrscheinliche geschieht. Je länger Anlagen am Netz bleiben, die heute nicht mehr genehmigungsfähig wären, desto höher das Risiko eines katastrophalen Unfalls.

Oft wird suggeriert, der Ausstieg aus der Atomenergie sei ein deutscher Sonderweg, dem keiner folgen will. Dabei stand die behauptete »Renaissance der Atomkraft« schon vor Fukushima auf wackligen Füßen. Tatsächlich nimmt die Zahl der Atomkraftwerke weltweit stetig ab. In den nächsten 15 bis 20 Jahren gehen mehr alte Anlagen vom Netz, als neue in Betrieb genommen werden. Kein Unternehmen wagt heute den Neubau eines Atomkraftwerks ohne staatliche Subventionen und Bürgschaften. Neue Anlagen werden vor allem dort gebaut, wo Staat und Energiewirtschaft eine unheilige Allianz bilden. Die Kosten explodieren. So hat sich der kalkulierte Baupreis des neuen Atomkraftwerks im finnischen Olkiluoto bereits von drei Milliarden Euro auf rund 5,4 Milliarden erhöht. Dazu kommen die ungelösten Probleme der Endlagerung, die enormen Stilllegungskosten und die hohe Störanfälligkeit dieser Technologie. Werden jetzt im Gefolge der japanischen Unfallserie die Sicherheitsstandards erhöht, steigen die Kosten der Atomkraft weiter.

Mit der weiteren Verbreitung der Atomenergie wächst auch die Gefahr der nuklearen Proliferation. Zivile und militärische Atomtechnik sind siamesische Zwillinge. Es gibt keine zuverlässige Mauer zwischen beiden – wie das iranische Atomprogramm belegt. Es ist reine Illusion, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, während man zugleich Atomtechnologie in alle Welt exportiert. Auch der Klimawandel taugt nicht als Argument pro Atomkraft. Die Kernenergie hat mitnichten das Potenzial, einen entscheidenden Beitrag für den Klimaschutz zu leisten. Zurzeit tragen weltweit 436 Reaktoren etwa sechs Prozent zum Primärenergieverbrauch bei. Um in relevantem Umfang CO2 zu reduzieren, wäre ein Ausbau auf mindestens 1.000 bis 1.500 Reaktoren erforderlich. Man muss kein Angsthase sein, um das für ein Horrorszenario zu halten.

Entgegen dem Mantra der Bundesregierung taugt die Atomenergie auch nicht als Brücke ins Solarzeitalter. Schon bald kann allein die Windenergie bei günstiger Wetterlage und geringer Nachfrage den gesamten deutschen Strombedarf decken. Weil die Leistung der großen Atom- und Kohlekraftwerke nicht rasch abgeregelt werden kann, wird der Überschussstrom zu »negativen« Preisen exportiert. Dieser Systemkonflikt wird mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien noch schärfer werden. Die Zukunft der Energieversorgung besteht aus einem weiträumigen Verbund von Windstrom, Wasserkraft, Solarenergie, Biomasse und dezentralen Gaskraftwerken. Parallel brauchen wir eine Effizienzrevolution, die den Energieverbrauch drastisch senkt. Wenn wir auf diesem Weg vorangehen, können wir zum globalen Kompetenzzentrum für die Energiewende werden.

Wir danken dem Autor Gerd Rosenkranz für den hier vorliegenden Essay, der nun in der zweiten Auflage erscheint und in bester Kürze die wichtigsten Details und Fakten zum Thema Atomkraft auf den Tisch bringt. Wer zu diesem aktuellen Thema weitere Informationen sucht, dem empfehlen wir die Website der Heinrich-Böll-Stiftung: www.boell.de.

Berlin, im März 2011

Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Einleitung: Forsmark – 22 Minuten Angst und Schrecken

Es ist der 25. Juli 2006, mittags um 13:19 Uhr, als Elektriker bei Wartungsarbeiten außerhalb der schwedischen Atomzentrale Forsmark einen Kurzschluss an einer Umspannstation auslösen. So etwas passiert. Immer mal wieder und überall, wo sich riesige Turbinen drehen und enorme Strommengen aus großen Kraftwerksblöcken abtransportiert werden müssen. Normalerweise bringt eine solche Störung im benachbarten Stromnetz kein Atomkraftwerk in ernste Schwierigkeiten. Die Sicherheitssysteme sind darauf vorbereitet. Der Reaktor wird vom gestörten Stromnetz getrennt, bevor der Kurzschluss draußen die Elektrik drinnen erreicht. Schlimmstenfalls schaltet sich der Reaktor automatisch ab und wird dann, weil der heiße Zerfall des radioaktiven Inventars in seinem Inneren noch tagelang weitergeht, über Notkühlsysteme allmählich in einen unkritischen Zustand gebracht.

Aber an diesem Dienstag ist nichts normal in Forsmark. Weil die Trennung vom Netz zu langsam erfolgt und die eigentlich unspektakuläre Störung eine regelrechte Kaskade weiterer Komplikationen auslöst, kollabiert ein Großteil des elektrischen Sicherheitssystems in Block 1 des Siedewasserreaktors. Zwei von vier Dieselgeneratoren, die im Ernstfall die Reaktorsteuerung und die Notkühlpumpen mit Strom versorgen sollen, fallen aus. Quälend lange 22 Minuten bleiben in der kritischsten Phase der Havarie Bildschirme in der Reaktorwarte schwarz, senden Messfühler keine Signale über die atomare Kettenreaktion im Innern der Maschine, bleiben selbst Teile der Lautsprecheranlage, die Alarm und Evakuierung auslösen sollen, stumm. Lebenswichtige Informationen über die Position der Steuerstäbe, die die Kettenreaktion im Reaktorkern regulieren, oder den Kühlwasserstand im Reaktorbehälter bleiben aus. Erst als es einem Techniker endlich gelingt, die beiden ausgefallenen Dieselmotoren per Knopfdruck mit der Hand zu starten und so die zentralen Mess- und Sicherheitssysteme wieder mit Strom zu versorgen, ist der Reaktor-Blindflug endlich beendet.

Als zentralen Auslöser der Eskalation im Siedewasserreaktor Forsmark 1 machte die schwedische Atomaufsichtsbehörde SKI schon bald den Ausfall zweier Wechselrichter aus. Dadurch konnten zwei der insgesamt vier Notstromaggregate nicht ordnungsgemäß zugeschaltet werden.Allerdings ließen sich die genauen Abläufe wegen des Ausfalls großer Teile der Reaktorüberwachung in der entscheidenden Phase hinterher nur schwer rekonstruieren. So blieben Rätsel.Das bedenklichste: Die Experten konnten nicht klären, warum die baugleichen Wechselrichter, die für den ordnungsgemäßen Start der beiden verbliebenen Dieselaggregate sorgten, auf die Spannungsspitze in der Stromversorgung des Reaktors nicht ebenso reagiert hatten wie die beiden anderen. Klar war am Ende nur:Hätten sie es getan, wäre der Reaktor mit hoher Wahrscheinlichkeit außer Kontrolle geraten. Denn dann wären alle vier Stränge des Reaktorschutzsystems betroffen gewesen und dies hätte, wie die schwedische Atomaufsicht bekannte, »zu einem Ausfall der Wechselstromversorgung in der gesamten Notstromanlage geführt und damit zu einem Ereignis, das im Sicherheitsbericht der Anlage nicht unterstellt wurde« (Gesellschaft fürAnlagen- und Reaktorsicherheit 2006). Dieser Störfall war in keinem Handbuch vorgesehen, für seine Beherrschung gab es keine Regeln – und wohl auch keine Möglichkeit.

1

Erster Mythos: Die Atomkraft ist sicher

Was sich an jenem Mittag im Sommer 2006 an der schwedischen Ostseeküste abspielte, erinnerte fatal an zwei Ereignisse, die seit Jahrzehnten als Menetekel die zivile Nutzung der Atomenergie überschatten: die Reaktorkatastrophen von Harrisburg (im März 1979) und Tschernobyl (im April 1986).

Schwer nachvollziehbare Planungsmängel, der fehlerhafte Einbau wichtiger Bauteile, unverzeihliche Schlampereien bei der Wartung und nicht zuletzt: ein naives Vertrauen in eine hochsensible Technik – all das kannte man schon. Nicht nur aus Harrisburg und Tschernobyl, auch aus der Wiederaufarbeitungsanlage im britischen Sellafield, vom japanischen Brutreaktor Monju oder aus der Wiederaufarbeitungsanlage von Tokaimura in Japan, von einem Abklingbecken des ungarischen Atomkraftwerks Paks und auch von den deutschen Reaktorstandorten Brunsbüttel oder Krümmel an der Elbe. Wo Menschen arbeiten, machen sie Fehler. Wir können von Glück reden, dass die nach jedem Unfall aufs Neue als »unerklärlich« eingestufte Verkettung von Fehlleistungen nicht immer so katastrophale Folgen zeitigt wie 1986 in der Ukraine und seinen Nachbarstaaten. In Block 1 des Atomkraftwerks Forsmark, gut 100 Kilometer nördlich der schwedischen Hauptstadt Stockholm, blieb es bei 22 Minuten Angst und Schrecken für die Reaktormannschaft vor Ort und ein paar schweren Zweifeln an der Zuverlässigkeit des Reaktorbetreibers Vattenfall. Diese bohrenden Zweifel nährt das nordische Staatsunternehmen seither auch anderswo, namentlich an seinen deutschen Standorten Brunsbüttel und Krümmel.

Der Name Forsmark steht seither für den vermutlich brisantesten Unfall in einem europäischen Atomreaktor seit der Katastrophe von Tschernobyl. Die Fachleute im In- und Ausland, die die Abläufe jenes Tages zu rekonstruieren versuchten, mussten erschrocken erkennen: Es hätte viel schlimmer kommen können. Und: Es kann jederzeit schlimmer kommen.

Das Restrisiko des Vergessens

Mit erkennbarem Wohlgefallen beobachten die Verfechter der Atomenergie in vielen Industrieländern eine – wie sie es nennen – »Entideologisierung« der Auseinandersetzung über diese Energie. Unter dem Eindruck des Klimawandels und einer sich verschärfenden Verknappung der fossilen Energieressourcen sei die Tonlage »sachlicher und ruhiger« geworden. Vor allem über eines frohlocken die Freunde der nuklearen Stromproduktion, wenn nicht gerade ein Wahlkampf die Entspannung stört: Der politisch-gesellschaftliche Diskurs hat sich über die Jahrzehnte von den fundamentalen Sicherheitsproblemen der Atomtechnik wegverlagert, hin zu Fragen der Ökonomie, des Klimaschutzes, der Ressourcenschonung oder der Versorgungssicherheit. Atomenergie könnte so in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Technik unter vielen werden, ihre Nutzung allein eine Abwägungsfrage, nicht anders als die zwischen Kohle- und Erdgaskraftwerk.

Die Kernspaltung wird so zunehmend integriert in das von den Ökonomen definierte Dreieck der energiepolitischen Debatte aus Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit. Dass Katastrophensicherheit nicht zu den Zielen der Atomenergie zählt, stört ihre Anhänger weniger. Im Gegenteil, sie sind hochzufrieden. Immer häufiger gelingt es den Freunden der Atomenergie, das einzigartige Katastrophenpotenzial dieser Technik hinter einer Mauer von Argumenten zu verbergen, die alle in erster Linie eines sicherstellen sollen: Ablenkung von den grundlegenden Sicherheitsfragen. Diese Entwicklung ist nicht zufällig. Sie ist Ergebnis einer Strategie, die von Betreibern und Herstellern in den führenden Atomenergieländern viele Jahre mit zäher Beharrlichkeit verfolgt und mit Bedacht vorangetrieben wurde.