Mythos Vatikan -  - E-Book

Mythos Vatikan E-Book

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Beschreibung

Der Vatikan ist einzigartig. In keiner anderen Weltreligion gibt es eine vergleichbare Institution, die Spiritualität und Macht, Himmlisches und Weltliches an einem Ort derart bündelt. Viele Mythen ranken sich um den Vatikan. Er besitzt ein eigenes autonomes Staatsgebiet und beherbergt eine Fülle von Kunstwerken, die zum Erbe der Menschheit gehören. An der Spitze steht der Papst und bekleidet das älteste und berühmteste Amt der Welt. Die Päpste haben mit der Kurie im Verlauf des vergangenen Jahrtausends eine Behörde aufgebaut, die ihresgleichen sucht und sogar Vorbild für andere Organisationen wurde. Aber lässt sich das Heil, das die katholische Kirche verkünden will, überhaupt in dieser Form "regieren"? Wird die konkrete Form der Kirchenverwaltung der Botschaft des Religionsstifters Jesus von Nazareth überhaupt gerecht? Mit diesem Spannungsbogen beschäftigen sich im neuen Themenheft der Herder Korrespondenz namhafte Autoren.

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Benjamin Leven und Lucas Wiegelmann (Hg.)

Mythos Vatikan

Benjamin Leven und Lucas Wiegelmann (Hg.)

Mythos Vatikan

Das Heil verwalten

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag HERDER Verlags GmbH

Umschlagmotiv: © Cosmo Sarson, Breakdancing Jesus, 2010,

Öl auf Leinwand, Bristol, GB

E-Book-Konvertierung: Röser Media, Karlsruhe

ISBN Print: 978-3-451-02742-0

ISBN E-Book: 978-3-451-81896-7eBook by ePubMATIC.com

Inhalt

Editorial

„Käme es auf Genie an, wäre dies Amt ein Irrsinn“

Streitgespräch mit Thomas Sternberg und Martin Mosebach

Thomas Söding

Zwischen Caesarea Philippi und Rom

Der Apostel Petrus im Neuen Testament

Stefan Heid

Die Schlüsselfrage

Kam Petrus wirklich bis Rom?

Günther Wassilowsky

Ein sprudelnder Brunnen

Heilsverwaltung und Rechtskultur an der vormodernen römischen Kurie

Klaus Unterburger

Absolutistische Neuformatierung

Wie die Kurie zur Zentrale der Weltkirche wurde

Hubert Wolf

Ein Gedächtnis der Welt

Der Vatikan öffnet seine Archive für die Zeit Pius’ XII.

Burkhard Jürgens

Die Beamten des Himmels

Wie funktioniert die Kurie?

Paul Badde

Mit seinem Latein am Ende

Die Hintergründe des Rücktritts Benedikts XVI.

Ralph Rotte

Im Haus des Vaters gibt es viele Wohnungen

Wie viel besitzt der Heilige Stuhl?

Oliver Lahl

Da lässt sich was machen

Der Vatikan und die deutschen Katholiken

Philipp Zitzlsperger

The Monuments Men

Warum es in der Ewigen Stadt so viele prächtige Kunstwerke und Monumente gibt

Ellen Ueberschär

Demokratisiert den Vatikan!

Gewaltenteilung, Mitbestimmung, Synodalität

Ludwig Ring-Eifel

Der Glanz der Macht

Die schönste Behörde der Welt

Peter Hasenberg

Ideale und Intrigen – Der Vatikan im Kino

Von „In den Schuhen des Fischers“ bis „Illuminati“

Patrick Griesser

Wer hat’s erfunden?

Die glorreiche Geschichte der päpstlichen Leibwache

Gudrun Sailer

Diskrete Weichenstellung

Frauen im Vatikan

Lucas Wiegelmann

Herrschaft der Erstwähler

Wie das Kollegium der Kardinäle den Kurs der Weltkirche prägt

Thomas Schüller

Der gute Hirte 2

Papst Franziskus und seine Kurienreform

Magnus Striet

Katholische Kirche jetzt im Plural

Ende eines Mythos

Zu den Autoren und Herausgebern

Editorial

Jahrelang hat der britische Künstler Cosmo Sarson einen unscheinbaren Zeitungsausschnitt in seiner Brieftasche bei sich getragen. Die Meldung berichtet von eine Gruppe junger Polen, die im Apostolischen Palast vor den Augen von Papst Johannes Paul II. Breakdance aufführt. Sarson ist Street-art-Künstler. Aus der kleinen Nachricht wurde ein Motiv, welches er verschiedentlich variiert hat. Nicht die Jugendlichen, sondern Jesus selbst, spärlich bekleidet, mit muskulösem Körper, tanzt vor dem Papst – oder, wie auf unserem Titelbild zu sehen, vor der Kurie. Es ist der Kontrast zwischen steifen Bischöfen auf blankem Marmor und der Dynamik des Tänzers, die das Bild so überraschend macht, einen vielleicht zunächst schmunzeln lässt.

Aber was soll das heißen? Die Distanz zwischen agilem Jesus und verknöcherter Kirche? Die Übertreibung, das Karikierende der Szene, nimmt die volle Schärfe der Kritik vielleicht schon etwas zurück. Breakdance als Chiffre für Unangepasstheit der jesuanischen Botschaft? Und der Marmor das Gegenteil? So eine Kritik wäre doch zu platt, möchte man sagen. Selbst die Bewunderer des Breakdance können nun mal nicht alle Breakdancer sein, das kann man ihnen nicht vorwerfen. Oder?

„Mythos Vatikan. Das Heil verwalten“, so der Titel dieser Publikation. Und genau diese Spannung wollen wir ausmessen. Ist der krisengeschüttelte Vatikan ein Machtapparat, der nicht mehr den Anspruch erheben kann, das Erbe im Sinne des Stifters angemessen zu behüten – und auch zu mehren? Oder ist die älteste und sicher größte nicht-staatliche Organisation der Welt mit all ihrer Gewordenheit und all ihrer spirituellen, historischen und auch politischen Autorität der große Schatz, der die zerbrechliche Botschaft des Auferstandenen durch das dritte Jahrtausend tragen kann? Die Heilige Mutter Kirche mit ihrem kulturellen und geistigen Reichtum, ihren unzähligen Betern, Bekennern und Bekehrten muss sich doch nicht verspotten lassen, nur weil nicht alle im Vatikan Sandalen tragen!

In unserer Publikation finden sich Kritiker und Bewunderer, Reformer und Bewahrer und vieles dazwischen. Die Faszination allerdings, die von diesem bestimmten Hügel Roms ausgeht, auf dem der Apostel Petrus sein Martyrium erlitten haben soll und auf dem sich die größte Kirche der Christenheit erhebt, wird doch von den allermeisten geteilt. Was ist der Vatikan? Die Kuppel von Michelangelo, Raffaels Fresken, die Kolonnaden Berninis und der Segen „Urbi et Orbi“ auf dem Petersplatz für 1,2 Milliarden Katholiken und die ganze Menschheit, das sind alles auch Bilder, die sich sofort einstellen. Auf den folgenden Seiten findet sich keine einzige dieser Ansichten. Die Reflexion über den Vatikan muss durchaus von allem Touristischen absehen, allerdings greift ein rein institutioneller Blick auch zu kurz. Magnus Striet schreibt über das Ende des Mythos, um aber doch auch zu erklären, dass katholische Vielfalt, gerade im Zentrum des Einheitssymbols, nämlich beim Papst auf dem Petersplatz, besonders stark zu erleben sei. Ohne Mythos geht es auch nicht. Beruhigend ist zumindest, dass sowohl Martin Mosebach als auch Thomas Sternberg erklären, immer weiter für den Papst zu beten.

Eine anregende Lektüre wünschtdie Redaktion der Herder Korrespondenz.

„Käme es auf Genie an,wäre dies Amt ein Irrsinn“

Streitgespräch mit Thomas Sternbergund Martin Mosebach

Vicarius Christi sein? Von den Nachfolgern Petri wird im Grunde Undenkbares erwartet. Ob Gott das so wollte, wie Franziskus sich bisher schlägt, und wie sich das Papsttum entwickeln wird, darüber diskutierten ZdK-Präsident Thomas Sternberg und der Schriftsteller Martin Mosebach. Die Fragen stellte Lucas Wiegelmann.

Herr Mosebach, Herr Professor Sternberg, wenn Sie dem Papst begegnen, wie verhalten Sie sich?

Martin Mosebach: Ich beuge das linke Knie und küsse ihm den Ring. Dann warte ich darauf, dass der Papst mich anspricht. Der einzige Papst, dem ich bisher begegnet bin, war Benedikt XVI. Es war verblüffend für mich: Er erwähnte meine Büchnerpreisrede, hatte sie offenbar gelesen und zitierte daraus. Wie ein echter Monarch war er auf meinen Besuch vorbereitet.

Thomas Sternberg: Ich habe einige Male die Gelegenheit gehabt, mit Papst Franziskus zu sprechen. Ich gebe ihm die Hand und begrüße ihn. Bei meiner ersten Begegnung habe ich versucht, ihm auf Italienisch rasch zu erklären, welche Organisation ich vertrete, was ich da mache und so weiter. Aber das hat ihn nicht besonders interessiert. Abends hat mir dann ein Kenner der Kurie erklärt, dass es eine Faustregel bei diesem Papst gibt: Je mehr Krawatte und Titel ein Besucher präsentiert, desto uninteressanter findet der Papst ihn. Also habe ich ihm bei der nächsten Begegnung nur auf Deutsch gesagt: „Danke für ‚Amoris Laetitia‘.“ Da strahlte er mich freundlich und glücklich an.

Zu den Merkwürdigkeiten des Papstamtes gehört es, dass derjenige, der es als Erstes innegehabt haben soll, nie etwas davon gehört haben kann, der Apostel Petrus nämlich, und viele seiner legendären ersten Nachfolger auch nicht. Das Papsttum entstand nur ganz allmählich, im Laufe von Jahrhunderten. Hat Gott dieses Amt gewollt, oder hätte es auch ganz anders kommen können?

Mosebach: Aber natürlich hat Petrus davon gehört – vom Herrn selbst! „Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf der Erde binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf der Erde lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein“ (Mt 16,19). Es handelt sich dabei übrigens um ein Zitat aus dem Alten Testament: Dort wird ein Mann namens Eljakim einmal mit einer fast identischen Formulierung zum Palastverwalter des Königs eingesetzt: „Ich lege den Schlüssel des Hauses David auf seine Schulter; wenn er öffnet, kann niemand schließen, wenn er schließt, kann niemand öffnen“ (Jes 22,22). Die Beauftragung steht also im Geist der jüdischen Tradition. Als Katholik habe ich ein ungestörtes Verhältnis zur Tradition. In der Gegenwart kennen wir zwar ein reflexhaftes Misstrauen gegenüber jeder Art von Tradition, aber für mich gilt Überlieferung so lange, bis sie zweifelsfrei widerlegt ist. In der jungen Kirche wurde immer wieder heftig mit dem Bischof von Rom gekämpft, aber dabei niemals der besondere Rang der Petrusnachfolge bestritten. Auch die romfeindliche Orthodoxie erkennt den Ehrenprimat der Petrusnachfolger aufgrund von Mt 16,19 an. Ich kenne kein historisches Argument, das erlaubt, die besondere Beauftragung des Petrus auszuschließen.

Also: Petrus war der erste Papst?

Mosebach: Selbstverständlich.

Sternberg: Verzeihen Sie, aber das kann ich so nicht mitmachen. Das ist einfach Unsinn! Das Papstamt entwickelt sich mit der Zeit. Es gibt schon relativ früh Bischöfe in der Kirche. Es kristallisiert sich auch rasch eine gewisse theologische Vormachtstellung derjenigen Bischöfe heraus, die ihre Diözesen an den Regierungssitzen haben. Das sind die späteren Patriarchen, in Alexandria, Antiochia, Jerusalem, Konstantinopel und Rom. Innerhalb dieser Gruppe erarbeitet sich Rom aber erst nach und nach eine Vorrangstellung. Einerseits erhebt das Papsttum von sich aus entsprechende Ansprüche, und zwar mit dem Argument, dass sich in Rom die Gräber der Apostelfürsten befinden. Andererseits ergibt sich sein Vorrang auch aus einer Praxis: Die Bischöfe des Westens appellieren mit der Zeit immer häufiger an den Bischof von Rom, um Streitigkeiten zu schlichten. Auf diese Weise wächst ihm seine Kompetenz von außen zu. Er bekommt die Funktion eines Wahrers der Einheit. Die biblischen Legitimationsfiguren sind erst später dazugekommen. Da bin ich als Historiker zu kritisch, als dass ich sagen könnte: Jesus Christus hat das Papstamt gewollt.

Warum hat es für Sie dann eine religiöse Autorität?

Sternberg: Zwischen der Etablierung des Papstamtes und dem heutigen Amtsinhaber liegen mindestens 1.500 Jahre. Diese lange Zeit ist ja nicht einfach wegzureden. Damit hat der heutige Papst natürlich eine leitende Funktion und ist auch für mich der Oberste der römisch-katholischen Kirche. Dem Papsttum ist es zu verdanken, dass diese Kirche allen Schwierigkeiten zum Trotz über Jahrhunderte hinweg im Großen und Ganzen ihre Einheit wahren konnte. Wie wichtig diese Aufgabe ist, kann man daran ermessen, was passierte, wenn das Papsttum als Einheitsgarant versagt hat, beim Großen Schisma etwa oder in der Reformation. Wenn Hadrian VI. 1522/23 die Chance gehabt hätte, länger zu wirken, und von der Kurie als Fremdling aus Utrecht nicht so schnell an den Rand gedrängt worden wäre, dann hätte er es vielleicht geschafft, die reformatorischen Impulse Martin Luthers aufzunehmen, zu integrieren und die Kirchenspaltung zu verhindern. Als Garant und Diener der Einheit brauchen wir das Papsttum gerade heute wieder besonders dringend.

Haben Sie einen Lieblingspapst in der Geschichte?

Sternberg: Ich schätze besonders Paul VI. Der größte Reform-papst der jüngeren Geschichte.

Mosebach: Der fürchterlichste Papst der jüngeren Geschichte!

Sternberg: Schon mit seinem ersten Auftreten setzte er ein Zeichen. Er verkaufte seine Tiara an ein amerikanisches Museum und spendete den Erlös den Armen. Das war eine Geste, die in einer großen Tradition stand und letztlich ein Postulat des Kirchenvaters Ambrosius aufnahm: den Vorrang der Caritas vor dem Kircheneigentum. Paul VI. hat danach immer die Mitra getragen und sich damit eindeutig in die Reihe der Bischöfe gestellt. Er sah sich als der Bischof von Rom, als der Erste unter den Bischöfen – die vielen anderen Ehrentitel und Amtszuschreibungen des Papstes waren ihm weniger wichtig. Dazu passte, dass er das vatikanische Hofzeremoniell radikal ausgedünnt hat. Wenn man mal seine Prozessionen mit denen seines Vorgängers Johannes’ XXIII. vergleicht, sieht man den riesigen Unterschied. Garden waren abgeschafft, die unterschiedlichen Ehrenstufen und Sonderfunktionen, die Straußenfederfächer. Das ist alles entfernt worden.

Mosebach: Paul VI. hat etwas getan, was dem Papst nicht zusteht: Er hat mit seiner Messreform die gewachsene katholische Liturgie zerstört und uns eine Gottesdienstordnung hinterlassen, die das eucharistische Geheimnis verdunkelt. Paul VI. hat die päpstliche Gewalt missbraucht. Sie haben ja selbst gesagt: Das frühe Papstamt bis ins Mittelalter zeichnete sich dadurch aus, in Streifragen zu entscheiden. Darin liegt die Kompetenz des Papstes, nicht im Entfesseln von religionspolitischen Energien. Es ist eine passive Kompetenz. Das Amt eines Vicarius Christi wäre eine vollständige Überforderung für jeden, der es als aktives Amt begreifen würde. Dieses Amt darf nur passiv ausgeübt werden, ein Amt, das Mr. Everyman einnehmen können muss. Nicht Paulus, sondern Petrus wurde der erste Papst. Käme es auf Genie und Charisma an, wäre dies Amt ein Irrsinn. Übrigens: Der alte Pomp, den Paul VI. abgeschafft hat, leistete genau dieses: die Person des Papstes zuzudecken. Wenn der Papst einzog, sah man den kleinen alten Mann gar nicht mehr, weil er unter einem Haufen Brokat versteckt war. Im 20. Jahrhundert hat sich dann unter dem Einfluss der Massenmedien dieser Kult um den einsamen Mann in Weiß herausgebildet, der als Pastor Angelicus über der Menge leuchtet. Der Papst als charismatischer Führer widerspricht aber der katholischen Tradition. Der Papst ist nicht frei; er ist nicht nur dem Evangelium unterworfen, sondern auch der ganzen Tradition. Nur innerhalb ihrer kann er agieren, und das bedeutet letztlich: Er kann gar nicht agieren. Und er soll ja auch gar nicht agieren.

Aber Päpste haben im Laufe der Jahrtausende völlig unterschiedliche bis gegensätzliche Dinge gesagt und getan. Lange fanden die Nachfolger Petri, dass die Sonne um die Erde kreist, mittlerweile sind sie anderer Meinung, um nur ein Beispiel zu nennen. Wie fiktiv ist die vermeintliche Kontinuität des Lehramtes?

Mosebach: Da müssen wir jetzt wirklich unterscheiden: Reden wir über das Wesentliche oder über irgendwelche zeitgebundenen Akzidentien? Das Erstaunliche an der Kirchengeschichte ist doch nicht der Wechsel in der Zeit, sondern vielmehr ihre klare Kontinuität im Wesentlichen.

Sternberg: Kontinuität ist eine extrem wichtige Kategorie für die Kirche und speziell für das Papsttum. Immer gewesen. Trotzdem gibt es große Unterschiede. Für mich ist es ein Zeichen für das Wirken des Heiligen Geistes in der Geschichte, dass zu bestimmten Zeiten Päpste auftreten, die auf ihre Gegenwart reagieren und bestimmte, neue Antworten auf aktuelle Fragen geben. Das heißt, dass das Papsttum eben nicht immer gleich bleibt. Es muss sich davor hüten, museal zu werden.

Verwalter des Lehramts ist die Kurie. Da sitzen brave Sachbearbeiter an ihren Schreibtischen, bearbeiten Vorgänge, heften Papiere ab, und am Ende kommt ein Stempel auf einen religiösen Vorgang – oder er bleibt eben aus. Kann man etwas so Übersinnliches wie das Christentum wirklich mithilfe von Aktenordnern in den Griff bekommen?

Sternberg: Ich finde diese Frage abwegig. Natürlich ist die Kirche eine theologische Größe. Aber Kirche ist zugleich auch eine soziologisch beschreibbare Größe, und als solche unterliegt sie ganz normalen menschlichen Prozessen und Vorgängen. Bei der ewig neu sich stellenden Frage, wie wir die Kirche am besten organisieren sollten, ist das Argument „das oder jenes geht nicht, weil es nicht in die Ekklesiologie passt“ zunächst einmal mit Vorsicht zu behandeln, weil die Theologie und die Ordnung der Organisation unterschiedliche Bereiche sind. Im Vatikan geht es nun einmal auch darum, eine Verwaltung zu organisieren. Und diese Verwaltung ist nicht optimal aufgestellt, nach wie vor nicht. Schon einer meiner Vorgänger als ZdK-Präsident, Hans Maier, hat darauf immer wieder hingewiesen und zum Beispiel gefragt, warum in der Kurie nicht so etwas wie ein Kabinettsprinzip existiert: dass sich alle Dikasterienleiter regelmäßig mit dem Papst zusammen an einen Tisch setzen. Nein, die haben immer nur jeder einzeln ihre Audienz. Da muss sich doch keiner wundern, wenn da vieles auseinanderläuft.

Mosebach: Dass eine Religion die Gestalt eines vorgefundenen Staates annimmt, der sie zuvor mit aller Macht bekämpft hat, ist einer der bemerkenswertesten Prozesse der Weltgeschichte. Etwas Ähnliches hat es nirgends gegeben, mit den theokratischen Staaten des Orients ist das nicht zu vergleichen. Die katholische Kirche hat den römischen Kaiserstaat aufgesaugt …

Sternberg: … und sich aufregenderweise auch wieder vom Staat gelöst!

Mosebach: … richtig: Dass sie den Untergang dieses Staates überleben und mit den Barbarenreichen ein völlig neues Amalgam eingehen konnte, das ist gleichfalls einzigartig in der Geschichte. Der Protestantismus hat dies als eine Entartung von Religion gesehen. Als Katholik sage ich dagegen: Dieser Prozess gehörte offensichtlich zur Vorsehung. Christus ist „in der Fülle der Zeiten“ Mensch geworden. Er ist es geworden im universalen Römischen Reich und zugleich in der nationalsten aller Nationen, dem Judentum. Diese beiden Pole in sich verbindend, wie das Gott- und das Menschentum, Nation und Universum in sich tragend. Wenn diese von ihm angestoßene Religion weiterleben sollte, dann musste das im Römischen Reich geschehen – dann würde sie römisch werden. Das mag einer fundamentalistischen Auffassung vom Evangelium extrem widersprechen. Aber zur Offenbarung gehört nicht nur das Evangelium, sondern auch die Tatsache der Inkarnation im jüdisch-griechisch-römischen Kulturkreis. Lange Dauer ist übrigens auch ein Argument: Das römische Kirchenmodell hat sich als außerordentlich haltbar erwiesen. Und all das, was die Kirche durch ihre Staatswerdung an schmutziger Last mit sich herumschleppen muss, verhindert, dass sie überheblich wird.

Was bedeutet es für Sie, wenn der Heilige Vater etwas tut oder sagt, das Ihnen gegen den Strich geht? Wie gehen Sie damit um? Papst ist Papst.

Sternberg: Die Zeiten, in denen man eine Äußerung schon deshalb für richtig hielt, weil sie eine vom Amt her eingesetzte Person gesagt hat, sind weitgehend vorbei. Autorität basiert heute vor allem auf Autoritätszuweisung: Ich muss jemandem erst die Autorität zubilligen. Wenn ich das getan habe, nehme ich seine Äußerungen dann auch persönlich sehr genau auf. Eine einfache Gehorsamsstruktur funktioniert auch in der katholischen Kirche nicht mehr, und anderswo übrigens auch nicht. Dass daraus auch eine Fülle von Problemen entsteht, sei gern zugegeben. Das Problem ist aber: Mancher Priester und mancher Bischof hat das noch gar nicht gemerkt.

Mosebach: Es ist klar: Der Anspruch der Infallibilität besteht nur dann, wenn der Papst in Unterwerfung unter die Tradition spricht. Wenn er das nicht tut, dann ist er auch nicht verbindlich, ganz einfach. Seine Vollmacht besitzt er, indem er bloßes, willenloses Sprachrohr ist von dem Unendlichen, was vor ihm war.

Sternberg: Mit dieser Formulierung öffnen Sie aber jedem Papstwiderstand Tür und Tor. Das Urteil, ob etwas im Rahmen der Tradition steht oder nicht, hängt ja stark von der historischen Überzeugung, Kenntnis und Wahrnehmung des Einzelnen ab.

Mosebach: Sie denken wahrscheinlich an Kardinal Lehmann, der einst die päpstliche Anweisung, aus der Schwangerschaftskonfliktberatung auszusteigen, uminterpretierte in die päpstliche Anweisung, darin zu bleiben, und dies mit seinem berüchtigten Wort begründete: „Ich habe eben gelernt, mit Texten umzugehen.“ Vor allem Jesuiten sind ganz stark in einem solchen Umgang mit der Überlieferung. Ich habe ja fast das Gefühl, als ob sich die grausame Jesuitenkarikatur von Pascal in den „Lettres à un Provincial“ erst heute richtig und vollständig bewahrheitet. Darin sagt Pascal über die Jesuiten des 17. Jahrhunderts den schönen Satz: „Ecce patres, qui tollunt peccata mundi.“ Man meint, er spräche über Franziskus. Aber solche Manöver, all diese raffiniert-ideologischen Umdeutungen, das fällt dann doch immer nach einer gewissen Zeit in sich zusammen. Was bestehen bleibt, ist der riesige Block der Tradition, an der man als Gläubiger Maß nehmen kann. Zunächst einmal genügt immer ein Blick ins Evangelium. Das Evangelium ist radikal. Die Schlauheit, sich das Christentum passend zu machen, wird von jeder Zeile des Evangeliums gnadenlos denunziert. Aber jeder kann auch Maß nehmen etwa an einer gotischen Kathedrale – wenn man sich etwa vor Notre-Dame de Paris stellt und fragt: Hält diese oder jene Enzyklika, diese oder jene Papstpredigt diesem Bauwerk stand? Und wenn nicht, dann ist das gewiss nicht der Fehler der Kathedrale.

Dann sind Sie sich ja einig: Wenn der Papst etwas sagt, überlegen Sie beide erst einmal, wie ernst das überhaupt zu nehmen ist. Der Papst ist nur so lange Papst, wie ihn die Katholiken als solchen behandeln.

Sternberg: Wir müssen hier zwei Bereiche unterscheiden: Was wir gerade gesagt haben, gilt für die Ebene der einzelnen Person, den einzelnen Gläubigen. Es gibt aber noch eine zweite Ebene, nämlich die Frage, wie ich als Mitglied der Kirche oder, in meinem Fall, sogar als Verantwortlicher einer kirchlichen Organisation mit einer Verlautbarung des Papstes umgehe. Auf dieser Ebene, innerhalb der Institution, haben Äußerungen und Anweisungen des Papstes schon eine Würde und Bedeutung, die nicht einfach dem persönlichen Geschmacksurteil unterliegen kann.

In seinem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ hat Papst Franziskus selbst über päpstliche Schriften gesagt: „Ich weiß sehr wohl, dass heute die Dokumente nicht dasselbe Interesse wecken wie zu anderen Zeiten und schnell vergessen werden.“ Wenn eine neue Enzyklika kommt, was machen Sie dann?

Mosebach: Sie sind ja im Amt, Sie müssen das ja lesen.

Oder es sich von Referenten aufbereiten lassen.

Sternberg: Nein, nein, ich lese das schon selber! Und ich bin hocherfreut darüber, jetzt einen Papst zu haben, der zum Beispiel ausgerechnet zum Thema Ehe, Familie und Partnerschaft eine Schrift macht, die den überraschenden Titel „Amoris Laetitia“ trägt – also Spaß an der Liebe. Darin sind so schöne Texte zum Thema Liebe im Alter, Vorbereitung zur Ehe und Ähnliches, dass ich tatsächlich meiner Tochter zur Ehevorbereitung gesagt habe: Lies doch mal diesen Text des Papstes. Das hätte ich mir vor zwanzig Jahren noch nicht träumen lassen, dass das einmal möglich wäre. Ich bin nun nicht der Meinung, dass jeder Katholik jedes päpstliche Lehrschreiben unbedingt sofort lesen muss. Aber auch wenn ich mir die Lehrschreiben der Vergangenheit ansehe, sowohl von Johannes Paul II. als auch von Benedikt XVI., auch von Paul VI., kann ich nur sagen: Ich empfehle sie sehr der Lektüre. Darin stehen sehr kluge Dinge.

Mosebach: Es wäre auch schlimm, wenn es nicht so wäre. Trotzdem ist meine Neugier in dieser Hinsicht prinzipiell gebremst. Ich erinnere an den schönen Satz von Robert Spaemann, der zu Beginn eines seiner Bücher geschrieben hat – ich zitiere aus dem Kopf: „Wenn in diesem Buch etwas Neues stehen sollte, würde es mich beunruhigen, denn dann wäre es falsch.“ Wobei ich es schon seltsam finde, wenn in „Amoris Laetitia“ – neben akzeptablen Stellen, die ich Ihnen gerne zugebe – eine Riesenstreitfrage wie die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene in einer Fußnote eröffnet wird. Und diese Frage dann eben gerade nicht entschieden wird, obwohl wir ja schon festgehalten haben, dass das Amt des Papstes zuallererst im Entscheiden von Streitfragen besteht. Wenn das so weitergeht, lohnt es sich für einen Katholiken tatsächlich nicht mehr, die Enzykliken zu lesen, weil der Papst sich weigert, seines Amtes zu walten. Seine privaten Ansichten sind unerheblich.

Franziskus will ja eben, dass Rom künftig nicht mehr alles entscheiden soll. In „Evangelii Gaudium“ schreibt er: „Ich glaube auch nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen.“

Mosebach: Papst Franziskus versucht hier auf etwas undeutliche Weise, eine Fehlentwicklung anzusprechen. Das Erste Vatikanische Konzil mit dem Dokument „Pastor Aeternus“ bestätigte in einer politischen Krise die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- und Sittenfragen und löste damit in zum Teil dramatischen Formulierungen eine der katholischen Tradition nicht gemäße Übersteigerung des Papstamtes aus. Vor allem von der nachkonziliaren papalistischen Theologie ist das Papstamt in eine Höhe getrieben worden, die der Tradition nicht standhält. Dieses omnipotente Papsttum, das den absolutistischen Fantasien Joseph de Maistres nachgebildet zu sein scheint, zeigt sich in seiner ganzen Gefährlichkeit eigentlich erst jetzt so richtig, da an dieser einen, höchst speziellen Persönlichkeit Bergoglio plötzlich alles hängen soll. Vielleicht sollten die Katholiken dankbar für diese Situation sein, weil sie es dringlicher erscheinen lässt, solche Übertreibungen zu korrigieren. Eine Zurückführung des Papstamtes zu seiner alten Gebundenheit wäre ein Glück für die Kirche. Der Papst als oberster Richter, der in Unterwerfung unter die Tradition Streitfragen entscheidet – das genügt doch.

Sternberg: Es hat in der Vergangenheit immer noch eine Instanz gegeben, die zwischen Rom und den Ortskirchen angesiedelt war. Es hat Provinzialsynoden gegeben, es hat Provinzialkonzilien gegeben – in Gallien und Nordafrika bestens überliefert –, es hat Metropolien gegeben. Diese Zwischenebenen sind weggefallen. Das Zweite Vatikanische Konzil geht davon aus, dass die jeweilige Ortskirche allein auf ihren Bischof bezogen sei, und zwischen diesen Ortskirchen und dem Papst gebe es nichts. Das ist unhistorisch gedacht – und außerdem auch nicht sachgerecht. Die Kirche war lange eine römische Kirche, weil sie ursprünglich den römischen Bereich abdeckte, also ab dem achten Jahrhundert Westeuropa. Heute, als Weltkirche, hat sie ganz andere Räume zu besetzen. Also wird man sich fragen müssen, ob einer europäischen Bischofskonferenz, einer asiatischen, einer afrikanischen Bischofskonferenz mehr kontinentale Eigenheiten zugestanden werden müssen. Es gibt immer mehr Themen, die auf den verschiedenen Kontinenten unterschiedlich beurteilt werden. Die Frage der Einheit wird dadurch natürlich nicht leichter, weiß Gott nicht.

Wie viel ist von der Sakralität des Papstamtes noch übrig, seit Benedikt XVI. zurückgetreten ist?

Sternberg: Ich glaube, die Aura des Papsttums ist seit Benedikt XVI. keineswegs geringer geworden. Sondern das Papsttum hat