Nach dem Schweigen - Stefanie Fricke - E-Book

Nach dem Schweigen E-Book

Stefanie Fricke

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Beschreibung

"Vielleicht war es ja doch an der Zeit, alle anderen rauszuschmeißen, die da schon lange nichts mehr zu suchen hatten. Die Gespenster, die sich so hartnäckig festhielten an diesem traurigen Ort und sie daran erinnerten, dass sie eine Bolitta war, ein Nichts." Meinrode, ein fiktives, kleines Dorf westlich unweit der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze im Jahr 2000: Die 30jährige Wiebke Bolitta ist eine Kriegsenkelin. Ihre Kindheit in den 70er Jahren als Tochter ostpreußischer Flüchtlinge ist geprägt vom Schweigen und der Gefühlsarmut der Eltern. Erst das Erkennen, dass die familiäre Situation auch das Leben ihres Neffen Gunnar beeinträchtigt, lässt sie sich allmählich aus ihrer Erstarrung lösen. Gemeinsam mit ihrer alten Schulfreundin Stella Mahlmann macht sie sich auf die Suche nach Antworten auf ihre Fragen. Das, was sie ans Tageslicht befördern, gefällt nicht jedem in dem kleinen Dorf.

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Über das Buch

Unterschiedlicher hätten sie kaum aufwachsen können: Wiebke Bolitta wird in ihrer Kindheit auf unterschiedlichste Weise allein gelassen: Von den traumatisierten und gefühlsarmen Eltern, der Schwester, die sich von der Familie lossagt, vom Dorflehrer mit den rückwärtsgewandten Ansichten und nicht zuletzt von der Grundschulfreundin Stella Mahlmann.

Diese wiederum ist das einzige Kind der alteingesessenen Landwirtsfamilie Mahlmann und hineingeboren in ein Umfeld von Liebe und Sicherheit.

Als Erwachsene finden die beiden wieder zusammen und machen sich auf die Suche nach Gründen für Wiebkes traurige Kindheit. Was können sie nach all den Jahren noch herausfinden?

Über die Autorin

Stefanie Fricke wuchs in den 70er Jahren im Kreis Goslar an der innerdeutschen Grenze auf, studierte Musik, wurde zunächst Orchestermusikerin und arbeitet heute als Kulturmanagerin und systemischer Coach. Sie lebt in Schleswig-Holstein, nahe Hamburg. „Nach dem Schweigen“ ist ihr erster Roman.

Für Uwe und für meine Eltern

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Kapitel 1

Zum wiederholten Mal strich sich Stella Mahlmann gedankenverloren eine Strähne ihres langen, glatten Haars zurück hinter das rechte Ohr und schaute prüfend durch den Raum, der wie ein zu klein geratenes Klassenzimmer aus den 80er Jahren wirkte, wären da nicht die massiven Gitter an den Fenstern und die Überwachungskamera über der Tür. Die dunkelbraune, verschlissene Auslegeware verströmte noch immer den unangenehmen Geruch nach Lösungsmitteln, obwohl sie genauso alt aussah wie das karge Mobiliar aus Tischen, Stühlen und einem wackeligen Flipchart.

Stella ordnete noch einmal ihre Karteikarten, die den Verlauf der ersten Schreiblektion enthielten, und nahm dann die Liste der Teilnehmerinnen in die Hand, die sie von der Gefängnisleitung bekommen hatte. Neun Vornamen standen darauf, keine Nachnamen. Neun Frauen, über die sie nicht mehr erfahren würde als diese Vornamen und das, was sie in ihren Texten von sich preisgeben würden. Und das war erfahrungsgemäß nicht viel. In den Jahren, in denen Stella ihren Kurs „Kreatives Schreiben“ für inhaftierte Frauen anbot, hatte sie gelernt, keine geistigen Höhenflüge zu erwarten. Die Motivation zur Teilnahme entsprang oft dem schlichten Wunsch nach Abwechslung. Für andere wiederum war das Schreiben fast eine therapeutische Maßnahme. Ganz selten traf sie auch auf Frauen mit ernstem Interesse, das Schreiben für sich zu entdecken. Für Stella waren das alles gute Gründe, ihr ging es um soziales Engagement.

Sie warf einen letzten, prüfenden Blick in die spiegelnde Fensterscheibe und kontrollierte den Sitz ihres schlichten, dunkelblauen Blazers, als die ersten Frauen den Raum betraten.

„Herzlich willkommen, schön dass Ihr dabei seid“, empfing sie alle mit strahlendem Lächeln. Sie zählte still durch, acht Frauen. „Wir warten noch, bis wir komplett sind, setzt euch doch schon und macht ein Namensschild, damit ich euch persönlich ansprechen kann.“

Nur wenige Augenblicke später schauten ihr acht Augenpaare erwartungsvoll entgegen. Stella wollte noch schnell die Namensschilder mit ihrer Liste abgleichen, als sich die Tür öffnete und eine weitere Frau den kleinen, stickigen Raum betrat. Irgendwo war ein Aufstöhnen zu hören, das von unterdrücktem Kichern beantwortet wurde. Stella ignorierte es.

„Herzlich willkommen auch Dir“, sagte sie, „wir wollten gerade anfangen. Such dir einen Platz und sei so lieb und schreib dir ein Namensschild. Ich warte eben noch den Moment“.

Die Frau, die etwa in Stellas Alter sein mochte, erwiderte den Gruß nicht, und auch ihr Blick streifte Stella nur für einen Sekundenbruchteil, als sie aufschaute, um einen freien Platz auszumachen. Den nächstgelegenen in der ersten Reihe ignorierte sie, stattdessen quetschte sie sich zwischen den besetzten Stühlen hindurch zu einem einzelnen Tisch hinten am Fenster. Sie passte allein deshalb durch die schmalen Reihen, weil die anderen Frauen zur Seite rückten, jedoch nicht, ohne mit den Augen zu rollen. Die Frau überging das, offenbar war sie derlei abwertende Reaktionen gewöhnt. Kraftlos ließ sie sich auf den Stuhl fallen. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Stella irritiert von dieser Frau. Sie meinte, einen kurzen Moment des Erkennens in den müden, grauen Augen wahrgenommen zu haben. Aber sie konnten sich noch nicht vorher begegnet sein, Stella kannte definitiv keine Kriminellen außer denen, die sie hier in der JVA Helmsand traf.

Sie schüttelte die Gedanken ab und eröffnete routiniert die erste Einheit, indem sie das Wort „Baum“ in die Mitte des Flipcharts schrieb und einkreiste.

„Stellt euch einen Baum vor, den ihr kennt und den ihr mögt. Das kann ein realer Baum sein oder auch ein Foto. Und dann bildet ihr ein Begriffscluster. Das heißt, ihr schreibt alle Begriffe dazu auf, die euch einfallen. Denkt nicht nach, schreibt einfach drauf los, ihr habt dafür zehn Minuten Zeit.“

Während die übrigen Teilnehmerinnen konzentriert ihre Assoziationen zu Papier brachten, wanderte Stellas Blick immer wieder verstohlen zu der Frau, die sich einem direkten Blickkontakt entzog. Ihre rechte Augenbraue wies eine kleine Anomalie auf, eine weiße Strähne inmitten der sonst dunklen Härchen. Etwas, das eine entfernte Erinnerung in Stella auslöste, sie wusste nur nicht, woran. Ihre papageibunte Kleidung bildete einen starken Kontrast zu der ansonsten farblos wirkenden Frau.

Mehr als ihr Namensschild hatte sie bis jetzt nicht zu Papier gebracht. „Wiebke“ stand in ungelenker Schrift auf dem einmal gefalteten DIN A4-Bogen, die Buchstaben scheinbar zusammenhanglos über das Papier verteilt. Zusammengesackt hockte sie da, als hätte sie der Schwerkraft nichts entgegenzusetzen und starrte auf ihren Spiralblock. Selbst ihre strähnigen, dunkelblonden Haare fielen ihr ohne jegliche Spannkraft ins Gesicht. Stella fragte sich gerade, was Wiebke wohl in einem Schreibkurs suchte, als diese endlich ihren Bleistift in die Hand nahm. Einen Satz schrieb sie, vier Worte, das konnte Stella sehen. Und irgendwie schien sie sich diesen Satz bereits zurechtgelegt zu haben, denn bevor sie ansetzte, straffte sie einmal merklich die Schultern, holte tief Luft, schrieb, ohne zu zögern und setzte deutlich ein Ausrufezeichen hinter ihren Satz. Dann sackte sie wieder in sich zusammen. Stella hätte zu gerne gewusst, was es mit diesem Satz auf sich hatte, aber es war unmöglich, ihn von ihrem Platz aus zu entziffern.

Die konzentrierte Stille, die den Raum bis jetzt angefüllt hatte, löste sich allmählich. Die zehn Minuten für die erste Cluster Aufgabe waren längst um und Stella richtete ihre Konzentration wieder auf die übrigen Teilnehmerinnen.

„Kraft“, „Verwurzeltsein“, „himmelwärts“, „Schutz“, „Wachstum“, die Assoziationen sprudelten, und keine davon überraschte Stella. Es war der Grund, warum sie diese Aufgabe stets als Einstieg wählte, denn sie bot so viele positive Anknüpfungspunkte für die weiteren Lektionen. Sie hatte das Flipchart fast vollgeschrieben und schaute ermunternd in die Runde, aber der Strom der Wortbeiträge war offensichtlich versiegt. Gerade wollte sie weitermachen, als Wiebke den Kopf hob und sie direkt anschaute. Mit angehaltener Luft und zusammengepressten Lippen schien sie mit sich zu ringen, ob sie etwas sagen sollte oder nicht. Als ob es nicht um eine schlichte Baumassoziation ging, sondern um die Entscheidung auf dem Zehn-Meter-Brett: Springen oder nicht springen.

„Krüppelkiefer“, stieß sie hastig, aber mit erstaunlich fester Stimme hervor. In der plötzlichen Stille war ihre Aufregung wahrzunehmen. Aus dem Gesicht schien jede Färbung gewichen, dafür zeigten sich am Hals rote Flecken. Irgendwo war ein erstes, leises Kichern zu vernehmen. Stella befürchtete schon, dass ihr die Situation entgleiten würde, als ein Knall, laut und dumpf, die Stille durchbrach. Die Amsel, die aus vollem Flug durch die Gitter hindurch gegen das Fenster geknallt war, blieb außen auf der Fensterbank liegen, benommen, den Flügel merkwürdig abgestreckt. Auf der Scheibe hatte sie einen Abdruck hinterlassen, der Stella an einen Schnee-Engel erinnerte.

Alle waren aufgesprungen und starrten gebannt auf das zuckende Tier.

„Iiih, lebt der etwa noch?“, kreischte die junge Frau, auf deren Namensschild Tamara stand, und löste damit einen Tumult aus, der das Wachpersonal auf den Plan rief. Wiebke war die Erste, die sich fing. Für ihre Körperfülle erstaunlich behände, sprang sie von ihrem Platz auf, öffnete das Fenster und nahm den verängstigten Vogel behutsam auf. Mit leisen Worten und sanfter Stimme versuchte sie ihn zu beruhigen und tatsächlich schmiegte sich der verletzte, aufgewühlte Vogel allmählich in ihre Hände. Wie alle anderen starrte Stella verblüfft auf diese Szene und plötzlich hatte sie das Bild vor Augen: Wiebke, wie sie nach der Schule ein aus dem Nest gefallenes Spatzenküken auflas und mit nach Hause nahm.

„Wiebke Bolitta“, flüsterte Stella in die Stille hinein. Wiebke schaute sie an und nickte kaum merklich.

Sie übergab den Vogel einer der herbeigeeilten Vollzugsbeamtinnen, die ihn mit weit ausgestreckten Armen vor sich hertrug. Dann ließ sich Wiebke, wie alle anderen, zurück in ihre Zelle bringen.

Stella musste sich zunächst sammeln, ehe auch sie sich daran machte, ihre Sachen zusammenzupacken. Ihr Blick fiel noch einmal auf den Schnee-Engel auf der Scheibe und sie fragte sich, ob das Zusammentreffen mit Wiebke Bolitta wohl Zufall sein konnte. Und wenn nicht, was steckte dahinter? In der Aufregung hatten die meisten ihre Namensschilder stehen lassen, auch Wiebke. Aber noch etwas anderes war auf ihrem Tisch zurückgeblieben, der Spiralblock mit dem Vier-Wort-Satz. Stella drehte ihn zu sich um und erstarrte. „Deine Geschichten sind scheiße!“, stand dort in Wiebkes ungelenker Schrift.

Ihre Fingernägel waren inzwischen bis auf das Fleisch heruntergekaut, es müsste eigentlich weh tun, aber Wiebke spürte es nicht. Da war diese rasende Wut in ihr, die sie doch eigentlich nicht mehr wollte, gegen die sie sich aber jetzt machtlos fühlte. Seit einer halben Stunde war sie jetzt zurück in ihrer Zelle und ihr Puls raste noch immer. Was hatte sie sich nur von dieser dämlichen Aktion mit dem Schreibkurs versprochen? Dass Stella Mahlmann sie begrüßt wie eine gute alte Bekannte? Dass ihr irgendetwas leidtat? Nichts dergleichen war geschehen. Im Gegenteil, nicht einmal erkannt hatte sie sie. Und das Schlimmste war, dass sie selbst jetzt auch nicht mehr so tun konnte, als sei alles ein Zufall gewesen. Stella hatte sicher ihren Block gefunden und damit den Satz, den sie ihr eigentlich ins Gesicht hatte sagen wollen. Wiebke griff sich das schon reichlich ramponierte Exemplar der „Land&Gut“ mit der ersten Folge von Stellas Serie „Eine Kindheit auf dem Land“ von ihrem Bett. Sie kannte die Geschichte inzwischen in- und auswendig, so wie alle weiteren Folgen. Aber dazu hätte sie sie nicht einmal lesen müssen, denn sie war ja dabei gewesen. Aber so oft sie die Geschichten auch gelesen hatte: Ihr Name tauchte nicht auf, so, als hätte es sie nie gegeben. Dabei konnte sie sich noch so gut erinnern an diese drei Sommer.

Höher im Zenit konnte die Sonne nicht stehen: Von oben senkrecht strahlte sie wie ein Scheinwerfer auf einen Kindersommer in Meinrode. Die Bauern schwitzten auf ihren Mähdreschern, die Luft war angefüllt mit Staub und dem Duft von frisch gemähtem Getreide. Sobald die ersten Strohballen in den Scheunen gestapelt wurden, fingen wir an, unsere Strohburgen zu bauen, die für die nächsten Monate unser Refugium sein würden. Die Erwachsenen ließen es geschehen, sie hatten es als Kinder ja nicht anders gemacht. Hinter unserem Haus, bei der riesigen Kastanie, stand ein alter Zinktrog mit Wasser, in den wir kurz eintauchten, wenn das Stroh zu sehr juckte oder uns einfach zu heiß wurde.

Zum Mittagessen gab es dann meist Kaltes. Ich liebte Kirschsuppe mit Grießklößchen, die in einer großen Terrine aus Bunzlauer Porzellan auf dem Tisch stand und aus der sich jeder bediente, wann immer er Zeit fand.

Die Männer auf den Mähdreschern bekamen ihren Proviant aufs Feld gebracht, eine Aufgabe, die wir Kinder gerne übernahmen, denn oft fiel etwas für uns dabei ab. Chrischi und ich schnappten uns dann den Korb mit Henkelmann, Butterbroten und Apfelsaft und machten uns auf den Weg in die Feldmark. Immer vorbei an Bäckerei Haase, Chrischis Großeltern. Meistens stand da eine braune Tüte mit Kuchenrändern für uns hinter der Tür, die Chrischis Oma immer abschnitt, weil offenbar niemand Blechkuchen mit Rand kaufen wollte. Aber für uns war es das Paradies, und wenn wir unseren Proviant abgeliefert hatten, saßen wir stundenlang mit den Füßen im Klarbach, mit schokoladeverzierten Gesichtern und klebrigen Fingern und ließen den Bach und den Tag an uns vorbeiziehen.

Wiebke legte die Zeitschrift aus der Hand. Angezogen, wie sie war, legte sie sich auf ihr Bett und starrte ins Leere. Chrischi und Stella. Und sie, Wiebke. Sie erinnerte sich noch genau an den Geruch, den die Kuchentüte verströmte, nach Butter, Schokolade und karamellisiertem Zucker. Nach Glück und Leichtigkeit. Diese drei Sommer mit Stella und Chrischi, obwohl über zwanzig Jahre her, waren doch die schönsten ihres Lebens. Stella konnte sie doch nicht vergessen haben. Und wenn sie es absichtlich unerwähnt gelassen hatte, warum? Sie hatte ihr doch nichts getan, im Gegenteil. Stella hätte ihr helfen sollen. Helfen müssen.

Zu ihrer eigenen Überraschung merkte sie, dass die Wut etwas anderem Platz gemacht hatte, einem Vakuum, das sich automatisch mit Luft füllte, sobald man den Unterdruck aufhob. Nur, dass da nichts war, womit ihr Vakuum hätte gefüllt werden können.

Sie schaute auf ihre blutigen Finger und spürte, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel löste und die Schläfe herunterlief. Sie wischte sie nicht weg.

Kapitel 2

Sobald Stella die Autobahn verlassen hatte, öffnete sie das Fenster einen Spalt breit und ließ sich die Sommerluft um die Nase wehen.

„Die arme Klimaanlage“, sie konnte Danilos Einwände schon hören, wenn er gar nicht im Auto saß. Wenn es nicht um ihren Tick ging, „Heimatluft zu schnuppern“, wie sie es ausdrückte, etwas, das ihr ein tiefes Glücksgefühl bescherte, dann fand ihr Freund etwas anderes. „Nimm doch die rechte Spur, da geht‘s viel schneller“, oder „in die Lücke passt du doch zweimal rein“, er konnte kaum etwas unkommentiert lassen.

Dieses Mal war Stella froh, dass er sie so ungern nach Meinrode begleitete. Sie hatte ihn zwar gefragt, aber mehr aus Pflichtgefühl heraus. Mit Danilo bei ihren Eltern zu sein, strengte sie maßlos an, denn hier trafen offenbar Welten aufeinander, die nicht vereinbar waren. Danilo hatte bislang keinen Verleger für seine Gedichte gefunden, was ihn sowieso schon reizbar machte. Und wenn Stellas Eltern, Clemens und Flora Mahlmann, sich freundlich danach erkundigten, bekam er sofort schlechte Laune und behauptete, dass er in einer solchen, nur auf Profit ausgerichteten Umgebung total abstumpfen würde. Nur ihr zuliebe würde er nicht sofort wieder abfahren. Für Stella waren diese Wochenenden ein Ritt auf der Rasierklinge und sie war froh, diese Baustelle jetzt nicht beackern zu müssen.

Wiebkes Satz hatte sie doch ein Stück aus der Bahn geworfen. Bislang kannte sie nur positive Rückmeldungen zu ihren Geschichten. Sogar ein Verlag hatte Interesse daran signalisiert, was Danilos Stimmung noch einmal Richtung Gefrierpunkt sinken ließ.

Warum war Wiebke extra in den Kurs gekommen? Diese Frage ließ sie nicht los. Und dass es so war, davon war Stella inzwischen überzeugt, an einen Zufall glaubte sie nicht. Nicht, seit sie den Zettel gesehen hatte. Mit Danilo darüber zu reden, war unvorstellbar, also hatte sie sich kurzentschlossen auf den Weg nach Meinrode gemacht. Hier waren Wiebke und sie zur Grundschule gegangen, vielleicht fand sie hier eine Erklärung. Mit jedem Kilometer, den sie Meinrode näher kam, verblasste ihr Alltag und das Leben mit Danilo in Göttingen. Die kleinen, scheinbar in die Landschaft geworfenen Dörfer mit ihren Kirchtürmen in der Mitte und die ihr nur allzu bekannten Knicks und Wäldchen ließen ihre komplexe Welt auf ein überschaubares Maß schrumpfen und als sie die Einfahrt des Mahlmannschen Hofes passiert hatte, war sie einfach nur noch Stella, Papas Stern.

„Na, bisse auch ma wieder da“, plärrte es ihr vom Zaun entgegen, gerade, als sie die Autotür geöffnet hatte. Typisch Lina Ohlhaver. Mahlmanns Nachbarin, zuverlässiger Beginn jeder „Stillen Post“, mit der sich Neuigkeiten im Dorf ausbreiteten, kam just in diesem Moment mit einem Korb Wäsche aus der Haustür, als hätte sie auf Stella gewartet.

„Grüß dich, Lina“, antwortete Stella, „vielen Dank für das Empfangskomittee.“ Gleich würde Lina noch fragen, ob sie ihren Dichter nicht mitgebracht hatte, den sie wie ein exotisches Tier im Zoo zu betrachten pflegte. Wenn sie wüsste, dass dieses Vergnügen auf Gegenseitigkeit beruhte. Für Danilo war Lina, ja, war das ganze Dorf ein einziges Freilichtmuseum.

„Haste deinen Dichter nicht mitgebracht diesmal?“

Na bitte.

„Nee, der hat zu tun“.

„Immer fleißig, immer fleißig. Naja, von nix kommt nix.“

„Ja klar, Lina. Ich geh erstmal rein“. Stella winkte, ließ ihr Gepäck im Auto und ging schnell ins Haus, bevor sie noch mehr von Linas Plattitüden zu hören bekam.

„Stella!“ Flora Mahlmann war in der Küche beim Kirscheneinmachen und wischte sich ihre Hände an der blauen, schon reichlich befleckten Schürze ab. „Werde ich senil oder wusste ich wirklich nicht, dass du kommst?“

„Ich dachte, du könntest Hilfe beim Entsteinen gebrauchen“, erwiderte Stella lachend und griff zunächst in den Eimer mit den prallen, dunkelroten Kirschen, ehe sie sich von ihrer Mutter umarmen ließ.

„Hm, die schmecken.“

„Es sind so viele dieses Jahr und das sind erst die ganz frühen. Nimm dir eine Schürze, Kirschflecken halten ewig.“

Und schon standen Mutter und Tochter gemeinsam in der geräumigen Küche, entsteinten Kirschen, füllten sie in Einweckgläser, redeten und lachten.

„Fast fertig“, Flora strahlte. „Ohne dich säße ich heute Abend noch dabei. Ich setz mal schnell Kartoffeln auf.“

„Meinetwegen musst du dir keine Arbeit machen“.

„Dein Vater wird Kartoffeln wollen, kennst ihn doch: Eine Mahlzeit ohne Kartoffeln...“

„...ist keine richtige Mahlzeit“, führte Stella den Satz lachend zu Ende, während sie die klebrigen Kirschsaftreste vom Fußboden aufwischte. „Wo ist er überhaupt?“

„Er schaut nach dem Rechten, oben am Klarbachberg. Die Gerste ist auch früh dieses Jahr, das geht bestimmt Ende Juni schon los mit der Ernte. Aber selber mähen will er dieses Jahr nicht mehr. Sein Körper macht das nicht mehr mit. Auch wenn er das ungern zugibt.“ Flora schaute ihrer Tochter in die Augen. „Wir sind nicht mehr jung, Stella. Irgendwann ist der Akku leer.“

Stella schluckte. Natürlich wusste sie, dass nichts ewig bestehen konnte und dass dieses Paradies hier in Wahrheit eine körperliche Kraftanstrengung bedeutete für diejenigen, die es bewahrten für die folgenden Generationen. Die Gewissheit, dass alles weiterging und die eigene Mühe immer ein fester Bestandteil des Ganzen sein würde, war immer der Antrieb für die viele, harte Arbeit gewesen. In Stellas Fall aber war der Generationenvertrag stillschweigend aufgehoben. Ihre Eltern waren klug genug, um zu sehen, dass Stella das ehrliche Interesse an der Landwirtschaft fehlte.

„Christian Haase hat schon leztes Jahr geholfen, unsere Ernte einzufahren. Er würde unsere Flächen gerne pachten“, unterbrach Flora die Grübeleien ihrer Tochter.

„Chrischi?“

„Aus dem Chrischi ist ein ziemlich ausgewachsener Christian geworden.“ Lachend deutete sie mit den Armen einen ungefähr dreifachen Umfang ihrer eigenen schmalen Körpermitte an und blähte ihre Wangen auf, als Clemens Mahlmann die Küche betrat.

„Da ist ja mein Stern“, rief er und umarmte seine Tochter stürmisch.

Nach dem Mittagessen setzten sie sich in die „grüne Stube“, draußen, unter die große Kastanie und tranken Espresso. Mittagsträge klappte Stella die Lehne ihres Gartenstuhls etwas nach hinten und schaute blinzelnd in das hochaufragende Blätterdach mit den kerzenförmigen Fruchtständen. Die schweren Äste reichten bis auf den Boden hinab. In ihrem Schatten wuchs nicht einmal Rasen und wenn es regnete, saß man dennoch trocken und geschützt.

„Krüppelkiefer“, murmelte Stella vor sich hin.

„Was hast du gesagt?“ Clemens Mahlmann hatte zwar die Augen geschlossen, schlief aber nicht. Die Zeitung lag auf seinem Schoß, die Lesebrille war bis auf die äußerste Nasenspitze heruntergerutscht.

„Ich habe Wiebke Bolitta getroffen.“

„Ist sie entlassen?“ Auch Flora döste offenbar nur.

„Nein, sie hat meinen Schreibkurs gebucht.“

„Ach, das passt doch gar nicht zu ihr“, murmelte Flora schläfrig. „Und, habt ihr euch unterhalten?“

„Dazu ist da keine Gelegenheit.“

Sie lauschte den Bienen, irgendwo hinter dem Garten über einem der Felder stand eine Feldlerche in der Luft, Stella liebte den Gesang. Die Kirchturmuhr schlug drei Mal. Viertel vor zwei? Viertel vor drei? Sie klang eher blechern und ohne nennenswerte Resonanz, kein Vergleich zu der feinen Stundenglocke der Göttinger St. Jacobi Kirche, in deren Nähe sie mit Danilo wohnte. Und dennoch: Diese hier würde sie unter tausenden wieder erkennen.

Sie horchte auf Clemens regelmäßiges Schnaufen, von Flora war nichts zu hören.

„Wie war das damals eigentlich?“

Flora schaute auf. „Was meinst du?“

„Der Brand. Stimmt es, dass sie nie gestanden hat?“

„Sagt sie das? Ich denke, ihr habt nicht gesprochen?“

„Haben wir auch nicht. Aber ich kann in Zeitungsarchiven recherchieren: Es gibt mehrere Artikel, in denen das Fehlen ihres Geständnisses erwähnt wird.“

„Ich denke, das war nicht nötig“, mutmaßte Flora, die Stirn in Falten gelegt. „Es gab so viel Klatsch und Gerede, wir haben uns daran nicht beteiligt. Aber Fakt war wohl, dass sie mehrfach in der Nähe der Scheune gesehen wurde, auch in der Brandnacht, und sie hatte angesengte Schuhe. Wenn sie es nicht wahr, hätte sie das vermutlich gesagt, oder?“

„Sie hat ihrer Schwester damit gehörig eingeheizt“, Clemens lachte als einziger über sein dürftiges Wortspiel. „Die Scheune des eigenen Schwagers anzuzünden.“

„Aber was soll das Motiv gewesen sein?“, hakte Stella nach. „Hat das nie jemanden interessiert?“

„Ach, das werden wir doch gar nicht gewahr“, Flora stellte die Lehne ihres Gartenstuhls auf, stand auf und räumte die Espressotassen auf das Tablett. „Das wird schon irgendwo aufgetaucht sein, aber für uns hier ist das doch nicht entscheidend. Wir hatten damals Angst, dass wieder ein Feuerteufel im Dorf umgeht, wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Dass Wiebke dann so schnell überführt wurde, war zwar ein Schock, aber gleichzeitig eine Erleichterung. Über das Warum können wir nur spekulieren, aber Carola zuliebe redet auch keiner drüber.“

„Nicht mal Lina“, warf Clemens ein, was Flora durch eine wegwerfende Handbewegung kommentierte.

„Bolittas haben es sich schon immer schwerer gemacht als andere“, sagte sie. „Dass Wiebkes Schwester damals Günther Fest geheiratet hat, war der beste und vielleicht einzige Weg, da raus zu kommen, auch, wenn sie es mit Brigitte als Schwiegermutter schwer hat. Aber alles besser, als mit dem alten Gneiser da unten am Klarbach in der Bruchbude zu leben, nachdem die Mutter gestorben war.“

„Wiebke musste das“, warf Stella nachdenklich ein.

„Ja. Es muss schwer gewesen sein, zumal Carola wohl den Kontakt zu beiden, Ewald und Wiebke, abgebrochen hat.“

„Hat Wiebkes Vater sich nicht später umgebracht?“

„Ewald hat sich erschossen auf seinem Dachboden. Wiebke muss ihn gefunden haben. 89 war das, glaube ich, du hattest gerade angefangen, zu studieren.“

„Da machst du jetzt aber keine Erzählungen draus, ja?“ Clemens setzte sich nun auch auf und musterte seine Tochter über die schmale Lesebrille hinweg.

„Potential hätte es“, erwiderte Stella.

„Lass es, du weißt nie, was das aufwirbelt. Für ein Dorf ist es schon schlimm, einen Brandstifter in den eigenen Reihen zu haben. Carola muss damit klarkommen, dass die eigene Schwester an ihrer Existenz gezündelt hat, und auch für ihren Sohn ist es nicht leicht. Sie scheinen es einigermaßen hinzubekommen, also rühr nicht dran.“

„Wie und warum genau, das geht uns doch auch gar nichts an“, pflichtete Flora ihrem Mann bei. „Fakt ist doch: Wenn Wiebke unschuldig wäre, dann hätte sie das doch geäußert, oder?“

Gerade davon war Stella nach ihrem Zusammentreffen mit Wiebke nicht überzeugt. Warum konnte sie auch nicht näher erklären. Es war ein Gefühl, das sie aber lieber für sich behielt.

„Es ist nur“, grübelte sie weiter, „ich bin immerhin mit ihr zur Schule gegangen und wir haben doch auch ab und zu zusammen gespielt. Es will mir nicht in den Kopf.“

„Ab und zu ist gut“, antwortete Flora. „Ein und ausgegegangen ist sie bei uns, zumindest solange ihr auf der Grundschule wart. Danach war das plötzlich vorbei mit eurer Freundschaft. Hat wohl nicht mehr gepasst. Aber was mir einfach nicht in den Kopf will: Wiebke war doch immer so eine Tierfreundin. Und dann zündelt sie ausgerechnet an der Seite der Scheune, wo die Kälberverschläge liegen? Zehn Kälber sind elend verreckt, bei lebendigem Leib verbrannt. Dieses fürchterliche Geschrei hab ich immer noch im Ohr.“ Sie schaute nachdenklich in Richtung des Festschen Hofes hinüber, dessen rote Dächer die direkten Nachbarhäuser überragten. „Naja, man steckt nicht drin.“ Sie nahm das Tablett vom Tisch und trug es ins Haus.

Kapitel 3

„Bolitta, Besuch.“ Kurz und knapp lautete die Ansage. Zumindest, wenn die ältere, robuste Beamtin Dienst hatte, die Wiebke insgeheim nur „Bulldogge“ nannte. Sie hatte sich von Anfang an nicht die Mühe gemacht, die Namen derer zu lernen, die ihr Leben jetzt bestimmten. Wenn überhaupt, dann war ihr die Bulldogge im Grunde von allen die liebste, weil die sich auf das Nötigste beschränkte. Da gab es auch noch die mit diesem pseudo-verständisvollen Gesichtsausdruck, den sie aufsetzte, sobald sie ihre Zelle betrat und mit dem sie die immer gleiche Frage begleitete: „Wie geht es dir heute?“ Wiebke fühlte sich davon belästigt. Sie vermutete, dass die Bulldogge weit mehr im Leben gesehen und mitgemacht hatte und aus Erfahrung wusste, dass manche Dinge einfach nicht umkehrbar waren und keiner weiteren Worte bedurften.

Bevor sie sich auf den Weg machte, warf sie noch einen flüchtigen Blick auf ihren kleinen Taschenkalender, in dem sie täglich die noch verbleibenden Tage bis zu ihrer Entlassung eintrug. Ein Countdown, dessen Ende sie nicht entgegenfieberte, wie die anderen inhaftierten Frauen. Wenn sie ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass die Fremdbestimmung ihr sogar guttat. Nichts entscheiden zu müssen, nicht mal, wann sie rausgehen, essen oder schlafen sollte, hatte ihr im Lauf der Zeit eine Sicherheit gegeben, in der sie einfach abwarten konnte, bis wieder ein Tag rum war. Oder sie ihr ganz überschaubares Fitnessprogramm absolvieren konnte, das sich im Wesentlichen darauf beschränkte, auf der Stelle zu gehen. An Laufen war noch nicht zu denken, das machten ihre Knie nicht mit. Außerdem mochte sie es nicht, ihr schwabbelndes Bauchfett bei jedem Schritt zu spüren. Alleine in Meinrode hatten ihre Gedanken ständig darum gekreist, wann sie guten Gewissens wieder etwas essen dürfte und was sie dann essen würde. Hier in ihrer Zelle konnte es inzwischen sogar passieren, dass sie sich gestört fühlte, wenn das immer gleiche Abendbrot hereingereicht wurde: Graubrot, Margarine, Aufschnitt, Käse und etwas Rohkost. Im Grunde markierten die Gitter vor ihrem Fenster ihren persönlichen Freiraum.

Laut ihrem Kalender war heute Freitag. Carola kam alle paar Wochen sonntags für maximal zehn bis fünfzehn Minuten. Mehr Zeit hatte sie nie, aber sie hatten sich ja im Grunde auch nichts zu sagen. Wiebke hatte keine Idee, was Carolas zusätzlicher Besuch für einen Grund haben könnte, schlurfte aber schwerfällig hinter der Bulldogge her, wartete an jeder Tür, bis sie vor ihr auf- und hinter ihr wieder zugeschlossen war, bis sie schließlich vor dem Besucherraum standen.

Die Frau, die sofort am Tisch nahe des Fensters aufsprang, als Wiebke den Raum betrat, war nicht Carola, es war Stella. Wiebke spürte den deutlichen Reflex, sofort wieder umzudrehen, aber die Bulldogge hatte die Tür bereits wieder verschlossen und so blieb sie einfach bewegungsunfähig stehen und starrte Stella entgegen.

„Hallo Wiebke“. Stella wirkte ebenfalls angespannt, registrierte Wiebke erstaunt. Die Begrüßung klang eher nach einer Frage und ihre Hände wischten unablässig über die Oberschenkel ihrer Designerjeans.

„Entschuldige, dass ich unangemeldet komme, aber ich dachte, du würdest mich vielleicht nicht sehen wollen.“

Wiebke trat zögernd an den Tisch, rückte sich einen Stuhl ab und setzte sich. Auch Stella nahm wieder Platz. Sie waren die Einzigen und ihr Schweigen füllte den schmucklosen Besucherraum.

„Ich hab dir deinen Collegeblock wieder mitgebracht“, unternahm Stella einen neuen Anlauf. „Ich musste ihn unten abgeben, aber du bekommst ihn später ausgehändigt.“

Wiebke schwieg weiter, ihr Blick schwenkte abwechselnd zwischen Fenster und Stella hin und her. „Warum bist du hier?“, fragte sie schließlich, erstaunt über den Klang ihrer Stimme. Sie redete so wenig.

„Ehrlich gesagt, weiß ich es selbst nicht genau“, antwortete Stella. „Das alles neulich war doch kein Zufall, oder? Deine Anmeldung zum Kurs, der Zettel: Warum das alles? Du hättest mir auch schreiben können.“

„Und was hätte ich dir schreiben sollen?“

Stella lachte: „Na, dass du meine Geschichten scheiße findest, zum Beispiel, das hätte mich doch sofort interessiert.“

Da war sie wieder, dachte Wiebke, diese Leichtigkeit, mit der Stella schon damals alles nehmen konnte und die sie fasziniert und auch beneidet hatte, weil sie selbst so gar nichts davon hatte. Aber wie sollte sie auch.

Sie schwiegen wieder. Von draußen drangen die Geräusche der Bundesstraße durch die geöffnete Lüftungsklappe. Der Wind spielte in den Blättern einiger großer Pappeln, die Wiebke bislang kaum wahrgenommen hatte, wenn sie mit Carola im Besucherraum saß, obwohl sie direkt hinter der mit Stacheldraht versehenen Mauer standen. Oder davor, je nachdem. Wind in Pappeln. Das Geräusch entführte ihre Gedanken an das flache Ufer des Klarbachs, an dem der Junge so oft gesessen hatte mit seinem Skizzenbuch. Um ihn dabei zu beobachten, hatte sie nicht einmal das Haus verlassen müssen. Von ihrer Veranda aus hatte sie das Ufer zwischen den hohen Bäumen genau im Blick. Ob er das wohl immer noch tat? Stundenlang auf einem der großen Geröllsteine sitzen und zeichnen? Sie hatte lange nicht mehr an ihn gedacht. Gunnar. Ihren Neffen. Als Jugendliche hatte sie selbst oft genug dort gesessen, wo sich kaum jemand hinverirrte, weil hinter dem Klarbach im Grunde nur noch der Grenzzaun kam. Hier war man für sich, geschützt auch durch den Geräuschvorhang des ständig murmelnden Baches und des Windes in den Bäumen.

„Ich habe dich gesehen damals. Weißt du das eigentlich?“ Wiebke schaute Stella unvermittelt direkt in die Augen. „Du hast durchs Fenster geguckt und zugesehen.“

„Was meinst du?“ Auf Stellas Stirn grub sich eine Falte zwischen die Augenbrauen. Sie hatte fast nicht mehr damit gerechnet, dass Wiebke überhaupt etwas sagen würde.

„Danach bist du einfach nicht mehr gekommen. Hattest keine Zeit mehr für mich.“ Wiebke ignorierte Stellas Frage.

„Wonach? Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, Stella zuckte ratlos mit den Schultern. „Meinst du, dass wir uns aus den Augen verloren haben als ich aufs Gymnasium kam? Ist das nicht auch ein Stück normal? Mit Chrischi hatte ich auch nur noch wenig zu tun, wir haben uns einfach unterschiedlich weiterentwickelt.“

„Immerhin erwähnst du Chrischi in deinen Geschichten. Mich nicht.“ Wiebkes Stimme zitterte und sie spürte einen dicken Knoten im Hals. Nur nicht heulen, dachte sie, nur jetzt nicht heulen. Trotzig schluckte sie den Knoten hinunter. „Und wir haben uns auch nicht unterschiedlich entwickelt, unterschiedlich waren wir sowieso. Du hast mich einfach sitzen lassen, und zwar nach diesem Tag.“

Stella war aufgestanden, hatte sich von Wiebke abgewandt und dachte an das Gespräch mit Flora. Ein- und ausgegangen ist Wiebke bei uns, hatte ihre Mutter gesagt, bis es plötzlich vorbei war.

„Was war an diesem Tag? Mensch, das ist über zwanzig Jahre her, wir waren Kinder. Ich erinnere mich an nichts Außergewöhnliches.“

Wiebke lachte trocken auf. „Außergewöhnlich war es auch nicht, jedenfalls für mich nicht. Aber offenbar für dich leicht zu verdrängen.“ Sie drückte sich schwerfällig von ihrem Stuhl hoch. „Es war ’ne blöde Idee von mir, das mit dem Kurs“, und wandte sich der Bulldogge zu: „Ich will zurück“.

„Warte“, sagte Stella hastig. „Du könntest mir zwar einfach sagen, was du meinst, aber ok, offenbar willst du nicht. Dann sag mir das: Was genau hat das mit mir zu tun? Mit meinen Geschichten? Es sind nur Geschichten, mehr nicht.“

Wiebke drehte sich noch einmal um.

„Für dich vielleicht. Du fügst einfach immer neue Kapitel an. Für mich sind es die vier Jahre, in denen mein Leben schön war und das hatte mit dir zu tun. Es war auch meine Geschichte, aus der du mich ausradiert hast. Du hast das einzig schöne Kapitel aus meiner Geschichte gelöscht.“

Sie nickte der wartenden Beamtin zu, ließ sich aufschließen und ohne sich noch einmal umzudrehen, trat sie auf den Zellengang hinaus. Der Weg zurück fühlte sich doppelt so lang an wie sonst, aber sie schaffte es, die Tränen so lange zurückzuhalten, bis ihre Zellentür hinter ihr ins Schloss fiel.

Am Ausgang nahm Stella ihre Sachen in Empfang und durchwühlte als erstes die Handtasche nach ihrem Nokia 3310, das ihre Eltern ihr zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatten. Für Danilo einmal mehr ein Indiz dafür, dass sie ihre Tochter nicht „von der Kette lassen können“, wie er sich ausdrückte. Stella wählte ihre Göttinger Festnetznummer und stellte erleichtert fest, dass nur der Anrufbeantworter dranging, den sie selbst besprochen hatte.

„Hi, Dani“, sprach sie nach dem Piep, „ich komm‘ heute doch noch nicht, ich muss noch ein paar Tage bleiben. Melde mich.“

Das musste reichen. Jede mögliche Erklärung würde er vermutlich sowieso nicht gelten lassen. Hatte sie denn überhaupt eine? Dieser Aufwand mit dem Besuch in der JVA, nur um von Wiebke Bolitta Rätsel gestellt zu bekommen? Was fiel ihr eigentlich ein? Aber je länger sie grübelte, desto mehr hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass da etwas war, das heraus wollte. Heraus musste. Konnte es wirklich sein, dass sie so viel verdrängt hatte? Dass sie für Wiebke mehr bedeutet hatte als umgekehrt? Als sie ihre Geschichten für die Land&Gut schrieb, hatte sie ab und zu auch an Wiebke gedacht, ja, aber sie hatte sie einfach nicht so deutlich vor sich gesehen.

„Ein- und ausgegangen“, murmelte sie vor sich hin, ließ den Motor an und fuhr los. Unterwegs versuchte sie, sich an einzelne Begebenheiten zu erinnern, und wunderte sich, dass es doch nicht wenige waren, die sich nach und nach als innere Bilder an die Oberfläche drängten: Wiebke in der Schule, mit ihrem hilfesuchenden Blick auf Stella, wenn sie eine Kopfrechenaufgabe nicht schnell genug lösen konnte. Und Lehrer Kruse, der vor ihr ungeduldig auf- und abwippte. Na Bolitta, können wir heute noch mit einer Antwort rechnen? Oder Wiebke bei Mahlmanns am Esstisch, was Clemens Mahlmann stets mit einem Oh, unser Kostgänger ist wieder da, kommentierte, worüber alle lachten, denn es war ja genug da und jeder wusste, dass Mahlmanns ein gastfreundliches Haus waren. Hatte Wiebke auch gelacht? Stella wusste es nicht. Kindergeburtstage hatte sie stets noch vor dem gemeinsamen Pizzaessen verlassen, weil sie um fünf zuhause sein musste. Ausnahmslos. Ja, daran konnte sich Stella plötzlich erinnern: Wiebkes immer etwas panische Frage nach der Uhrzeit und den überstürzten Aufbrüchen, egal, was man gerade tat. Hatte es damit zu tun?

Meinrode in Sicht, bog sie kurzentschlossen rechts ab Richtung Klarbach. Schmale Feldwege führten bis an die unwegsam abfallende Böschung zur Flussniederung. Ab hier gab es nur noch den Schotterweg hinab. Stella ließ das Auto oben stehen, stieg aus und ließ den Blick über die fast reife Gerste schweifen. Sie liebte das sanfte Geräusch, wenn der Wind sich in den langen Grannen der Ähren fing und mit ihnen spielte wie mit einer Wasseroberfläche. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte Chrischi Haase seinen monströsen John-Deer-Trecker auf dem Feldweg abgestellt und ging mit prüfendem Blick durch die Reihen. Sie vermutete zumindest, dass es Chrischi war, nach dem, was Flora erzählt hatte. Vorsichtshalber winkte sie hinüber, aber Chrischi hielt den Blick konzentriert geradeaus gerichtet.

Sie ging den schmalen Weg die Böschung hinab. Hinter der ersten Biegung hörte sie das gleichmäßige Rauschen und Murmeln des Klarbachs und dann rückte auch Bolittas Haus in den Blick.

Das ganze Anwesen war vernachlässigt wie eh und je, genauso hatte sie es in Erinnerung. Der hellgrün gestrichene Rauputz war vielleicht noch löchriger geworden, überall zeigten sich Risse. Die Schuppen rechts am Haus mit den gelben, gewellten Kunststoffdächern, die irgendwann einmal lichtdurchlässig gewesen sein mussten, waren mit Vorhängeschlössern gesichert. Was eigentlich ein Witz war, denn jeder, der hinein gewollt hätte, hätte sie mit einem kräftigen Ruck aus den Angeln heben können. Stella zögerte kurz, ging dann aber durch die Gartenpforte, die wie schon damals ohne Funktion war, denn den dazu gehörigen Zaun gab es gar nicht. Die Waschbetonplatten, die zur Haustür führten, waren von Gräsern und Breitwegerich überwuchert. Links am Haus vegetierte eine knöcherne Kiefer vor sich hin. „Krüppelkiefer“, kam es Stella sofort in den Sinn. Ganz deutlich hörte sie es und wusste sofort, dass es Kruse gewesen war, der das vor der ganzen Klasse mit all der Verächtlichkeit in der Stimme gesagt hatte, zu der er fähig gewesen war. Und alle hatten gelacht, denn das war Kruses Drehbuch und an seine Rollenverteilung hatten sich Generationen von Meinrödern gehalten. Jeder Jahrgang hatte die zur Verfügung stehenden Rollen besetzt: Den Hanswurst, die besonders Brave, den Opportunisten und den armen Teufel, der nichts richtig machen konnte. Für Wiebke musste es die Hölle gewesen sein, dachte Stella, warum hatte sie das denn nicht durchschaut?

Sie ließ ihren Blick über das rotte Anwesen schweifen, in dem Wiebke groß geworden war. Der Kontrast zu ihrer eigenen heilen Welt konnte nicht größer sein. Auf Stella hatte das immer auch einen gewissen Reiz ausgeübt. Ein Hauch von Huckleberry-Finn-Wildnis. Wie naiv, dachte sie jetzt. Auf der Rückseite des Hauses lag das Fenster zur Stube. „Ich habe dich gesehen damals. Du hast durchs Fenster geguckt und zugesehen.“ Dieses Fenster meinte sie. Stella wusste es sofort, als sie um die Ecke gebogen war, und fröstelte.

Wiebke lag wach. Nach Stellas Besuch hatte sie geweint, wie in all den Jahren zuvor nicht. Sie hasste es, weil die Tränen ständig Bilder an die Oberfläche spülten, die sie nicht sehen wollte. Und weil sie allein war mit all dem Müll. Weinen führte doch höchstens dazu, dass sie sich noch schwächer fühlte. Am Anfang ihrer Haft waren ihr einmal die Tränen gekommen, als die Psychotante sich mit ihr unterhalten hatte, die es darauf anlegte, all das auszugraben, was sie doch längst hinter sich gelassen hatte. Für einen Moment hatte sie es geschafft und sie schien Wiebkes Tränen als Erfolg für ihre Bemühungen zu verbuchen. „Lassen sie sie zu, die Tränen, sie müssen sich nicht schämen.“ Aber Wiebke hatte sich nicht geschämt, sie hatte sich verabscheut dafür. Und vom professionell mitleidigen Blick und dem leichten Händedruck auf ihrer Schulter hätte sie kotzen können. Später hatte sie über junge Frauen gelesen, die sich in die Haut ritzten, um zu fühlen. Sie hatte es versucht, aber es ging ihr nicht besser damit. Es bewirkte nichts, außer, dass man ihr noch mehr Stunden mit der Psychologin verpasst hatte.