Nach den Dunklen Tagen - Leonora Kneist - E-Book

Nach den Dunklen Tagen E-Book

Leonora Kneist

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2083: Vorhergehende Generationen haben unseren Planeten an seine Grenzen gebracht, sodass wir zu einem Leben unter Extrembedingungen verurteilt sind. Der Sauerstoff in der Atmosphäre ist knapp, der Kohlendioxidgehalt hoch - wir mussten uns anpassen. Einige von uns haben Glück: Sie leben in Kuppelstädten, geschützt unter einer Hülle. Andere, wie ich, kämpfen hier draußen ums Überleben. Zusammen mit ihrer Mutter lebt Kate auf dem Freien Land, nicht weit von der Metropole Frankfurt entfernt. Die Bedingungen sind hart, das Klima ist extrem: Stürme, Hitze und Wassermangel bestimmen den Alltag. Damit sie über die Runden kommen, veranstaltet Kate gemeinsam mit ihrem besten Freund Davie illegale Autorennen - stets darauf bedacht, das Augenmerk des städtischen Militärs nicht auf sich zu lenken. Denn das System ist rigoros: Unter dem Deckmantel des Klima- und Bevölkerungsschutzes fordert die Konformität der Gewählten 8 absolute Regeltreue. Kates Bemühungen nehmen ein jähes Ende, als Milosch sich eines Nachts in ihrer Werkstatt versteckt. Der junge Forscher aus der Randzone ist auf der Flucht und weiß das System auf seinen Fersen. Als Kate ihm zur Hilfe eilt, ahnt sie noch nicht, auf was sie sich damit einlässt ...

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Für Lenn und Jonah:

»Was am meisten Liebe in euch weckt, das tut.«

Teresa von Ávila

Inhalt

Statut der Dunklen Tage

Prolog

Das Freie Land

Auf der Flucht

Es fügt sich zusammen

Gemischte Gefühle

Die Schlinge zieht sich zu

Die Ruhe im Sturm

Dum spiro, spero

Plan B

Wind of Change

Der Stadtentscheid

Verluste

Schlag auf Schlag

In fremden Gefilden

Kaviar und Champagner

Ende der Freiheit

Ein unmoralisches Angebot

Auch ein Kieselstein schlägt Wellen

Zurück auf Anfang

Wenn Blut fließt …

Ein schmutziger Deal

Initium Novum

Epilog

Schlusswort

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Statut der Dunklen Tage

Auszug aus der Übergreifenden Konvention des Städterats vom 3. März 2042:

Das Wohl Aller steht über dem Wohl des Einzelnen. Das Wohl unseres Planeten ist das Höchste Gut.

Der einzige und allein gerechte und allein zu rechtfertigende Endzweck des Staates ist: das größte Glück der größten Zahl. (Jeremy Bentham 1748–1832)

Punkt 3.4: Privatpersonen

Folgende Regeln sind Basis eines nachhaltigen und friedlichen Miteinanders, das unsere fragile Umwelt auch für folgende Generationen bewahren soll. Zur Reduktion des CO2-Ausstoßes sowie zur Wahrung der sozialen Gerechtigkeit und der inneren Sicherheit gilt:

1. Ernährung:

Der Konsum von Fleisch im Rahmen der vorgegebenen Mengentabelle ist auf Sonn- und Feiertage beschränkt.

Jeder Haushalt ist angehalten, die Einhaltung eigenverantwortlich zu händeln. Kontrollen des städtischen Militärs sind zulässig.

Nichtregistrierte Haltung und Schlachtung von Nutztieren ist strafbar.

2. Ressourcenverteilung:

Die Wasserverteilung obliegt allein den Kuppelstädten.

Eine Einbehaltung der Ressource über den festgesetzten persönlichen Bedarf hinaus ist nicht bewilligt. Mehrvorrat muss an den regionalen Tanks abgegeben werden.

Kultivierte Nahrungsmittel sind bis zu einer Menge von 5 kg pro Person pro Monat dem Erzeuger vorbehalten.

Eine Einbehaltung über den festgesetzten persönlichen Bedarf hinaus ist nicht gestattet. Mehrvorrat muss an den regionalen Tanks abgegeben werden.

3. Mobilität:

Die Nutzung von Altfahrzeugen ist nicht gestattet.

Ausnahmen sind wenige registrierte Oldtimer innerhalb der Kuppelstädte.

Für den erweiterten Transport sind öffentliche Magnet-, Batterie- und Elektrozüge zu nutzen.

Die dafür notwendige Infrastruktur ist von den Kuppelstädten auszubauen und allen Menschen zugänglich zu machen.

4. Fortschritt:

Etwaige Innovationen, unter Berücksichtigung der Aufrechterhaltung oder Verbesserung unseres Ökosystems, können im Forschungsausschuss des Städterats eingereicht werden.

Eine eigenverantwortliche kommerzielle Umsetzung dieser Ideen ist nicht erlaubt.

5. Sicherheit:

Politische Aussagen sind durch die Interessenvertretungen der Zonen in den monatlichen Treffen mit dem Bürgermeister anzubringen. Darüber hinausgehende Kundgebungen sind nicht erwünscht.

Zur Aufrechterhaltung unserer Lebensbedingungen ist eine Sicherstellung durch das städtische Militär unabdingbar.

Zur Nachwuchssicherung ist der/die Letztgeborene zur Eignungsprüfung verpflichtet.

Die Nicht-Befolgung der Statuten riskiert ein erneutes Herein brechen der Dunklen Tage und wird entsprechend geahndet.

Prolog

Es ist nutzlos, über das Interesse der Gemeinschaft zu sprechen, ohne zu verstehen, was das Interesse des Einzelnen ist.

(Jeremy Bentham 1748–1832)

Er atmete vorsichtig ein und aus. Panisch achtete er darauf, nicht das kleinste Geräusch zu verursachen. Doch als seinen Lungen die Luft entwich, erschien ihm der Lufthauch wie Donnern. Sein Herz pochte, Adrenalin schoss durch seinen Körper. Sie durften ihn nicht finden. Vorsichtig verlagerte er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Seine Muskeln schmerzten extrem. Gebückt hing er unter dem Schreibtisch im Nachbarlabor der Universität Frankfurt. Er konnte von Glück sagen, dass er das Splittern des Glases vernommen hatte. Normalerweise war er so in seine Arbeit vertieft, dass ihn nichts und niemand herausreißen konnte. Diese Mal war er nicht bei der Sache gewesen. Ein Umstand, der ihm vorerst das Leben gerettet hatte. Wobei die Betonung auf ›vorerst‹ lag. Schließlich kannte er niemanden, der jemals gegen das System gewonnen hatte. Hastig schob er diesen Gedanken fort. Er musste konzentriert bleiben, optimistisch denken. Andernfalls konnte er sich auch gleich seinen Häschern ausliefern.

Das gedämpfte Geräusch von Schritten ließ Milosch erstarren. Angestrengt lauschte er, ob der Hall jener Tritte zunahm. Sein Magen sackte ab: Die Person kam eindeutig in seine Richtung. Ein erneuter Adrenalinschub trieb ihm den Schweiß in die Handflächen. Flach atmete er weiter, während das Blut in seinen Ohren rauschte. Die Labortür quietschte – Milosch verkrampfte. Laut knirschte das Glas, als schwere Stiefel die Scherben zerbarsten. Kurz darauf Stille – nervenzerreibend, dass es ihn fast in den Wahnsinn trieb. Sein Herz pochte mit aller Kraft. Gerade, als die Anspannung ihn zu überwältigen drohte, setzte das Knirschen abermals ein. Ein Schauer jagte Milosch über den Rücken. Sie würden ihn finden! Die nächsten Sekunden würden über sein Leben, seine Freiheit entscheiden.

Just in dem Moment, als die schwarzen Militärschuhe ins Sichtfeld kamen, ertönte ein leiser Ruf aus dem Flur. Die Treter hielten inne, bevor sie sich zögernd zum Türrahmen drehten und zügigen Schritts den Raum verließen. Fast wäre Milosch vor Erleichterung auf dem Boden zusammengesackt. Er hatte dem Schicksal, das ihm blühen sollte, gerade noch mal ein Schnippchen geschlagen, so viel stand fest. Dabei machte er sich nichts vor: Auch dieses Mal war es bloß Glück, dass er davonkam. Die Idee mit dem Schreibtisch war zu simpel gewesen – sie hätten ihn früher oder später gefunden. Warum nur hatte er sich gerade dort verkrochen? In jedem schlechten Film suchte sich das Opfer ein derart miserables Versteck. Es existierte noch nicht mal ein Fluchtweg! Die Frage ließ sich allerdings ziemlich einfach beantworten: Auf die Schnelle war ihm schlichtweg nichts Besseres eingefallen. Er war Wissenschaftler, verflucht, kein Action-Held. Andererseits: Es hatte gelangt und das zählte. Er atmete zweimal durch, bis sein Puls sich normalisierte. Nun wieder Herr seiner Gedanken, konzentrierte sich Milosch auf die neu gewonnene Chance. Dabei wagte er es nicht, sein Versteck zu verlassen. Er musste irgendwie aus der Fakultät herauskommen. Angestrengt spitzte er die Ohren. Es kostete ihn alle Mühe, überhaupt ein paar Fetzen des Gesprächs aufzuschnappen, das seine Häscher direkt vor dem Labor ausfochten.

»… haben die ganze Etage abgesucht … du kannst uns vertrauen … hier nirgendwo.«

»Habt … anderen festsetzten …?«

»Ja, aber keiner … So wie es aussieht, arbeitet der Typ allein … Ziemlicher Einzelgänger.«

»Das interessiert mich herzlich wenig. Ich will wissen, wo er seine Unterlagen versteckt! Das Terminal war auch schon leer. Also dreht jeden beschissenen Stein um! Mit wem hat er hier am Campus gesprochen? Wer hat ihm die Tür aufgehalten und wer seine Katze gestreichelt? Er hat ein Projekt aus dem Boden gestampft, das er ohne fremde Hilfe nur schwer umsetzen konnte. Ihr dreht jetzt eine scheiß Runde nach der anderen, bis wir ihn oder seine Arbeit haben.«

Vor Erregung war die autoritäre Stimme lauter geworden. Milosch zog instinktiv seinen Kopf ein. Nein, das schien niemand zu sein, dessen Bekanntschaft er schließen wollte.

»Ja, Boss!«

»Dann nehmt euch jetzt verflucht noch mal die anderen vor. Irgendwer muss ihn doch kennen! Und dann geht durch die Datenbanken: ein Student nach dem anderen. Solange er in der Stadt ist, kann er uns nicht entkommen.«

Das Gespräch endete abrupt. Jetzt liefen die Stiefel den Gang hinunter und entfernten sich vom Labor.

Sicherheitshalber wartete Milosch kurz, bis er sich unter dem Schreibtisch hervortraute. Ein Blick durch den Raum und durch die kaputte Glasscheibe zeigte ihm, dass die Luft rein war. Eines stand fest: Er musste hier weg – und das so schnell wie möglich. Er wusste zwar noch nicht wie, aber er musste raus aus der Stadt. Hektisch streifte er seinen Laborkittel ab und stopfte ihn in eine der Schreibtischschubladen. Er war gezwungen unsichtbar zu werden. Sie würden nach einem Wissenschaftler suchen – und diesem Bild durfte er nicht entsprechen. Eilig musterte er seine Laufjacke und die Turnschuhe. Eigentlich hatte er heute Abend trainieren wollen … Zweifel beschlichen ihn, doch er schob sie energisch fort. Es könnte klappen – es musste klappen. Die andere Hälfte der Sportsachen lag im Büro, aber als Maskierung sollte es reichen. Er bückte sich erneut unter den Schreibtisch und griff nach der Ursache allen Ärgers: eine prall gefüllte Aktentasche, die die besten Jahre schon hinter sich hatte. Die wertvollen Unterlagen eng an sich gepresst, eilte Milosch zur Tür. Er musste aus diesem Flügel, so lange sich seine Verfolger auf die anderen Bereiche des Gebäudes konzentrierten. Beinahe zufällig registrierte er die Basecap, die an der Garderobe vergessen hinter der zerbrochenen Scheibe hing. Ohne zu zögern nahm er sie an sich, bevor er einen Blick auf den Flur wagte. Ab jetzt begann die nächste Etappe seines Spießrutenlaufs. Zumindest ein Umstand verschaffte ihm Ruhe: Seine Kommilitonen würden den Häschern keinerlei Hilfe bringen. Wen auch immer sie befragten, sie könnten ihnen nicht weiterhelfen. Doch derart auf sich allein gestellt, war auch die Flucht aus Frankfurt schwer. Was Milosch am allernötigsten brauchte, war ein gutes Versteck. Ein Versteck, in dem er sich einen Plan zurechtlegen konnte. Ein Versteck, das ihm genug Luft verschaffte, bis er wusste, wie er verschwinden konnte. Schnell ratterte er alle naheliegenden Optionen durch. Er befand sich am Riedberg, in den naturwissenschaftlichen Fachbereichen. Mit Sicherheit hatte das Einsatzkommando schon alle Räume der Fakultät durchsucht. In diesem Fall wusste auch jeder Student in der Umgebung, dass er gesucht wurde. Er konnte also nicht weit kommen, ohne dass irgendjemand Alarm schlug. Ganz zu schweigen von den Nano-Satelliten, die vermutlich bereits aktiviert waren. Milosch unterdrückte ein Fluchen. Er musste in der Menge untertauchen. Gedanklich raste er durch alle möglichen Orte, die ihm kurzfristig Schutz boten. Als er beim Wissenschaftsgarten ankam, fiel es ihm wie Schuppen von seinen Augen: die alten Gewächshäuser! Sie waren nicht für die Öffentlichkeit gedacht und er besaß zufällig die alten Schlüssel. Zumindest, wenn er das Fundstück eingepackt hatte. Hastig tastete er nach dem schmalen Bund in seiner Tasche, dass er eigentlich in der Verwaltung hatte abgeben wollen. Seine Finger umfassten das kühle Metall. Es war ein Risiko, aber andere Optionen hatte er nicht. Niemand würde ihn dort vermuten und es war eine Chance, aus diesem Schlamassel herauszukommen.

1

Das Freie Land

Klimabewahrung betrifft jeden von uns.

Unsere gesellschaftlichen Strukturen, Regeln und Normen sind der Bewahrung unseres Lebensraums untergeordnet.

(Auszug aus der Übergreifenden Konvention vom 3. März 2042 | Einleitung)

Die Menschen dachten immer, dass es das Klima sein würde, das uns irgendwann in die Knie zwingt. Oder eines der übrigen Probleme, die uns damals begleiteten: Überpopulation, Pandemien, politische Spannungen oder dergleichen. Fragte man umher, so sahen Wissenschaftler, Klimaaktivisten oder Otto Normalverbraucher ähnliche Szenarien auf uns zukommen. Der Irrtum in den Befürchtungen, der alle vereinte, lag jedoch in dem Wörtchen ›irgendwann‹. Irgendwann klang weit entfernt; nach einem Problem, das einen selbst und die direkten Nachfahren nicht beträfe. Die Generation meiner Großeltern pflegte daher den Trugschluss, dass das Worst-Case-Szenario vielleicht Ende des Jahrhunderts einträte. Mit Blick auf das Klima bedeutete dies: Die Bedrohung war nahbar, aber kein Thema, mit dem es sich ständig auseinanderzusetzen galt. Man besaß genug Zeit, um später aktiv zu werden. Doch wie so häufig irrten sich die Menschen. ›Irgendwann‹ war relativ und konnte jederzeit eintreten – so auch schon morgen.

Zumindest auf eine Annahme war bei all den Mutmaßungen Verlass: Die Menschen waren es selbst, die den Wandel einläuteten – und zwar schneller, als alle dachten.

Heute lehren sie, dass es drei Zeitrechnungen gibt: vor Christus, nach Christus und nach den Dunklen Tagen. Die Dunklen Tage, das waren jene Wochen, die in den alles verändernden Sommer 2040 fielen. Den Sommer, der so viele Katastrophen herbeibrachte, dass sich die Bevölkerung innerhalb der nächsten Jahre massiv dezimierte. Eine Hiobsbotschaft folge der nächsten: großflächige Überschwemmungen, langanhaltende Hitzewellen, unheilvolle Tornados und ständig mutierende Viren, gegen die bald keine Impfung mehr half. Den Rest erledigte die Bevölkerung ganz von selbst – sie veranstalteten Aufstände, die zu multilateralen Spannungen führten. Diejenigen, die es nicht im ersten Jahr traf, erwischte es bald darauf. Die Gesundheitssysteme versagten, Infrastrukturen brachen und es kam, wie es apokalyptische Filme vorausgesagt hatten: Jeder war sich selbst der nächste. Keiner hatte es glauben wollen, doch die Welt, wie meine Großeltern sie einst kannten, sackte in sich zusammen. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich die Überlebenden an die neuen Bedingungen angepasst hatten. Jahrzehnte, bis sich neue Strukturen etabliert und den Platz ehemaliger Regierungen eingenommen hatten. Länder verschwanden und wurden durch ein übergreifendes föderalistisches System ersetzt. Nun regieren Städte die Landkarte, geführt von den Gewählten 8.

Ich kenne die Schilderungen jener Jahre nur aus Aufzeichnungen und Geschichten. Ja, die Zeit um die Dunklen Tage muss furchtbar gewesen sein, so viel steht außer Frage. Doch wieso sie die anschließende Periode noch immer so nennen, ist mir bis heute schleierhaft. Ich kicke eines der kleinen Steinchen weg, das vor meinen Füßen liegt. Klar, das Leben hat sich verändert. Aber ist es deswegen schlechter? Mir fehlt der Vergleich, trotzdem finde ich mein Leben keineswegs furchtbar. Wahrscheinlich gibt es – wie so häufig – Gewinner und Verlierer. Aber betrachtet man das Gesamtbild, sind wir dann nicht alle mit einem blauen Auge davongekommen? Die Menschheit hätte es schlechter treffen können. Ich kneife die Augen zusammen und betrachte die kahlen Hügel um mich herum, auf denen vor Jahrzehnten noch saftige Wälder wuchsen. Ja, die Landschaft des Taunus ist karger geworden – unwirtlich, wenn man so will. Hohes Gras, Flechten und vereinzelte Haine haben die Vorherrschaft übernommen. Auch hier präsentiert die Natur ihre Schönheit und Farbvielfalt: Kleine Blüten, die nur im Frühjahr aufgehen, Halme, die sanft im Wind wiegen … Die hartgesottenen Büsche und Bäume haben sich an die Klimaveränderungen angepasst. Sie trotzen den Stürmen, ertragen die Hitze und verkraften das wenige Wasser. Aufforstungsprojekte hinterlassen hier und da grüne Oasen – ob sie erfolgreich sein werden, steht in den Sternen. Für mich tut dies nichts zur Sache: Das Freie Land rund um Frankfurt ist in seiner Gesamtheit einzigartig. Ich würde diesen Ort um nichts in der Welt eintauschen wollen.

Tief inhaliere ich die trockene Luft, bis meine Lungen vor Hitze brennen. Unwillkürlich huste ich, was den stechenden Schmerz in meiner Brust verstärkt. Okay, ich revidiere: Perfekt ist es hier nicht. Gäbe es eine Wahl, würde ich die ein oder andere Gegebenheit anpassen. Die Sommer im Taunus sind kaum zu ertragen – und das, obwohl wir uns schon in den höheren Lagen befinden. Beschweren darf ich mich aber nicht. Im Vergleich zu unseren Temperaturen ist das Leben in der Randzone ein Brutkasten-Tanz. Je näher man dem Gebiet kommt, desto schlimmer wird es. Erst in der Kuppelstadt umweht eine angenehme Brise die Beine, streicht durch die Haare und bringt mildere Temperaturen. Auch wenn ich mich glücklich schätzen kann, außerhalb Frankfurts das bessere Los gezogen zu haben, ist es, wie es ist: verflucht heiß. Mein Blick gleitet zurück zu den ferngelegenen Hügeln. Nach wie vor hat sich nichts an der Aussicht geändert. Am Horizont glänzt ein Hitzeflimmern, doch von meinem besten Freund keine Spur. Gelangweilt schiebe ich eine Haarsträhne zurück in den Zopf, bevor ich erfolglos versuche, mir den Staub von den Händen zu klopfen. Doch es ist zwecklos – der pudrige Schleier hängt überall auf meiner Haut. Ich gebe auf. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, die Straße am entferntesten Punkt zu fixieren. Wo zum Henker bleibt er? In einem letzten Versuch, das Ersehnte noch zu erkennen, schirme ich meine Augen mit der Handfläche ab. Angestrengt kneife ich sie zusammen, sodass sich die feine Linie zwischen Himmel und Erde verschärft. Wenn es etwas zu sehen gäbe, dann müsste es mir jetzt auffallen. Aber es bleibt dabei – von Davie keine Spur. Verdrossen stütze ich mich auf den Wagen und kicke zwei Steine auf dem Boden herum. Zäh ziehen sich die Sekunden und Minuten dahin. Ein Blick auf den Tacho: 14:15 Uhr. Ich stöhne. Davie wollte schon vor einer halben Stunde zurück sein, stattdessen lässt er mich hier im Nirgendwo warten. Und das bei knapp vierzig Grad im Schatten – ausgestattet mit einer einzelnen Flasche Wasser.

Ein Rascheln hinter mir im Gebüsch lässt mich hochfahren. Ob sich da jemand versteckt? Ich kann es mir nicht leisten, auf eine der Gangs zu stoßen. Die Mistkerle warten nur darauf, Pendler und Reisende allein abzufangen und ordentlich auszurauben. Ich drehe mich alarmiert um. Doch anstatt die Ursache des Raschelns zu finden, bringt die Drehung mein Sichtfeld zum Flackern. Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen und ich schwanke umher. Während das Blut in meinen Ohren rauscht, spüre ich, wie mir der Schweiß ausbricht. Schnell drehe ich mich zurück und lasse meinen Rücken auf die Motorhaube sinken. Gerade noch rechtzeitig, bevor mir der Kreislauf völlig wegbricht. Ein schmerzhaftes Stöhnen entweicht meiner Lunge, als mich das heiße Metall verbrennt. Verdammt, Davie! Immerhin kann ich davon ausgehen, dass sich keine Gangs in der Nähe befinden.

Andernfalls hätten sie meine Hilflosigkeit ausgenutzt und mich längst überwältigt. Raub und Totschlag sind in diesem Szenario noch der schöne Ausgang der Story. Verärgert über meine eigene Schwäche, stütze ich mich auf die Arme. Ein weiterer Punkt, den ich Davie ankreiden kann. Er weiß, dass ich hier draußen auf dem Präsentierteller sitze. Zumal die Plünderungen in den letzten Wochen zugenommen haben. Angestrengt drehe ich mich auf den Bauch. Vielleicht erkenne ich ja doch noch, was das Rascheln erzeugt hat. Immerhin verbirgt uns das Gestrüpp nur notdürftig, sodass ein jeder auf uns aufmerksam werden kann. Mit ›uns‹ meine ich das neue Zugpferd in unserem Rennkader und meine Wenigkeit. Davie und ich hatten den Wagen schlichtweg nicht tiefer in den Busch schieben können, nachdem wir – ärgerlicherweise – liegengeblieben waren. Meine Kraft reichte gerade so weit, dass wir die Straße nicht mehr blockieren und aus der Ferne nicht sofort zu erkennen sind. Bis jetzt ist unsere Befürchtung umsonst. Keine Gangs und kein städtisches Militär: Niemand hat unser Versteck passiert. Weiterhin auf dem Bauch liegend, observiere ich das Gestrüpp. Es dauert nicht lange, bis ich eine Bewegung zwischen den Ästen erahnen kann. Erst nur raschelnde Blätter, dann ein Hauch von Fell. Kurz darauf lugt ein Augenpaar dunkel zu mir herüber. Beinahe enttäuscht lasse ich mein Kinn auf die verschränkten Arme sinken. Es ist nur ein Tier, dem die Sonne zu schaffen macht. Als ich mich wieder umdrehen will, erklingt ein jammerndes Fiepen. Für einen Moment ringt mein Elend mit meinem Mitleid, bevor sich Letzteres durchsetzen kann. Ich schleppe mich zur Beifahrertür, greife nach meiner Wasserflasche und gehe leicht in die Knie. Sterne tanzen vor meinen Augen und mein Atem kommt stoßweise. Mein Kreislauf ist kurz vor dem Ende. Das ist eindeutig keine gute Idee. Schnell nehme ich einen tiefen Schluck, bevor ich den Fuchs leise locke. Ich beobachte, wie er abwägt, bevor der Durst seine Scheu zunichtemacht. Zögerlich kommt er näher, bis die rosige Zunge die kostbaren Tropfen aus meiner Handhöhle schleckt. Versunken verfolge ich, wie die Augen des Fuchses klar werden, während sich mein Kreislauf stabilisiert. Erst das entfernte Geräusch eines Motors lässt uns beide den Kopf heben und kurz innehalten. Hastig richte ich mich auf und prüfe die Umgebung: Eine Staubwolke steuert rasant auf uns zu. Ich spanne meine Muskeln, nur um sie kurz darauf wieder zu lockern. Das Adrenalin schießt umsonst durch meinen Körper: Es ist Davies Fahrzeug. Na endlich! Ungeduldig trete ich auf die Straße und winke, für den Fall, dass er meinen Standort nicht mehr genau erkennt. Schließlich hat er mich lange genug warten lassen. Als er kurze Zeit später neben mir hält und seinen blonden Kopf aus dem Fenster streckt, ist mein Ärger so gut wie verraucht. Hauptsache, wir kommen endlich hier weg.

»Chica, brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?«

»Sehr witzig. Wo warst du so lange?«

»Ich musste Missy erst zum Laufen bekommen. So langsam habe ich das Gefühl, bei uns in der Werkstatt stapelt sich nur so der Schrott. Es wird Zeit, dass wir nicht nur neue Autos organisieren, sondern die, die wir haben, in Schuss bringen.«

Davies Gesicht zieht missmutige Falten und ich unterdrücke ein Schmunzeln. Kein Wunder, dass er die Zeit vergessen hat. Beim Schrauben bleibt schließlich alles andere liegen. Als Davie mein verhohlenes Grinsen bemerkt, rümpft er missbilligend die Nase. Schnell beeile ich mich zu nicken. Bei dem Thema Arbeitspensum ist Sensibilität gefragt. Bekanntlich haben wir beide unterschiedliche Ansichten und die Tatsache, dass uns die Aufgaben langsam über den Kopf wachsen, scheint nur mir zu gefallen. Bei Davie hingegen verursacht der Gedanke bloß Stress. In der Tat ist es allerdings genau das, was Davie und ich den ganzen Tag am liebsten tun: Autos reparieren. Gut, Davie ist darin etwas besser als ich, aber dafür bin ich die bessere Fahrerin von uns beiden. Darüber würde Davie natürlich streiten, für mich steht es außer Frage. Seit ich mit meiner Mum vor fünf Jahren auf das Freie Land gezogen bin, ist das mein Lebensinhalt geworden – Fahren und Schrauben. Zu Beginn war es einfach ein Job. Ich brauchte Geld … und Ware von A nach B zu bringen, ohne dass Plünderer oder das Militär sie erwischten, wurde entsprechend bezahlt. Davie, dank dessen Hilfe wir in der Siedlung überhaupt erst Fuß fassen konnten, verschaffte mir den Kontakt zu den Schiebern. Deswegen kann sich Davie bei mir fast alles leisten. Wäre er nicht gewesen, hätten Mum und ich hier draußen nie eine Chance gehabt. Unabhängig davon ist es einfach Fakt, dass ich inzwischen besser fahre als er.

»Davie, ich bin ganz deiner Meinung. Es war ja auch eigentlich nicht der Plan, dass wir uns noch ein Schätzchen anlachen. Ich bin selbst überfragt, woher die ganzen alten Autos auf einmal kommen. Man könnte meinen, sie haben irgendwo eine Fundgrube aufgetan.«

Ungefragt zucke ich die Achseln und Davie nickt. Auch er weiß, dass wir zuschlagen müssen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Schließlich wurde der Großteil der PKW nach den Dunklen Tagen verschrottet, neue seitdem nicht produziert. Und in letzter Zeit gab es erstaunlich viele Hinweise auf brauchbare Sportwagen aus den 90er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Wagen, die wir ohne großen technischen Firlefanz herrichten und in unseren Rennen einsetzen können. Also haben wir zugeschlagen. Nur so bieten wir regelmäßig was Neues und bewahren unser Alleinstellungsmerkmal: authentischer, nostalgischer Fahrspaß, ohne Manipulation durch Technik und andere Tricks. Würden wir die Chancen versäumen, wären die Rennen im Nu kopiert und wir unsere wirklich gute Einnahmequelle los. Und das, obwohl wir uns mit dem Geschäft in einer Grauzone bewegen. Bei den herrschenden Klimarestriktionen sind die alten Fahrzeuge den Städten ein Dorn im Auge. Doch ihre Schwäche ist unser Vorteil: Hier draußen funktioniert ihre neue Technik nicht. Es gibt kaum ausgebaute Infrastruktur, wenig befahrbare Zugstrecken.

Und solange sich die öffentlichen Transporte nicht durchsetzen können, wird die illegale Nutzung der Überbleibsel zähneknirschend geduldet. Dass wir damit auch Rennen veranstalten, steht auf einem anderen Blatt.

Davie ist inzwischen aus dem Auto gestiegen und zu unserem Neuerwerb im Gebüsch gestiefelt. Gekonnt befestigt er das Abschleppseil am Lamborghini Diablo, nur um ihn im Anschluss an unseren alten M3 GT zu koppeln. Kritisch begutachte ich das Konstrukt. So improvisiert die Angelegenheit auch aussieht, die letzten Kilometer bis zu unserer Werkstatt werden wir auf diese Weise schon schaffen. Bedauerlicherweise hat unser Abschleppwagen vor einiger Zeit den Geist aufgegeben, sodass unsere Rennwagen für den Nottransport herhalten müssen. Da Davie und ich knapp bei Kasse sind, müssen sich unsere Investitionen rentieren, bevor wir an Ersatz denken können. Ich schwinge mich auf den Beifahrersitz und strecke den Kopf aus dem Fenster. Der Fuchs ist inzwischen verschwunden. Ich kann ihm nur wünschen, dass der Regen bald kommt. Doch die Zeichen stehen eher schlecht. Hier draußen überleben nur die hartgesottenen Geister. Davie steigt neben mir auf den Fahrersitz und tritt das Gaspedal durch. Röhrend schießt der BMW los und ich schließe die Augen. Ich spüre, wie mein Akku runterfährt. Der Fahrtwind streicht mir übers Gesicht und die Erschöpfung dringt in die letzten Poren meines Körpers. Erst mal abschalten … Nur für ein paar Minuten …

Ich werde erst wach, als wir eine halbe Stunde später die Werkstatt erreichen. Wobei ›Werkstatt‹ eine etwas zu hochgestochene Bezeichnung für die Halle ist, in der wir den Großteil unserer Zeit verbringen. Vor drei Jahren haben Davie und ich die verlassene Fläche mitsamt den alten Gebäuden für uns beansprucht. Ein verkommener Sportplatz, nicht weit von der Siedlung entfernt, von dem gerade mal Fragmente übriggeblieben waren. Und eben das Clubhaus inklusive einer Halle, die einen Anstrich mehr als nötig hatte. Es kostete uns Wochen, nein, Monate, die Ruine – neben unseren Kurierfahrten – zu restaurieren. Doch nach und nach ist wirklich was draus geworden. Hatten wir zu Anfang nur eine fixe Idee, nahm sie Gestalt an, je besser die Anlage in Schuss kam. Das i-Tüpfelchen und den Stolz unserer Restaurierung stellt die selbst gebaute, gut gesicherte Garage dar, in der wir die Wagen lagern. Zwei Überfälle und der damit verbundene Investitionsverlust von fünf Rennen hat uns gelehrt, dass es anders nicht geht. Inzwischen kann sich unser Rennareal gut sehen lassen: Neben der Einrichtung unserer Werkhalle haben wir den Ascheplatz zur Rennstrecke umfunktioniert und das Clubhaus zur Operationszentrale ernannt. An Renntagen wird hier gewettet und es gibt Snacks, Wasser und Schnaps. Wobei Wasser in den Sommermonaten schwerer zu beschaffen ist als der gesamte Rest. Wasser ist bei uns – wie auch überall sonst – das flüssige Gold. Daher wundert es nicht, dass Frankfurt den Vorrat der Region für sich beansprucht. Aus diesem Grund nutzen wir – wie viele andere in der Siedlung – illegale Tanks, in denen wir das Wasser in den Wintermonaten auffangen und aufbereiten. Denn wer sich auf dem Freien Land auf die Verteilung durch die Kuppelstadt verlässt, der ist verloren.

Ich steige aus dem Auto und lege die letzten Meter zum Clubhaus zu Fuß zurück. Verbrannter Rasen, auf dem quadratische Steinplatten eingelassen sind, säumt den kleinen Abschnitt zwischen den Gebäuden. Meine Zunge ist dick und pelzig. Der Aufenthalt auf der freien Fläche hat meine Kehle ausgedörrt. Erneut spüre ich den Anflug von Schwindel. Schnell lege ich einen Schritt zu. Ich muss dringend etwas essen und trinken. Die Eisentür unseres Bistros quietscht in den Angeln, als ich den kühlen Raum betrete. Trotz des Flachdachs sind die Temperaturen hier drinnen erträglich. Ich spüre einen Lufthauch, als der Zug des Ventilators an mir vorbeiweht. Sofort fällt ein Teil der Erschöpfung ab – ich bin zuhause. Wie immer erfüllt mich Stolz, als mein Blick durch den Raum gleitet. Er ist ganz allein unser Werk. Ja, es ist retro. Aber was in unserem Alltag ist nicht retro? Früher, da bestand mein Leben aus technischem Schnickschnack und Chichi, wo es nur ging. Heute, da bin ich in der Vergangenheit zuhause.

Insgesamt zeigt das Clubhaus einen Querschnitt unseres Lebens. Hinter der Bar hängt ein Sammelsurium an Fotografien: Aufnahmen unserer Rennen, Aufnahmen von Davie und mir – mal gemeinsam, mal allein – und Aufnahmen von meiner Mum. Auf dem untersten Bild der Reihe sitzt Davies Schwester auf der Heckklappe eines SUVs – es ist das einzige Foto von seiner Familie, das an der Wand hängt. Ein Auszug aus einem anderen Leben. Einem Leben, in dem Davies Familie intakt war. Jetzt gibt es nur noch ihn und seinen Vater in der Siedlung. Davies Mutter ist vor ein paar Jahren bei einem Überfall ums Leben gekommen, seine Schwester darauf verschwunden. Schicksale, die hier draußen leider zu häufig passieren. Ich lasse mich auf einem der Barhocker nieder, den Rücken zur Theke. Trotz des Nickerchens steckt mir die Erschöpfung noch in den Knochen. Egal, wie lange ich hier draußen schon wohne, die Hitze schafft mich doch Jahr für Jahr. Blicklos starre ich in das Herzstück des Raums, der sich vor mir entfaltet. Unser Bistro besteht aus einigen zusammengewürfelten Tischen und Stühlen, einem überdimensionalen Teppich und einer alten Palme, die neben der Tür ihr Dasein fristet. Keine Ahnung, wie Davie die Pflanze die letzten Jahre versorgt hat. Die Wände rundherum zieren verschiedenste Kennzeichen und Plaketten. Es passt zwar nichts zusammen, aber es ist gemütlich. So, wie es auch bei mir zuhause und in vielen anderen Häusern der Gegend der Fall ist. Als wir damals herzogen, übernahm meine Mum die Bruchbude am Rande der Siedlung. Sie steht etwas abseits, doch innerhalb der magnetischen Zone. Praktisch der Bereich, der das Dorf von der Außenwelt abschirmt und einen Hauch von Sicherheit suggeriert. Wenn wir allerdings ehrlich sind, schützt es uns lediglich vor den Plünderungen der Gangs. Wenn das städtische Militär einfallen wollte, hätten wir ihnen wenig entgegenzusetzen. Der magnetische Wall lässt sich mit schwerem Geschütz auf kurz oder lang überwinden. Getestet wurde es bisher aber nicht. Jedenfalls besitzen wir weder Geld noch Ressourcen, um unser Leben anderweitig zu sichern. Daher macht es für uns keinen Unterschied. Die Summe der Dinge reicht aus: Die magnetische Zone und unsere Knappheit schmälern den Mehrwert von Überfällen. Eine Kombination, die viele andere Siedlungen nicht aufweisen können. Vielleicht mussten wir die Zuverlässigkeit des Schilds deswegen bisher nicht austesten. Meine Gedanken wandern weiter zu den Kuppelstädten – die Mundwinkel verziehen sich ironisch zu einem Lächeln. Verglichen mit ihnen sieht unsere Freiheit natürlich eher fraglich aus. Die Städte agieren autark, haben ihre Atmosphären mit Sauerstoff angereichert und können dank sicherer Allianzen und Handelsbeziehungen aus dem Vollen schöpfen. Eigene Militärs sichern sie ab und ziehen eine saubere Grenze zwischen Randzone und Stadt. Viel wichtiger ist den Städten jedoch die Abgrenzung zum Freien Land. Schließlich wollen sie nicht, dass die einfache Landbevölkerung ohne Problem in ihre Zentren einfällt und sich dort niederlässt. Abfällig rümpfe ich meine Nase. Der Preis, auf dem Freien Land zu leben, ist hoch – doch ich würde ihn um nichts in der Welt eintauschen wollen. Die engen Behausungen in der Metropole wiegen den Mehrwert der vorhandenen Fülle nicht auf. Schließlich gibt es auch die Fülle nicht gratis. Ohne goldenen Löffel im Mund, heißt es für jeden Normalsterblichen arbeiten bis zum Umfallen, nur, damit du dir das Leben in Frankfurt überhaupt leisten kannst. Nur dafür sorgt die Exekutive, die sich das Ansehen, ein Städter zu sein, mittels einer Kuppelsteuer sichert. Plötzlich steigt die Erinnerung hoch: Kinderlachen, ein gepflegter Zierbrunnen, an dem ich mit meinem Vater sitze, und französisches Porzellan, aus dem ich mit meinen Puppen trinke. Unwillkürlich schüttle ich mich. Nein, ich will nicht zurück.

Nicht zu meinem Vater, nicht zu unserer Wohnung und nicht zu dem Luxus, der mich erstickte. Und vor allem nicht in den Käfig, der über Jahre um mich herum aufgebaut wurde.

Ein Frösteln lässt mich schließlich aufstehen und den Ventilator ausschalten. Automatisch richtet sich mein Blick auf die Uhr, die tickend über der Tür hängt. Ich habe getrödelt! Seit meiner Ankunft ist bereits eine halbe Stunde vergangen, die ich mit meinen Gedanken verbracht habe. Und gegessen habe ich auch noch nicht. Davies Worte klingen praktisch in meinen Ohren: Der neue Wagen repariert sich nicht von allein. Und damit ist es noch nicht getan. Erneut drängt sich mir auf, dass wir mit der Arbeit kaum nachkommen. Mein Gebummel kostet uns wertvolle Minuten, die ich stattdessen an unseren Projekten arbeiten könnte. Zumal diese Woche ein weiteres Rennen ansteht und wir auf die Sportwagen angewiesen sind. Hastig greife ich mir eine Flasche vom Tresen und stürze zwei Gläser Limonade herunter. Mich schüttelt’s – Mum hat es mit der Zitrone wirklich zu gut gemeint. Schon auf dem Sprung, greife ich zu einem der Brote, die ordentlich auf der Theke gestapelt sind. Während ich nach draußen eile, beiße ich in die belegte Scheibe. Gedanklich schicke ich ein Halleluja an meine Mum: Das Brot erweckt meine Lebensgeister. Langsam spüre ich, wie das flaue Gefühl in meiner Magengegend verschwindet. Doch mein Bauch grummelt jetzt erst recht. Vielleicht sollte ich den ganzen Teller mit in die Halle nehmen … Vielleicht besänftige ich damit auch Davie … Kurzerhand mache ich kehrt, nur um dann voll beladen zur Werkstatt zu sprinten.

Kaum schiebe ich das Rolltor hoch, sehe ich meinen besten Freund unter der Motorhaube des Diablo hängen.

»Und, wie schlimm sieht es aus?«

»Besser, als ich dachte. Die Lady hier ist ganz gut in Schuss. Wenn ich mich beeile, habe ich sie heute Abend in Form.«

»Okay, und was fehlt uns dann noch, damit wir das Rennen in zwei Tagen veranstalten können?«

»Wenn wir den Zuschauern etwas bieten wollen, sollten wir noch zwei andere Kisten bereitstellen. Ansonsten greifen wir halt auf den BMW zurück. Und dann müssen wir bestenfalls Probe fahren. Das Los kann uns ja bekanntlich jedes Auto zuweisen – und diesen Vorteil sollten wir uns nicht nehmen lassen.«

Ich nicke. Wir veranstalten die Rennen alle drei Wochen, immer an einem Freitagabend. Ein eingefleischter Termin, für den wir keine Werbung mehr machen müssen. Leider lässt er sich dadurch nicht wirklich verschieben – hier draußen läuft schließlich alles über Mundpropaganda. So knapp unsere Zeit auch ist, wir müssen sie nutzen. Kurz vor Antritt des Rennens werden die Wagen technisch geprüft. Im Anschluss erfolgt die Auslosung. Für beides haben wir einen unabhängigen Schiedsrichter. Fünf Fahrzeuge starten, alle weiteren kommen zurück in die Garage – bereit für die zweite Runde. In der Regel starte ich nur bei einem der Rennen, die wir an den Abenden ausrichten; Davie bei einem der anderen. Dieses Vorgehen hat einen Grund. Unser Credo lautet beständig: Halte zwei der vier Rennen neutral. Nicht, weil wir grundsätzlich als Sieger hervorgehen. Aber wenn wir ehrlich sind, dann stehen die Chancen jedes Mal gut. Und uns ist beiden klar, dass wir in diesem Fall ein Problem bekämen. Sollte die Stimmung kippen – Manipulation, Betrug oder was auch immer die Verlierer uns vorwerfen könnten –, dann ist unser Geschäft hinüber. Dabei würden wir niemals schummeln – Ehrensache. Den einzigen Vorteil, den wir uns herausnehmen, sind die Testfahrten. Unabhängig davon sind wir einfach zu gut. Selbst wenn Davie und ich die Stammfahrer gegebenenfalls vorher ans Steuer ließen, würden sie keine Konkurrenz darstellen. Ein weiteres Kalkül im Stimmungsmanagement. Schließlich brauchen wir starke Kontrahenten. Letztlich zählt für uns die Gesamtveranstaltung. Das Preisgeld ist nett, keine Frage. Doch in dem Abend steckt noch viel mehr: Wir organisieren die Wetten und verkaufen Verpflegung. Das sind die Einnahmen, die wirklich zählen; das ist der Grund, die Rennen am Laufen zu halten.

Suchend blicke ich mich in der Werkstatt um, bevor ich mich wieder zu Davie wende.

»Also gut, Chef-Techniker. Dann sag du mir, was ich als nächstes angehen soll. Wenn wir bis morgen Abend durch sind, haben wir genug Zeit, die Strecke zu testen und die Veranstaltung zu organisieren. Ich weiß, dass es dir nicht passt, aber im Notfall spannen wir Becca ein, damit sie uns am Renntag hilft. Wir haben so viel investiert, da müssen wir die Eventgröße eher steigern, als dass wir auf Schmalspur fahren – egal, was du von deiner Ex hältst.«

Am folgenden Abend holt mich die Realität mit voller Wucht ein: Meine geplante Event-Skalierung ist einfach verpufft und die angedachten Testfahrten stehen in den Sternen. Kurz gesagt, innerhalb eines Tages haben sich unsere Prioritäten komplett verschoben. Auch wenn ich weiß, dass das Leben auf dem Freien Land unberechenbar ist, muss es sich jedes Mal auf die harte Tour zeigen. Wieder kann ich nur die Zähne zusammenbeißen und an die Worte meines Dads denken, obschon der Zusammenhang ein anderer war: Du musst dich anpassen, oder du verlierst. Eine Lektion, die mich jedes Mal aufs Neue fordert. In unserem Fall ist es der Lebensmitteltransport aus Frankfurt, der alle Pläne durchkreuzt. Zwar liegen wir mit den Reparaturen gut in der Zeit, doch die Nachschublinie ist vom Radar verschwunden. Dies ist nicht unüblich, sichern die Militärs nur die Kuppelstadt und – wenn überhaupt – die Randzone vor den Plünderern ab. Dass ein Transport in den Freien Landen vom Erdboden verschluckt wird, ist ein einzukalkulierendes Risiko. Unüblich ist jedoch, dass gleich sämtliche Transporte von der Bildfläche radiert werden. So etwas ist kein gutes Zeichen. Daher verursacht mir die Nachricht von Beginn an Bauchschmerzen – und ich kenne mich in diesen Dingen aus. Als Geschäftsleute mit einer Menge schlechter Erfahrungen, verteilen Davie und ich unser Beschaffungsrisiko bereits auf ein möglichst breites Transportnetz. Im Fall unserer regelmäßigen Lieferungen heißt das, dass wir auf alle Züge setzen, die Frankfurt an diesem Tag verlassen. Diese Vorsehung scheint heute nicht auszureichen. Sowohl das Transportnetz ist lahmgelegt, als auch alle offiziellen und inoffiziellen Kuriere kaltgestellt. Frustriert raufe ich mir meine Mähne. Dieses Mal scheint unsere Veranstaltung eine Gratwanderung zu werden. Wie zur Hölle sollen wir die Verpflegung bereitstellen? Ein derartiger Boykott der Infrastruktur kommt nur bei Aufständen in den Randzonen oder bei politischen Spannungen vor. Jedes Mal mit dem Ziel, eine der Seiten zum Einknicken zu bewegen. Seitdem Frankfurt zum Führungsgremium – den Gewählten 8 – auf dem europäischen Kontinent zählt, sind wir von derartigem Stillstand weitestgehend verschont. Acht Städte, die aufgrund ihrer geografischen Lage, ihrer Machstellung oder ihrer Größe einen maßgeblichen Einfluss auf das Geschehen innerhalb der Handelszonen haben. Acht Städte, deren Transportnetzausfall einem Notstand gleichkäme. So etwas wird nicht leichtfertig angeordnet. Wie kann es also sein, dass Frankfurt betroffen ist? Hat der Städterat die Eignung als Führungsgremium infrage gestellt? Vorstellen kann ich es mir nicht wirklich. Das einstige Bündnis der Kuppelstädte, deren Bewohnerzahl die Eine-Millionen-Einwohner-Marke überschreiten, besitzt nur noch historische Relevanz. Ihr Einfluss reicht nicht so weit, um derartiges zustande zu bringen. Das, was unser Leben tatsächlich bestimmt, läuft über das Führungsgremium – oder kleinere, bilaterale Bündnisse. Wieso ist Frankfurt von der Außenwelt abgeschnitten? Oder gilt die Kaltstellung uns, dem Freien Land? Uns, den sowieso nur geduldeten Bewohnern – und das nur so lange, wie wir die Interessen der Kuppelstadt nicht unterwandern? Eine Theorie nach der anderen schießt mir durch den Kopf. Was ist die Ursache des Dilemmas und welche Optionen haben wir? Das Transportnetz nach draußen existiert aus einem einzigen Grund: Weil Frankfurt von dem Export in die Randzone profitiert. Die Randzone hat ihre Prellböcke auf den äußersten Grad gesetzt und dem Transportverkehr ins Niemandsland unabsichtlich den Weg geebnet. Unsere Züge fahren mit städtischer Genehmigung auf den alten Gleisen in die hintersten Ecken des Taunus. Eines der wenigen Gemeinschaftsprojekte, die die Freien Lande mit der Kuppelstadt aushandeln konnten. Ein weiterer Pfeiler unserer Versorgung sind die Schmuggler, die jegliche Art von Ware in die Stadt ein- oder ausführen. Insbesondere Ware, die den offiziellen Transport nicht nehmen kann. Und leider ist die Liste davon inzwischen recht lang. Hinzu kommt die Reglementierung der Handelsmengen. Nur Überschüsse gehen in die Randzone; nur Waren, die das innerstädtische Wirtschaftssystem nicht gefährden, werden hier eingeführt. Alle Produkte, die eine Beeinträchtigung des Klimas bedeuten, sind verboten. Wir bekommen, was übrigbleibt. Somit sind grundlegende Dinge wie Wasser oder Sprit Güter, die einen goldgleichen Wert besitzen und über den Schwarzmarkt laufen.

Egal wie lange ich über die Ursache des Transportausfalls grüble, es ändert nichts an unserer Krise. Aus diesem Grund sitze ich jetzt im Clubhaus, spüre unsere Vorräte auf und liste deren Bestände. Von dem Ergebnis unserer Inventur hängt ab, ob wir überhaupt ein Rennen veranstalten können. Stunde um Stunde notiere ich, was wir auf Lager haben und was sich bei Davie – oder bei uns zuhause – auftreiben lässt. Das, was sich zum Abend ergibt, ist eben jene Realität, die meine Motivation zunichte macht: Meine geplante Event-Skalierung ist einfach im Nichts verpufft, die angedachten Testfahrten stehen bislang in den Sternen. Wir können von Glück sagen, dass wir es überhaupt in Erwägung ziehen, das Rennen noch durchzuführen. Deprimiert sitzen Davie und ich im Clubhaus und starren auf unsere Übersicht. Das Ergebnis ändert sich nicht – unsere Ausbeute bleibt mager. Wir besitzen genug Lebensmittel, um vierzig Gäste zu bewirten. In der Regel rechnen wir mit mindestens zweihundert bis dreihundert Besuchern je Rennen – und die kommen aus allen Ecken des Taunus. Zu verstreut, als dass wir den Ausfall des Events fristgerecht austragen können. Ein stabiles Kommunikationsnetz besitzt auf dem Freien Land nämlich niemand mehr. Zu gering ist der Mehrwert für die großen Konzerne, zu instabil die klimatischen Umstände. Mehrmals im Jahr treffen uns Wetterextreme, die den Unterhalt der Technik unmöglich machen und die Kosten ins Unermessliche treiben. Da konzentriert sich jedes Investment nur noch auf Metropolen, die durch Wissenschaft, Technik und eine wachsende Population eine lukrativere Zielgruppe darstellen. Alles in allem bedeutet das für uns eines: Wir sind am Arsch.

Bevor Davie und ich uns weiterhin runterziehen, reißt meine Mum mit ihrem Aktionismus das Ruder herum. Kurzentschlossen ist sie zu unserer Krisensitzung dazugestoßen und liefert einen Lösungsvorschlag nach dem anderen. Alle davon sind unbrauchbar, aber zumindest zerren sie uns aus unserer Lethargie. Gerade, als wir nach hitzigen Diskussionen die Runde beschließen wollen, steht Roberto auf der Matte. Der Freund meiner Mutter liefert den einzig brauchbaren Ausweg: die Notreserven unserer Siedlung. Das Angebot hat es allerdings in sich. Im Gegenzug für die Bereitstellung teilen wir die Einnahmen des Abends und erstatten dem Lager die verbrauchten Ressourcen. Eine Option, über deren Möglichkeit ich nie nachgedacht habe. Die Reserven sind das Heiligtum unserer Siedlung. Hier draußen weißt du nie, wann du sie wirklich gebrauchen könntest. Und es gab schon einige Situationen, in denen unser Überleben von ihnen abhing.

Nach dieser Bombe kehrt Stille ein. Über den Tresen hinweg tauschen Davie und ich einen Blick. So krass das Angebot ist, wir denken beide das Gleiche: Uns beiden kommt dieser Deal mehr als ungelegen. Natürlich sind wir froh, dass uns Roberto diese Option ermöglicht. Immerhin trägt er als Lagerwart die Verantwortung für die Notversorgung – und bei der aktuellen Liefersituation stellt es durchaus ein Risiko dar, dass er jetzt auf uns wettet. Aber Davie und ich haben so viele Investitionen getätigt, dass wir die Einnahmen des kommenden – sowie aller zukünftigen Rennen – fest eingeplant haben. Wir brauchen das Geld, um unsere Kasse zu füllen und das Renngeschäft langfristig auszubauen. Die Bereitstellung aller Einnahmen wirft unseren Plan über den Haufen. Entsprechend fällt unsere Freude spärlicher aus, als Roberto erwartet hat. Innerlich weiß ich, was dieses Angebot wert ist. Also gebe ich mir einen Ruck, auch wenn mir nicht danach ist. Mühsam bringe ich ein Lächeln zustande, während ich mit meinem Schicksal hadere. Doch wie sagte mein alter Hauslehrer einst? Es bringt nichts, sich über Zustände zu ärgern, die man nicht ändern kann. Und wenn dies nicht einer dieser Zustände ist, dann weiß ich auch nicht. Unsere Optionen sind begrenzt, und das ist Davie und mir mehr als klar. Also müssen wir handeln, egal wie bitter die Pille sein mag. Ich nicke und ringe mir ein paar Dankworte ab. Meine Mum strahlt übers ganze Gesicht, als der Abend in ihren Augen gerettet ist. Und so komisch es klingen mag, die Erleichterung schwappt zu mir über. Wir haben schon so viel zusammen gemeistert, da ist dies im Vergleich nur ein Stolperstein.

Nachdem meine Mum und Roberto gegangen sind, dauert es noch eine Weile, bis ich auch Davie so weit habe, dass sein Elan zurückkehrt. Ab dann nimmt der Planungseifer uns wieder ein. Auf dem Nachhauseweg vereinbaren wir, morgen schnellstmöglich auf das Gremium der Siedlung zuzugehen. Denn die offizielle Zusage fehlt uns bislang. Erst im Anschluss können wir wissen, ob wir das Rennen zu Ende planen oder die Absage erteilen müssen. Dass meine Gedanken schon weiterkreisen, lasse ich mir nicht anmerken. Was, wenn die Instabilität des Transportnetzes anhält? Was machen wir dann mit unseren Rennen? Für heute haben wir genug um die Ohren, daher behalte ich meine Befürchtung vorerst für mich. Alles andere sind ungelegte Eier.

2

Auf der Flucht

Jede Stadt steht für die andere ein. Ein Ausbruch aus dem System bedeutet den Verlust des Anspruchs auf die Kuppel.

(Auszug aus den internen Vereinbarungen der Gewählten 8)

Leise rückt Milosch die Plane zurecht, während er sich tief zwischen die Holzbalken kauert. Die Werkbank bietet ein gutes Versteck, in dem er nicht nur die letzte Nacht, sondern im besten Fall noch weitere würde verbringen können. Das Versteckspiel und die Anspannung der letzten Tage haben ihn sichtlich erschöpft. Die Ruhe kommt ihm jetzt vor wie ein Gottesgeschenk. Als er gestern Abend hier einstieg, konnte er das Ausmaß seines Glücks noch nicht fassen. Müdigkeit und Mutlosigkeit haben ihn wie ein Mantel umschlossen und einfach einschlafen lassen. Nach der Flucht waren sämtliche Energiereserven verbraucht. Selbst wenn sie ihn diesmal erwischt hätten, wäre es ihm egal gewesen. Doch das Schicksal war auf seiner Seite. In der abgelegenen Halle schien selten jemand zu sein, sodass er unentdeckt hatte durchschlummern können. So kommt es, dass er nach fünf nervenzerrenden Nächten erstmals ohne Herzrasen in seinem Versteck liegt. Ja, er fühlt sich gerädert. Aber im Vergleich zu den letzten Tagen ist er regelrecht entspannt. Ohne dass eine Menschenseele ihn stört, genießt er in seiner Nische die Sonnenstrahlen. Versonnen betrachtet er, wie der Staub in dem Licht auf und ab tanzt. Geradezu eine leichtsinnige Dekadenz, dass er trotz der Umstände hier herumlümmelt. Deswegen saugt er jedes erdenkliche Quäntchen ein – diesen Moment braucht er für sich. Nach und nach kehren seine Lebensgeister zurück. Je ausgeruhter er sich fühlt, desto stärker tritt sein Überlebenswille zutage. Beinahe euphorisch lässt er seine Flucht Revue passieren. Er hat es – wie auch immer – aus dem Universitätsgebäude raus in die Gewächshäuser geschafft. Er, der so gar nichts von einem Superschurken an sich hat. Aber vielleicht ist es genau das, was ihm am Ende die Fahrkarte nach draußen beschert hat. Überall auf den riesigen Werbetafeln, den 3D-Simulationen und den Pop-up-Infosäulen konnte er sein Gesicht sehen. Schmal, von kurzen dunklen Haaren umrahmt und mit einer Brille auf seiner Nase. Die Stadt war praktisch gepflastert von seinen Porträts. Auch hier hatte er den richtigen Riecher bewiesen. Das Fahndungsfoto ist das einzige Bild, das es im Netz von ihm gibt. Dafür hat er schon lange Zeit vorher gesorgt. Es ist das Bild, das er zur Einschreibung an der Universität vorweisen musste – Jahre alt und vollkommen nichtssagend. In den Semestern danach tat er alles dafür, diesem Bild nicht zu entsprechen. Spätestens ab dem Moment, in dem er die Archive des Super-Servers gehackt und an die Daten zur Atmosphärengeneration geraten war. Ab dem Zeitpunkt wusste er, dass die darauf basierenden Forschungen seinem Leben einen Drall geben würden: Im besten Fall katapultierten sie ihn in den Olymp, im schlechtesten Fall – tja, den hatte er sich in der jetzigen Form nicht ausmalen können. Das war nun drei Jahre her. Drei Jahre, in denen er an seiner eigenen Forschung getüftelt und sein Aussehen einem anderen Menschen angepasst hat. Einem Menschen, der überleben konnte. Seine Haare waren gewachsen; seinen Körper hatte er in der Zelle, die sich Apartment schimpfte, gestählt. Er war gejoggt und hatte sich ungewollt eine gesunde Bräune geholt – ein für die Kuppelstadt ungewöhnlicher Fakt. Schließlich gibt es hier nur wenig Optionen, entspannt im Freien zu sein. Die Grünplätze sind begrenzt und der Besuch in den Parkanlagen – aufgrund von Überfüllung – nur in Time-Slots gestattet. So oder so – seine Anstrengungen haben sich offensichtlich gelohnt: Er ist vorerst entkommen. Eine Leistung, für die er sich durchaus beglückwünschen kann.

Nachdenklich fährt sich Milosch durch seine dunklen Locken. In der Regel trägt er die Haare am Hinterkopf zusammengeknotet. Jetzt sind sie gerade noch feucht. Bei der morgendlichen Inspektion seines Unterschlupfs fand er hinter der Werkstatt eine gefüllte Regentonne – Wer besitzt heute noch Regentonnen voll Wasser? –, in die er ohne zu zögern hineingesprungen war. Er konnte sein Glück kaum fassen. Keine Menschenseele weit und breit zu sehen und das kühle Nass lag verlockend vor ihm. Wer wusste schon, wann er diese Chance erneut bekäme? Sechs Tage war er nun schon auf der Flucht. Sechs Tage, die er in den gleichen Klamotten, die Basecap ins Gesicht gezogen und nur mit der Aktentasche bewaffnet, durchs Land gezogen war. Ein Land, das ihm völlig unbekannt war.

Sein Bauch grummelt und er flucht leise. So sicher er sich in der Halle auch fühlt, er musste hier raus. Selbst wenn er es weiter hinauszögert, irgendwann muss er was essen. In Frankfurt hat er mitgehen lassen, was in der Uni nicht niet- und nagelfest war. Doch das ist Tage her; die spärlichen Riegel und Snacks sind längst aufgebraucht. Auch seine Wasserflaschen, die er in der Randzone hatte auffüllen können, zeigen Ebbe. Sein eigener Fehler – er hat nicht mehr daran gedacht, wie sparsam die Bevölkerung außerhalb der Kuppelstadt mit Flüssigkeit umgehen muss. Es ist schlichtweg absurd. Es gibt von allem zu wenig. Wie soll er als unwissender Einzelkämpfer da eine Chance haben? Es geht nicht anders, er braucht einen Plan – und zwar einen verdammt guten.

Nachdenklich begutachtet Milosch das verborgene Lager, das er sich in der Nische der Halle errichtet hat. Den Boden unter der Werkbank hat er mit einer Plane bedeckt und mithilfe von Schaumstoffresten gefüttert. Das Zeug muss Jahre alt sein, so sehr staubt es bei jeder Berührung. Zusätzlich drapierte er Decken über dem Tisch, sodass sein Unterschlupf nicht ins Auge fällt. Tarnung, die vielleicht gar nicht notwendig ist. Zentimeterdick liegt der Staub im hinteren Teil der Halle. So wie es aussieht, wird sich so schnell niemand hierher verirren. Der Rest seines Unterschlupfes ist schnell beschrieben: Ein großes Werkzeugregal auf Rollen sorgt für eine gewisse Trennung vom Hauptraum; ein zweites Regal schirmt den Blick in die Nische ab. Der Einstieg ist ihm über das Querfenster rechts oben gelungen. Auch jetzt steht es offen. So unpraktisch es zu erklimmen ist, stellt es doch den einzigen Eingang in der Nähe der Werkbank dar. Die einzige andere Lichtquelle bildet das Welldach, dessen Kunststoff bereits grün schimmert. Insgesamt scheint die Ruhe hier drin nicht real, als ob die Welt die Halle vergessen hätte. Ab und an hört Milosch vereinzelte Stimmen. Doch es bleibt jedes Mal bei einem entfernten Gemurmel.

Inzwischen naht der Mittag und die Hitze erreicht ihren Höhepunkt. In der Halle staut sich die Wärme zu einer stickigen Wolke. Milosch spürt, wie sich eine Schweißschicht auf seiner Haut bildet. Auch wenn die Anspannung nach und nach von ihm abfällt, zerrt die Warterei an seinen Nerven. Er muss sich zurren, auf der Hut zu bleiben, die Aufmerksamkeit nicht schleifen zu lassen. Immer wieder führt er sich vor Augen, was passieren mochte, wenn sie ihn erwischten. Selbst nach Tagen der Flucht, Tagen, die er im Verborgenen verbracht hat, fühlt sich das Ganze immer noch surreal an. Selbst nach jahrelanger Forschung und mit dem Wissen, dass sein Projekt einen Meilenstein in der Zeit nach den Dunklen Tagen markiert – trotz alledem hat er sich einen solchen Ausgang nicht ausmalen können. Im Gegenteil. Die Tatsache, dass er wie ein Verbrecher gejagt werden würde und das Wohl der Bevölkerung davon abhing, wie gut er sich in diesem Spiel schlägt, lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Wahrscheinlich ist es sogar gut, dass er damals nicht wusste, wo ihn der Weg noch hinführen würde. Ein Weg, auf dem der Aufstieg eines Arbeiterjungen hin zu einem Stipendiaten der Naturwissenschaften nur zu ewigem Ruhm und Erfolg zu führen schien. Seine Mundwinkel ziehen sich in einem zynischen Lächeln nach oben. Auch wenn er weiß, dass er das Richtige tut, ist es ein schwerer Schlag, dass all seine Träume vernichtet werden. Im Gegenteil, seine Forschungen haben ihn so tief sinken lassen, als es je einer vor ihm geschafft hätte: zur persona non grata, die sich jetzt auf dem Freien Land durchschlagen muss. Doch diese Sorgen sind momentan zweitrangig. Wichtiger ist, dass er etwas zu essen findet und seinen nächsten Schritt plant. Selbst wenn er hier einige Nächte verbringt, ist er von einer Lösung noch weit entfernt. Die Frage lautet: Wo will er hin? Und wie will er sich aufstellen?

Milosch kriecht aus seiner Höhle und horcht. Bis auf das Zirpen einiger Heuschrecken und das gleichmäßige Rauschen des Windes bleibt alles still. Die Chancen würden nicht besser werden … Stöhnend streckt er sich aus und dehnt seine Glieder. Jeder Muskel ist ausgezehrt und verspannt. Schnell befühlt er die Kleidung, die zum Trocknen über dem Bürostuhl hängt. Sie ist nach dem Bad in der Regentonne, wie zu erwarten, pitschnass. Milosch richtet sein Augenmerkt auf den Hauptraum, bis er findet, wonach er sucht: den Eisenschrank in der Nähe des Rolltors. Mit bloßen Füßen schleicht er über den Betonboden hin zum Spind, bevor er das Schloss begutachtet. Das gute Teil ist – wie der Schrank – völlig verrostet. Entmutigt rüttelt er an dem alten Scharnier. Seine Hoffnung, dass der Spind genutzt wurde, schwindet. Bisher hat er einen Bogen um den Vorraum gemacht, wollte er bloß keinen Hinweis auf seine Anwesenheit hinterlassen. Umso größer war seine Erwartung, nun, wo er das Risiko eingeht. Wider Erwarten springt der Schrank ohne Probleme auf. Für Milosch braucht es keine weitere Einladung. Wenn der Schrank nicht verschlossen ist, kann er keine Kostbarkeiten enthalten. Mildert das nicht den Umstand, dass er sich vielleicht etwas borgt? Ihn überkommt der Anflug eines schlechten Gewissens, als er hemmungslos durch die Sachen wühlt. Energisch schiebt er den Anflug von sich. Den Luxus moralischer Sorgen kann er sich jetzt nicht leisten. Miloschs Gedanken laufen ins Leere, als er weiter die Fächer erkundet. Schließlich offenbaren ihm seine Finger, was er bereits vermutet: Heute ist ein ganz und gar guter Tag. Im obersten Fach finden sich ein zerschlissenes Hemd und ölverschmierte Shorts. Ein Regal tiefer betteln ein paar Nussriegel praktisch darum, von ihm genommen zu werden. Es ist eine wahrlich fürstliche Beute. Eilig schnappt sich Milosch die Sachen, schließt den Schrank zu und verwischt seine Spuren. Dann tapst er zurück zu seinem Versteck, zieht sich die geliehenen Klamotten über und schlüpft in seine Sneakers. Hungrig lässt er sich auf den Bürostuhl fallen und packt die Nussriegel aus. Der erste Bissen ist ein Gedicht! Sorgsam kaut er und schluckt. Es kostet ihn alle Mühe, nicht den ganzen Riegel auf einmal hinunterzuschlingen. Schließlich ist nicht abzusehen, wie lange er von dem kargen Mahl zehren muss. Kaum hat er den letzten Happen verschlungen, grummelt sein Bauch erneut. Keine Überraschung – die Riegel sind Tropfen auf dem heißen Stein. Er braucht mehr. Entschlossen verstaut Milosch seine eigene Kleidung unter der Werkbank, prüft, ob die Aktentasche in ihrem Versteck liegt und steigt anschließend auf den Tisch, um sich an der Wand bis zum Fenster entlangzuhangeln. Dort zieht er sich hoch, bis er einen Blick rauswerfen kann. Die Luft scheint weiterhin rein. Die Gelegenheit nutzend, schwingt sich Milosch durchs Fenster und lässt sich auf der anderen Seite hinab. Sicher federt er in den Knien, als er auf dem bröckeligen Gemäuer aufkommt. Nach seinem Ausflug in die Regentonne ist er so geübt, dass er die Tücken des Ein- und Aussteigens kennt. Routiniert klopft er sich den Staub von den Händen und schirmt die Augen mit der Hand ab. So weit sein Blick reicht, erkennt er auf den Hügeln nur gelbes Gras und vereinzelte Bäume, die sich sachte im Takt des Windes bewegen. Hier und da stehen die Überreste alter Gemäuer, die dem Ansturm des Militärs gleich nach der Separierung standhalten konnten. Doch Milosch schenkt ihnen keine Beachtung. Wer auch immer sich dort versteckt, will ebenfalls im Verborgenen bleiben. Entsprechend rechnet er auf diese Entfernung nicht wirklich mit Scherereien. Geduckt schleicht er ein Stückweit um die Halle herum, bevor er – seine Umgebung prüfend – erneut verharrt. Auch auf der Südseite ändert sich die Aussicht nicht. In der Ferne ragt der Große Feldberg empor, dessen Höhenlagen kahl in den Himmel zeigen. Zu dessen Füßen erstrecken sich sonnenverbrannte Hügel, Bauminseln und Gestrüpp. Die Natur hat sich das Freie Land zurückerobert. Nicht weit von seinem Versteck lassen sich die Überreste eines Bachlaufs erahnen, der durch die Sommerhitze fast trocken ist. Einige Bachstelzen fliegen umher und suchen im feuchten Boden nach Nahrung. Aufmerksam dreht Milosch sich weiter, bis er erspäht, wonach er gesucht hat: die ersten Ausläufer der Siedlung. Östlich von ihm schmiegen sie sich in die Landschaft. Ein Haus etwas abseits ist das Erste, das er erkennt, nicht weit entfernt tauchen weitere auf. Aufregung und Erleichterung schießen Milosch durch seinen Körper. Es gibt etwas zu Essen – und er kann auffliegen.

Trotz seines Hungers dauert es noch eine Weile, bis er sich zum Weitergehen durchringen kann. Das Risiko lässt ihn zögern und so wägt er immer wieder aufs Neue ab. Kann er sich diesen Schritt leisten? Was, wenn dies das Ende seiner Flucht bedeutet? Die Bewohner des Freien Landes sind nicht gerade für ihre Gastfreundschaft bekannt. Sicher kann er darauf hoffen, dass man sein Gesicht noch nicht kennt, doch das würde für die Landbevölkerung wahrscheinlich keinen Unterschied machen. Er ist ein Fremder – ein Städter, um genau zu sein – und das allein sorgt für Misstrauen. Aber egal, wie er es dreht und wendet, er findet keine andere Lösung. Schließlich gibt Milosch sich einen Ruck und läuft los. Angespannt steigt er durch das trockene Gras in Richtung der Behausung am Rande. Alle paar Meter wirft er einen Blick über die Schultern, aber es bleibt dabei: Niemand lauert ihm auf, keiner kündigt sein Kommen an. Je näher er dem Haus kommt, desto nervöser wird er. Er erkennt die markanten Tanks, die die Grenze einer Magnetzone kennzeichnen. Sein Puls steigt und er beginnt zu schwitzen. Wenn er Pech hat, ist sein Versuch schon hier zum Scheitern verurteilt. In eine Magnetzone kann er ohne Vorbereitung kaum eindringen. Er hasst dieses Gefühl, die Erwartung, dass gleich etwas passieren muss. So wie er eigentlich alles an diesem unberechenbaren, improvisierten Part seines Flüchtlingsdaseins hasst. Wider Erwarten tätigt er Schritt für Schritt, ohne dass etwas geschieht. Es bleibt einfach still. Kein Mensch zu sehen, kein Mensch zu hören. Auch das markante Flimmern, das einzige Zeichen für den Übergang in der Luft, sieht er nicht. Soll er es wagen? Milosch zögert, bevor er den letzten Schritt auf das Terrain riskiert. Dann siegt das Bauchgefühl und er überquert schließlich die Grenze. Unwillkürlich hält er die Luft an, aber es geschieht nichts. Kein Schlag, der ihn zurückwirft, kein Knall, den ein unerlaubtes Eindringen in den Schutzwall hervorbringt. Nach knappen fünfzehn Minuten erreicht er die Rückseite des massiven Hauses, das die besten Tage bereits hinter sich hat. Die Farbe der Holzverkleidung ist verblichen und an der ein oder anderen Ecke splittern die Spane ab. Doch Milosch interessiert sich nicht für diese oberflächlichen Dinge. Das Wichtigste erkennt er sofort: Das Haus ist bewohnt. Neugierig mustert er den kleinen Garten – soweit das bisschen Grün den Namen verdient: Einige Kräuter sind ordentlich in ein Beet gepflanzt; ein paar Obstbäume stehen im Schatten der Hauswand. So traurig es auch wirkt, mehr Aufwand lohnt sich bei der Willkür des Klimas schlicht nicht. Im Sommer muss das Grün der sengenden Sonne trotzen, im Winter arktische Temperaturen aushalten. Ganz zu schweigen von den eisigen Stürmen … Milosch fährt mit dem Finger über die Rinde eines trockenen Apfelbaums. Ein bisschen Wasser würde nicht schaden … Er seufzt. Wem erzählt er das? Ihm geht es schließlich nicht anders. Milosch lässt die Obstbäume links liegen und steigt auf den flach getretenen Gehweg, der die Hausfassade entlang läuft. Behutsam stellt er sich auf die Zehenspitzen, um durch das Fenster einen Blick nach innen zu werfen. Er kann nur hoffen, dass man ihn nicht sofort bemerkt. Und das Glück ist weiter auf seiner Seite: Der Raum hinter der Glasscheibe ist menschenleer. Nun ja, vorübergehend leer. Er späht in eine Küche, in der sich Kartoffeln stapeln. Arbeit, die sicher nicht ewig auf die lange Bank geschoben wird. Sein Blick wandert durch den Raum auf der Suche nach Anhaltspunkten. Wer wohnt hier? Was – und vor allem wo – kann er hoffen, zu essen zu finden? Er erkennt Kuchenformen und Kochutensilien, die en masse auf dem Küchentisch lagern. Gefüllte Gemüsetüten stehen auf dem Boden und Unmengen an Glasflaschen verteilen sich in jeder nur erdenklichen Ecke. Sind das etwa Apfelsaftflaschen? Etwas enttäuscht landet Miloschs Aufmerksamkeit schließlich wieder bei den Kartoffeln. Er hat auf einen Obstkorb, einen Kanten Brot oder etwas anderes Brauchbares spekuliert. Doch da ist nichts. Zumindest nichts, was sich ohne Hausdurchsuchung stibitzen lässt. So wie es aussieht, würde er sich wohl oder übel mit roher Zucchini und ein paar Möhren abfinden müssen. Gerade, als Milosch beschließt, dass er mit schrumpeligem Gemüse ebenfalls überleben kann, erklingt neben ihm ein Räuspern.

Milosch gefriert das Blut in den Adern. Er hat sich erwischen lassen. Nicht bei der Flucht nach einem Einstieg und auch nicht bei einer wilden Verfolgungsjagd durch den Wald. Nein, es verläuft ohne jeglichen Glanz und Glorie. Sie erwischen ihn, während er