Nach dunklen Tagen - Wolfgang Rödler - E-Book

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Wolfgang Rödler

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Beschreibung

Hans, Sohn eines donauschwäbischen Bauern im Banat und Lotti, Tochter eines Musikdirektors in Bregenz am Bodensee, leben in verschiedenen Welten. Genauso unterschiedlich sind ihre Träume und Zukunftspläne. Auch den 2. Weltkrieg erleben sie auf völlig andere Art und Weise. Hans muss als Gebirgsjäger in den bosnischen Bergen kämpfen, während Lotti ein eher angenehmes Leben in Bregenz führt. Doch die Folgen des Krieges sind für beide dramatisch: Sie verlieren ihre Heimat, Familie und die erste Liebe. Doch das Schicksal fügt es, dass sich die Lebensswege der beiden in England kreuzen. Eine Geschichte über Freundschaft und Liebe in turbulenten Zeiten, erzählt nach wahren Begebenheiten.

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in memoriam Lotti und Hans

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 1

Franzfeld im Banat, 1924

Gespannt starrte Johann Ritter zur Tür des Schlafzimmers. Seit dem Abendessen, das er hastig hinuntergeschlungen hatte, wartete er nervös auf die erlösende Nachricht. Ritter war ein kräftig gebauter, groß gewachsener Mann mit braun gebranntem Gesicht, kurz geschnittenen, dunkelbraunen Haaren und streng gestutztem Oberlippenbart. Er war zwar erst 31 Jahre, sah aber deutlich älter aus. Ein arbeitsreicher Tag lag hinter ihm. In der Nacht hatte ein heftiger Sturm über der pannonischen Ebene getobt und die Landschaft mit Starkregen und Hagel überschüttet. Er war wie immer um 4.30 Uhr aufgestanden, hatte den ganzen Tag seine Felder kontrolliert und seinen Knechten und Landarbeitern Arbeitsaufträge erteilt. Aber es waren keine größeren Schäden entstanden, zumal sich das Wetter im Verlauf des Vormittags zunehmend besserte und es gegen Mittag der Frühjahrssonne gelang, den verhangenen Himmel zu durchbrechen und die Erde so aufzuwärmen, dass die Felder dampften und sich ein leichter Dunstschleier auf sie legte. Der Geruch durchnässten Bodens durchdrang die Luft. Ritter kam ein alter Bauernspruch in den Sinn: „Maienregen bringt Erntesegen“ und er betrachtete mit einer gewissen Genugtuung die weite Flur.

Mit dem, was er bisher erreicht hatte, konnte er zufrieden sein. Er besaß ein stattliches Haus, das er von seinem Vater übernommen hatte. Zudem war es ihm durch kluges Handeln gelungen, seinen geerbten Grundbesitz wesentlich zu vergrößern, so dass sich seine Ländereien sehen lassen konnten. Er hatte hart dafür gearbeitet und das Geld zusammengehalten. Unnötiger Luxus war ihm zuwider. Und er hielt stets Augen und Ohren offen, um rechtzeitig zu erfahren, wo es günstiges und für ihn gut erreichbares Ackerland zu kaufen gab. Denn eins war ihm von seinem Vater eingebläut worden: „Bargeld vergeht, Boden besteht“. Die gleiche Arbeitsdisziplin, die er sich selbst auferlegte, verlangte er auch von seinen Arbeitern. Auf die konnte er sich in aller Regel verlassen. Sie wussten es zu schätzen, dass er zwar ein strenger, aber auch gerechter Arbeitgeber war und immer großzügig, wenn jemand ein besonderes Anliegen hatte, wie etwa eine außerordentliche Freistellung wegen dringender Familienangelegenheiten oder die Gewährung eines Kredites zur Überbrückung nicht selbst verschuldeter finanzieller Engpässe.

Seine Frau Anna, aus einer angesehenen Franzfelder Familie stammend, war ihm treu ergeben. Sie hatten vor 5 Jahren geheiratet, kurz nach seiner Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg, durch den sein Vaterland Österreich-Ungarn wie ein morsches Gemäuer krachend in sich zusammengefallen war. Die einstige Großmacht war anschließend von den Alliierten in ihre Einzelteile zerlegt worden: Österreich und Ungarn sollten auf ewig getrennt sein, die slawischen Landesteile wurden auf Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien verteilt. Das westliche Banat, die Heimat Ritters, hieß nun Wojwodina und gehörte zum neuen Königreich Serbien, aus Franzfeld wurde Kraljevicevo und die bisherige ungarische Amtssprache wurde durch die serbische ersetzt.

Waren die Banater Schwaben in der alten Donaumonarchie angesehene Mitbürger, was aber nicht bedeutete, dass man ihnen im ungarischen Teilstaat, zu dem sie damals gehörten, entsprechende Minderheitenrechte zugestanden hätte, so verhielt sich ihr neues Vaterland ihnen gegenüber von Anfang an misstrauisch und eher ablehnend. Doch Franzfeld, wie es von seinen Bewohnern nach wie vor ungeniert genannt wurde, eine stolze 5000-Seelen-Gemeinde, war ein beinahe in sich geschlossener Kosmos, so wie die meisten Ortschaften der Donauschwaben. Die Einwohner führten ihr gewohntes Leben wie bisher weiter.

Seine Frau Anna schenkte ihm in den folgenden Jahren zwei Mädchen, Susi und Lisa. Natürlich liebte Johann Ritter seine Töchter, die jetzt friedlich im Kinderzimmer schliefen. Die Hausmagd hatte sie schon vor seinem späten Heimkommen ins Bett gebracht. Als Susi zur Welt kam, war er sehr glücklich gewesen, das erste Kind. Bei Lisa spürte er schon eine leichte Enttäuschung in sich aufsteigen. Ein Stammhalter wäre ihm lieber gewesen.

Wenn sich daran nichts ändern würde, sähe die Zukunft düster aus. Dann ginge mit ihm seine stolze Familie zu Ende und der Hof in fremde Hände.

Und nun lag seine Frau wieder in den Wehen. Schon seit Stunden war die Hebamme im Schlafzimmer zugange. Er hörte seine Anna immer wieder wimmern und stöhnen. Aber das entscheidende Ereignis ließ noch auf sich warten.

Plötzlich hörte Johann einen Schrei von Anna, dann ein zartes Weinen. Die Geburt war erfolgt.

Er stand auf und ging mit pochendem Herzen zu Tür: Jetzt müsste die entscheidende Botschaft kommen. Und tatsächlich, die Tür wurde schwungvoll aufgemacht. Vor ihm stand die stämmig gebaute Hebamme, die seit Jahrzehnten jedes Kind in Franzfeld ans Licht der Welt geholt hatte, wischte ihre verschmierten Hände an der blutbefleckten weißen Kittelschürze ab, strich sich eine lästige, verschwitzte Haarsträhne aus dem rot angelaufenen Gesicht, reichte ihm die Hand und sagte mit ruhiger und fester Stimme: „Gratuliere Johann-Vetter – es ist ein Junge!“

Johann blieb vor Freude erst einmal die Sprache weg. Endlich ein Sohn, der lang ersehnte Stammhalter und Hoferbe, Retter der Familienehre. Ein Gefühl der Erleichterung und Glückseligkeit durchflutete ihn, so dass er nur ein kurzes:

„Danke Lies-Bas“

über die Lippen brachte. Seine Zukunft war gerettet. Jetzt konnte er wieder frohgemut auf sein weiteres Leben blicken. Sein Sohn würde Johann heißen, so wie es für die Erstgeborenen in seiner Familie seit alters her Brauch war. Tradition war im Hause Ritter wichtig. Er gönnte sich zur Feier des frohen Ereignisses ein Glas Rotwein, den er selbst anbaute und kelterte, aber nur wenig davon für den Eigenverbrauch abzweigte. Er war vor allem dazu da, um für gutes Geld nach Wien und Budapest verkauft zu werden.

Die Kindheit von Johann Ritter Junior, den alle nur Hans nannten, war einfach und streng geregelt. Aber er wuchs in der Freiheit des ländlichen Lebens auf. Sein Vater war tagsüber meist außer Haus und die Mutter mit der Arbeit im Hof beschäftigt oder sie war auf dem großen Gemüseacker tätig, der sich hinter dem Gehöft befand. So konnte Hans mit seinem Bruder Frieder, der ein Jahr jünger war als er, nach Herzenslust auf dem großen Anwesen herumtoben und die bäuerliche Welt erkunden. Er hatte nur darauf zu achten, die Vorgaben des Vaters genauestens zu erfüllen.

Mit zunehmendem Alter mussten die beiden Söhne immer mehr mithelfen, um die landwirtschaftliche Arbeit in all ihren Formen kennenzulernen. Die pietistisch nüchtern geprägte Lebenseinstellung der Familie Ritter erlaubte keine unnötigen Auszeiten oder üppige Feierlichkeiten, so dass Geburtstage und kirchliche Feiertage, wie Weihnachten oder Ostern, eher bescheiden ausfielen. Deshalb wurde etwa Weihnachtsschmuck von Vater Johann ebenso abgelehnt wie großzügige Geschenke. Wenn es welche gab, waren sie dem Nützlichen und Notwendigen untergeordnet, wie selbstgestrickte Socken oder Wollmützen, ein paar neue Schuhe oder ein Kleidungsstück.

An einem Heiligen Abend wagten es die beiden Buben, inzwischen zehn und elf Jahre alt, aus einer Schonung ein kleines Tannenbäumchen zu schlagen und mit nach Hause zu nehmen. Sie hatten ihrer Mutter ihr Tun gebeichtet und diese hatte es schweren, aber verständnisvollen Herzens gebilligt mit der Auflage, das Bäumchen in ihrem Bubenzimmer hinter der Türe aufzustellen, so dass es dem Vater nicht gleich ins Auge fiel.

So machten die beiden es dann auch und schmückten das Tännchen mit bunten Bändern, die sie von ihren Schwestern bekamen und sie hatten große Freude daran. Ausgerechnet an diesem besonderen Abend kam ihr Vater, was er sonst nur sehr selten tat, zu ihnen ins Zimmer, um sie zum Abendessen zu holen. Dabei machte er die Tür so weit auf, dass sie gegen die kleine Tanne stieß und diese zum Umfallen brachte. Erbost nahm er den Heidenbaum, wie er ihn nannte, und warf ihn in hohem Bogen auf den Hof hinaus. Es war nur der Heiligkeit des Tages und dem guten Zureden der Mutter geschuldet, dass die beiden Buben nicht noch am selben Abend den Hintern versohlt bekamen.

Kapitel 2

Bregenz am Bodensee, 1926

Im nordwestlichsten Zipfel Österreichs, ungefähr 1000 Kilometer von Franzfeld entfernt, wartete Bodo Pfälzer, ein mittelgroßer, schlanker Mann mit hellblonden, streng nach hinten gekämmtem Haaren und dezentem Oberlippenbart, Kirchenmusiker in Bregenz am Bodensee, gespannt auf Nachrichten aus dem Hospital. Er hatte gestern am späten Abend seine Frau Heddy dorthin gebracht, da sie über zunehmende Wehenschmerzen klagte. Sein zweites Kind war auf dem Weg und es war ihm gleichgültig, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein würde. Hauptsache war doch, dass es gesund zur Welt kommt. Wenn es wieder ein Mädchen würde, wäre es eine ideale Spielgefährtin für seine Erstgeborene, Trudy. Natürlich hätte er sich auch über einen Jungen sehr gefreut, dann hätten sie ein Pärchen. Eines stand aber von vornherein fest: Das Kind sollte so früh wie möglich in die Welt der Musik eingeführt werde, denn Musik war nicht nur sein Beruf, sondern seine Berufung, seine Passion. Er entstammte einer alten Musikerfamilie, aus der schon einige außergewöhnlich begabte Persönlichkeiten hervorgegangen waren, die das musikalische Leben in Österreich bereichert hatten.

Auch Bodo Pfälzer war seit frühester Kindheit von seinem Vater, einem Musikprofessor und Komponisten, in die Grundlagen der Musik eingewiesen worden und hatte von Grund auf das Spiel auf der Violine, dem Klavier und der Orgel erlernt. Er war mit neun Jahren schon so spielsicher, dass er sonntags regelmäßig den Gottesdienst an der Orgel begleiten durfte.

Pfälzer, 1895 geboren, wurde gleich nach seiner Matura 1914 zum Militärdienst eingezogen, den er bei den Tiroler Kaiserschützen im Trient ableistete. Im September dieses Jahres brach der Erste Weltkrieg aus und nahm Europa in den Würgegriff, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Pfälzer wurde nach seinem Wehrdienst als Offizier an die Südtiroler Front geschickt. Mehrfach schwer verwundet und hochdekoriert geriet er Ende Oktober 1918 in italienische Kriegsgefangenschaft. Diese Zeit drückte schwer auf sein Gemüt und er beschloss, sich fortan der Musica sacra zu widmen.

1920 kehrte Pfälzer körperlich schwer angeschlagen aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Er studierte in Wien Musik und glänzte mit einem äußerst erfolgreichen Abschluss. Bei einem Urlaub in Linz an der Donau lernte er Heddy kennen. Sie war die Tochter des Bürgermeisters einer Provinzstadt im Linzer Hinterland, 5 Jahre jünger als Bodo Pfälzer, einen Kopf kleiner und von auffallender Schönheit. Ihr schwarzes Lockenhaar, die dunkelbraunen Augen und ihre kecke Art und Fröhlichkeit bezauberten ihn. Es hieß, dass sich im 19. Jahrhundert ein französischer Adeliger in ihre Ahnenreihe eingeschlichen habe. Und in der Tat sah Heddy eher wie eine rassige Südfranzösin aus als ein oberösterreichisches Fräulein. In seiner zuvorkommenden Höflichkeit und charmanten Art, so wie es der gepflegten österreichischen Gesellschaft eigen ist, gelang es Pfälzer bald, ihre Gunst zu erringen.

Drei Jahre später hielten sie im Linzer Dom Hochzeit, glanzvoll eingerahmt von Pfälzers Musikfreunden, einer Adelshochzeit würdig.

Kurz danach bewarb sich Bodo Pfälzer in Bregenz am Bodensee auf die Stelle des Organisten und Chorleiters der Stadtpfarrkirche. Obwohl sich über 200 Bewerber gemeldet hatten, konnte er das Auswahlgremium dank seines virtuosen Orgelspiels und der hervorragenden Empfehlungen seiner Wiener Musikprofessoren überzeugen. Viele der Bregenzer Bürger ärgerten sich darüber, weil sie gerne einen aus ihren Reihen an dieser Stelle gesehen hätten. Doch Pfälzer gelang es alsbald durch sein musikalisches Wirken, auch diese Kritiker auf seine Seite zu ziehen. In den folgenden Jahren brachte er eine Vielzahl großer Werke, darunter auch eine ganze Reihe eigene Kompositionen, zur Aufführung und wurde mit Lob und Anerkennung von allen Seiten überschüttet. Pfälzers Ansehen verbreitete sich rasch weit über den Bodenseeraum hinaus. Angebote zu Konzertaufführungen erreichten ihn aus allen angrenzenden Ländern, auch aus Frankreich und Italien. Er sonnte sich in dieser Erfolgswelle und sein Schaffensdrang kannte keine Grenzen mehr.

Pfälzer wohnte mit seiner Familie standesgemäß in einer herrschaftlichen Villa in der Bregenzer Oberstadt. Das alte Gebäude war an der Vorderseite vollständig mit Glyzinien überwuchert, was ihm in der warmen Jahreszeit das Aussehen eines verwunschenen Märchenschlosses verlieh. Die Villa lag in einem herrlichen Park mit riesigen, uralten Bäumen. Auf der Dachterrasse konnte man einen überwältigenden Ausblick über den Bodensee bis hinüber ins bayerische Lindau und schwäbische Friedrichshafen genießen.

Der Musikdirektor saß schon seit dem frühen Vormittag angespannt in seinem vornehmen Herrenzimmer, das etwa 50 Quadratmeter groß war und von einem schwarzen Bechstein-Konzertflügel dominiert wurde, der in der Mitte des Raumes stand. Das Zimmer war mit wertvollen Antiquitäten geschmackvoll eingerichtet. In einer Ecke stand sein riesiger Schreibtisch, reich mit Schnitzereien verziert, daneben eine breite Regalwand, vollgestopft mit Musikliteratur. An den Wänden hingen große Ölgemälde in schweren, golden verschnörkelten Rahmen, die verschiedene Berglandschaften zeigten und von seiner anderen Leidenschaft zeugten, dem Bergwandern. Dieser Raum war sein Refugium, in den weder seine Frau noch seine Kinder Zutritt hatten, es sei denn, es gab Wichtiges mit ihnen zu besprechen oder die Kinder erhielten von ihm Musikunterricht. Pfälzer hatte es sich auf einem der dunkelbraunen Ledersessel bequem gemacht, die um einen runden Rauchertisch gruppiert waren und ließ den Blick durch das große Fenster in den Park schweifen. Er hatte außer einem schwarzen Kaffee und einem Haselnusskeks nichts zu sich genommen, das Frühstück, das ihm die Haushälterin Resi wie immer zurechtgemacht hatte, achtlos liegengelassen.

Draußen war ein regnerischer, trüb verhangener Tag ins Land gezogen. In der vergangenen Nacht hatten heftige Windböen und Regenschauer getobt. Die ersten Herbststürme waren über den See hinweggefegt. Plötzlich schreckte ihn das schrille Läuten des Telefons auf. Es stand auf einem kleinen Biedermeier-Tisch in Griffnähe. Pfälzer riss nervös den Hörer von der Gabel und meldete sich. Endlich die erlösende Nachricht:

„Herr Musikdirektor, wir gratulieren Ihnen. Ihre Frau hat ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht. Mutter und Tochter sind wohlauf!“

Pfänder strahlte vor Glück und machte sich sofort auf den Weg ins nahegelegene Hospital. Unterwegs kaufte er rasch noch einen großen Strauß langstieliger roter Rosen. Heddy hatte ihn schon erwartet und begrüßte ihn mit einem glücklichen Lächeln. Zusammen gingen sie in die Neugeborenen-Station, um sich ihr Töchterchen anzusehen. Es sollte Charlotte heißen, nach Pfälzers geliebter Mutter. Natürlich war die Kleine bildhübsch und seine Eltern betrachteten sie voller Stolz und Zärtlichkeit. Ihre Zukunft sah rosig aus: Pfälzer würde dafür Sorge tragen, dass es Lotti, dieser Kosename stand schon von vorneherein fest, an nichts fehlen und sie die bestmögliche Bildung und Erziehung erhalten sollte. Und in späteren Jahren würde er für einen standesgemäßen Ehegatten sorgen, der ihr ein weiteres sorgenfreies Leben bieten könnte. Seine Töchter sollten ein gutes Leben haben.

Kapitel 3

Franzfeld, 1941

Die Sonne brannte seit Tagen gnadenlos auf das Banat. Hans Ritter saß schwitzend in der Landwirtschaftlichen Realschule in Belgrad. Sein Vater legte Wert darauf, dass er als vorgesehener Hoferbe eine fundierte Ausbildung bekam. Hans musste sich konzentrieren, denn der Unterricht wurde in serbischer Sprache gehalten, die er zwar umgangssprachlich bestens beherrschte, aber es war weitaus schwieriger, einem Fachunterricht entsprechend zu folgen.

Sein Blick fiel nach draußen. Er sah die zerstörten Gebäude in der Umgebung. Jugoslawien befand sich mit Deutschland im Krieg. Die halbe Stadt war Anfang April durch den Bombenhagel der deutschen Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt worden. Über 170 000 Zivilisten hatten dabei ihr Leben verloren. Dadurch wurde die Situation im ganzen Land grundlegend verändert. Seine Gedanken gingen in die vergangenen Jahre zurück, welche die politische Lage seiner Heimat völlig durcheinandergewirbelt und die Leute mehr als verunsichert hatten.

Als die Nazis in Deutschland Ende Januar 1933 die Macht übernahmen, gingen sie alsbald daran, ihre politische Einflussnahme auf die Auslandsdeutschen auszudehnen und die entsprechenden Staaten politisch und wirtschaftlich zu drangsalieren.

In Franzfeld tauchte Mitte der 30er Jahre ein ‚Abgesandter der Volksgenossen des Deutschen Reiches‘ auf, so nannte er sich selbstbewusst, um vor der Hawacht, dem Rathaus, eine Rede zu halten, zu der ein Trommler alle Einwohner am Vortag eingeladen hatte. Mehrere Hundert Neugierige folgten dem Aufruf und es herrschte bereits dichtes Gedränge, als der Redner kurz nach Ende des sonntäglichen Gottesdienstes mit seiner Ansprache begann. Ort und Zeitpunkt waren geschickt gewählt, denn so konnten sich die Leute nach dem Verlassen der Kirche, die nur wenige Meter entfernt lag, unmittelbar dazugesellen.

Die Rede wurde mittels aufgestellter Lautsprecher verstärkt und dröhnte weit in den Ort hinein. Auch Hans Ritter hatte sich mit seinem Vater eingefunden, obwohl er damals noch nicht viel von dem verstehen konnte, was der Redner vortrug. Dieser, ein drahtiger, hochgewachsener Mittvierziger mit blonden, kurzgeschnittenen Haaren, hatte eine markante Hakenkreuzbinde am linken Oberarm seines dunkelbraunen Anzugs angebracht. Er sprach mit schneidender Stimme und fesselnder Rhetorik von der „Unterdrückung seiner lieben Volksgenossen im Banat, die hier aus totem Land eine blühende Kornkammer gemacht“ hätten, von „Ehre, Blut und Heimaterde“, der „unverbrüchlichen Treue des deutschen Volkes und seines geliebten Führers zu den donauschwäbischen Landsleuten“ und gipfelte in der unglaublichen Vision, „dass eines glücklichen Tages auch das Banat seinen Weg ins Reich finden würde“. Mit ausgestrecktem rechtem Arm und einem ins Mikrofon hineingebrüllten „Heil Hitler“ beendete er seinen Auftritt und marschierte hoch erhobenen Hauptes und unter lautstarken Heil-Hitler-Rufen begeisterter Anwesender zurück ins Rathaus. Andere reagierten zurückhaltender und mit gewissen Zweifeln, darunter auch Johann Ritter, dem diese hohlen Phrasen zuwider waren. Doch es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass man solche Reden in Franzfeld hörte. Immer öfter kamen ‚Abgeordnete der deutschen Volksgenossen‘ vorbei und hämmerten den Dorfbewohnern die immer gleichen Schlagwörter ein. Auch im Radio über den österreichischen Sender Graz und über die deutschsprachige Zeitung der Donauschwaben wurden diese hetzerischen Sprüche zunehmend verbreitet.

In den Gasthöfen Franzfelds kam es deshalb abends oft zu hitzigen Debatten, in denen meist die älteren Dorfbewohner zu bedenken gaben, dass es dadurch zu Konflikten mit der serbischen Mehrheitsbevölkerung kommen könnte und die jugoslawische Regierung im Zweifelsfall keinen Finger krümmen würde, um die deutsche Minderheit zu schützen. Die Jüngeren konterten:

„Eben deshalb muss endlich Schluss sein mit dem ewigen Wegducken vor den Serben. Wir haben genug mitgemacht. Sie haben unseren Bürgermeister rausgeworfen und durch einen Serben ersetzt. Genauso ging es unseren Ortspolizisten. Und unsere Kinder werden in der Schule in Serbisch unterrichtet. Das kann man sich doch nicht alles gefallen lassen!“

Es ging meistens turbulent hin und her. Die Alten forderten Geduld und behutsames Vorgehen, die Jungen fanden es richtig, „dass sich endlich welche gefunden haben, die sich getrauen, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und Klartext zu reden.“ Je länger der Abend dauerte, desto unversöhnlicher standen sich die beiden Lager gegenüber. Der Alkohol tat sein Übriges dazu. Doch meist waren die Streithähne der Diskussion irgendwann überdrüssig, besannen und versöhnten sich durch die gemeinsame Überzeugung, dass man eh nichts ändern könne und das Schicksal so oder so seinen Lauf nehmen würde.

Johann Ritter war bei diesen Gasthausrunden nie zu finden, da für ihn solche Abende vertane Zeit waren. Zudem gehörte er zu den politisch Zurückhaltenden und tat seine Meinung, die er durchaus hatte, nur ungern kund. Und Hans war noch zu jung, um dies alles richtig begreifen zu können.

Doch vielen jungen Dorfbewohnern gingen diese völkischen Ideen nicht mehr aus dem Sinn. Sie lasen eifrig die Propagandaschriften, die die ‚Abgeordneten‘ stapelweise mitbrachten und fanden an den Wertvorstellungen und Expansionsplänen der Nazis Gefallen. Allein schon der Gedanke, dass das Banat in nicht allzu ferner Zeit ein wie auch immer gestalteter Bestandteil des Deutschen Reiches werden könnte, löste bei ihnen Begeisterung aus, denn in diesem jugoslawischen Staat sahen sie keine Zukunft mehr für sich. So schloss sich eine große Zahl von ihnen der völkischen Erneuerungsbewegung an, die sich schon im ganzen Banat breit gemacht hatte. Die Besonneneren tendierten mit den meisten Alten zum Deutschen Kulturbund, der für Aussöhnung und Verständigung stand. Doch der blieb in seinen alten Vorstellungen gefangen und konnte den jugendlichen Eiferern keine attraktive Alternative mehr bieten, die sie noch hätte überzeugen können, von ihrem Tun abzulassen.

Dazu kam, dass es den Nazis in Berlin gelang, die jugoslawische Regierung zu einem Abkommen zu zwingen, das den Donauschwaben mehr Rechte zubilligte. So konnte der Bürgermeisterposten in Franzfeld wieder durch einen Deutschstämmigen ersetzt und in der Dorfschule der Unterricht in deutscher Muttersprache abgehalten werden. Die jungen Wilden brüsteten sich, dass sie Recht behalten hätten und man der NS-Regierung mehr vertrauen müsse. Sollten doch die Alten und ewigen Bedenkenträger bei ihren überkommenen Vorstellungen bleiben. Das neue Deutschland würde sowieso über sie hinwegdonnern und sie als Verlierer zurücklassen.

Wenige Monate später, im März 1938, zog die Reichswehr unter dem Jubel der Bevölkerung in Österreich ein. Hitler verkündete in Wien stolz den Anschluss seiner Heimat an Deutschland, das sich jetzt ‚Großdeutsches Reich‘ nannte. Dieses neue Großreich war nun unmittelbarer Nachbar Jugoslawiens. Den ‚Erneuerern‘ im Banat schwoll die Brust vor Stolz

Doch die jungen Wilden in Franzfeld waren nicht mehr so ganz von den großspurigen Plänen des Führers überzeugt, denn es war ihnen durch den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Deutschen in die Tschechoslowakei im März 1939 erschreckend klar geworden, dass das Nazi-Regime seine Ziele rücksichtslos verfolgte und auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. Und diese Vorstellung machte ihnen Sorgen, dass Hitler irgendwann auch in Jugoslawien grundlos einfallen könnte. Wie sollte dann noch das Zusammenleben mit den Serben funktionieren?

So waren sie alle fassungslos, als die Wehrmacht sechs Monate später Polen überfiel und damit den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brach. Und der Angriff auf Jugoslawien gut anderthalb Jahre später erfüllte sie mit Entsetzen.

Wie schon vorher mehrfach praktiziert, fingierte die NS-Führung dazu einen fadenscheinigen ‚offiziellen‘ Grund. Sie ließ durch Radio Graz erfundene Horrorgeschichten über die Verfolgung der Donauschwaben durch den serbischen Staat verbreiten, worauf eine ganze Anzahl Banater Schwaben ins benachbarte Rumänien floh, das mit Deutschland verbündet war. Wenig später wurde die Meldung nachgeschoben, dass Belgrad einen Massenmord an den Deutschstämmigen plane, was deren Angst weiter schürte.

Wenige Wochen zuvor war die Regierung Jugoslawiens, die meinte, sich dem Druck der Naziführung zur Kooperation nicht länger widersetzen zu können, durch putschende Offiziere abgesetzt worden. Staatsoberhaupt Prinzregent Paul flüchtete ins Exil. Das jugoslawische Militär rief Peter II, mit seinen erst 17 Jahren im gleichen Alter wie Hans Ritter, zum neuen König aus. Gleichzeitig schlossen die Putschisten einen Pakt mit der Sowjetunion, die ihnen vollständige Unterstützung zusicherte.

Das Misstrauen der Serben gegen die Svabos, wie sie ihre deutschstämmigen Mitbürger nannten, steigerte sich ständig, da sie in ihnen die 5. Kolonne Berlins sahen. Der offizielle Ton gegen sie wurde schärfer. Staatliche Stellen warnten die Volksdeutschen, mit den Reichsdeutschen zu kooperieren. In den Gemeinden mit Mischbevölkerung kam es immer öfter zu heftigen Anfeindungen gegenüber der deutschen Minderheit.

Mit der Bombardierung Belgrads am 6.April 1941 erfüllten sich die schlimmsten Befürchtungen der Banater Schwaben. Der Balkankrieg hatte begonnen. Die jugoslawische Regierung rief zur Generalmobilmachung auf, der proportional mehr Volksdeutsche folgten als Serben. Kurz darauf, am 11. April, startete die Reichswehr von Rumänien aus ihren Feldzug gegen die jugoslawische Armee. Noch am selben Tag wurde Franzfeld erreicht, deren Bewohner die deutschen Soldaten freundlich, aber ohne Begeisterung begrüßten. Bereits zwei Tage später fiel Belgrad. Der junge König floh. Die jugoslawischen Kräfte, die wenig Gegenwehr geleistet hatten, kapitulierten am 17. Juni. Über 300000 Serben wurden als Kriegsgefangene nach Deutschland abtransportiert, um dort in den kriegswichtigen Betrieben zu schuften.

Die Volksdeutschen wurden alsbald wieder nach Hause geschickt. Das Verhältnis zwischen beiden Volksgruppen war endgültig zerrüttet. Bereits im darauffolgenden Juli wurde dem Banat von der deutschen Militärverwaltung ein weitgehendes Selbstverwaltungsrecht zugebilligt. Sitz der Banater Zentralverwaltung, die der deutschen Militärverwaltung direkt unterstellt war, wurde Großbetscherek.

Die Begeisterung der ‚Erneuerer‘ kannte nun keine Grenzen mehr, alle Zweifel waren beiseite geschoben. Dass ihr Traum eines von den Serben unabhängigen Banats so schnell in Erfüllung gehen würde, hätten sie nie gedacht. Was sollten sie sich noch um die Einwürfe der ewig Gestrigen scheren. Die Zukunft würde ihnen gehören. Und mit dem schnellen Vormarsch der Reichwehr in Russland, die wenige Tage nach dem Sieg über Belgrad den östlichen Nachbarn überfallen hatte und bald vor den Toren Moskaus stehen würde, stand für sie fest: Die Nazis waren die neuen Herren Europas.

Hans wurde jäh aus seinen trüben Gedanken gerissen, als es plötzlich an der Klassenzimmertür klopfte. Die Schulsekretärin trat ein, ging zum Lehrer und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der nickte, sah auf Hans und teilte ihm mit, dass der Herr Direktor ihn sprechen wolle. Hans wurde es noch heißer, als es ihm ohnehin schon war. Schweißperlen tropften ihm von der Stirn. Er spürte eine Röte in sich aufsteigen, obwohl er sich keinerlei Schuld bewusst war. Sein Lehrer, ein gutmütiger Serbe, der die 60 schon weit überschritten hatte, bemerkte es und sagte beruhigend:

„Es ist nichts Schulisches“,

und nickte ihm milde zu. Hans rappelte sich auf und folgte der jungen Frau ins Rektorat.

Der Schulleiter, ein sonst streng dreinblickender und Respekt einflößender Mann, der etwa 50 Jahre alt sein mochte, wartete schon auf ihn und bat ihn, Platz zu nehmen. Mit ernster Miene und trauriger Stimme begann er:

„Hans, es tut mir sehr leid. Ich habe gerade einen Anruf von deiner Mutter bekommen.“

Dann machte er eine Pause. Hans starrte mit pochendem Herzen auf sein Gegenüber und fühlte sich wie in einem falschen Film. Dann hörte er den Direktor wie von weit entfernt sagen:

„Dein Vater ist gestorben!“

Hans wurde schwindelig. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er wusste nur, dass er so schnell wie möglich seine Sachen packen und nach Hause zu seiner Mutter gehen musste. Er nickte stumm, stand wie in Trance auf und ging benommen in sein Klassenzimmer zurück. Sein Kopf war dumpf, unfähig, irgendeinen vernünftigen Gedanken zu fassen. Der Lehrer schaute ihn nur mitleidig an, als er an seinen Sitzplatz eilte, um seine Sachen zu holen. Sein Nebensitzer Petar Petrovic, den er seit Kindertagen kannte, schaute in fragend an.

„Mein Vater ist gestorben“,

flüsterte Hans ihm niedergeschlagen zu, kaum fähig, diese Worte über die Lippen zu bringen. Erschrocken antwortete Petar:

„Das tut mir wirklich sehr leid. Wenn du mich brauchst, ich bin für dich da!“

Hans rannte zum Belgrader Bahnhof und erwischte gerade noch den 11.00 Uhr-Zug. Dumpfe Gedanken gingen durch seinen Kopf. Er bemerkte nicht, wie der Zug über die Donaubrücke fuhr, die unendlich weiten Maisfelder am Zugfenster, das wegen der Hitze ganz heruntergezogen war, vorbeiflogen und am Bahnhof in Pantschowa planmäßig gehalten wurde. Beinahe hätte er es auch verpasst, am Franzfelder Bahnhof auszusteigen. Doch der schrille Pfiff des Bahnhofvorstehers ließ ihn aufschrecken und es gelang ihm in letzter Sekunde aus dem Zug zu springen, bevor dieser sich wieder in Bewegung setzte.

Der Bahnhofsvorsteher war der Vater seines Nebensitzers Petar, ein mittelgroßer, schlanker Mann mit pechschwarzem Lockenhaar und einem nach unten hängenden Schnurbart. Er wunderte sich, Hans schon um diese Zeit aus dem Zug kommen zu sehen. Und als dieser nur mit einem kurzen Gruß an ihm vorbeiging, wusste er, dass mit ihm irgendwas nicht stimmen konnte. Hans war oft bei ihnen im Haus gewesen. Sie hatten eine kleine Dienstwohnung im ersten Stock des Bahnhofgebäudes und er war ein gern gesehener Gast, so wie auch sein Sohn Petar öfter im Hause Ritter zu Besuch war.

Milan Petrovic trat deshalb rasch an Hans heran und fragte besorgt:

„Stimmt was nicht, Hans?“

Hans schaute ihn nur kurz an und teilte ihm die traurige Nachricht mit. Milan Petrovic schaute ihm betroffen nach und murmelte:

„Das kann doch nicht sein. Er ist doch noch keine 50 und kräftig wie ein Bär.“

Erst gestern hatte er ihn noch auf seinem Einspänner gesehen, wie er in Richtung Zrepaja fuhr, wo Ritter ein Außengehöft besaß, von den Banater Schwaben ‚Pußter‘ genannt, das von einem ungarischen Pächter bewirtschaftet wurde.

Je näher Hans an sein Elternhaus kam, desto langsamer wurden seine Schritte und umso schneller raste sein Herz. Endlich hatte er das Eckhaus erreicht, ging durch das hohe, schwere Hoftor in den Innenhof und stieg die wenigen Stufen zur Veranda hoch, über die man zur Eingangstür gelangte, die er langsam öffnete. Innen war es still, totenstill. Er lief vorsichtig zur Wohnküche, einem großen Raum mit langgezogenem Tisch, um den herum 10 Holzstühle standen. Hier spielte sich normalerweise das Familienleben ab, soweit es nicht draußen im Freien stattfand. In den warmen Sommermonaten hielten sich die Leute lieber in der sogenannten Außenküche auf der Veranda auf. Bei Ritters erstreckte sie sich über die gesamte Rückseite des Hauses und war mit einem reich verzierten Holzgeländer vom Innenhof abgetrennt. Doch auch hier war niemand zugegen. Er ging zum nächsten Raum, dem Schlafzimmer der Eltern, drückte die Klinke herunter und öffnete behutsam die Tür.

Dort saßen sie, seine Mutter und die beiden Schwestern, rund um das Bett, auf dem der Vater mit zusammengefalteten Händen und wachsfarbenem Gesicht lag. Seine Züge wirkten völlig entspannt und friedlich. Die Mutter weinte leise vor sich hin, gehalten von den beiden Töchtern. Mit rot verweinten Augen sahen sie zu ihm auf. Er ging auf seine Mutter zu und drückte sie behutsam an sich, spürte, wie ein ständiges Zittern ihren Körper durchbebte. Seine Schwester Susi fragte mit tränenerstickter Stimme:

„Was soll nun werden?“.

Weshalb Johann Ritter so plötzlich verstorben war, darüber wurde heftig spekuliert. Er litt zwar schon länger an Magenbeschwerden, deren Ursachen die Ärzte nicht genauer bestimmen konnten. Doch mit einem besonderen Magenpulver, das er von einer Apotheke in Pantschowa bezog, hatte er dieses Übel bisher einigermaßen erträglich halten können. Der zum Sterbebett herbeigerufene Ortsarzt konnte nur noch den Tod feststellen, schrieb aber in seinem Protokoll, Anzeichen einer Vergiftung wahrgenommen zu haben. Die auf den Plan gerufene Ordnungspolizei der deutschen Besatzungsmacht nahm sich daraufhin der Sache an und fand tatsächlich den Grund für die vermutete Vergiftung: Das Magenpulver war mit einem hochwirksamen Rattengift versetzt worden.

Schuldige konnten nicht ermittelt werden. Man hat jedoch vermutet, dass serbische Tagelöhner, mit denen der Verstorbene wegen der aktuellen politischen Lage in heftigen Streit geraten war, die Täter sein könnten. Augenzeugen hatten berichtet, dass die Arbeiter Johann Ritter als ‚Vaterlandsverräter‘ beschimpft hätten, was dieser empört von sich gewiesen habe. Als die Serben ihm daraufhin vorwarfen, ein ‚ehrloser Lügner‘ zu sein, habe er sie kurzerhand vom Hof gejagt. Sie konnten jedoch nirgends ausfindig gemacht werden. Es wurde für sehr wahrscheinlich gehalten, dass sie dem Aufruf der Kommunistischen Partei Jugoslawiens gefolgt waren und sich den Tito-Partisanen angeschlossen hatten. Diese gewaltbereite Truppe war seit der deutschen Okkupation für eine Welle von Anschlägen auf donauschwäbische Personen und deren Besitz verantwortlich gewesen. Das Misstrauen zwischen Serben und Deutschstämmigen hatte sich auch in Franzfeld breitgemacht, obwohl es dort nur wenige serbische Familien gab.

Hans Ritter war noch nicht volljährig, das wurde man erst mit 21 Jahren, aber ihm war klar, dass er nun die Verantwortung für Haus und Hof übernehmen musste. Er meldete sich schweren Herzens von der Schule ab und verzichtete damit auf den ersehnten und für spätere Zeiten so wichtigen Abschluss. Seinen Bruder aber forderte er auf, die Ausbildung zum Landmaschinentechniker fortzusetzen. Der hatte sich in den Kopf gesetzt, von der aufkommenden Maschinisierung in der Landwirtschaft zu profitieren und später ein entsprechendes Geschäft mit zugehöriger Werkstatt aufzubauen. Frieder war auf diesem Gebiet begabt und auch Hans sah darin gute Zukunftschancen. Für Frieder war es zudem selbstverständlich, dass er in seiner freien Zeit tatkräftig bei der Arbeit im Feld und auf dem Hof mithalf.

Zur Erledigung der Formalitäten, die nach dem Tode seines Vaters notwendig waren, musste Hans in die Bezirkshauptstadt Pantschowa fahren. Am Bahnhof angekommen, fiel ihm auf, dass statt Milan Petrovic ein anderer Mann in der Uniform eines Bahnangestellten am Bahnsteig Dienst tat. Hans ging auf ihn zu und fragte, wo denn Herr Petrovic sei. Der Eisenbahner, seinem Akzent nach ebenfalls ein Donauschwabe, der aber nicht aus Franzfeld stammte, war ungefähr 50 Jahre alt, aufgedunsen, mit dicken, roten Backen und fettigen, nach hinten gekämmten Haaren und dem in Mode gekommenen Hitler-Bärtchen, einem lächerlich schmalen Rechteck direkt unter seiner klobigen Nase. Er knurrte mit sarkastischem Unterton:

„Den hat man erschossen. Selbst schuld, soll mit den Partisanen paktiert haben.“

Hans blieb wie angewurzelt stehen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.

„Und was ist mit seiner Familie?“,

wagte er nach ein paar Schrecksekunden zu fragen.

„Seine Frau wurde verhaftet und mit den anderen Partisanenweibern ins Reich abtransportiert. Da solln‘se mal ordentlich arbeiten lernen. Dort gibt’s genügend für den Krieg zu tun. Und der Sohn soll zu den Partisanen abgehauen sein. Aber was geht dich das überhaupt an!“

Damit ließ er Hans stehen und stapfte weiter entlang des Zuges, um zu prüfen, ob alle Passagiere schon eingestiegen waren. Hans beeilte sich deshalb, in einen offenstehenden Waggon hineinzukommen und knallte die Türe hinter sich zu, denn der Dicke pfiff bereits energisch mit seiner Trillerpfeife und hatte das Signalschild zur Abfahrt erhoben.

In einem leeren Abteil ließ er sich innerlich aufgewühlt auf die Sitzbank fallen und geriet ins Grübeln. Er hatte schon davon gehört, dass Tausende von serbischen Frauen als Zwangsarbeiterinnen nach Deutschland verfrachtet worden waren, um dort in Rüstungsbetrieben zu schuften. Dass es seinem Freund Petar gelungen sein sollte, sich der Verhaftung zu entziehen, war für ihn eine Erleichterung.

Trotz allem ging das Leben in Franzfeld, das nun ganz offiziell wieder seinen deutschen Namen trug, den gewohnten Gang. Während der Woche arbeiteten die Leute von früh bis spät und gönnten sich wenig. Aber am Sonntag nahmen sie sich eine Auszeit vom strebsamen und mühevollen Alltag. Meist trafen sich die Männer und Burschen im Gasthaus des Bauernvereins, um dort entspannt zusammenzusitzen. Dieses hatte einen großen Tanzsaal, in dem es sogar eine Theaterbühne gab, auf der der örtliche Theaterverein oder durchreisende Musik- und Schauspielgruppen auftraten. Freilich durften solche Unterhaltungen nicht an den kirchlich gebotenen Fasten- und Feiertagen stattfinden und auch in der beschwerlichen Erntezeit fielen derartige Veranstaltungen aus. Aber ansonsten wurde an den Wochenenden gefeiert und getanzt. Der Sonntagvormittag war dabei selbstverständlich dem Kirchgang vorbehalten und erst am Nachmittag, nach dem Kindergottesdienst, durfte man sich den Vergnügungen hingeben. Am Sonntag zu arbeiten war verpönt. Man hielt sich an das donauschwäbische Sprichwort: „Was der Sonntag erwirbt, der Montag verdirbt!“

Nach fast einem Jahr Trauerzeit, in der sich Hans keinerlei derartige Ablenkung gegönnt hatte, drängte es ihn, mal wieder zu seinen Freunden ins Gasthaus zu gehen. So machte er sich, wenn auch noch mit schlechtem Gewissen, an einem Sonntagabend zur ‚Freimusik‘ auf, bei der man zwar auch Eintritt bezahlen musste, die aber als ortsübliche Unterhaltung von sonstigen Gebühren befreit war.

Er begab sich ins ‚Buwe-Zimmer‘, in dem schon einige seiner Freunde und Bekannten saßen und ihn mit einem großen „Hallo“ begrüßten. Sie freuten sich aufrichtig, ihn nach so langer Zeit wieder bei sich zu haben.