Nach uns der Sturm - Vanessa Chan - E-Book

Nach uns der Sturm E-Book

Vanessa Chan

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Beschreibung

»Mutig, humorvoll und zutiefst berührend – eines der stärksten und souveränsten Debüts, die ich je gelesen habe!« Tracy Chevalier Bintang Estate, Malaya, 1945. Cecily Alcantaras Familie ist in großer Gefahr: Ihr 15-jähriger Sohn ist verschwunden, ihre älteste Tochter wird von Tag zu Tag wütender, und ihre jüngste ist im Keller versteckt, damit sie nicht in eines der Kriegsbordelle für japanische Soldaten verschleppt wird. Cecily ist sich nur in zwei Punkten sicher: dass alles ihre Schuld ist, und dass ihre Familie nie erfahren darf, warum. Ein Jahrzehnt zuvor sehnte sich Cecily im britisch kolonialisierten Malaya verzweifelt nach einem besseren Leben. Die zufällige Begegnung mit General Fuijwara, einem charismatischen japanischen Spion, lockte sie in ein Leben als Spionin, das ihr die Chance bot, mehr als nur Mutter und Ehefrau zu sein. Doch während Cecily in Fuijwaras Pläne verwickelt wurde, trug sie dazu bei, eine neue und noch brutalere Ära der japanischen Kolonialisierung einzuleiten ...  Aus vier Blickwinkeln – Cecilys und dem ihrer drei Kinder Jujube, Abel und Jasmin – werden diese Jahre erzählt, die sowohl aus Schmerz als aus Triumphen bestehen. 

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Seitenzahl: 424

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Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem TitelThe Storm We Made bei Marysue Rucci Books,

an imprint of Simon & Schuster, Inc., New York.

eccoverlag.de

© 2024 Vanessa Chan

Deutsche Erstausgabe

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe Ecco Verlag in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Ecco Verlag nach einem Gestaltungskonzept von Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung: Fadilah Karim, Motion II

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783753001098

www.harpercollins.de

WIDMUNG

FÜR MEINE MUTTER UND MEINE GROSSMUTTER, DIE SICH IMMER FÜR DAS LEBEN ENTSCHIEDEN.

Liebe Leserin, lieber Leser,

in Malaysia zeigen Großeltern ihre Liebe, indem sie wenig sprechen. Genauer gesagt, sie sprechen nicht über ihr Leben in den Jahren 1941 bis 1945, einer Zeit, in der die Kaiserlich Japanische Armee in Malaya (wie Malaysia vor der Unabhängigkeit genannt wurde) einmarschierte, die britischen Kolonisten aus dem Land warf und in eine duldsame Nation verwandelte, die mit sich selbst Krieg führte.

Was andere Themen angeht, sind unsere Großeltern eigentlich sehr gesprächig. Sie erzählen von ihrer Kindheit – den Nachbarn und Freunden, mit denen sie früher spielten, den Lehrern, die sie liebten und hassten, den Geistern, die sie fürchteten. Sie erzählen von ihrem Erwachsenenleben – der ersten aufkeimenden Liebe, den Schrecken der Elternschaft, dem ersten Mal, als sie unsere Gesichter, die Gesichter ihrer Enkel, berührten. Doch von den vier Jahren im Zweiten Weltkrieg sprechen sie selten, nur, dass es eine schlimme Zeit war und dass sie überlebt haben. Dann schicken sie uns weg und sagen, wir sollen nicht so neugierig sein.

Bevor ich Nach uns der Sturm schrieb, konnte ich die mir bekannten Fakten über die japanische Besatzung an einer Hand abzählen. Ich wusste, dass die Japaner auf Fahrrädern aus dem Norden über Thailand eindrangen, während die britischen Kanonen im Süden aufs Meer zielten. Dass die Japaner brutal waren und rücksichtslos töteten. Dass sie bei der Invasion rote Flugblätter abwarfen, die ein »Asien für Asiaten« proklamierten, was einer Warnung und gleichzeitig einem Ruf zu den Waffen gleichkam.

Als erstes Enkelkind verbrachte ich ziemlich viel Zeit bei meinen Großeltern väterlicherseits und löcherte sie mit Fragen, die sie liebevoll beantworteten. Bei diesen kindlichen Befragungen erfuhr ich noch einiges mehr von meiner Großmutter: Wie man es vermeidet, bei einem Luftangriff getroffen zu werden (»Bleib flach auf dem Boden liegen und steh erst auf, wenn das Flugzeug weg ist, denn Bomben fallen nicht gerade runter, sondern diagonal.«). Wie man der Liebling seiner Mutter wird (»Sei ein hübscher Junge wie mein Bruder, lass dich von den Japanern im Krieg verschleppen, komm zurück und sag, dass nichts passiert ist.«). Wie man seinen Ehemann eifersüchtig macht (»Lass dir fünfundzwanzig Jahre lang regelmäßig einen Kalender von einem besonderen, netten Japaner schicken, mit dem du im Krieg bei der Eisenbahn gearbeitet hast.«).

Als ich älter wurde, war es fast eine mündliche Schnitzeljagd, meiner Großmutter Wahrheiten über ihre Jugend im besetzten Kuala Lumpur zu entlocken. Wenn ich sie nach dem Leben während der Besatzung fragte, antwortete sie: »Es war normal. Wie bei jedem.«

Doch im Lauf der Jahre lieferte sie mir mit ruhiger Stimme nur noch Fakten – dass die Menschen ihre Familien kaum ernähren konnten, Schulen geschlossen waren und Mitglieder der brutalen japanischen Militärpolizei, die Kempeitai, in Singapur britische Verwaltungsbeamte inhaftierten und Aufstände der Chinesen in den Dschungeln niederschlugen.

Ich legte diese Fakten jahrelang beiseite, weil ich mit anderen Dingen beschäftigt war und an verschiedenen Orten lebte. Ich musste arbeiten, Geld verdienen, meine eigenen Geschichten erzählen. Bis ich nach einer besonderen Rückkehr im Jahr 2019 die ersten Geschichten über Malaysia schrieb.

Im Rahmen eines Schreibworkshops Ende 2019 verfasste ich eine vermeintlich unbedeutende Geschichte über ein junges Mädchen, das versucht, vor der Sperrstunde nach Hause zu kommen, bevor die japanischen Soldaten die Straßen stürmen. Ich erinnere mich an den handschriftlichen Kommentar der Kursleiterin: »Behalten Sie dieses wichtige Thema im Auge, schreiben Sie weiter daran.«

Und das tat ich. Ich schrieb während der globalen Pandemie in meiner kleinen Wohnung, einer Zeit, in der meine Mutter frühzeitig starb, ich sehr einsam war und nicht nach Malaysia zurückkehren konnte. Ich schrieb über vererbten Schmerz, über das Frausein, über Mütter, Töchter und Schwestern, darüber, wie von uns getroffene Entscheidungen in den Generationen unserer Familien und Gemeinden auf eine Weise nachklingen, die wir oft nicht vorhersehen können. Ich schrieb über das in uns verwurzelte Erbe der Kolonisierung, über die Anziehungskraft eines toxischen Mannes, über komplizierte Freundschaften, über ein zerrissenes Leben, über die Vieldeutigkeit von Richtig und Falsch, wenn das Leben auf dem Spiel steht. Die vermeintlich unbedeutende Geschichte aus dem Workshop ist nun das vierte Kapitel meines Romans.

Ich hoffe, dass Ihnen gefällt, wie Cecily, Jujube, Abel und Jasmin in Nach uns der Sturm sich in ihrer Welt zurechtfinden, dass Sie beim Lesen Liebe, Staunen, Trauer und Freude empfinden und Ihnen die Schicksale der vier in Erinnerung bleiben.

Vielen Dank fürs Lesen.

Ihre Vanessa Chan

KAPITEL EINS

CECILY

Bintang, Kuala Lumpur

Februar1945

Japanisch besetztes Malaya

Plötzlich verschwanden Jungen im Teenageralter.

Der Erste, von dem Cecily hörte, war einer der Chin-Brüder, der mittlere von fünf kräftigen Jungen mit niedriger Stirn und breiten Schultern. Sie hießen Boon Hock, Boon Lam, Boon Khong, Boon Hee und Boon Wai, aber ihre Mutter nannte sie alle Ah Boon, und so mussten sie selbst entscheiden, wen sie gerade rief. Während der britischen Herrschaft galten die Chin-Jungen als reich und grausam. Man sah sie oft zusammengedrängt im Kreis hinter dem protzigen braun-goldenen Haus der Chins, gebeugt über einen Hausangestellten, einer der Jungen mit einer Gerte in der Hand, während die anderen mit leuchtenden Augen zusahen, wie die Gerte den Hausangestellten malträtierte. Bei der Ankunft der Japaner kurz vor Weihnachten 1941 zeigten sich die Jungen trotzig: Sie starrten die patrouillierenden Kempeitai-Soldaten finster an und bespuckten jeden, der sich ihnen nähern wollte. Eines Tages verschwand Boon Khong, der Mittlere. Er war einfach weg, als hätte er nie existiert. Und so wurden aus den fünf Chin-Brüdern vier.

Cecilys Nachbarinnen fragten sich, was mit dem Jungen passiert war. Mrs. Tan vermutete, dass er davongelaufen war. Die stets düstere Puan Azreen orakelte, dass der Junge in eine Schlägerei geraten war und in irgendeiner Ablaufrinne lag, was dazu führte, dass die Nachbarinnen bei ihren Besorgungen ängstlich in jede Vertiefung spähten. Andere Mütter sagten kopfschüttelnd, genau das passiere mit Rowdys, vielleicht hatte jemand einfach die Nase voll gehabt. Cecily wollte wissen, ob Mrs. Chin an der Tür stand und auf Neuigkeiten wartete oder ob sie die hysterisch entsetzte Mutter gab, und behielt sie im Auge. Doch Mrs. Chin und der Rest der Familie blieb für sich. Wenn sie das Haus verließen, was selten geschah, schirmten die vier Jungen ihre graugesichtigen Eltern mit einer Mauer aus Sehnen und Muskeln vor den Nachbarn ab.

Cecily begegnete Mrs. Chin nur einmal sehr früh im Gemischtwarenladen, wo sie tränenüberströmt eine Tüte Tintenfischsnacks anstarrte. Cecily staunte über die Lautlosigkeit der Szene, kein Schluchzen, kein Zittern, nur glänzende feuchte Wangen und nasse Augen.

»So steht sie jetzt schon seit fünf Minuten da«, sagte Aunty Mui, die Frau des Ladenbesitzers. Es bereitete ihr sichtlich Vergnügen, ihre Entdeckung mit jemandem zu teilen.

Ein paar Wochen später dachte niemand mehr an die Chin-Jungen, da es weder weitere Ausbrüche von Verzweiflung in der Öffentlichkeit gab noch Klatsch und Tratsch. Schon bald vergaßen die Nachbarn, welcher Chin-Junge überhaupt fehlte.

Die nächsten Vermisstenfälle folgten kurz aufeinander. Der dürre Junge, der als Kehrer auf dem Friedhof arbeitete; Cecily unterstellte ihm, dass er die an den Grabsteinen niedergelegten Blumen stahl und sie auf dem Markt verkaufte. Der pummelige Junge hinter dem Gemischtwarenladen, der sich Dreck ins Gesicht schmierte und seine Hose unten zusammenband, um als vorgeblich lahmer Junge zu betteln. Der Junge mit den unheimlichen Augen, den man dabei erwischt hatte, wie er sich in die Toilette der Mädchenschule geschlichen hatte. Böse Jungen, flüsterten Cecily und ihre Nachbarinnen. Vielleicht hatten sie bekommen, was sie verdienten.

Um die Jahresmitte verschwanden jedoch auch Söhne von Leuten, die Cecily kannte. Der Neffe des Paares, das nebenan wohnte, ein Junge mit einem beneidenswerten Bariton, der in der Schule sämtliche Singwettbewerbe gewann. Der Sohn des örtlichen Arztes, ein stiller Junge, der immer ein kleines Schachbrett bei sich hatte und es aufbaute, wenn jemand mit ihm spielen wollte. Der Sohn der Wäschereibesitzerin, ein fleißiger Teenager, der die Uniformen der japanischen Soldaten wusch und dessen Mutter nun gezwungen war, seine Arbeit zu übernehmen, weil die Japaner kein Verständnis für schmerzliche Verluste hatten.

Mit nur einer großen Straße, die Bintang in zwei Hälften teilte, einer Apotheke, einem Gemischtwarenladen, einer Schule für Jungen und einer für Mädchen war die Stadt so klein, dass Ängste wuchern konnten. Das Getuschel flammte erneut auf, die Familien der verschwundenen Jungen wurden misstrauisch beäugt, das Schicksal der Vermissten leise infrage gestellt. Tatsächlich hatte sich das Verschwinden der Jungen lautlos vollzogen, als hätten sie sich aus Angst, jemanden zu beleidigen, heimlich davongestohlen. Cecily fand das beunruhigend, denn Jungen im Teenageralter waren normalerweise laut – sie stießen Dinge um, trampelten beim Gehen, zappelten selbst beim Stillstehen herum, unfähig, die neue Kraft in ihrem Körper und ihren Gliedmaßen zu kontrollieren.

»Reicht es nicht, dass sie uns hungern lassen, uns schlagen, uns die Schulen und unser Leben nehmen? Müssen sie jetzt auch noch unsere Kinder holen?«, fauchte der alte Uncle Chong, Besitzer von Chong Sin Kees Gemischtwarenladen in der Mitte von Bintang, wo jeder sich Vorräte kaufte, von Gewürzen und Kräutern über Reis bis hin zu Laugenseife. Seine Frau, Aunty Mui, schlug ihm auf den Mund. Das waren verräterische Worte, und auch die Chongs hatten einen Sohn.

So war es nicht immer gewesen. Bei der Ankunft der Japaner vor etwa drei Jahren waren Cecily, ihr Mann und die drei Kinder eine der Familien, die sich vor ihrem Haus aufgestellt und dem Militärkonvoi zur Begrüßung zugewinkt hatten. Cecily erinnerte sich daran, wie ihr das Herz aufging, als sie auf den kahlköpfigen, stämmigen japanischen General an der Spitze der Parade zeigte. »Das ist der Tiger von Malaya!«, sagte sie zu ihren Kindern.

General Fujiwara hatte die britischen Streitkräfte in knapp sieben Wochen mit einer unerwarteten und brillant geplanten Landinvasion in die Knie gezwungen. Vom Nordwesten, an der Grenze zu Thailand, waren seine Leute mit Fahrrädern durch unwegsamen, heißen Dschungel vorgedrungen, während die britische Marine, die mit einer Seeattacke rechnete, ihre Waffen und Kanonen nach Süden und Osten in Richtung Singapur und Südchinesisches Meer richtete. Für Cecily glich es dem Anbruch eines neuen Zeitalters. Doch ihre Hoffnung auf einen besseren Kolonisten war nur von kurzer Dauer. Wenige Monate nach der Ankunft der Japaner wurden Schulen geschlossen, und die Anwesenheit der Soldaten auf den Straßen war deutlich spürbar. In nur drei Jahren töteten die japanischen Besatzer mehr Menschen als die britischen Kolonisten in fünfzig. Die Brutalität schockierte die duldsame Bevölkerung von Malaya, die sich an die gelangweilte Gleichgültigkeit der Engländer gewöhnt hatte, deren Interesse an den Einheimischen sich fast ausschließlich auf die Einhaltung der Zinn- und Kautschukquoten beschränkte.

Aus Furcht um ihre Kinder führte Cecily jeden Abend eine Anwesenheitskontrolle durch. »Jujube«, rief sie über den Lärm des Kochens hinweg. »Jasmin! Abel!«

Und jeden Abend antworteten sie – Jujube genervt und mit dem Ernst eines ältesten Kindes. Jasmin fröhlich und über den Boden schlitternd wie ein kleines Hündchen. Und ihr mittlerer Junge, Abel, um den sie sich am meisten sorgte, kam herbeigerannt, umarmte sie stürmisch und rief: »Ma, natürlich bin ich da!«

Eine Zeit lang schien die Methode zu funktionieren. Abend für Abend, wenn die Sonne unterging und die Moskitos ihren nächtlichen Chor anstimmten, rief sie nach ihren Kindern, erhielt eine Antwort. Die Familie versammelte sich um den zerkratzten Esstisch, jeder erzählte von seinem Tag. Und wenn Cecily hörte, wie Jasmin über einen von Abels theatralischen Witzen lauthals lachte, wenn sie sah, wie Jujube an ihren kurzen Locken zupfte, die so sehr ihren eigenen glichen, konnte sie für ein paar Minuten den Ernst der Lage, den Terror des Krieges und die Tristheit ihres Lebens vergessen.

Doch dann, an seinem fünfzehnten Geburtstag, am fünfzehnten Februar, hatte Abel – der im Gegensatz zu seinen Geschwistern hellbraunes Haar und wegen der Lebensmittelrationierung ständig Hunger hatte, der im letzten Jahr fünfzehn Zentimeter gewachsen und jetzt größer als jeder in der Familie war – ihrem Ruf nicht geantwortet. Er war nicht vom Laden zurückgekehrt. Während das Wachs der Geburtstagskerze auf Abels trockenen Geburtstagskuchen tropfte, überkam Cecily eine Ahnung. Schlechtes passierte nur schlechten Menschen; und genau das war sie – ein schlechter Mensch.

In den vergangenen Jahren hatte Cecily festgestellt, dass ihr Leben von einer ausgeprägten Angst beherrscht wurde, die sie nicht kontrollieren konnte; dem Wissen darum, dass ihr Handeln in der Vergangenheit sie einholen und sich jederzeit rächen könnte. Diese Angst äußerte sich darin, dass sie nervös ihre Finger knetete, ständig nach ihren Kindern sah und jedem Unbekannten misstrauisch begegnete. Nun war die Katastrophe eingetreten, und sie spürte, wie die angespannte Energie von ihr abfiel. Jujube erzählte ihr später, dass sie einen langen, tiefen, schmerzerfüllten Schrei ausgestoßen hatte, dann mit ausdrucksloser Miene in den Rattansessel gesunken war und reglos dasaß.

Die Familie um sie herum verfiel in hektische Geschäftigkeit. Ihr Mann Gordon ging auf und ab und rief sich selbst oder vielleicht auch ihr aus vollem Hals zu: »Vielleicht ist er zum Laden gegangen. Vielleicht wurde er an einem Kontrollpunkt der Polizei festgehalten. Vielleicht, vielleicht, vielleicht.« Jasmin hielt sich mit einer Miene, die für eine Siebenjährige viel zu stoisch war, am Daumen ihrer älteren Schwester fest. Und die stets praktisch denkende Jujube ergriff sofort die Initiative. Sie löste sich von Jasmin, rannte hinters Haus und rief den Nachbarn auf beiden Seiten zu: »Habt ihr meinen Bruder gesehen? Könnt ihr helfen, meinen Bruder zu finden?« Doch es war schon nach acht, die Ausgangssperre hatte begonnen, und keiner der Nachbarn traute sich zu antworten, auch wenn ihnen Jujubes Schreie das Herz brachen.

Cecily sagte nichts. Ein paar Minuten lang war sie erleichtert, dass der Schrecken greifbar war. Dann überkamen sie Schuldgefühle. Es war geschehen, und sie war schuld.

Sie hatte das Ganze verursacht.

Am Morgen nach Abels Verschwinden traten Cecilys Nachbarn in Aktion. Die Alcantaras waren eine anständige Familie, und anständige Familien hatten eine so ungeheure Tragödie nicht verdient. Die Männer organisierten Suchtrupps, trugen Schilder und zogen, Abels Namen rufend, durch die Straßen. Sie suchten in Lagerräumen hinter Häusern, in jedem Winkel, an Abels Lieblingsorten, in stillgelegten Fabriken und auf Spielplätzen. Sie suchten überall, nur nicht in der alten Schule, die zu einer japanischen Verhörzentrale umfunktioniert worden war. Sie bildeten kleine Gruppen und senkten die Köpfe, wenn die Kempeitai-Soldaten in schlammgrünen Uniformen in ihre Richtung blickten, empfanden insgeheim jedoch Genugtuung, weil man in der Gruppe sicher war und die Suche nach dem Jungen einer winzigen Revolution gleichkam, einem kleinen Aufstand gegen die Besatzer. Die Frauen handhabten den Vorfall wie eine Geburt oder einen Todesfall und versorgten die Alcantaras mit endlosen Mengen an Essen und Anteilnahme. Sie versicherten Cecily, dass alles gut werde – Abel war nur ein leichtsinniger Junge, der vermutlich irgendwo eingeschlafen war und bald nach Hause käme; Abel hatte die Zeit verschwitzt und war bei einem seiner Freunde; ein so gut aussehender, charmanter und vielversprechender Junge wie Abel verschwand nicht einfach.

Cecily, so dachten die anderen Frauen, war erstaunlich undankbar. Sie zeigte sich nicht erkenntlich, wenn sie Essen vorbeibrachten, sie bot ihnen keinen Tee an, wenn sie an der Tür darauf warteten, ins Haus gebeten zu werden, sie weinte nicht, vertraute sich ihnen nicht an und brach nicht zusammen, was verständlich gewesen wäre. Sie wirkte nur furchtbar angespannt, und ihr Blick schweifte unruhig umher, als erwartete sie das Schlimmste. Aber was? Sie wussten es nicht. Natürlich fühlten sie mit ihr, aber manchmal ging Cecily wirklich zu weit. Erinnert ihr euch noch an die schrecklichen Geschichten, flüsterten sie einander zu, die sie früher ihren Kindern erzählte?

»Die Geschichte über den Mann, den die japanischen Soldaten zwangen, Seifenwasser zu trinken, bis ihm der Magen raushing?«, fragte Mrs. Chua. »Und dann legten sie einen Balken auf ihn, auf dem sie so lange wippten, bis der Mann geplatzt ist?«

»Herrje, musst du die grässliche Geschichte wirklich wiederholen?«, sagte Mrs. Tan. »Meine Kinder hatten danach wochenlang Albträume!«

Manchmal, dachten sie, wusste Cecily wirklich nicht, wie man sich richtig verhält. Sie alle waren Mütter, und sie wussten, wie Mütter sich verhalten sollten. Wenn eine Mutter einen Sohn verlor, sollte sie weinen, zusammenbrechen und Trost bei anderen Müttern suchen. Sie durfte ihren Schmerz nicht wie einen Schutzschild vor sich hertragen und so kratzbürstig sein, dass niemand sich in ihre Nähe traute.

Doch trotz allem, ermahnten sie sich, mussten sie gute Nachbarinnen sein. Mrs. Tan schickte weiterhin Schüsseln mit dampfender Nudelsuppe zu den Alcantaras und bemühte sich, nicht beleidigt zu sein, wenn sie am nächsten Tag vorbeiging und die Schüsseln noch unberührt an der gleichen Stelle vor dem Tor standen. Mrs. Chua bot an, auf Jujube und Jasmin aufzupassen, damit Cecily sich ausruhen konnte. Puan Azreen, die das Dramatische liebte, erzählte alle Geschichten über Vermisste, die sie je gehört hatte, und konnte es sich nicht verkneifen, sie mit allerlei Grausigem auszuschmücken – die Betreffenden waren mit fehlenden Armen oder Beinen und entstellten Gesichtern zurückgekommen.

Gordon hingegen, Cecilys Mann, erwies sich den Nachbarn gegenüber als dankbar. Er streifte mit den anderen Männern durch die Stadt, rief nach seinem Sohn, klopfte den Helfern auf den Rücken und bedankte sich für ihre Zeit. Er ist viel netter geworden, tuschelten sie. Natürlich wünschte man niemandem ein solches Unglück, bestimmt nicht, da war man sich einig, aber diese Version von Gordon Alcantara war ihnen allemal lieber. Er hatte einen Dämpfer bekommen, war nicht mehr der Wichtigtuer, der ihnen früher so missfallen hatte, als er unter den Briten Verwaltungsbeamter war und sich für etwas Besseres hielt.

Aus den Tagen nach Abels Verschwinden wurden Wochen. Die Suche der Männer fand nicht mehr täglich, sondern nur noch sporadisch statt, die Frauen stellten ihre Besuche bei den Alcantaras allmählich ein. Da immer mehr Jungen verschwanden, blieben die Nachbarn zu Hause und versteckten ihre Söhne vor den spitzen Blicken der Kempeitai-Soldaten. Die kurze Freude über die Revolte verebbte. Die Nachbarn erinnerten sich wieder daran, dass im Krieg die eigene Familie Vorrang hatte. Man durfte seine Zeit nicht mit den vermissten Kindern anderer verschwenden.

Eine Woche bevor er verschwand, war Abel mit einem Strauß hässlicher unkrautähnlicher Blumen nach Hause gekommen, die er offenbar am Straßenrand gepflückt hatte. Er war so stolz gewesen, dass Cecily sie in eine Vase gestellt und so getan hatte, als wären es die schönsten Blumen, die sie je gesehen hatte. In den Wochen nach seinem Verschwinden vertrockneten die Blumen und wurden brüchig, aber Cecily brachte es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Eines Nachmittags vergaß sie während eines heftigen tropischen Gewittersturms, für die Malaya bekannt ist, das Schlafzimmerfenster zu schließen. Der Raum wurde feucht vom Regen, der Wind wehte alles um und zerschmetterte die Vase mit Abels vertrockneten Gräsern. Am Abend nach dem Sturm sah Gordon, wie Cecily mit blutigen Fingern versuchte, die Scherben der Vase zusammenzukleben und die zerbrochenen Gräser wieder in der Vase zu arrangieren. Doch wie bei den Ereignissen, die sie vor zehn Jahren in Gang gesetzt hatte, war nichts mehr zu ändern. Es gab kein Zurück.

KAPITEL ZWEI

CECILY

Bintang, Kuala Lumpur

1935

Zehn Jahre zuvor, britisch besetztes Malaya

Cecilys Familie war eurasisch, Nachkommen von Portugiesen, die als Erste in einer Reihe weißer Kolonisten Anfang des 16. Jahrhunderts per Schiff an den Küsten Malayas gelandet waren, bewaffnet mit Gewehren und getrieben vom Ehrgeiz, die Gewürzstraßen und unermesslichen Bodenschätze der Region zu kontrollieren. Cecilys Mutter genoss den weißen Tupfer in ihrem Namen und ihrem Blut und betrachtete die Menschen in ihrer Umgebung herablassend und wertend. Ihr ewiger Refrain: »Wir sind nicht als Land- und Minenarbeiter hierhergekommen wie die Chinesen und Inder. Wir wurden nicht erobert wie die Malaien. Wir wurden von weißen Männern gezeugt, wir sind Christen, wir beten die gleichen Götter an, und sie gaben uns ihre Namen: Rozario, Oliveiro, Sequiera.«

Als Kind war Cecily verwirrt, weil ihre eurasischen Freunde und deren Familien alle möglichen Hautfarben hatten – braun, schwarz, gelb –, aber sie kannte nicht einen Menschen mit so weißer Haut und rosa Flecken wie die Briten.

»Wir sind fast so weiß wie sie«, behauptete ihre Mutter und betrachtete bewundernd jeden Briten in ihrer Nähe, der wegen der ungewohnten Hitze ziemlich schwitzte: einen Lehrer, einen Verwaltungsbeamten, einen Priester.

Cecily hatte sich nie zu den Schönen und Vornehmen gezählt. Sie war ein nettes Mädchen, aber unscheinbar, nicht hübsch genug, um viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihre Mutter ließ es sie spüren, wenn sie Cecilys schlammbraunes Haar, ihre Augen und ihren Teint gleichgültig und an manchen Tagen enttäuscht betrachtete. Ihre vier Jahre ältere Schwester Catherine war die große Hoffnung. Catherine, olivfarbener Teint und graugrüne Augen, heiratete schließlich einen britischen Offizier namens Abbott, der sie mit nach England nahm, damit sie seinen Lordtitel annahm. Und so wurde Catherine zu Lady Abbott. Aber schlichten Mädchen wie Cecily, selbst solchen mit eurasischer Herkunft, die in den frühen 1900er-Jahren in kleinen strohgedeckten Häusern in erstickend heißen britischen Kolonien aufwuchsen, war ein stilles Leben vorbestimmt, in dem sie die ihnen zugedachten Rollen erfüllten – zunächst als Mädchen, das die Fähigkeiten einer guten Ehefrau erwarb, dann als Ehefrau, die den Haushalt führte und gut mit den Nachbarn auskam, und schließlich als Mutter, die sich durch die Geburt und Erziehung einer angemessenen Zahl von Kindern ihrer Rolle als würdig erwies.

Cecily erfüllte all das mit stiller Beharrlichkeit. Mit dreißig hatte sie zwei Kinder, Jujube und Abel, sowie einen Ehemann – Gordon, einst ein rundlicher eurasischer Junge, der zwei Straßen weiter wohnte und ihr genügend Annehmlichkeiten bot. Sie lebten in einem kleinen Haus mit hellrotem Dach, alles andere als schön, aber zweckmäßig. Trotzdem war sie maßlos unzufrieden. Jeden Morgen stand sie in der heißen Küche und machte halb gekochte Eier für ihren Mann und die Kinder. Mit einem Lächeln im Gesicht und manchmal sogar singend, goss sie Kaffee in kleine Blechbecher. Doch während sie kochte und sang und alle Aufgaben erfüllte, die eine ruhige Welt häuslichen Glücks vortäuschten, stellte sie sich vor, wie sie die kochenden Eier auf dem Kopf ihres Mannes zerschlug und ihren Kindern heißen Kaffee ins Gesicht schüttete. Es machte sie krank vor Scham. Sie wusste nicht, wann, warum oder wie sich dieser innere Wandel vollzogen hatte, wusste nicht, wie sie es rückgängig machen könnte. Selbst wenn sie aus dem Haus war und auf dem Markt mit Händlern um den Preis für Fisch oder Auberginen feilschte, verspürte sie mitunter den Drang, den Händlern schreiend die schuppigen Fische und das blutige Schweinefleisch um die Ohren zu hauen.

Am letzten Dienstag im November 1935 betrachtete Cecily argwöhnisch den Himmel. Es drohte zu regnen, graue Wolken ballten sich zusammen wie eine Kirchengemeinde. Sie stand knietief in stinkendem Abfall und presste Halt suchend die Füße so fest in ihre Schlappen, dass die Zehen weiß wurden. Die im tropischen Malaya übliche Schwüle am Spätnachmittag drückte umso schwerer, weil die Regenwolken sich gleich entladen würden. Cecily befürchtete, ihren Auftrag nicht rechtzeitig beenden zu können. Sie wühlte sich durch den Dreckhaufen, durch Kohlblätter, Fischgräten und etwas, das verdächtig nach Tierhoden aussah. Die Hitze wehte ihr den Fäulnisgeruch in die Nase. Sie unterdrückte ein Würgen, verfluchte den Auftrag und wollte gerade aufgeben, als sie das gesuchte Dokument fand: ein Blatt aus einem Notizbuch, das oben in dem Müllbeutel lag, den sie gerade durchsucht hatte. Es war fleckig, aber glatt und lag da, als hätte es darauf gewartet, gefunden zu werden. Sie hob es auf, schüttelte es ein bisschen und bereute es sogleich, weil ihr ein paar schmutzige Tropfen ins Gesicht spritzten. Aber die Schnörkel, Diagramme und Striche auf dem Papier, die von ihrem Mann stammten, waren unversehrt.

»Gute Arbeit, Cecily.«

Die brüchige Stimme erschreckte sie, und sie verlor den Halt in der Hocke. Sie konnte gerade noch verhindern, dass sie kopfüber in den Abfallhaufen fiel, eine widerliche Vorstellung. Sie stand auf und drehte sich um, die Hände von sich gestreckt, um ihre Kleider nicht zu beschmutzen. »Was machen Sie hier?«

Fujiwara stand drei Schritte hinter ihr. Seine Hände waren hell und sauber, ein starker Kontrast zu den ihren, die braun und dreckig waren. Die Knitterfalten in seinem Leinenanzug wiesen darauf hin, dass er zu Fuß durch die Stadt gelaufen war. Er trat einen Schritt auf Cecily zu und bedeutete ihr, ihm das Blatt zu geben. Sie sah ihn verärgert an. Ihre Abmachung war eine andere, und er wusste, sie mochte es nicht, wenn er sich nicht daran hielt. Es schwächte ihre vorsichtig aufgebaute Beziehung und damit auch sie.

Fujiwara zog ihr das Blatt an einer sauberen Ecke aus der Hand und schüttelte es zum Trocknen in der Luft. Es funktionierte nicht. In der feuchten Luft wellte sich das Papier noch stärker.

»Stecken Sie es weg, man könnte uns erwischen«, sagte Cecily. Sie versuchte, ihre Nervosität durch einen möglichst kühlen Tonfall zu überspielen, doch ihre Stimme klang hoch und schrill. Ein Hauch von Enttäuschung wallte in ihr auf.

Eigentlich sollte Cecily das Dokument heute, so wie an allen anderen Tagen auch, in Chongs Gemischtwarenladen bringen. Sie sollte mit den Fingern zwischen der splittrigen Wand und dem wackeligen Regal mit den Damenbinden entlangfahren, bis sie auf eine winzige Lücke stieß, in der sie die geheime Information verstaute. Es war ein genialer Übergabepunkt – versteckt vor aller Augen an einem der belebtesten Orte der Stadt –, weil Männer diesen Gang und das Regal aus Berührungsangst vor solchen intimen weiblichen Artikeln mieden und Frauen schnell hindurchhuschten, damit man sie dort nicht sah. Fujiwaras vertrauenswürdige Köchin nahm bei ihrem Einkauf die versteckten Informationen mit und übergab sie ihm. So handhabten sie es seit Monaten, und es gab keinen Grund, warum Fujiwara die Vorgehensweise ändern sollte.

»Mir gefällt das nicht«, fauchte Cecily. »Ich könnte erwischt werden, wenn ich mit Ihnen rede.« Ihr Blick huschte von der belebten Hauptstraße zur Ecke der Gasse, in der sie standen. Ein Auto fuhr vorbei, dann eine Rikscha, dann ein Fahrrad, doch niemand schien sie zu beachten.

»Cecily«, murmelte Fujiwara. Das Schlimmste von allem, was Cecily an ihm verrückt machte, war seine Stimme, die nie über ein Flüstern hinausging. War er sich bewusst, dass es im Grunde ein aggressives Mittel war, das andere zwang, innezuhalten und sich ihm zuzuneigen, um ihn zu verstehen?

Sie wandte sich von ihm und seiner markanten Nase ab, bei deren Anblick ihr immer ganz warm ums Herz wurde. Fujiwara war kein schöner Mann, aber seine klaren und symmetrischen Züge verliehen ihm etwas Aristokratisches. Sie griff nach dem in der Nähe liegenden Schlauch, um sich den fischigen Geruch von den Händen zu spülen. Als das kalte Wasser über ihre linke Hand lief, spürte sie einen stechenden Schmerz im Arm, und ein hellroter Strom floss auf den Boden.

»Cecily, Sie bluten.«

Er trat einen Schritt vor, und der Minzduft seiner Haarcreme schwebte in der warmen Luft und erinnerte sie daran, dass sie ihm für immer verfallen war.

»Ist nicht schlimm, nur ein Kratzer«, sagte Cecily. Weil du mich zwingst, im Abfall herumzuwühlen, dachte sie, sagte es aber nicht. Stattdessen setzte sie ein sanftes, fast spöttisches Lächeln auf, eine Miene, so hoffte sie, die über ihr Verlangen, seine Hand zu nehmen und ihm ihre Sehnsucht zu gestehen, hinwegtäuschen konnte. So ging das schon seit Monaten: Bei den wenigen Malen, die sie sich getroffen hatten, wurde ihr ganz flau im Magen, und sie fühlte sich hungrig und zugleich berauscht.

»Tut mir leid. Ich weiß, Sie mögen keine Veränderungen«, sagte er.

Cecily hielt ihre Hand unters Wasser und zuckte zusammen, als der Schmerz der Schnittwunde sie durchfuhr.

»Aber ich muss Ihnen etwas sagen, das nicht warten kann«, sagte er.

Da war es wieder, das wunderbare weiche Gefühl in ihrem Bauch. Er hatte nie angedeutet, dass er genauso empfand. Tatsächlich hatte er nie zu erkennen gegeben, dass er überhaupt etwas fühlte.

Fujiwara hob die rechte Hand, drückte die Finger auf das fleckige Papier und glättete es am Oberschenkel. Cecily zog ihre Hand aus dem Wasserstrahl und wischte sie an ihrem geblümten Rock ab. Der Blutfleck verdunkelte die Blütenblätter einer Blume auf dem Stoff, war aber kaum zu sehen, ein im Verborgenen liegendes Ungeheuer.

»Was müssen Sie mir sagen?«, fragte sie. Sie fand es schrecklich, dass sie wie eine Bittstellerin klang.

Er starrte auf das Blatt, ohne auf ihre Frage einzugehen, und zog die dunklen Augenbrauen zusammen. »Diese Zahlen werden nützlich für uns sein«, sagte er.

Cecily betrachtete Fujiwara, während er das Blatt studierte. An seiner Stirn hing ein winziger Schweißtropfen, was ungewöhnlich war, da er immer so frisch aussah, als hätte er gerade ein Bad genommen. Cecily wollte den Schweißtropfen ablecken und das Salz schmecken.

»Ich muss das mitnehmen und prüfen lassen«, sagte er. Sie verstand ihn kaum, weil er sich ein Stück entfernt hatte. »Offenbar handelt es sich um Auszüge eines Protokolls, das Ihr Mann über Gezeiten und stündliche Wasserstände im Hafen geführt hat. Vermutlich hat er seine Erkenntnisse in einem größeren Bericht festgehalten und diese Aufzeichnungen weggeworfen.«

Cecily, die nur mit halbem Ohr zuhörte, nickte und versuchte, ihren Blick von dem Schweißtropfen loszureißen. Ihr blutiger Finger pochte vor Scham.

»Gut. Wenn Sie mir nicht sagen wollen, was los ist, gehe ich jetzt«, sagte sie. »Es ist gefährlich, hier so zusammenzustehen, außerdem muss ich zurück zu den Kindern.« Mit stockendem Atem drehte sie sich um. Wenigstens war sie eine Frau, die weggehen konnte.

»Moment, warten Sie«, sagte Fujiwara keuchend. In der Nähe quiekte und gurgelte ein Hirtenstar, als verspottete er die Unentschiedenheit der beiden. »Ich habe von einem Deutschen gehört. Angeblich ist er sowohl gut als auch schlecht, aber er wird für uns den Krieg gegen die Briten gewinnen.« Fujiwaras Stimme zitterte vor Aufregung, wodurch er noch schlechter zu verstehen war.

Cecily trat zurück und drehte sich zu ihm um. Das war ungewöhnlich. Ihre Beziehung war geschäftlicher Art; Fujiwara war ihr Spionagechef. Sie, die Spionin, sammelte Informationen, zumeist gestohlen aus den Unterlagen ihres Mannes Gordon oder aus mitgehörten Gesprächsfetzen. Gordon war eine nichts ahnende Führungskraft in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der britischen Verwaltung, zuständig für Geologie und Landnutzung. Er mochte die Arbeit nicht, doch da ihm der Titel »Leitender Landschaftsplaner« einigen Respekt unter seinen Freunden verschaffte, fand er sich damit ab. Fujiwara brachte Cecilys Informationen, kleine komplizierte Puzzleteilchen, zu seinen japanischen Vorgesetzten, die sie mühevoll zusammensetzten, um die seit über einhundert Jahren währende britische Regierung zu stürzen. Fujiwara hingegen hatte nur selten Informationen für sie. Ihr ganzes Wissen beschränkte sich auf Vermutungen, abgeleitet von knisternden Radiomeldungen über den Einmarsch deutscher und japanischer Truppen in Orten, die so weit entfernt waren, dass sie unwirklich erschienen. An Abenden, wenn sie sich einsam fühlte, fragte sie sich manchmal, ob sich ihre Hoffnung auf ein befreites Malaya je erfüllen würde.

»Ist nicht jeder Mann gut und schlecht?«, fragte Cecily. »Mir scheint das eine müßige Frage.«

»Cecily.« Fujiwaras Mundwinkel zogen sich ein klein wenig nach oben. »Das mag ich besonders an Ihnen. Ich bin ein Träumer; Sie sind immer pragmatisch.«

Cecily spürte, wie ein warmes Gefühl sie durchströmte und ihre Ohren erröteten. Es war das wohl direkteste Kompliment, das er ihr je gemacht hatte. Er mochte etwas an ihr, mochte es sehr. Sie strich ihr krauses Haar über die Ohren und hoffte, dass er ihr Erröten der brütenden Nachmittagshitze zuschrieb.

»Ich muss es Ihnen sagen. Sie sollten das wissen. Es gibt einen Pakt … zwischen Deutschland, Italien und Japan, der sehr stark ist. Er wird die Zukunft prägen.« Seine Stimme bebte vor Energie. Auch Cecily spürte es. Von Anfang an hatten sie und Fujiwara über eine Welt gesprochen, in der Asiaten ihre Zukunft selbst bestimmten, eine Welt, in der sich die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft nicht an Punkten bemessen ließ, die ihn von einem Weißen trennten. Ein solcher Pakt zwischen Deutschen und Italienern, die bereits enorme Fortschritte beim Sturz ihrer britischen Gegner gemacht hatten, und Japan, dessen Führer geschworen hatten, Asien von der britischen Geißel zu befreien, rückte all das in greifbare Nähe. Cecily merkte, dass sie die Luft angehalten hatte, und atmete aus. Fujiwaras wenige Worte beflügelten sie, als stünden sie am Strand und sähen, wie mit der nächsten Welle am Horizont die Veränderung auf sie zurollte. Vielleicht war das fürs Erste genug.

Fujiwara war während der Monsunzeit 1934, in der Woche vor Weihnachten, in Cecilys Leben getreten, wie ein tropischer Sturm, dessen Windböen die Bäume peitschten und alles durcheinanderwirbelten. In der Luft lag die Verheißung eines neuen Jahres, die Menschen feierten bereits das Ende des alten. An diesem speziellen Abend war es kühl gewesen, weil es den ganzen Nachmittag gestürmt hatte, wofür Cecily dankbar war, denn sie würde ihr Kleid nicht durchschwitzen. Zum ersten Mal waren sie im Haus des Residenten eingeladen, um die Ernennung eines stellvertretenden britischen Residenten in Bintang zu feiern. Gordon hatte Cecily schon dreimal aufgefordert, sich umzuziehen; am Ende fiel seine Wahl auf ein cremefarbenes Kleid mit einem hellrosa Streifen an jeder Seite, das weder zu körperbetont noch zu weit war und ihm passend und ansprechend schien.

Der langjährige Resident, ein mürrischer Mann namens Frank Lewisham, war der örtliche Verwalter, dessen Hauptaufgabe in der Aufrechterhaltung der Ruhe und der Einhaltung der Zinnerz- und Kautschukquoten in Bintang bestand. Cecily sah sich den neuen stellvertretenden Residenten genau an, einen dürren, dümmlich aussehenden Mann namens William Ommaney. Er hatte die sprödesten Lippen, die sie je gesehen hatte, was vielleicht daran lag, dass er sich vor Aufregung ständig die Lippen leckte. Gordon, ein Loyalist und Anhänger der britischen Krone, war mit dieser Ernennung zufrieden. Er sah darin ein Zeichen dafür, dass Kuala Lumpur, die Stadt, zu der auch der Bezirk Bintang gehörte, ähnlich wie die Nachbarinseln Singapur und Penang, auf dem Weg war, ein wichtiger Verwaltungsposten für Britisch-Malaya zu werden.

»Endlich erkennt die Krone unser großes Potenzial«, hatte Gordon Cecily zugerufen, als er die Neuigkeit erfuhr.

Auf der Party wimmelte es von Gästen, und das zunehmend laute Stimmengewirr im Raum wurde gelegentlich vom hohen Kreischen britischer Frauen durchstochen, das von den sauberen weißen Wänden widerhallte. Das imposante Haus des Residenten stand in der Mitte eines schönen gestutzten Rasens, gesäumt von prächtigen Angsana-Bäumen, deren Blätter im nachlassenden Wind flatterten. Aus dem Grammophon wehten Klänge von Billie Holiday über den gepflegten Rasen, und der Abend fühlte sich sanft an, gedämpft vom Dunst des Regens. Cecily staunte selbst, als sie sich langsam zur Musik bewegte, es war fast schon tanzen, etwas, das sie noch nie gemacht hatte. Tanzen war für sie stets ein Zeitvertreib für hübschere Mädchen gewesen. Schlichten Frauen wie ihr war die Freude versagt, die körperliche Schönheit mit sich bringt.

Im Trubel der Begrüßungen und des willkürlichen Händeschüttelns begegnete Cecily Fujiwara zum ersten Mal. Allerdings nannte er sich damals anders. Seinen britischen Akzent, erfuhr sie später, hatte er sich angeeignet.

»Bingley Chan«, sagte er und sprach das »-ley« so hart aus, dass es in seiner Kehle klickte. Er streckte eine Hand aus, und jemand stellte ihn als Kaufmann aus Hongkong vor, spezialisiert auf den Handel mit Waren aus dem Orient.

Cecily musterte ihn, diesen Asiaten, der offenbar großen Respekt bei den Briten genoss. Er hatte nicht die rundlichen Gesichtszüge der Südchinesen, die von den Briten zur Arbeit in den Minen nach Malaya gebracht wurden. Allerdings hatte sie, abgesehen von Malaien, auch noch nicht viele Asiaten gesehen.

»Sagen Sie, Mr. Chan, machen Sie auch Geschäfte mit den Deutschen, oder beschränkt sich Ihr Radius ausschließlich auf die Krone und das Land?«, fragte Gordon mit geschwellter Brust und einem schnittigen Akzent, mit dem er vor den Briten als vornehm glänzen wollte. Cecily wollte sich vor Scham fast verkriechen.

»Die Deutschen brauchen mit Sicherheit keinen Händler, der Gewürze und Teppiche verkauft«, erwiderte Bingley Chan mit schelmischem Unterton und hochgezogener Braue.

»Verfluchte Deutsche!«, rief jemand, und alle Männer lachten schallend aus Solidarität und weniger, weil sie den Witz verstanden. Der damals als Bingley Chan bekannte Mann rang sich ein Lächeln ab. Doch Cecily fiel auf, dass er, genau wie sie, nicht lachte.

Nach der Party des Residenten fing Bingley an, in den Abendstunden, wenn die Kinder im Bett lagen, bei den Alcantaras vorbeizuschauen. Gordon begeisterte der Gedanke, dass ein Brite mit Verbindungen, wenn auch mit asiatischen Wurzeln, zu seinem Bekanntenkreis gehören wollte; er freute sich über die Besuche und sonnte sich in seinem vermeintlichen sozialen Aufstieg. Die beiden Männer lehnten sich in den gepolsterten Rattansesseln im Wohnzimmer zurück, schwenkten den von Bingley mitgebrachten braunen Whiskey und tranken ihn in kleinen Schlucken. Gordon staunte über die Qualität und fragte Bingley, ob er ihn auf dem Schwarzmarkt besorgt habe, worauf dieser sich um eine Antwort drückte. Eine Stunde verstrich, dann zwei und drei, in denen die Männer über Nichtigkeiten schallend lachten, während Cecily ihnen nachsichtig lächelnd gegenübersaß und sich an ihrem ersten und einzigen Glas festhielt.

Schon bald folgten Abende, an denen Gordon mit vom Whiskey verrutschtem Gesicht und weit gespreizten Beinen im Sessel einschlief, die Finger um das feuchte Glas geklammert. Am Anfang war es Cecily peinlich, und sie erfand Ausflüchte. »Ach, er hatte einen langen Arbeitstag«, sagte sie als Entschuldigung für etwas, das Bingley womöglich beleidigte, und brachte ihn zur Tür. Doch nach drei Abenden, an denen Cecily ihren Mann mühsam ins Bett gebracht hatte, nahm sie Bingleys angebotene Hilfe an. Und so fing es an. Abend für Abend schleppten sie Gordon, manchmal vorsichtig an den Schultern, manchmal grob an den Armen, ins Schlafzimmer, ließen ihn angezogen aufs Bett fallen und kicherten wie Kinder über sein Schnarchen. Alles rein freundschaftlich, redete sich Cecily ein. Ein Gentleman, der ihr half, ihren Mann nach einem netten Abend ins Bett zu bringen.

Doch die Sache entwickelte sich, wie nicht anders zu erwarten. Bingley blieb noch eine Weile, nachdem sie Gordon ins Bett gebracht hatten. Anfangs standen sie nur ein paar Minuten an der Tür und plauderten über Vorfälle im Viertel, verdrehten die Augen über die neuesten Eskapaden von Mrs. Carvalho, der neugierigen Nachbarin, oder sie klagten gemeinsam über die Feuchtigkeit in der Luft, die auch nachts nicht nachließ. Dann wurden aus den Belanglosigkeiten sehr schnell vertrauliche Gespräche, bei denen Bingley sich notgedrungen setzte und zuhörte.

Da war Cecilys wachsende Enttäuschung über die Briten, eine Auffassung, die im Widerspruch zu der ihrer Mutter und ihres Mannes stand. Mit zunehmendem Alter fiel ihr das Versagen der Männer in ihrer Umgebung auf: dritte und vierte enterbte Söhne, gescheiterte Soldaten, Alkoholiker, die von ihren Familien oder Regimentern verstoßen und an entlegene Orte wie die malaiische Halbinsel geschickt wurden, um ihren Angehörigen ein Mindestmaß an Würde zurückzugeben. Und hier, dachte sie, liefen sie hochnäsig und stinkend in ihren für das Wetter ungeeigneten Wollanzügen herum, es sei denn, sie sahen eine einheimische Frau mit wohlgeformten Brüsten, dann leuchteten ihre triefenden Augen auf.

Sie fühlte sich zutiefst beschämt, wenn ihr in den Geschäften die Frau eines Briten auswich oder ihr Mann aufgeregt nach Hause kam, weil er von einem weißen Kollegen, der sich kaum seinen Namen merken konnte, ein wenig Anerkennung bekommen hatte.

Und es gab Momente, die ihre Hoffnung für die Zukunft ihrer Kinder trübten. Etwa der Tag, an dem die sechsjährige Jujube mit roten Wangen und großen Augen nach Hause gekommen war, ihren kleinen Bruder auf den Schoß genommen und ihm »UN-ZI-VI-LI-SIERT« ins Ohr geschrien hatte, bis auch er anfing zu schreien und dann zu weinen, die graugrünen Augen glänzend wie ein glatter See.

»Jujube!«, hatte Cecily entsetzt gerufen. »Wo hast du das gelernt?« Ein derart hässliches Wort aus einem so jungen Mund zu hören, hatte sie zutiefst schockiert.

»Die Lehrer sagen, dass wir das sind! Deswegen sind sie den ganzen langen Weg auf Schiffen gekommen, sie wollen uns helfen! Und deswegen müssen wir in die Kirche gehen, damit Gott sieht, dass wir reformiert sind!« Jujube, die das Wort »reformiert« kaum aussprechen konnte, verzog dabei konzentriert das Gesicht, um das Gelernte hervorzuwürgen. Cecily zuckte zusammen, brachte Jujube zum Schweigen, tröstete den verstörten Abel und war ratlos. Wie sollte sie ihrer Tochter erklären, dass es nichts brachte, wenn sie sich auf ihre weißen Wurzeln beriefen und sich an die europäischen Spuren in ihrem Blut klammerten.

Cecilys Mutter und auch Gordon hatten gehofft, dass das Weiße in ihrem Blut das Braun ihrer Haut verdrängen würde. Wenn sie nur lange genug geduldig warteten und ihren britischen Herren dienten, würden die Weißen die europäische Abstammung der Alcantaras, so schwach sie sein mochte, anerkennen und sie über die Malaien anderer Ethnien stellen. Doch ganz gleich, wie sehr sie ihre Haut schrubbten, um an die helleren Schichten zu gelangen, ganz gleich, wie gut sie die englische Sprache beherrschten, ganz gleich, wie laut sie ihren Nachnamen sagten, ganz gleich, wie sehr sie versuchten, auf die richtige Art zivilisiert zu sein – in den Augen der weißen Imperialisten blieben sie immer minderwertig.

Auch Bingley vertraute sich ihr an. Mit seiner sanften, sachlichen Stimme erzählte er ihr von den ständigen Kränkungen, die die Briten ihm zufügten – wie sie ihn beschimpften, sich über seine Augen lustig machten. Er erzählte ihr von seinem Sohn, der nur wenige Wochen nach der Geburt gestorben war, und dass eine Beziehung, seine Beziehung, einen solchen Verlust nicht verkraften konnte. Seine sonst so ruhige Stimme brach, und er schluckte. Erst viel später wurde ihr klar, dass dies der Moment war, in dem jeder Widerstand in ihr brach. Seine Verletzlichkeit fühlte sich an wie etwas Gestohlenes. Alles, was sie danach tat, war diesem Moment der Gebrochenheit geschuldet, an dem er sie hatte teilhaben lassen.

Jahre später versuchte Cecily, sich an die Einzelheiten des Abends zu erinnern, als er ihr seine Identität offenbarte. Summten die Moskitos? War Vollmond oder Halbmond? War es warm oder kalt? Sie konnte sich nicht entsinnen. Aber, so viel wusste sie, er hatte offenbar begriffen, dass er ihre zarten Schichten freigelegt und sie genau da hatte, wo er sie haben wollte. Während ihr Mann im Ehebett schlief, gab Bingley sich als Fujiwara zu erkennen. Sein Akzent änderte sich, er sprach gebrochenes Englisch mit japanischem Akzent, und sie erfuhr von seiner wahren Verbindung zur Kaiserlich Japanischen Armee, seinem Traum von einem Asien für Asiaten, einer Welt, in der nicht immer Weiße siegten.

Sie wusste nur noch, dass sie Fujiwara und seinen Idealen, die logisch und zugleich romantisch klangen, nach dieser Offenbarung andächtig und mit angehaltenem Atem lauschte. Er sprach von einer Welt, in der Menschen ihres Aussehens keine imperialistischen Untertanen mehr waren, von einem Asien, das sich selbst um seine Belange kümmerte und von einem der ihren geführt wurde, von einer Gesellschaft, die die Strukturen der Weißen auflöste, Strukturen, die man ihr so lange als die einzig wahren verkauft hatte, auch wenn ihr dabei nie wohl gewesen war. Und im Laufe ihrer heimlichen Abende stellte Cecily fest, dass auch sie sich eine von den Briten zurückeroberte Welt vorstellen konnte, eine Zukunft, in der sie, ihre Kinder und deren Kinder mehr sein konnten als nur unbeachtete langweilige Dekoration.

KAPITEL DREI

ABEL

Arbeitslager Kanchanaburi an derburmesisch-thailändischen Grenze

16. August1945

Japanisch besetztes Malaya

Als Abel zu sich kam, lag er in einem Hühnerstall, und sein Kopf brummte vom hässlichen Geräusch kratzender Füße. Ein braunes Huhn mit einem Streifen weißer Federn auf der Brust blieb neben ihm stehen und spähte auf ihn herab. Er blieb reglos liegen – er hatte keine Lust, dass nach ihm gepickt wurde. Als das Huhn ihn lange genug inspiziert hatte, hüpfte es davon. Abel richtete sich auf, um sein Gesicht zu befühlen, das mit getrocknetem Blut verkrustet war. Er sah sich um. Der Maschendraht des Hühnerstalls bildete eine Umfriedung, die vielleicht zwei Meter fünfzig breit und einen Meter fünfzig hoch war. Er zählte vier Hühner: das braune von vorhin, zwei weiße, die nacheinander pickten, und ein Hahn, der auf der Seite lag. Wegen des üblen Geruchs vermutete Abel, dass er verendete.

Seit sechs Monaten war er jetzt im Arbeitslager, aber es war sein erstes Mal im Hühnerstall. Er begriff, dass er nicht aufrecht stehen konnte, und ging in die Hocke. Als seine gebeugten Knie seine Brust berührten, spürte er einen stechenden Schmerz im Bauch. Er legte sich auf die staubige Erde zurück, zog sein zerrissenes braunes Hemd hoch und sah ein Netz aus blauvioletten Flecken, das von helleren rosa und gelbgrünen Striemen durchzogen war. Seine Zunge fühlte sich trocken und riesig an, wie mit Splittern gespickt. Er wollte sich räuspern, um seine Stimme zu finden, brachte aber nur ein leises Krächzen zustande. Das braune Huhn drehte sich um und blitzte ihn böse an.

Am Tag vor seinem fünfzehnten Geburtstag hatte Abel zum ersten Mal von der Eisenbahn gehört. Dass er am fünfzehnten Februar fünfzehn wurde, schien ihm besonders bedeutsam, auch wenn die Feier wegen des Kriegs nicht groß ausfallen würde. Er war auf dem Heimweg vom Gemischtwarenladen gewesen – sein Kumpel Yao Chun, der dort arbeitete, hatte ihm eine Zigarette und ein altes Lucky-Strike-Poster mit einem hübschen rauchenden Mädchen geschenkt. Yao Chun hatte das Poster zwinkernd zusammengerollt und gesagt: »Ich hoffe, es bringt dir was, mein Freund«, und Abel war peinlich berührt zusammengezuckt. Aber er hatte das Poster mitgenommen: Bilder von hübschen Mädchen waren schwer zu kriegen. Als er auf dem Rückweg den teerigen Rauch der Zigarette inhalierte, dachte er darüber nach, was es hieß, fünfzehn zu sein. Es hieß, dass er sich in einem Jahr als Soldat verpflichten und die Japaner dorthin zurückschicken konnte, wo sie hingehörten.

Es beunruhigte ihn mitanzusehen, dass sein einst stattlicher Vater mit jedem Tag dünner und blasser wurde, dass sich die verschorften Schnittwunden an seinen Händen, die von der Arbeit in der Blechwerkstatt rührten, ständig vermehrten. Und es beunruhigte ihn noch mehr, dass die Falte zwischen den Augenbrauen seiner Mutter zunehmend tiefer wurde, wenn sie die spärlichen Rationen sah, die sein Vater nach der Arbeit mit nach Hause brachte. Erst letzte Woche hatte sein Vater vier Stunden in der Schlange gestanden, um eine Tüte mit blutigen Resten zu bekommen, die sich als Stierhoden erwiesen. Abel hatte es urkomisch gefunden, sich vor Lachen geschüttelt und gerufen: »Stiereier, Stiereier«, als sein Vater den Inhalt der Tüte ihrer Mutter beschämt gezeigt hatte. Selbst die ernste Jujube hatte sich ein Grinsen nicht verkneifen können. Doch statt mit der Familie zu lachen, hatte ihre Mutter geschrien: »ICHKANNNICHTMEHR!« Abel erinnerte sich an ihre zitternde Unterlippe, als sie in das kleine Zimmer marschierte, das sie sich mit seinem Vater teilte. Um keinen Preis wollte sie wieder herauskommen. Am Abend aß die Familie gekochte Stierhoden in Sojasauce und tat so, als hörte sie die gedämpften Schluchzer vom Ende des Flurs nicht. Abel schmeckte immer noch den wildartigen Geschmack des Fleisches.

»Du!« Eine dröhnende Stimme hatte seinen Geburtstagsspaziergang unterbrochen. Er war überrascht, Bruder Luke zu sehen. Vor der Ankunft der Japaner war Bruder Luke sein Geschichtslehrer gewesen. Mit Ausnahme der Priester, die »Pfarrer So-und-so« hießen, gaben sich die unter ihnen lebenden britischen Missionare den Ehrentitel »Bruder«, was sowohl Solidarität mit den weißen Briten als auch ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den dunkelhäutigen Einheimischen zum Ausdruck brachte. Bruder Luke war als Lehrer nach Malaya geschickt worden und hatte bei der Gründung der St. Joseph’s Boys’ School mitgewirkt, die Abel besuchte. Als Mitglied des Jesuitenordens war Bruder Luke ein strenger Lehrer. Abel, ein miserabler Schüler, fand das gar nicht gut.

»Nenn mir drei Erfindungen aus der industriellen Revolution, Junge!«, belferte Bruder Luke mit schweißtriefenden Koteletten in Richtung Abel. Er nannte alle Schüler nur »Junge«, damit er nicht lernen musste, wie man ihre Namen aussprach.

»Dampfmaschine. Entkörnungsmaschine«, stotterte Abel, und dann fiel ihm nichts mehr ein. Er kniff die Augen zusammen, um seinem Verstand eine dritte Erfindung abzupressen, doch sie mochte nicht kommen. Ihm war klar, was als Nächstes drohte. Er streckte die Hand aus, machte sich auf den stechenden Schmerz gefasst und drehte das Gesicht zur Seite, während Bruder Lukes Holzlineal auf die weichste Stelle seiner Innenhand schlug.

Doch der Bruder Luke, der am Vorabend von Abels fünfzehntem Geburtstag vor ihm gestanden hatte, wirkte wie ein Schatten des robusten, rotgesichtigen Lehrers mit riesigen runden Schultern, an den Abel sich erinnerte. Die neue Version von Bruder Luke war ausgemergelt, die Wangen hohl, ein Auge kleiner als das andere, geschwollene.

»Junge, hast du was dagegen?« Einiges hatte sich doch nicht geändert, dachte Abel. Bruder Luke kannte seinen Namen immer noch nicht.

»Was, Bruder Luke?« Abel wollte die brennende Zigarette verstecken und hielt sie zur Seite.

»Also, Junge, darf ich mal?« Er zeigte auf den dünnen Rauchkringel, den Abel nicht verbergen konnte. Schicksalsergeben reichte Abel ihm seine Geburtstagszigarette.

Bruder Luke nahm einen langen Zug, und beim Inhalieren versanken seine Wangen noch tiefer. »Das tut gut, Junge.« Mit Abels Zigarette in der Hand ließ er sich auf den Randstein nieder. »Setz dich doch zu mir.«

»Es ist schön, Sie wiederzusehen … Sir«, sagte Abel nervös. Die Begegnung mit Bruder Luke erschütterte ihn; er war davon ausgegangen, dass die Japaner nach ihrer Ankunft Bruder Luke mit dem Großteil der anderen britischen Verwaltungsbeamten und Missionare fortgebracht und ins Kriegsgefangenenlager Changi im Süden gesteckt hatten.

»Sir, haben die Japaner Sie freigelassen?«, fragte Abel.

Ohne auf Abels Frage einzugehen, schirmte Bruder Luke sein gutes Auge vor der Nachmittagssonne ab, die direkt auf sie herabbrannte. »Sag mal, hast du schon von der Burma-Eisenbahn gehört?«

Abel schüttelte den Kopf. »Sind Sie befreit worden, Sir?«, bohrte er weiter.

»Junge, du warst immer ein furchtbar schlechter Schüler. Das ist eine Eisenbahn, die die Japaner bauen. Um Vorräte zu transportieren.«

Abel runzelte die Stirn. Was hatte er mit einer Eisenbahn zu tun? Warum bekam er nicht die Antworten, die er wollte?

»Pass auf, Junge, willst du deiner Familie helfen? Sie suchen Arbeiter, Kulis. Leichte Arbeit, guter Lohn, und obendrein kriegst du einen Platz zum Schlafen.«

Yao Chuns und Abels Freunde hatten von Leuten gehört, die Jungen als Arbeiter für die Japaner anwarben, mit der Aussicht auf leichte Tätigkeiten. Einige ihrer Freunde hatten das Angebot bereits angenommen. Sie hatten ihre dürftigen Habseligkeiten in Koffer gepackt, waren auf die Ladeflächen von Lastwagen gesprungen, in der Hoffnung, gute Arbeit zu finden. Sie waren nie zurückgekehrt.

Doch jetzt hörte Abel es zum ersten Mal von einem britischen Anwerber; die anderen waren meist einheimische Männer, die Lebensmittelrationen für ihre Familien brauchten. Abel rückte ein wenig von Bruder Luke ab und wollte aufstehen.

»Wo willst du denn hin?« Bruder Luke streckte die freie Hand aus und packte mit erstaunlicher Kraft Abels rechten Unterarm.

»Sir, ich muss gehen. Meine Mutter macht sich Sorgen.«

»He, Junge, komm mit mir, tu’s für mich.« Abel fiel auf, dass der äußere Winkel von Bruder Lukes gutem Auge angefangen hatte, unkontrolliert zu zucken. »Du musst mit mir kommen.«

»Sir, nein, ich muss los.« Abel löste seinen Arm aus Bruder Lukes Griff und stand so schnell auf, dass er fast stolperte.

»Die stecken mich wieder ins Gefängnis, Junge. Bitte.« Aus Bruder Lukes gutem Auge tropften Tränen; Verzweiflung umfing ihn, so dunkel, dass Abel den Blick abwenden musste.

Er ließ Bruder Luke, ein knittriges Häufchen Elend, allein zurück und rannte nach Hause.

Am nächsten Tag, dem fünfzehnten, seinem richtigen Geburtstag, holten sie ihn ab. Am Morgen hatte seine Mutter ihm übers Haar gestrichen und ihm eine Überraschung versprochen. Er wusste, es wäre nichts Großes, denn zurzeit hatten sie nicht viel, aber vielleicht zauberte sie ja auf die Schnelle etwas Süßes für ihn; seine Mutter war erfinderisch mit den begrenzten Rationen.

Er hatte auch ein telur mata kerbau