Nachbeben - Hendrik Streeck - E-Book

Nachbeben E-Book

Hendrik Streeck

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Beschreibung

Die fällige Bilanz Die Pandemie ist vorbei, das Virus ist geblieben. Drei Jahre Ausnahmezustand liegen hinter uns, die geprägt waren von Ungewissheit, von sinnvollen und sinnlosen Maßnahmen, von Warnungen, Mahnungen und Überspitzungen. Wir sollten diese Zeit nicht einfach verdrängen, sondern sie aufarbeiten, aus ihr lernen und die so gewonnenen Erkenntnisse nutzen, nicht zuletzt, um uns auf zukünftige Pandemien und Krisen aller Art besser vorzubereiten. Essenziell für die richtigen Schlussfolgerungen ist eine ergebnisoffene, ehrliche, aber auch konsequente Aufarbeitung und Benennung von Fehlern und Versäumnissen. Dabei geht es nicht darum anzuklagen – es geht um Glaubwürdigkeit. Denn nur so können wir vermeintlich unversöhnliche Positionen auf dem Pfad eines offenen, diskussionsfreudigen und gar versöhnlichen Diskurses zusammenführen. Das ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine politische und gesamtgesellschaftliche Herausforderung.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Unter Mitarbeit von Margret Trebbe-Plath

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Frank Burkhard und koksikoks / iStock Photo

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Einleitung

1 Hätte die Pandemie verhindert werden können?

Ursprung und Ausbruch: Eine Entdeckungsreise

Die Labortheorie – Unfall mit Petrischale

Die Nassmarkttheorie – von Menschen und Tieren

»Too little too late«: Freie Fahrt für Corona?

Unter dem Radar

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

Ruhe vor dem Sturm: Wie hat sich Deutschland auf die Pandemie vorbereitet?

Verwalten oder handeln

Die Dynamik eines Falls: Von Wissenschaft und Aktivismus

Leopoldina – ein Rat und die Politik

Expertengremien – Transparenz im Graubereich

2 Die Erstreaktion

Unser schärfstes Schwert: Was kann die Kontaktnachverfolgung leisten?

Test, trace and isolate

Pandemiebekämpfung digital

Die Grenzen des Machbaren

Lockdown, Shutdown, Grenzen zu: Alles ganz einfach, oder?

Wenn das Leben auf Eis liegt

Eine kurze Geschichte des Lockdowns

Was bringt ein Parkverweilverbot?

Unklare Gemengelage

Von Risiken und Nebenwirkungen

Das Damoklesschwert überlasteter Krankenhäuser

Eine Utopie namens No-COVID

Der schwedische Weg

Vom Sterben und der Übersterblichkeit

Verschiebungen: Von Positionen und Gegenpositionen

Lauter Protest und nachdenkliche Töne

Wie kommuniziert man in einer Krise?

3 Kontrollierter Umgang

Verdeckte Emotionen: Was können Masken – und was nicht?

Der Duft von Ölen und der Flug von Tröpfchen

Wann welche Maske?

Vom Wert eines Stücks Stoff

Masken als Belastung?

Einfach, aber effektiv? Wo Abstands- und Hygieneregeln Sinn ergeben

Platz für einen Elch

Scheinbarer Schutz

Was bringen Desinfektionsmittel?

Risiko Großveranstaltung? Wenn viele Menschen zusammenkommen

Chance vertan – Konzepte in der Schublade

Schulschließungen: Sind Kinder Pandemietreiber?

Hotspot Schule?

Schulen zu – Infektionen runter?

Kurze Effekte und lange Folgen

Vulnerable Gruppen: Die das höchste Risiko tragen

Der Schutz von Älteren und Pflegebedürftigen

Armut, Krieg und Krankheiten

4 Schritte aus der Pandemie

Impfung oder Durchseuchung?

Wie gut schützt eine Coronaimpfung?

Herdenimmunität – ein solidarisches Prinzip

Post-Vac und Long-COVID – Nebenwirkungen und Folgen

Gemeinsam gegen Corona: Die Sache mit dem Impfen

Übers Ziel hinausgeschossen: 3G, 2G, 2G+, 1G

Impfpflicht – wie weit darf man gehen?

Die Suche nach Schuldigen

Der Ethikrat – wer vertritt wen?

Aus der Vergangenheit lernen, um auf die Zukunft vorbereitet zu sein

Dank

Glossar: Was war noch mal …

Anmerkungen

Datenquellen von Abbildungen und Grafiken

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Einleitung

Es scheint schon eine Ewigkeit her zu sein. Die Erinnerung an die Pandemie beginnt zu verblassen. Hamsterkäufe, Masken in allen Farben und Variationen, endlose Schlangen vor Teststationen und Impfzentren; Wut, Demonstrationen, Tränen, klatschende Nachbarn auf dem abendlichen Balkon; dröhnende Einsamkeit, Isolation und Verunsicherung. Jeden Tag neue Hiobsbotschaften in den Zeitungen, im Radio und im Fernsehen. Inzidenzzahlen, R-Werte und Angaben zur Krankenhausbelegung, die wie der Wetterbericht eine Verbesserung oder Verschlechterung der Lage vorbeteten. Dazu irgendein Experte, der warnt, dass die Krise noch nicht überstanden sei. Manchmal findet sich noch eine alte, verkrumpelte Gesichtsmaske in einer Hosentasche, oder eine verblasste Markierung am Boden zeigt, dass man sich hier einst nur in kontrollierten Bahnen bewegen durfte.

Drei Jahre bestimmte das Coronavirus unser Leben und hielt die Welt fest im Griff. Egal, ob man in die Zeitung schaute, den Fernseher anschaltete oder mit den Freunden sprach – immer ging es um Corona, seine Varianten, Impfungen und den Immunstatus. Die Eingriffe in unseren Alltag waren einschneidend, die Stimmung emotional aufgeladen. Vieles von dem, was damals war, ist heute noch zu spüren. Wie kleine Rippelwellen auf dem See. Wie Nachbeben, die uns immer noch bis ins Mark erschüttern, denn die Spaltung der Gesellschaft, die wir heute erleben, wird auch auf dieses Ereignis zurückgeführt. Die Pandemie wirkte wie ein Katalysator, der bestehende Gräben noch weiter vertieft hat. Dazu gehört, dass eine ganze Reihe der Pandemiemaßnahmen auf dem Rücken derer ausgetragen wurde, denen es sowieso schon nicht gut ging. Und ihre Situation hat sich seitdem eher verschlechtert als verbessert.

Auf der einen Seite stehen das Virus und die Pandemie: Weltweit haben sich nach offiziellen Zahlen bis zum Frühjahr 2024 über 704 Millionen Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert, fast 39 Millionen allein in Deutschland.[1] Mit großer Sicherheit ist die Zahl sehr viel höher, da viele Infizierte gar nicht getestet wurden. Für die meisten war die Infektion wie jeder andere grippale Infekt. Manche von uns haben gar nichts gespürt. Für andere war es eine heftige Erkrankung. Es gab zahlreiche Schwererkrankte, Menschen mit Langzeitfolgen und leider auch Todesfälle – darüber müssen wir sprechen. Geschätzt eine Million Menschen haben in Deutschland noch mit Folgen der Coronainfektion in Form von Long-COVID oder mit Impfschäden zu kämpfen.[2] Seien es organische Schäden, die zurückgeblieben sind, seien es Autoimmunreaktionen oder psychische Belastung.

Auf der anderen Seite steht unser Umgang mit dem Virus und der Pandemie: Die Schulen waren bei uns 183 Tage vollständig oder teilweise geschlossen, fast ein gesamtes Schuljahr[3] – mit weitreichenden Konsequenzen vor allem für Kinder aus schlechtergestellten Familien wie einer Verschärfung der sozialen Unwucht, der sozioökonomischen Benachteiligung schwächerer Gruppen. Die psychologischen und sozialen Folgen durch Isolation, Vereinsamung und Vernachlässigung sind kaum zu bemessen. 130 Milliarden Euro an Coronahilfen wurden hierzulande für Unternehmen und Selbstständige ausgegeben;[4] trotzdem kam es zu zahlreichen Geschäftsaufgaben infolge der Pandemie, deren Anzahl nur geschätzt werden kann. Das Leben von Menschen hat sich weitreichend verändert. Einige wurden zu Corona-Gewinnern, viele wurden zu Corona-Verlierern.

 

Die Pandemie ist vorbei, ihre Nachbeben spüren wir noch immer. Und auch wenn wir heute mit SARS-CoV-2 leben wie mit all den anderen endemischen Coronaviren dank einer Grundimmunität in der Bevölkerung durch Impfung und überstandene Erkrankung, ist diese Zeit nicht spurlos an uns vorübergegangen. Die Debatte darüber wird in Teilen immer noch hitzig geführt. Unversöhnlich, ideologisch und unsachlich. Hinter jedem Dokument aus der Pandemiezeit wird ein Komplott gewittert. Verschwörungstheorien werden aber auch unbeabsichtigt genährt durch Schwärzungen in Protokollen oder Verträgen; Protokolle von Besprechungen oder E-Mails werden der Öffentlichkeit gleich komplett vorenthalten.[5] Einiges wie beispielsweise die Protokolle des Robert-Koch-Instituts wird erst durch Klagen über das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) oder Leaks freigegeben. Manches aber auch gar nicht. Gesprochen wird übereinander, aber nicht miteinander. Dabei gibt es so viel zu lernen, so viel zu diskutieren und so viel aufzuklären. Denn eins ist klar: Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Zukunft erneut zu Ausbruch und Verbreitung einer neuen Viruserkrankung kommen wird, ist durchaus gegeben, und wir müssen uns fragen: Sind wir dann besser darauf vorbereitet? Würden wir bessere Entscheidungen treffen?

Corona hat uns kalt erwischt, obwohl über Jahre vor einer möglichen Pandemie gewarnt worden war und Coronaviren unter den Top Ten der möglichen Pandemieerreger der Coalition of Epidemic Preparedness Initiative (CEPI) gestanden hatten.[6] In einer unbändigen Geschwindigkeit und Wucht ist es über uns hereingebrochen und hat die Wissenschaft, Politik und unser Gesundheitssystem vor riesige Aufgaben gestellt und zu schnellem Handeln verpflichtet. Im Krisenmodus wurden in rascher Folge Beschränkungen erlassen, Expertengremien zusammengestellt, Hilfen auf den Weg gebracht. Es wurde gestritten, verurteilt, Angst und Panik – berechtigt oder unberechtigt – geschürt. Was davon war zielführend, und was hat sich als zu kurz gegriffen, ineffektiv oder gar als schädlich erwiesen?

Wir sollten uns der Herausforderung stellen, diese Zeit der sowohl sinnvollen als auch sinnlosen Maßnahmen, der Warnungen, Mahnungen und bisweilen dramatischen Übertreibungen – mit dem Abstand und Wissen von heute – aufzuarbeiten, um daraus zu lernen, damit wir uns auf zukünftige Pandemien und Krisen vorbereiten und sie besser meistern können.

 

In den mehr als vier Jahren seit Beginn der Coronapandemie ist im In- und Ausland eine Fülle an wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen vorgenommen worden, die uns dabei helfen, eine solche Bilanz zu ziehen. Allerdings ist die Flut an Studien kaum mehr zu überblicken, geschweige denn in allen Einzelheiten auszuwerten. Man kann also einwenden, in diesem Buch würden einige Studien nicht genügend gewürdigt oder erst gar nicht miteinbezogen, andere hingegen zu stark gewichtet. Für die einen werde ich zu wenig die Wirksamkeit mancher Maßnahmen hervorgehoben haben, für die anderen zu viel. Und ich werde mich dem Vorwurf aussetzen müssen, dass man eine solche Auswertung doch nicht in einem Buch abhandeln kann und dass dieser Prozess in die Wissenschaft gehört.

Das ist alles in Teilen richtig. Ich habe mit Sicherheit nicht jede einzelne Studie gleichermaßen gewertet, noch habe ich eine systematische Metaanalyse aller Studien durchführen können. Ein solcher Prozess würde Jahre dauern, und auch er wäre nicht fehlerfrei. Zudem sind nicht alle Erkenntnisse oder Studienergebnisse im Literaturverzeichnis zu finden, sondern nur exemplarisch Verweise angegeben. Das bitte ich zu entschuldigen: Die Liste der Literatur würde die Länge des Buches ansonsten schlichtweg sprengen. Manchmal bin ich selbst an diesem Projekt verzweifelt, da die Vielzahl an Aspekten, die berücksichtigt werden müssen, unendlich erscheint. Nichtsdestotrotz habe ich das Buch zu Ende geschrieben, da ich es für uns als Gesellschaft wichtig finde, über diese Zeit zu diskutieren.

Die Datenlage aus dem Zeitraum der Coronakrise bleibt unverändert schlecht und wird nicht besser werden. Wir werden nicht mehr Daten bekommen, als wir jetzt bereits haben, denn die Pandemie und viele der Maßnahmen wurden wissenschaftlich nur unzureichend oder gar nicht begleitet; Daten wurden nicht erfasst, wichtige Studien nicht durchgeführt. Es wäre ein Leichtes gewesen, das Zusammenspiel von Infektionen und Maßnahmen zu erforschen. Zum Beispiel an einem Ort eine Maskenpflicht einzuführen und an einem vergleichbaren Ort nicht. Dann hätte man anhand des Infektionsgeschehens nachvollziehen können, ob eine Maskenpflicht Einfluss auf die Anzahl von Infektionen oder auch den Schweregrad von Krankheitsverläufen hat. Doch Vorschläge dazu, die von verschiedenen Akteuren und auch mir immer wieder gemacht wurden, wies man mit dem Argument zurück, ein solches Vorgehen komme einem Experimentieren am Menschen gleich und sei unethisch. Doch war das, was während der Pandemie gemacht oder eben nicht gemacht wurde, nicht im Grunde ebenso ein Experimentieren am Menschen?

 

Um zu tragfähigen Schlussfolgerungen zu kommen, ist eine ergebnisoffene, ehrliche und gleichzeitig konsequente Aufarbeitung und transparente Darstellung von Fehlern und Versäumnissen in der Coronakrise unerlässlich. Diese Bemühungen zielen nicht auf Anklage ab, sondern auf die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit, denn nur so können wir vermeintlich unüberbrückbare Differenzen überwinden und zu einem offenen, diskussionsfreudigen und versöhnlichen Dialog kommen.

Es geht auch darum, eine überfällige Diskussion zu beginnen und die Menschen wieder miteinzubeziehen, die sich während der Pandemie vor den Kopf gestoßen gefühlt haben. Viele sehnen sich danach, dass über diese Zeit gesprochen wird. Und die Forderung nach Aufarbeitung wird auch vonseiten der Politik immer wieder laut. Sei es durch Bürgerräte, Enquetekommissionen, Untersuchungsausschüsse, indem die Herausgabe von Protokollen der Krisenstäbe eingeklagt oder Kommunikation zwischen den Experten in verschiedenen Gremien angeregt wird. In einzelnen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Brandenburg oder Sachsen-Anhalt gibt es bereits Enquetekommissionen oder Untersuchungsausschüsse zu dieser Zeit oder aber eine Evaluation des Infektionsschutzgesetzes, an der auch ich beteiligt war und in deren Bericht wir einige Erkenntnisse zusammengetragen haben.[7]

Das alles sind Bemühungen, über diese Zeit zu sprechen. Denn was nicht geschehen darf, ist, diese Zeit totzuschweigen oder zu versuchen, die Geschichte umzuschreiben. Das vorliegende Buch ist ein Ansatz zur Aufarbeitung der Pandemie. Es ist ein Versuch, Erklärungen und Einschätzungen zu geben. Es soll zur Diskussion anregen und Situationen und Fragen ansprechen, die in Vergessenheit geraten sind. Außerdem ist es eine Zusammenfassung von vielem, das gesagt, aber vielleicht nicht gehört wurde. Das Buch soll einen Beitrag dazu leisten, wieder zusammenzuführen und Gräben zu überwinden.

Wer hofft, hierin eine Abrechnung zu finden, die zu dem Ergebnis kommt, dass die Entscheidungen, die getroffen wurden, alle falsch waren, den muss ich enttäuschen. Es war nicht alles falsch, so viel lässt sich heute sagen. Wer aber hofft, hier zu lesen, dass alles richtig war, den muss ich ebenfalls enttäuschen. Nicht jede Entscheidung war richtig, und es wurden Fehler gemacht, aus denen wir jetzt lernen können. Damit dies gelingen kann, brauchen wir eine neue Fehlerkultur. Wir müssen Fehler klar benennen, ohne diejenigen zu verurteilen, die sie gemacht haben.

Die Maßnahmen, die ergriffen wurden, wirkten sich direkt auf die Menschen aus – auf deren psychische und physische Gesundheit, auf deren wirtschaftliche Lage und auf deren Gerechtigkeitsempfinden. Will man also Lehren aus der Coronapandemie ziehen, betreffen sie sowohl die Medizin als auch Politik und Gesellschaft. Und wie bei jedem Medikament muss auch die Behandlung einer weiteren Pandemie im Kontext ihrer Gesamtwirkung und möglicher Nebenwirkungen betrachtet werden.

Es ist an der Zeit, eine Bilanz zu ziehen, die nicht nur Vergangenes reflektiert, sondern auch einen positiven und pragmatischen Ausblick in die Zukunft bietet und sich der Frage stellt, wie wir erfolgreich die Herausforderungen einer neuen Pandemie bewältigen können.

1 Hätte die Pandemie verhindert werden können?

Das Ergebnis ist ebenso ernüchternd wie aufrüttelnd. Im Mai 2021 kam das unabhängige Panel zur Pandemievorsorge und -reaktion der Weltgesundheitsorganisation zu dem Schluss: Die Coronapandemie war eine »vermeidbare Katastrophe«.[8] Die Weltgemeinschaft hätte die weltweite Ausbreitung von SARS-CoV-2 in den ersten Wochen verhindern können, und wir müssen die Frage stellen, warum uns das nicht gelungen ist. Was ist schiefgelaufen? Hätten wir anders reagieren können und müssen? Welche Fehler haben wir im Pandemiemanagement dieser Frühphase gemacht? Um in Zukunft solchen Virenausbrüchen besser vorbereitet begegnen zu können, sodass es erst gar nicht zu einer Pandemie kommt, ist es unerlässlich, zu den Anfängen der Coronapandemie zurückzukehren. Dorthin, wo alles begann.

 

Pandemien hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, doch während sie sich früher langsamer um den Erdball ausbreiteten, ist mit unserer modernen Lebensweise die Gefahr eines schnellen, weltumspannenden Ausbruchs gewachsen. Die Globalisierung bringt viele Vorteile mit sich, wie den raschen weltweiten Austausch von Waren und Informationen. Allerdings gibt es auch Nachteile, besonders im Bereich der Gesundheit. Durch die enge Vernetzung von Ländern und Regionen können sich Krankheitserreger wie Viren, Bakterien und Pilze rasant über die ganze Welt ausbreiten. Dies geschieht genauso einfach und schnell wie der Handel mit Gütern, etwa dem Tee aus Indien, dem Kaffee aus Kenia oder Computerchips aus Taiwan. Die rasche Ausbreitung von Erregern über Kontinente hinweg birgt das Risiko ernsthafter Gesundheitsgefahren und kann zu einem beschleunigenden Faktor von Pandemien werden.

Die Mehrheit der Infektionskrankheiten entsteht durch Erreger, die ursprünglich aus dem Tierreich stammen und auf den Menschen übergehen, bekannt als Zoonose. Zoonosen sind weitverbreitet; eine Analyse schätzt jährlich weltweit durchschnittlich 2,5 Milliarden Infizierte und 2,7 Millionen Todesfälle, die darauf zurückgehen.[9]

Die Entstehung einer Zoonose [1]

 

Zu den häufigsten Zoonosen zählen übrigens Salmonellen. Fast jeder von uns hatte schon einmal eine Salmonellenvergiftung, ausgelöst von Bakterien, die sich im Pudding oder Eiersalat verbreitet haben. Da die Salmonella enteriditis gerne an der Eierschale klebt, kann es schon mal passieren, dass sie in unser Essen gelangt, wenn wir ein Ei aufschlagen. Seitdem es allerdings einen Impfstoff für Hühner gegen das Bakterium gibt, ist die Anzahl an Erkrankungen durch Salmonellen beim Menschen stark zurückgegangen.

Die Gefahr von Zoonosen durch unbekannte Erreger steigt durch die zunehmende Nähe des Menschen zu Wildtieren weiter an – sei es durch Abholzung von Wäldern und Vordringen in neue Ökosysteme, armutsbedingtes Zusammenleben mit wilden Tieren oder illegalen Wildtierhandel. Es mag überraschen, aber wir wissen bis heute wenig darüber, welche Viren in Wildtieren einschließlich Insekten, Amphibien und Fischen selbst in Deutschland vorkommen – geschweige denn in anderen Ländern. Wir kennen geschätzt nur 15 Prozent aller Tierarten auf der Welt,[10] und jeden Tag werden im Durchschnitt circa 50 neue entdeckt.[11] Schätzungen zufolge gibt es aber auch rund 1,7 Millionen Viren, die uns noch unbekannt sind, und davon können etwa 300 000 den Menschen infizieren und krank machen.[12] Einige wenige davon haben das Potenzial, eine Pandemie auszulösen.

Wer hat sich schon intensiv mit unterschiedlichen Nagetierarten im Amazonas beschäftigt? Wird der Regenwald aber abgeholzt und werden zum Beispiel Bananenplantagen oder Farmen dort aufgebaut, kommt der kleine Nager eher in Kontakt mit Menschen oder den Schweinen, Hühnern und Rindern auf der Farm. Die Übertragung eines Virus, das wir noch nicht kennen, vom Tier auf den Menschen oder von Tier zu Tier und danach auf den Menschen, ist dann möglich. Diesen Prozess kann man derzeit live bei der Vogelgrippe H5N1 verfolgen. Zwar wird das Virus seit 2003 beobachtet, doch nun tritt es vermehrt in Hühnerfarmen rund um den Globus auf und ist plötzlich auch in Kühen und Kuhmilch zu finden. Selbst Seehunde sind betroffen, und die Gefahr eines Übertritts auf den Menschen wird wahrscheinlicher.

Wir können heute also mit Tieren von überallher in Kontakt kommen und müssen uns deshalb auch mit Viren von entlegenen Orten beschäftigen. Je mehr wir über Viren wissen, über ihre Übertragungswege und von welchen Tieren sie stammen, desto besser können wir sie kontrollieren und uns auf eine mögliche Ausbreitung vorbereiten. Auch ein weltweites Abkommen zum Artenschutz, dem Bann der Wildtiermärkte und der Vermeidung von Waldrodung würde das Risiko für Zoonosen deutlich verringern – und die Kosten dafür lägen unter den Summen, die die Coronapandemie verursacht hat.[13] Einfach gesagt: Je weniger sich Menschen und Tiere in die Quere kommen, desto unwahrscheinlicher sind Pandemien.

Ursprung und Ausbruch: Eine Entdeckungsreise

Woher stammt das SARS-CoV-2-Virus? Diese Frage treibt viele um und wird mir in Gesprächen bis heute immer und immer wieder gestellt. Doch die Antwort ist unbefriedigend: Wir wissen es nicht und werden es vielleicht nie erfahren. Es gibt viele Theorien, und manche davon erscheinen weit hergeholt, wie beispielsweise die von China verbreitete Hypothese, dass das Virus aus Italien kommt, da es dort auch sehr früh in Erscheinung trat. Ursprung dieser Theorie ist eine Studie, die bei gesunden Italienern schon im Oktober 2019 Antikörper gegen das Virus nachweisen konnte und damit mehrere Monate vor dem offiziellen Coronaausbruch in China.[14]

Allerdings gibt es nicht nur mehrere Studien, die dieser Aussage widersprechen, sondern auch eine Reihe von Fakten, aufgrund derer der erste Ausbruch von SARS-CoV-2 eindeutig in China zu verorten ist. So wurden die ersten Coronafälle im Winter 2019 in China festgestellt, und auch die Dimension an Coronainfektionen und die frühe auf den asiatischen Raum konzentrierte Ausbreitung des Virus sind deutliche Indizien dafür, dass der erste Ausbruch auf die Hubei-Region zurückgeht, in der auch die Stadt Wuhan liegt. So fällt auch eine weitere Überlegung schnell durchs Raster: die Vorstellung, das Coronavirus sei durch frische oder gefrorene Lebensmittel auf den Menschen übertragen worden. Obwohl es in der Vergangenheit durchaus schon zu durch Lebensmittel weitergegebenen Ausbrüchen von Humanviren gekommen ist und Belege für eine Wiedereinführung von SARS-CoV-2 in China durch importierte gefrorene Lebensmittel vorliegen, fanden Untersuchungen keine schlüssigen Beweise für eine virale Kontamination von Produkten.

 

Dreh- und Angelpunkt des frühen Ausbruchsgeschehens ist der Huanan-Wetmarket in ebenjenem Wuhan, der als Epizentrum des neuartigen Virus gesehen wird. Seine zentrale Lage, die vielen außergewöhnlichen Wildtiere, die dort verkauft werden, und seine Rolle als wichtiger Treffpunkt der Stadt machte ihn zum Protagonisten der Pandemiegeschichte. So konnte man auch in Studien, die die Wegstrecken von Infizierten nachzuverfolgen versuchten, den Wildtiermarkt als Zentrum ausmachen.[15] Möglich ist natürlich aber auch, dass das Virus nicht vom Wildtiermarkt ausging, sondern dass sich Erstinfizierte rein zufällig hierherbegaben und das Virus unwillentlich dort verteilten. In der Tat ist dieser Ort Wuhans hoch frequentiert und die Wahrscheinlichkeit, auch als Infizierter dorthin zu gehen, ist ebenso groß. Diese Henne-oder-Ei-Frage wird sich im Nachgang und ohne zusätzliche Informationen nur schwer klären lassen. Wie bei vielen Fragen rund um das Infektionsgeschehen ist es auch bei der Suche nach dem Ursprung von SARS-CoV-2 geboten, Vorsicht walten zu lassen und nicht vorschnell einer Überlegung folgend Zusammenhänge herzustellen, die so vielleicht gar nicht bestanden haben.

So bleiben zwei wahrscheinliche Theorien zur Genese des neuartigen Coronaerregers: Das Virus ist durch einen Unfall aus dem Labor entwichen, oder das Virus ist über einen Zwischenwirt – einen Marderhund oder Ähnliches – auf den Menschen übergegangen, womit wir wieder bei der Zoonose wären. Für beide Theorien gibt es einige Indizien, wirklich beweisen lässt sich bislang keine von ihnen. Um es gleich vorwegzunehmen: Auch wenn ich beide Szenarien für denkbar halte, wir sie offen diskutieren und beiden nachgehen sollten, ist in meinen Augen der natürliche Ursprung, also der Übertritt des SARS-CoV-2-Virus von einem Tier auf den Menschen am wahrscheinlichsten. Doch der Reihe nach.

Die Labortheorie – Unfall mit Petrischale

Ein Grund dafür, dass die Laborunfalltheorie schnell ins Zentrum des Interesses rückte, ist die Lage des Wuhan-Instituts für Virologie (WIV), denn es befindet sich nur wenige Kilometer vom Huanan-Markt entfernt. Und tatsächlich hat das WIV seit 2005 Forschungen zu SARS-ähnlichen Fledermaus-Coronaviren durchgeführt und war an Experimenten beteiligt, die man als »Gain-of-Function«-Forschung charakterisieren kann.[16] Forschung also, die darauf abzielt, Viren genetisch so zu verändern, dass sie neue Eigenschaften erlangen, wie etwa eine erhöhte Übertragbarkeit oder Pathogenität. Die Idee ist also, dass man ein SARS-CoV-2-ähnliches Virus aus der Fledermaus oder einem anderen Tier isoliert und es dann so verändert hat, dass es auch menschliche Zellen infiziert oder sogar schwere Krankheitsverläufe hervorruft. Als Hinweis darauf wird das Vorhandensein einer ungewöhnlichen Furin-Spaltstelle im Coronavirus gesehen, die manche als Zeichen für eine menschengemachte Veränderung beurteilen.

Die Überlegung, dass es zu einem Laborunfall gekommen sein könnte, entstammt nicht etwa einem Science-Fiction-Thriller, sondern solche Fälle hat es in der Vergangenheit tatsächlich schon gegeben. Wie beispielsweise 1979 den Anthrax-Ausbruch in einem sowjetischen Forschungslabor oder 2007 den Maul-und-Klauenseuche-Ausbruch in Großbritannien, der durch ein undichtes Rohr in einem Hochsicherheitslabor verursacht wurde. Eine Epidemie wurde durch das Entweichen eines neuartigen, bisher unbekannten Virus aus dem Labor jedoch noch nie herbeigeführt.

Der einzige Vorfall einer im Labor erworbenen Infektion, die zu einer Epidemie führte, ereignete sich mit einem altbekannten Virus. Dem Ausbruch des H1N1-Schweinegrippevirus von 1977 (die »Russische Grippe«) liegt wahrscheinlich ein Laborunfall zugrunde. Genetische Analysen des Virus haben gezeigt, dass das aufgetretene Virus große Ähnlichkeit mit einem Stamm hatte, der seit den 1950er-Jahren nicht mehr zirkulierte und nur noch im Labor existierte. Dieser H1N1-Stamm verursachte hauptsächlich milde Erkrankungen und betraf überwiegend junge Menschen, die keine Immunität gegen den älteren Virusstamm hatten, während ältere Menschen, die bereits dem Virus aus den 1950er-Jahren ausgesetzt waren, eine gewisse Immunität aufwiesen.

 

Anzeichen für einen möglichen Laborunfall in Wuhan lieferten vor allem Beobachtungen der Geheimdienste. So hatte man über Standortdaten von Mobiltelefonen herausgefunden, dass in einem Hochsicherheitsbereich des WIV zwischen dem 7. und 24. Oktober 2019 keine Mobiltelefonaktivität stattfand, was auf ein mögliches »gefährliches Ereignis« und damit einen Shutdown des Labors hinweisen könnte.[17] Darüber hinaus gibt es Berichte von ungewöhnlichen Aktivitäten im WIV im September 2019 wie dem Löschen von genetischen Coronasequenzen aus öffentlichen Datenbanken, einer Übertragung der Laborkontrolle auf das Militär und der Beauftragung eines Unternehmens mit der Überarbeitung des Belüftungssystems im Labor. Befeuert wurde die Theorie vom Laborunfall durch das sogenannte DEFUSE-Projekt, ein Forschungsvorhaben, das an die Forschungsagentur des Pentagons, die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), ging und SARS-ähnliche Fledermausviren mit laborsynthetisierten DNA-Abschnitten verändern sollte.[18]

Dass SARS-CoV-2 auf genau diese Weise erzeugt werden kann, beschreibt ein theoretisches Papier aus den Jahren vor der Pandemie.[19] Es schildert, wie das Genom eines SARS-ähnlichen Coronavirus in sechs Abschnitte zerschnitten werden kann, wenn man es mit bestimmten Restriktionsenzymen behandelt; genau diese Restriktionsenzyme und die dazugehörigen DNA-Abschnitte wurden vom Labor in Wuhan von New England Biolabs, einer Firma für Laborprodukte, bestellt. Obwohl mit den Materialien natürlich auch andere Forschungen durchgeführt worden sein könnten, nährt dieser Sachverhalt die Spekulationen um die Labortheorie.

Bleibt die Frage, wie SARS-CoV-2 nach dieser Entstehungstheorie aus dem Labor entwichen sein könnte. Wie kam es da raus? Dazu gibt es verschiedene Spekulationen, wobei die unbeabsichtigte Infektion von Labormitarbeitern am wahrscheinlichsten ist.

Letztendlich ist die Labortheorie allerdings nicht mehr als ein Verdacht, denn trotz intensiver Debatten gibt es keine belastbaren Beweise, die eine Laborherkunft des Virus bestätigen oder aber verneinen. Die WHO bezeichnet ein solches Laborereignis als »äußerst unwahrscheinlich« und nicht durch verfügbare Belege gestützt, betont aber zugleich, dass diese Möglichkeit ohne weitere Gegenbeweise auch nicht vollständig ausgeschlossen werden kann.[20]

Die Nassmarkttheorie – von Menschen und Tieren

Betacoronaviren wie SARS-CoV-2, SARS-1, aber auch MERS bergen seit jeher das Risiko einer Übertragung auf den Menschen und damit neuartiger Infektionen und Epidemien wie Pandemien. Vor allem Fledermäuse sind dafür bekannt, dass sie dauerhafte Populationen von Coronaviren beherbergen, die unter Bedingungen anhaltender Infektion Mutationen ansammeln, welche die Bindung an Rezeptoren über Artengrenzen hinweg ermöglichen – und also auch uns Menschen theoretisch infizieren können. Serologische und molekulare Studien haben herausgefunden, dass es sich bei chinesischen Hufeisennasenfledermäusen aller Wahrscheinlichkeit nach um den Reservoirwirt von SARS-CoV-1 handelt, dass sie das Virus also lange Zeit beherbergen, ohne selbst davon beeinträchtigt zu werden, und so zur Quelle der Infektionskrankheit werden. Es gilt als gesichert, dass dieses Virus dann über den Larvenroller – eine Schleichkatzenart, die in Asien vorkommt – auf den Menschen übergegangen ist.

Die engsten bekannten Viren zu SARS-CoV-2 sind Fledermaus-Coronaviren mit einer genetischen Übereinstimmung von bis zu 95 Prozent. Diese Erkenntnisse stützen die Annahme, dass Fledermäuse eine zentrale Rolle bei der Evolution und möglichen Übertragung von SARS-CoV-2 auf den Menschen gespielt haben. Allerdings gehen die Theorien davon aus, dass es nicht zum direkten Übersprung von Fledermaus zu Mensch gekommen ist. Der genetische Unterschied von etwa 5 Prozent bringt vielmehr einen Zwischenwirt ins Spiel – auch wenn bislang keine direkte tierische Quelle für SARS-CoV-2 gefunden wurde.

Pangoline, Schuppentiere, die auf manchem Wetmarket in China feilgeboten werden, könnten als Zwischenwirt gedient haben, denn ein in der chinesischen Provinz Guangdong bei Pangolinen gefundenes Coronavirus weist eine hohe Sequenzähnlichkeit mit der Rezeptorbindungsdomäne des Spikeproteins von SARS-CoV-2 auf. Aber auch Marderhunde stehen als Ursprungsquelle hoch im Kurs. Und damit ist man bei der Nassmarkttheorie, derzufolge der Übersprung auf den Menschen von einem Wildtier auf einem ebendieser Märkte in China stattgefunden hat. Da dort wild lebende Tiere gehandelt und konsumiert werden, bei engem Kontakt zwischen den Tieren, bergen sie ein hohes Potenzial für eine Zoonose und den Übertritt eines Virus auf den Menschen.

So wurden auf ebenjenem verdächtigten Nassmarkt in Wuhan Waschbärenhunde, die mit SARS-CoV-2 infiziert werden können, gefunden und zeitlich mit den ersten Proben in Zusammenhang gebracht, die das Virus enthielten. Man entdeckte also keine Marderhunde, die auch mit Corona infiziert waren, sondern fand lediglich in ein und derselben Probe, die von einem Tisch, aus dem Abwasser oder sonst wo genommen wurde, DNA der Marderhunde und gleichzeitig RNA vom Virus. Doch wie aussagekräftig ist ein solcher Befund? Schließlich bedeutet ein gleichzeitiger Nachweis von Algen und Menschen-DNA im Abwasser nicht, dass in Menschen Algen wachsen. Direkte Beweise, die auf einen bestimmten Tierwirt als Ursprung des Virus hinweisen, fand man Stand Frühjahr 2024 nicht, und eine Studie dazu geriet aufgrund ihrer fehlerhaften Statistik in Verruf.[21]

 

Woher also kam SARS-CoV-2? Wir wissen es nicht. Da China die Proben erster Infizierter nicht mehr hat oder nicht rausgeben will, anhand derer wir sozusagen evolutionär das Virus zurückrechnen und der Labor- oder der Nassmarkttheorie ein Stück näherkommen würden, wird es auch in Zukunft bei der Suche nach der Nadel im Heuhaufen bleiben – nämlich nach einem Tier, das mit Corona infiziert ist und evolutionär zweifelsfrei den Ursprung der Pandemie darstellt.

»Too little too late«: Freie Fahrt für Corona?

Einen lokalen Ausbruch von einem Erreger wird man nicht immer verhindern können, aber es ist möglich, ihn in der ersten Phase einzudämmen und eine weltweite Ausbreitung abzuwenden. Dies muss das oberste Ziel jeder Infektionsbekämpfung sein. Aus einem lokalen Ausbruch darf keine Epidemie und aus einer Epidemie keine Pandemie werden. Dabei ist frühes und entschlossenes Handeln entscheidend. Erfolgreiche Beispiele dafür gibt es in unserer jüngeren Geschichte durchaus. Das SARS-CoV-1-Virus beispielsweise existiert bis heute im Tier und könnte theoretisch erneut auf den Menschen übergehen, wenn es vom Larvenroller auf eine Person überspringt. Beim Menschen selbst konnte es nach dem ersten Ausbruch eliminiert werden und ist in der menschlichen Population nicht mehr präsent.

Dabei hatte SARS-1 die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts herbeigeführt – die wiederum in China, in der Provinz Guandong, ihren Anfang nahm, wo die ersten Fälle der durch SARS-CoV-1 ausgelösten Lungenerkrankung auftraten. Das war im Jahr 2002. Von dort nahm der Erreger seinen Weg über Thailand und Japan bis nach Kanada – wo ich die Auswirkungen hautnah erlebte, da ich 2003 in der Infektiologie eines Krankenhauses in Toronto genau zu dieser Zeit eine Famulatur durchführte. Vereinzelte Fälle wurden auch auf den Philippinen gefunden. Da die weltweit etwa 8000 Infizierten sowie ihre Kontaktpersonen ausnahmslos identifiziert und umgehend isoliert wurden, gelang es, das Virus einzudämmen und die Pandemie zu beenden. Seit jeher weiß man, dass die Kontaktnachverfolgung ein scharfes Schwert bei der Bekämpfung eines Ausbruchs ist – aber dazu später mehr. Und so ist es auch gelungen, SARS-1 beim Menschen auszurotten: Es waren kein Impfstoff und keine Behandlung, die das geschafft haben, sondern allein die Kontaktnachverfolgung.

Etwa 770 Menschen starben infolge einer SARS-CoV-1-Infektion, womit das Virus eine Letalität von rund 9 Prozent aufweist. Die hohe Sterberate ist die traurige Kehrseite des Vorteils, dass dieser Virustyp weniger leicht übertragbar ist als sein Nachfolger SARS-CoV-2. Wie auch der MERS-Erreger mit einer Sterblichkeitsrate von über 35 Prozent, der immer wieder zu lokal begrenzten Ausbrüchen führt, wenn er von Kamelen oder Dromedaren auf den Menschen übergeht, setzt sich SARS-CoV-1 tief unten in der Lunge fest. Mit oftmals schwerer Erkrankung und tödlichen Folgen. Man kann vereinfacht sagen: Repliziert ein Virus unten in der Lunge, ist es nicht so leicht übertragbar, aber tödlicher; repliziert ein Virus eher in den oberen Atemwegen, ist es leichter übertragbar, aber weniger tödlich. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Vorteilhaft für die Eindämmung von SARS-CoV-1 war zudem seine Eigenschaft, kaum asymptomatische Krankheitsverläufe hervorzurufen. Hatte sich jemand infiziert, wurde er sichtbar krank und konnte entsprechend isoliert werden. Bei SARS-CoV-2 hingegen gab es viele Infizierte, die gar nicht wussten, dass sie sich das Virus eingefangen hatten – denn sie zeigten nicht einmal Erkältungssymptome, ganz zu schweigen vom Geruchs- und Geschmacksverlust oder anderen typischen Begleiterscheinungen einer Erkrankung mit SARS-CoV-2. Diese Beobachtung zählte zu den wichtigen Ergebnissen unserer ersten Heinsberg-Studie, bei der wir alle Angehörigen eines Haushalts auf Corona testeten, auch wenn jemand keine erkennbaren Symptome einer Erkältungskrankheit aufwies.

Unter dem Radar

Asymptomatische oder symptomlose Coronainfektionen führen auch zu der Frage, ob es nicht schon viel früher zu einer Ausbreitung von COVID-19 gekommen ist als Anfang Dezember 2019, dem Zeitpunkt, an dem in China erstmals von Fällen einer bislang unbekannten Atemwegserkrankung berichtet wurde. Schon im Sommer desselben Jahres hatten Athleten bei Militärfestspielen in Wuhan COVID-19-ähnliche Symptome gezeigt, und auch zurückdatierte Proben aus dem Herbst 2019 von Coronainfizierten im italienischen Bergamo, das eine große chinesische Population beherbergt, weisen in diese Richtung. Auch wenn es sich bei solchen Überlegungen um Modellierungen handelt, spricht doch einiges dafür, dass es schon viel früher als bislang angenommen zur Ausbreitung von SARS-CoV-2 gekommen sein könnte. Manchmal geschieht die Ausbreitung zunächst für eine längere Zeit unter dem Radar.

Nehmen wir nur die Anfänge der HIV-/Aids-Pandemie. Die ersten Fälle wurden nicht vor 1981 beschrieben, als in den USA in kurzer Zeit junge, eigentlich gesunde Männer gehäuft seltene Erkrankungen aufwiesen und daran starben. Schnell war die Rede von einer Homosexuellenseuche, die Betroffenen wurden stigmatisiert. Dabei war die Krankheit schon länger im Umlauf, wie man im Nachhinein herausfand, und sie betraf nicht ausschließlich Männer.

Die ersten nachweislichen Aids-Todesopfer waren ein Mann und eine Frau aus dem Kongo, verstorben in den 1920er-Jahren. Man hatte das kongolesische Paar aufgrund eines Verdachts sehr viel später wieder exhumiert und dann auf HIV getestet. Auch in den USA fand man frühere Fälle, die zeigten, dass sich das Virus schon seit Längerem unbemerkt ausgebreitet hatte: Robert Rayford gilt als erster bekannter Aidstoter Nordamerikas, er starb 1969 in St. Louis an den Folgen seiner HIV-Infektion.

In Europa war es Arne Vidar Røed, ein norwegischer Matrose, der sich auf einer seiner Fahrten nach Douala, Kamerun, nachweislich einen Tripper einfing, der aber gut behandelt wurde. Später war Røed als Lastwagenfahrer tätig und kam auf seinen Reisen auch häufiger durch Deutschland. Ab 1968 litt er immer wieder unter Gelenkschmerzen, Lymphödemen und Lungeninfektionen. Sein Zustand verbesserte sich zunächst durch Behandlung, verschlechterte sich aber ab 1975 wieder. Er entwickelte motorische Kontrollprobleme und Demenz und starb am 24. April 1976. Røeds Frau erkrankte ebenfalls an ähnlichen Symptomen und verschied im Dezember desselben Jahres. Auch die Tochter starb – am 4. Januar 1976 – im Alter von acht Jahren, und lediglich eine weitere Tochter infizierte sich nicht und überlebte. Røeds umsichtiger Arzt hatte den Krankheitsverlauf seines Patienten detailliert festgehalten und auch Proben aufbewahrt, in denen später das HI-Virus nachgewiesen werden konnte.

Die humanpathogenen HIV-Stämme, die beim Menschen die Krankheit Aids auslösen, stammen im Übrigen von einem nahe verwandten Virus der Affen ab, wie genetische Gemeinsamkeiten beweisen, das Simian-Immunodefizienz-Virus (SIV). Wann genau das HI-Virus vom Affen auf den Menschen übergegangen ist, lässt sich mithilfe der Phylogenie schätzen: um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, und das wahrscheinlich im Kongobecken, einem 200 Quadratkilometer großen Areal rund um Kinshasa.

 

So wie das Immunschwächesyndrom Aids lange unter dem Radar lief und erst durch die ungewöhnliche Häufung seltener Erkrankungen unter jungen Männern in den USA bemerkt wurde, kann auch Corona einige Wochen oder Monate unentdeckt geblieben sein. Es fehlte an Vigilanz für solche Infektionskrankheiten, und wenn man die Erkrankungen nicht wahrnimmt, kann sich ein Virus ungehindert verbreiten. Husten, Schnupfen, Heiserkeit – im Herbst und Winter gehören sie in vielen Teilen der Welt einfach dazu, und da fällt eine Infektion mit einem Coronavirus nicht unbedingt auf.

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

Das gesicherte Wissen über die Anfänge der weltweiten Coronapandemie lässt sich jedoch protokollieren: Am 12. Dezember 2019 wurde ein Cluster von Patienten in Wuhan mit einer atypischen, pneumonieartigen Krankheit beschrieben, die auf Standardbehandlungen nicht gut anzusprechen schienen.[22] Diese Erkenntnis hatte man allerdings erst im Nachhinein. China vertuschte wohl den Ausbruch. Zumindest wurde die WHO nicht sofort benachrichtigt. Unsere Informationen darüber sind leider begrenzt. Reporter westlicher Medien wurden ausgewiesen, und lokale Bürgerjournalisten, die in jenen frühen Tagen Informationen teilten, wurden inhaftiert.[23] Aber die Beweise deuten stark darauf hin, dass China die Gefahr früh erkannte, bevor es die Welt am 31. Dezember 2019 darüber in Kenntnis setzte. An dem Tag wurde das Landesbüro der WHO in China über mehrere Fälle einer Lungenentzündung unbekannter Ätiologie in Wuhan, China, informiert, bei denen Symptome wie Atemnot und Fieber auftreten.

Alle anfänglichen Erkrankungen schienen mit dem Huanan-Seafood-Großmarkt in Verbindung zu stehen; am 1. Januar 2020 wurde er daraufhin geschlossen. Zeitgleich mit der Bekanntgabe der Krankheitsfälle durch die chinesische Regierung schickte Taiwans Zentrum für Krankheitskontrolle, das über enge Kontakte vor Ort in China verfügt, eine E-Mail an die Weltgesundheitsorganisation, in der es Besorgnis darüber ausdrückte, dass Patienten in Wuhan isoliert wurden – ein klares Zeichen für den Ausbruch einer Infektionskrankheit mit einer Übertragung von Mensch zu Mensch.

Am 3. Januar 2020 übermittelte China die Angabe von über 40 identifizierten Fällen an die WHO, am 13. Januar wurde der erste Fall in Thailand gemeldet, am 15. Januar in Japan und am 20. Januar in den USA. Am 23. Januar wurde die Elf-Millionen-Einwohnerstadt Wuhan abgeriegelt, aber da war es bereits zu spät.[24] Weitere Fälle in Spanien, Frankreich und Italien tauchten auf; Ende Januar der erste auch in Deutschland.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich aus dem lokal begrenzten Infektionsgeschehen (China) bereits eine Epidemie (Asien) und schließlich Pandemie (USA, Europa) entwickelt und zur Infektionsbekämpfung die Weltgesundheitsbehörde auf den Plan gerufen. Doch mangelnde Transparenz von China und zu zögerliches Vorgehen der WHO vereitelten die vielleicht letzte Chance, das Ausmaß der COVID-19-Pandemie noch zu begrenzen.

Die Anfänge der Corona-Pandemie von November 2019 bis Januar 2020 [2]

 

Was wäre passiert, wenn China bereits Anfang Dezember 2019 offen die Coronafälle an die WHO kommuniziert hätte? Was wäre passiert, wenn die Welt und die Weltgesundheitsorganisation im Januar 2020 schnell und entschieden reagiert hätten, wie zum Beispiel Taiwan es getan hat? Taiwan begann sofort nach Bekanntgabe der ersten Infektionen mit einem systematischen Screening aller ankommenden Reisenden aus Wuhan. Eine frühere Warnung und eine bessere Informationsweitergabe über das Risiko eines Coronaausbruchs hätten erhebliche Auswirkungen auf die Pandemie haben können. Mithilfe breiterer syndromischer Falldefinitionen und einer aktiven Überwachung des Infektionsgeschehens hätte die Verbreitung von COVID-19 in allen Ländern deutlich besser identifiziert werden können, als in der Frühphase der Pandemie geschehen. Doch die WHO handelte zu spät, und die Welt versäumte es, die Warnungen ernst zu nehmen und rechtzeitig aktiv zu werden.

Noch am 22. Januar 2020 entschied sich die WHO dagegen, im Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus von einer gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite zu sprechen, was ein umgehendes weltweites Handeln erforderlich gemacht hätte. Und zur weltweiten Pandemie erklärte sie die Verbreitung der COVID-19-Erkrankung erst am 11. März des Jahres. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehr als 118 000 Menschen in 114 Ländern erkrankt und 4291 Todesfälle infolge einer Coronainfektion zu beklagen.[25]

Rückblickend bleibt festzuhalten: Ja, die Pandemie hätte vielleicht eingedämmt werden können, bevor sie zu einer solchen wurde. China hätte sofort reagieren müssen, als die ersten Fälle auftauchten, die WHO hätte schneller und entschlossener handeln müssen. »Be fast, have no regrets« – fasste Michael Ryan von der WHO später die Situation treffend zusammen. Handeln im Rahmen ihrer Möglichkeiten und darüber hinaus. Würde man die WHO mit der Autorität ausstatten, Erreger mit grenzüberschreitendem Potenzial direkt nach Meldung eines Ereignisses in einem beliebigen Staat zu untersuchen und ein Gesundheitsausbruch-Untersuchungsteam vor Ort einzusetzen, hätte sie die nötigen Eingriffsmöglichkeiten, um ihrer zentralen Rolle beim Kampf gegen weltweite Pandemien gerecht zu werden. Fraglich bleibt, ob Staaten diese Rolle überhaupt an die WHO abgeben wollen oder sich nicht vielmehr jeder für sich ein eigenes, besseres Monitoring aufbauen möchte. Die Diskussion darüber sollte jedenfalls geführt werden.

Ruhe vor dem Sturm: Wie hat sich Deutschland auf die Pandemie vorbereitet?

Doch was taten wir in Deutschland? Nachdem sich das Virus in verschiedenen Ländern der Welt gezeigt hatte, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis es auch hierzulande zu den ersten Coronafällen kommen würde. Wir am Institut für Virologie in Bonn wie auch andere Institute in Deutschland trafen Vorkehrungen, indem wir unseren Standardtest für respiratorische Viren, den PCR-Test, auf SARS-CoV-2 adaptierten. Wir testeten verstärkt Reisende aus China oder solche mit Erkältungssymptomatik auf das neue Coronavirus. Und warteten auf den ersten positiven Fall. Wie aber bereitet sich ein ganzes Land darauf vor, dass es in den nächsten Wochen oder sogar nur Tagen mit einer Pandemie konfrontiert werden wird?

Verwalten oder handeln

Zuständig für das Pandemiemanagement ist als obere Bundesbehörde im Gesundheitswesen das Robert-Koch-Institut (RKI), zu dessen Kernaufgaben die Bekämpfung von Infektionskrankheiten zählt. Dort wurde wie folgt reagiert: Am 6. Januar setzte das RKI eine »Lage«-Arbeitsgemeinschaft ein, deren Aufgabe in der Bewertung der jeweils aktuellen Situation sowie des Lagemanagements bestand. Am 14. Januar wurde eine Koordinierungsstelle ins Leben gerufen, um den wachsenden Kommunikations- und Koordinierungsbedarf aufzufangen und die zuständigen Fachstellen zu entlasten. Nach Auftreten des ersten Coronafalls in Deutschland wurde dann aus der Lage-AG der Krisenstab, und die Koordinierungsstelle wuchs sich am 28. Januar 2020 zum Lagezentrum aus – entsprechend der höchsten Eskalationsstufe des RKI-internen Krisenstabs.[26] Damit verbunden war eine Aufstockung von Mitarbeitern sowie Einbeziehung anderer Akteure wie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG). Zur Informationssammlung und deren fortlaufender Aktualisierung kam die Formulierung von Ratschlägen, die uns über die Website zur Verfügung gestellt wurden. Die Informationen und Daten stammten vor allem aus dem Ausland, von Publikationen, befreundeten Institutionen und allen voran der WHO und dem europäischen Center of Disease Control (ECDC).

Was aber wurde zur Eindämmung von SARS-CoV-2 getan, als es bei uns angekommen war, und welche Schritte unternommen, um mehr über das neuartige Virus zu erfahren? Vonseiten des RKI nur wenig. Die Universität in München nahm sich des ersten Coronafalls an, und auch einige Virusproben wurden verschickt. Doch selbst als mehr Infektionen auftauchten und es auch in Deutschland zu einem Superspreading-Ereignis kam, verfügte das RKI noch über kaum Informationen und blieb erstaunlich passiv. Wie viele Infizierte sich in Quarantäne befanden, wie viele Kontaktpersonen festgestellt worden waren – bei Rückfragen dazu wurde auf die Gesundheitsämter vor Ort verwiesen. Diese Daten wurden nicht zentral gesammelt.

Auch über die Kappensitzung in Heinsberg, das erste bekannte Superspreadingevent bei uns, hatte das RKI zum Zeitpunkt des Ausbruchs erschreckend wenig Informationen. In den RKI-Protokollen aus diesem Zeitraum findet sich kaum etwas dazu, und auch wir wurden erst Monate später gefragt, ob wir unsere Daten bereitstellen würden, was wir gerne taten. In der Anfangsphase hatte man kein Interesse gezeigt. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass mein Name in den Protokollen falsch geschrieben worden war und man mich in Köln verortete und nicht in Bonn. Wer weiß das schon.

Was aber unternahm das RKI, um eine landesweite COVID-19-Infektionswelle zu verhindern oder zumindest abzumildern? Führte es eine praktische Vor-Ort-Forschung durch?[27] Das RKI verfügt über eine eigene Abteilung zu respiratorischen Viren und sollte also mit den Gefahren vertraut sein und Handlungsoptionen entwickelt haben.

Doch wer annimmt, als in China die ersten Fälle bekannt wurden, hätte man begonnen, die Forschung in Deutschland zu planen oder zu koordinieren, hätte Vorsorge getroffen und empfohlen, Schutzkleidung zu bestellen, hätte flächendeckende Testungen in die Wege geleitet oder Ärzte und Pflegepersonal proaktiv mit Informationen ausgestattet, wird enttäuscht sein. Wer annimmt, dass in dem Moment, als die Nachricht von ersten Infektionsfällen in Deutschland aufkam, beim RKI nun endlich die Alarmglocken geschrillt hätten und betriebsame Aktivität ausgelöst worden wäre, wird ebenso enttäuscht sein. Zwar wurden Daten aus China zusammengefasst sowie nationale Pandemiepläne aus der Schublade geholt und auf den neusten Stand gebracht, doch viel mehr erfolgte bis dato nicht.

 

In den aufgefrischten Pandemieplänen werden detailliert verschiedene Szenarien dargestellt. Zunächst sollte eine Eindämmungsstrategie (»Containment«) die Ausbreitung des Coronavirus verlangsamen, indem einzelne Infektionen früh erkannt und Infektionsketten unterbrochen werden durch Identifizierung und häusliche Quarantäne der Kontaktpersonen labordiagnostisch bestätigter Fälle. Sollte sich das Virus dennoch weiterverbreiten, plante man eine schrittweise Anpassung der Strategie, wobei der Fokus auf den Schutz von Risikogruppen (»Protection«) und auf die Minderung der Folgen für die Gesellschaft und das Gesundheitssystem (»Mitigation«) verschoben werden sollte.

Verschiedene Ziele des Pandemiemanagements [3]

 

Dieser Ansatz zielte darauf ab, die Ausbreitung zu verlangsamen, schwere Krankheitsverläufe zu reduzieren und das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Ein guter Plan, der aber im Verlauf der Coronakrise recht schnell aufgegeben wurde. Warum, werden wir noch sehen, aber eins sei bereits angemerkt: Es ergibt Sinn, solche Pläne mit kühlem Kopf aufzustellen und nicht erst in der Hitze der Krise zu überlegen, wie man auf eine neue Begebenheit reagiert.

Zu Beginn einer Pandemie müssen Entscheidungen oft unter Unsicherheit getroffen werden. Maßnahmen wie Homeoffice, Maskenpflicht oder Kontaktbeschränkungen wurden als notwendig betrachtet, um die Übertragung einzudämmen und den Gesundheitsämtern sowie Krankenhäusern den notwendigen Spielraum zu verschaffen – so wie es der Pandemieplan vorsah. Doch erzielten diese Maßnahmen auch den gewünschten Effekt? Diese Frage wie auch diejenige nach möglichen unerwünschten Wirkungen von Maßnahmen blieben unbeantwortet, denn eine wissenschaftliche Erfassung und Auswertung notwendiger Daten erfolgte nicht. Pandemiebegleitende Forschung war in der Planung des RKI nicht vorgesehen und wurde auch nur sehr sporadisch durchgeführt. Es stellt sich die Frage: Warum? Warum wollte, konnte oder durfte das RKI diese wichtige pandemiebegleitende Forschung nicht durchführen? Ob die Interventionen dazu geeignet waren, die Virusausbreitung einzudämmen, schwere Krankheitsverläufe zu verhindern und Menschenleben zu schützen, konnte aus diesem Grund ebenso wenig abgeschätzt werden wie ihre Effekte auf Wirtschaft und Gesellschaft, beispielsweise die Bildung und das Wohlergehen der Kinder.

Um wichtige Daten zum Test- und Infektionsgeschehen sowie der Auswirkungen von Eindämmungs- und Therapiemaßnahmen zeitnah zu sammeln und bereitzustellen, fehlt es bei uns schlichtweg an der nötigen Infrastruktur. Auch hierfür wäre das RKI verantwortlich gewesen. Deutschland wusste zu Beginn der Coronapandemie nur sehr wenig über das Virus, die Ausbreitungswege, die krankmachenden Eigenschaften und die Reaktion der Bevölkerung darauf. Wichtige Parameter wie die Infektionssterblichkeit, der Anteil Schwerkranker oder asymptomatisch Infizierter sowie das Verhalten des Virus bei Kindern lernten wir vornehmlich aus dem Ausland, wo Daten gesammelt und Studien frühzeitig angestoßen wurden.

Noch dazu machte Deutschland wenig Anstalten, das fehlende Wissen aufzuholen, als SARS-CoV-2 schließlich im Land war. Auch wenn einzelne Gruppen von Wissenschaftlern vorpreschten – wie wir mit unserer Heinsberg-Studie –, um Daten zum Infektionsgeschehen zu sammeln, blieben die zentralen Stellen eher passiv. Aber würde man nicht meinen und auch erwarten, dass die Untersuchung des Infektionsgeschehens in die Verantwortung staatlicher Stellen fallen sollte? Oder wenigstens, dass die deutschlandweite Forschung zentral koordiniert wird?