Nachhaltigkeit im unternehmerischen Diskurs - Karen Froitzheim - E-Book

Nachhaltigkeit im unternehmerischen Diskurs E-Book

Karen Froitzheim

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Beschreibung

Wie interpretierten Unternehmen das Leitbild der Nachhaltigkeit? Wie setzten sie es in die Praxis um? Karen Froitzheim untersucht die vielfältigen Praktiken der Nachhaltigkeit, die vier Unternehmen der Handels- und der Konsumgüter- sowie der Chemie- und der Pharmabranche in Deutschland und Großbritannien (Merck, AstraZenca, Otto und Marks & Spencer) zwischen 1987 und 2010 etablierten. Auf breiter Quellenbasis arbeitet sie die Wechselwirkungen zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft heraus und analysiert Ursprünge und Herausforderungen unternehmerischer Nachhaltigkeit. So kann sie zeigen, dass die Konzerne im Spannungsfeld von Politik und Wettbewerb den »grünen Konsumenten« erst schaffen mussten und Nachhaltigkeit zunehmend als Business Case unter Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte kommunizierten.

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Karen Froitzheim

Nachhaltigkeit im unternehmerischen Diskurs

Eine Analyse deutscher und britischer Konzerne seit den 1980er Jahren

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Wie interpretierten Unternehmen das Leitbild der Nachhaltigkeit? Wie setzten sie es in die Praxis um? Karen Froitzheim untersucht die vielfältigen Praktiken der Nachhaltigkeit, die vier Unternehmen der Handels- und der Konsumgüter- sowie der Chemie- und der Pharmabranche in Deutschland und Großbritannien (Merck, AstraZenca, Otto und Marks & Spencer) zwischen 1987 und 2010 etablierten. Auf breiter Quellenbasis arbeitet sie die Wechselwirkungen zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft heraus und analysiert Ursprünge und Herausforderungen unternehmerischer Nachhaltigkeit. So kann sie zeigen, dass die Konzerne im Spannungsfeld von Politik und Wettbewerb den »grünen Konsumenten« erst schaffen mussten und Nachhaltigkeit zunehmend als Business Case unter Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte kommunizierten.

Vita

Karen Froitzheim ist Geistes- und Sozialwissenschaftlerin; sie ist heute in leitender Funktion im Bereich Public Affairs und Nachhaltigkeit tätig.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Nachhaltigkeit – Zur Ökonomisierung eines kontroversen Leitbilds

Forschungsstand

Theoretische Verortungen – Nachhaltigkeit(en) als Diskurs- und Handlungsfeld

Gliederung der Arbeit, Konzeption, Forschungsleitfragen und Quellen

I.

Nationale Nachhaltigkeitsentwicklungen zwischen Politik und Wirtschaft

1.

Deutschland – Von der Ära Kohl zu Rot-Grün

1.1

Nachhaltigkeitsentwicklungen in der Transformationszeit

1.2

Rot-Grün und die Entstehung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie

2.

Großbritannien – Zwischen Thatcherism und New Labour

2.1

Margaret Thatcher, John Major und die erste nationale Nachhaltigkeitsstrategie

2.2

Nachhaltigkeit unter New Labour

3.

Thesen

II.

Merck – Das älteste pharmazeutisch-chemische Unternehmen der Welt

1.

Firmenprofil und Entwicklungen im Untersuchungszeitraum

2.

Termini – Nachhaltigkeit zwischen Umweltschutz und Verantwortung

3.

Praktiken – Von Umwelt und Sicherheit zur globalen Verantwortung

3.1

Im Spannungsfeld zwischen Ökologie und Ökonomie

3.2

Nachhaltigkeit als Wettbewerbsvorteil

4.

Nachhaltigkeitsnarrative und Interdependenzen

4.1

Chemieindustrie und Politik – Zwischen Getriebenem und Treiber

4.2

Im Austausch mit der (lokalen) Gesellschaft

4.3

Gemeinsam zur Nachhaltigkeit – Belegschaft und Geschäftsführung als Diskurskoalition

4.4

Die Pharmaindustrie als Akteur globaler Nachhaltigkeit

III.

AstraZeneca – Pharmaunternehmen mit Chemietradition

1.

Firmenprofil und Entwicklungen im Untersuchungszeitraum

2.

Termini – Nachhaltigkeit als Corporate Responsibility

3.

Praktiken – Globale Nachhaltigkeit mit britischen Wurzeln

3.1

Umweltschutz und soziales Engagement von ICI bis Zeneca

3.2

Praktiken der Nachhaltigkeit unter neuem Namen

4.

Nachhaltigkeitsnarrative und Interdependenzen

4.1

Politische Vorgaben, wirtschaftliche Vorbilder

4.2

Nachhaltige Kontaktzonen – Lokale Umgebungen, Gesellschaft, Kapitalmarkt

4.3

Mit Wissenschaft und Forschung zur Nachhaltigkeit

4.4

Globales Unternehmen, globale Verantwortung

IV.

Otto – Hamburger Familienunternehmen und Weltkonzern

1.

Firmenprofil und Entwicklungen im Untersuchungszeitraum

2.

Termini – Vom Umweltschutz zur Nachhaltigkeit

3.

Praktiken – Ein ökologischer Vorreiter wird nachhaltig

3.1

Die Dominanz der Ökologie im Handlungsfeld Nachhaltigkeit

3.2

Die Jahrtausend- und Nachhaltigkeitswende

4.

Nachhaltigkeitsnarrative und Interdependenzen

4.1

Nachhaltige Tradition eines Familienunternehmens

4.2

Der Vorstandsvorsitzende als Vorbild und Treiber

4.3

Die Belegschaft als bedeutender Akteur im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit

4.4

Ein Handelsunternehmen als Aufklärer und Vorreiter gegenüber der Kundschaft

4.5

Die Anspruchshaltung der Kundschaft als ambivalenter Faktor

4.6

Zwischen Globalisierung und Nachhaltiger Entwicklung

5.

Exkurs Handels- und Konsumgüterbranche: Die Politik als Partner

V.

Marks & Spencer – Britische Handelstradition

1.

Firmenprofil und Entwicklungen im Untersuchungszeitraum

2.

Termini – Nachhaltigkeit ohne Sustainability

3.

Praktiken – Britische Sozialtradition auf dem Weg zur Nachhaltigkeit

3.1

Soziales Engagement und ökologische Anfänge

3.2

Plan A – Nachhaltigkeit im 21. Jahrhundert

4.

Nachhaltigkeitsnarrative und Interdependenzen

4.1

»For more than 100 years…« – Nachhaltigkeit aus Tradition

4.2

Verantwortung im Mikrokosmos – Lokale Umsetzung eines globalen Leitbilds

4.3

Die Entwicklung von Nachhaltigkeit im Zusammenspiel mit der Kundschaft

4.4

Engagement als Britishness – Verantwortung für Großbritannien

4.5

Internationale Perspektiven der Nachhaltigkeit

Fazit und Ausblick: Nachhaltigkeit(en) – Praktiken und Narrative deutscher und britischer Unternehmen

Dank

Quellen

Literatur

Vorwort

»Nachhaltigkeit« ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem ubiquitären Begriff, ja zu einem übergreifenden Leitbild avanciert. Im politischen Raum verheißt der Begriff globale Zukunftsorientierung und eine kongeniale Balance zwischen Ökologie und Ökonomie; wirtschaftliche Akteure kommunizieren damit Umweltbewusstsein und soziale Verantwortlichkeit in der Unternehmensführung; in der medialen Öffentlichkeit wird er oft mit dem Schutz natürlicher Ressourcen (wie dem Wald) oder schlicht mit Langfristigkeit gleichgesetzt. Mithin entstanden ganz verschiedene Lesarten und Interpretationen des Begriffs bzw. Begriffsfeldes, zu dem auch die »nachhaltige Entwicklung« gehört. Akteure verbanden mit ihm in Diskursen zunehmend unterschiedliche Ziele und Interessen, doch gerade die Offenheit des fast durchweg positiv besetzten Begriffs machte ihn so attraktiv und ubiquitär. Vor diesem Hintergrund existierten und existieren viele Nachhaltigkeiten.

Dies sind die Ausgangsüberlegungen des Verbundprojekts »Geschichte der Nachhaltigkeit(en): Diskurse und Praktiken seit den 1970er Jahren«. Das ab 2017 von der Leibniz-Gemeinschaft geförderte Projekt, welches das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) organisierte, integrierte Teilprojekte am IfZ und von anderen Projektpartnern. Dazu gehörten das Wissenschaftszentrum Umwelt und der Lehrstuhl für Europäische Regionalgeschichte/Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg, das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung/Institut der Leibniz-Gemeinschaft in Marburg und – nach dem Wechsel der Projektleiterin vom IfZ nach Aachen – der RWTH Aachen University.

Das Leibniz-Projekt erschloss die zeithistorische Dimension der Nachhaltigkeit seit den 1970er Jahren. Hintergrund war der Befund, dass die zeitgeschichtliche, quellengestützte Historisierung des Begriffs, der sie umgebenden Diskurse und entsprechender Handlungsbezüge noch ein weitgehendes Desiderat der Forschung war. Das Projekt ging nicht von einem normativ gefassten Verständnis von Nachhaltigkeit aus, sondern historisierte die Genese und Wandlungsprozesse des Diskurses. Insofern erkundete das Projekt nicht, wo und warum Nachhaltigkeit erreicht oder nicht erreicht wurde, sondern es fragte in erster Linie nach Ordnungsmustern, Wertorientierungen und Interessen, die sich in Nachhaltigkeitsdiskursen und entsprechenden Redeweisen zeigten. Es betrachtete Darstellungsformen und Performanzen sowie die politischen, zivilgesellschaftlichen und ökonomischen Praktiken, die sich mit der Berufung auf Nachhaltigkeit oder verwandten Konzepten verbanden. Damit fahndete das Projekt auch nach inneren Spannungsfeldern, Konflikten und Inszenierungen von Nachhaltigkeit und danach, wie und warum bestimmte Verständnisse und Kommunikationsstrategien zu bestimmten Zeiten hegemonial wurden. Zudem erschien es uns wichtig, nicht bei Begriffsverwendungen und Diskursen stehenzubleiben, sondern zugehörige Praktiken, Handlungen und Umsetzungsstrategien von Akteuren in verschiedensten Feldern in den Blick zu nehmen. Diese Felder umfassen Regierungen und internationale Organisationen, Parteien und kommunale Politik, lokale Umweltbewegungen und kirchliche Akteurinnen und Akteure, Unternehmen und Unternehmensverbände, Medien und Expertinnen bzw. Experten. Im Zentrum stand die deutsche Untersuchungsebene, die sowohl vergleichend als auch in ihren transnationalen Verflechtungen und im globalen Rahmen beleuchtet wurde. Auch wenn das Projekt keine globalgeschichtliche Ausrichtung hatte, war es Ziel, Wechselwirkungen zwischen lokalen, nationalen und globalen Diskurs- und Handlungsebenen einzubeziehen. Die Einzelstudien waren zeithistorisch angelegt; zugleich konnte es von der interdisziplinären Expertise, welche vor allem das Wissenschaftszentrum Umwelt einbrachte, großen Nutzen ziehen.

In diesem Sinne ist den Teilprojektleiterinnen und -leitern Marita Krauss, Christian Lotz und Jens Soentgen für die immer angenehme und sehr inspirierende Zusammenarbeit zu danken. In besonderer Weise gilt dies für die Bearbeiterinnen und Bearbeiter der Projekte, Eva Oberloskamp, Karen Froitzheim, Nadja Hendriks, Sabina Kubekė und Pascal Pawlitta, die sich – wie auch die assoziierten Doktoranden Felix Lieb (IfZ) und Alina Cohnen (RWTH Aachen) – begeistert und begeisternd auf das Projekt eingelassen, es erfolgreich gestaltet und geformt haben. Zudem hat das Projekt von vielen weiteren Partnern profitiert, zu denen etwa das Rachel Carson Center for Environment and Society an der LMU München, das Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit in Potsdam (ehedem Institute for Advanced Sustainability Studies) und jene hilfreichen Archivarinnen und Archivare gehörten, die eine Verkürzung von Schutzfristen für Akten ermöglichten. Vor allem danke ich Günther Opitz (IfZ) und Jürgen Hotz (Campus Verlag) für die hervorragende Organisation des Publikationsprozesses dieser Reihe.

Das Projekt verstand sich als Teil einer Diskussion um die Geschichte der Gegenwart. Wir setzten uns zur Aufgabe, die jüngste Zeitgeschichte quellenbasiert auszuleuchten. Dabei ging es nicht nur um die konstitutive Rolle der 1970er Jahre für eine Neuformierung der Verständnisse von Natur, Umwelt, Ökonomie und Fortschritt, sondern auch um die Erschließung zentraler Prozesse, Strukturen und Brüche seit dieser Zeit und der besonderen Rolle, welche dem Ende des Kalten Krieges und den globalen, weltwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Dynamiken der 1990er Jahre zukommt. Zum Ziel wurde es somit, die Genese aktueller Probleme – die Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie, die Herausforderungen der Energiepolitik und des Klimawandels – zu erhellen und einen Beitrag zum Verständnis unserer Gegenwart und zur Gestaltung unserer Zukunft zu liefern.

Elke Seefried

Einleitung

Nachhaltigkeit – Zur Ökonomisierung eines kontroversen Leitbilds

Der Begriff der Nachhaltigkeit ist heute integraler Bestandteil wirtschaftlichen Handelns und zugleich Gegenstand einer als Greenwashing kritisierten unternehmerischen Inszenierung.1 Die definitorischen Annäherungen an den Begriff präsentieren sich dabei ähnlich inflationär wie dessen Verwendung.2 Der Sozialdemokrat Volker Hauff, Mitglied der Brundtland-Kommission und langjähriger Vorsitzender des Rates für Nachhaltige Entwicklung, verglich Nachhaltigkeit einst mit »semantischem Goldstaub«.3 In der Forschung wird vielfach darauf verwiesen, dass sich das Leitbild Nachhaltigkeit oder Nachhaltige Entwicklung4 nicht in einer allgemeingültigen Definition greifen lässt.5 Vielmehr kann Nachhaltigkeit als »regulative Idee«6 oder im Einklang mit anderen politischen Leitideen wie Freiheit oder Gerechtigkeit als contested concept gelten.7 Häufig wird Nachhaltigkeit mit dem sogenannten Drei-Säulen-Modell erfasst, das neben einer ökonomischen, eine ökologische sowie eine soziale Dimension integriert.8 Gleichzeitig wird das Drei-Säulen-Modell kontrovers diskutiert, u. a. die damit einhergehenden »Verflachungstendenzen« sind dabei Gegenstand der Kritik.9

Der Disput formiert sich vor allem entlang der Gewichtung und Relation zwischen Ökonomie und Ökologie. Er gründet in der Frage, ob menschengeneriertes Kapital, wie Produktionsmittel und Wissen, sowie Naturkapital zusammen, im Sinne einer schwachen Nachhaltigkeit, oder getrennt, im Sinne einer starken Nachhaltigkeit, betrachtet werden, wobei im ersten Fall eine Steigerung des menschengenerierten Kapitals einen Verlust an Naturkapital kompensieren kann.10 Die neoklassische Umweltökonomie bildet den theoretischen Rahmen einer schwachen Nachhaltigkeit, welche die ökonomische Dimension in den Fokus rückt.11 Sie distanziert sich von klassischen wachstumskritischen Modellen und setzt auf die Substituierbarkeit von natur- und menschengeneriertem Kapital.12 Die ökologische Ökonomie kritisiert diese Substituierungsthese und plädiert stattdessen für ein Konzept der starken Nachhaltigkeit.13 Dieses knüpft vor allem an die Negierung der Möglichkeit unbegrenzten Wachstums an.14 Zwischen diesen Grundpolen einer starken und einer schwachen Nachhaltigkeit können weitere Ausdifferenzierungen erfolgen.15

Trotz oder gerade aufgrund seiner Ubiquität erscheint Akteuren eine öffentliche Distanzierung von dem Begriff vielfach nicht durchsetzbar, sodass stattdessen eine strategische Umdeutung des Konzepts im jeweils eigenen Interesse erfolgt.16 Statt einer Nachhaltigkeit scheint eine Vielzahl an Nachhaltigkeiten parallel zu existieren; die Zuschreibungen an den Begriff unterlagen dabei einem historischen Wandel.17 Da die Ökonomie einen wesentlichen Bezugspunkt des Leitbilds Nachhaltigkeit darstellt, sind insbesondere Unternehmen wichtige Akteure, deren Einschreibungen in das diskursive Feld der Nachhaltigkeit, so eine These, ebenfalls historischem Wandel unterlagen, und die daher auch für die Zeitgeschichte ein relevantes Forschungsfeld darstellen. Trotz der Fülle wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen mit Nachhaltigkeit und ihrer Bedeutung für Unternehmen und gesellschaftliche Entwicklungen hat die zeithistorische Forschung das Konzept bisher nur in ersten Ansätzen rezipiert.18 In besonderem Maße gilt dies für Analysen von Nachhaltigkeit in Unternehmen. Auffällig ist, und dies wird im folgenden Kapitel zum Forschungsstand näher dargelegt werden, dass Unternehmen in der Entwicklungsgeschichte der Leitprinzipien Nachhaltigkeit und Nachhaltige Entwicklung zwar als Akteure wahrgenommen wurden, die (zeit-)historische Forschung diese im Forschungsfeld Nachhaltigkeit jedoch kaum zum Untersuchungsgegenstand erhoben hat. Häufig dominieren dabei zudem negative Vorannahmen, die Unternehmen als Antagonisten porträtieren, die Wachstum über alles stellten und systematisch ökologische Grundlagen zerstörten.19 Gleichzeitig wird die Frage, was Unternehmen zur Einschreibung in das Diskurs- und Handlungsfeld Nachhaltigkeit bewog, in der historischen, vor allem umweltgeschichtlichen Forschung vielfach unterkomplex behandelt.20 Die vorliegende Arbeit möchte an diesen Desideraten anknüpfen und unternehmerische Nachhaltigkeit zeithistorisch erforschen.

Die Entwicklungsgeschichte der Nachhaltigkeitsidee illustriert ihre wirtschaftliche Dimension und liefert erste Anhaltspunkte für ihre unternehmens- und zeithistorische Bedeutung. Ihre ökonomische Konnotation gründet bereits in den viel zitierten und häufig kritisch hinterfragten Ursprüngen in der frühneuzeitlichen Forstwirtschaft.21 Die deutsche Forschung schreibt die Erstverwendung und Entstehung des Begriffs überwiegend, wenngleich umstritten, dem Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz und seiner 1713 veröffentlichten Schrift Sylvicultura Oeconomica zu.22 Nach Weiterentwicklungen der Nachhaltigkeitsidee im 19. Jahrhundert erfuhr sie einen signifikanten Bedeutungsverlust bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein.23 Zwar waren die historischen Wurzeln des Nachhaltigkeitsbegriffs ökonomisch konnotiert, ab den 1970er Jahren entwickelte sich das Konzept jedoch vor allem im Kontext von Wachstumskritik sowie dem Nord-Süd-Konflikt und Diskussionen um Entwicklungsstrategien, die in den 1970er Jahren mit der Debatte über Umweltschutz und Ressourcenknappheit auf globaler Ebene verschränkt wurden.24 Angenommen wird zumeist, dass eine dauerhafte Etablierung der Idee Nachhaltigkeit erst im Kontext jener Zukunftsdebatten erfolgte.25

Als ein vorläufiger Höhepunkt der Nachhaltigkeitsgeschichte gilt der 1972 veröffentlichte erste Bericht des Club of Rome Limits to Growth bzw. Grenzen des Wachstums.26 Der Bericht mahnte nicht nur die Grenzen des Wachstums, sondern das Wachstumsprinzip per se an.27 Im Zuge der Rezeption des Berichts entwickelte sich ein globaler Wachstumsdiskurs, der in der Formulierung der Idee eines qualitative growth mündete, das ökonomische, ökologische und soziale Aspekte umfasste.28 Die strikte Kritik bzw. Ablehnung jeglichen Wachstums wich integralen und pragmatischeren Konzepten. In Folge kam auf internationalen Konferenzen nicht nur der Begriff Nachhaltige Entwicklung erstmals zur Geltung, sondern erfuhr auch die ökonomische Dimension verstärkt Beachtung.29

Zu den wichtigsten Meilensteinen auf dem Weg des Nachhaltigkeitsbegriffs zum Leitbild internationaler Politik avancierten der Bericht Our Common Future der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen 1987 sowie insbesondere die United Nations Conference on Environment and Development (UNCED) in Rio de Janeiro 1992.30 Die nach ihrer Vorsitzenden, der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, meist als Brundtland-Bericht bezeichnete Schrift Our Common Future legte 1987 eine Definition des Begriffs Sustainable Development vor, die noch heute weithin als klassische und anerkannteste Definition gilt:31 »Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.«32 Der Brundtland-Bericht hob den durch den Bericht des Club of Rome artikulierten Gegensatz zwischen ökonomischem Wachstum und ökologischer Nachhaltigkeit auf und betonte deren Vereinbarkeit. Im Sinne des von kritischen Stimmen konstatierten hegemonialen Diskurses seit dem Brundtland-Bericht stehe, so der Vorwurf, Nachhaltige Entwicklung nun primär für Nachhaltiges Wachstum.33

Einer Empfehlung der Brundtland-Kommission folgend diskutierten 1992 auf der UNCED in Rio de Janeiro, meist als Earth Summit oder Rio-Konferenz bezeichnet, 178 Nationen das Konzept einer Nachhaltigen Entwicklung.34 Im Kern strebte die Konferenz nach einem Ausgleich zwischen den Interessen gegenwärtiger und künftiger Generationen sowie der Länder der nördlichen und südlichen Hemisphäre.35 Im Zentrum stand das Aktionsprogramm Agenda 21, das Ziele und Vorhaben der Weltgemeinschaft definierte.36 Im Rahmen der Rio-Konferenz wurde im Gegensatz zu vorherigen Konferenzen nicht die Armut der sogenannten Entwicklungsländer als Ursache für ökologische Krisentendenzen benannt, sondern die ökonomischen Muster der Industrieländer, ohne dabei jedoch den Wachstumsimperativ selbst in Frage zu stellen.37 Auf der Rio-Konferenz deutete sich entsprechend eine Betonung der ökonomischen Dimension an; Unternehmen traten selbst als Akteure auf und gründeten auf Initiative des Schweizer Milliardärs Stephan Schmidheiny das Business Council for Sustainable Development.38 Auch die im Jahr 2000 verabschiedeten Millenniumsziele der Vereinten Nationen etablierten die Wirtschaft weiter als Akteur im globalen Nachhaltigkeitsdiskurs.39 So sollte im Rahmen einer der definierten Ziele eine weltweite Entwicklungspartnerschaft aufgebaut werden.40 Die globale Staatengemeinschaft positionierte wirtschaftliche Akteure folglich als unverzichtbare Partner auf dem Weg zu einer globalen Nachhaltigen Entwicklung.

Von der ursprünglichen Wachstumskritik eines Club of Rome schien sich der Begriff endgültig gelöst zu haben. Das Leitbild Nachhaltige Entwicklung wurde, so eine These von Elke Seefried, »ökonomisiert« und als Mittel zur Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit verstanden, während die beiden anderen Dimensionen – insbesondere die soziale – in den Hintergrund rückten.41 Der Rio-Prozess wurde entsprechend kritisch hinterfragt und von Kritikern gar als »Kitt des neoliberalen Scherbenhaufens« bezeichnet.42 Auch wurde der Vorwurf erhoben, Sustainable Development diene vorrangig der Herrschaftslegitimierung und -stabilisierung im Rahmen einer ökologischen Modernisierung.43 Die positiven Auswirkungen des Rio-Prozesses und seiner Vorläufer wurden zunehmend kritisch hinterfragt.44 Insbesondere die Rolle von Unternehmen wurde kritisch beleuchtet. So mehrten sich im Vorfeld des World Summit on Sustainable Development in Johannesburg im Jahr 2002 Befürchtungen, Unternehmen könnten den Gipfel zur Durchsetzung eigener Interessen nutzen, sich vor Ort als Schlüsselfiguren der ökologischen Modernisierung inszenieren und zugleich verbindliche ökologisch-soziale Standards blockieren.45

Vor dem Hintergrund der Entwicklung von Nachhaltigkeit und Nachhaltiger Entwicklung zum Leitbild globaler Politik und ihrer gleichzeitigen Ökonomisierung, verdeutlicht sich das Potential einer zeithistorischen Untersuchung von Unternehmen als Akteure in jenem Forschungsfeld. Die bisherige Forschung lässt weitestgehend offen, wie Unternehmen selbst den Begriff Nachhaltigkeit besetzt haben, wie sie sich in Diskurse einschrieben, welche Narrative und Begriffe sie kommunizierten, welche Praktiken sie entwickelten, wie sie soziale, ökologische und ökonomische Fragen austarierten und welche Interdependenzen zu anderen Akteuren sie wahrnahmen. Die vorliegende Arbeit fragt nach jener Adaptierung der Nachhaltigkeitsidee durch Unternehmen im Umfeld der Etablierung des Konzepts als Leitbild internationaler Politik im Zuge des Brundtland-Berichts und insbesondere der Rio-Konferenz 1992. Ein besonderes Augenmerk legt die Arbeit ferner auf Kontaktzonen zwischen Wirtschaft und Politik und geht der Frage nach, wie die Politik die Rolle der Wirtschaft als Akteur im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit definierte. Unter dem Begriff »Kontaktzone« versteht diese Arbeit Kontakte und Interdependenzen der Unternehmen zu anderen Akteursgruppen, neben Politik z. B. auch Verbraucherinnen und Verbraucher oder NGOs. Gemäß diesem Verständnis können Kontaktzonen institutionalisiert sein, wie die Enquete-Kommissionen des Bundestages, gleichermaßen existieren sie auch in nicht-institutionalisierter Form, exemplarisch als kontinuierlicher Austausch mit Kundinnen und Kunden.

Insbesondere gilt es in dieser Studie durch Archivarbeit und den Einbezug zeitgenössischer Unternehmensquellen die Eigenperspektive der Unternehmen als Akteure der Nachhaltigkeit zu beleuchten. Im Fokus einer solchen Untersuchung sollen multinationale Unternehmen stehen, die aufgrund ihrer strukturellen Beschaffenheit und Finanzkraft häufig eine Vorreiterrolle bei gesellschaftlichen Entwicklungen einnehmen und zugleich – auch im Rahmen allgemeiner Globalisierungskritik – unter besonderer Beobachtung stehen.46 Ebenso soll eruiert werden, inwieweit Branchenzugehörigkeit und nationale Herkunft der internationalen Unternehmen ihr Agieren beeinflussten. Um einen solch doppelten Vergleich zwischen Ländern und Branchen durchzuführen, gilt es zunächst eine sinnvolle Auswahl zu treffen.47 Geleitet vom Anspruch, eine möglichst detailscharfe Analyse durchzuführen, die sich nicht in groben Überblicksdarstellungen verliert, erscheint ein Forschungsprogramm, das sich auf Unternehmen aus zwei Ländern und zwei Branchen konzentriert, nicht nur praktikabel, sondern auch erkenntnisreich.

Um eine fundierte Analyse zu gewährleisten, sollen Unternehmen aus Großbritannien und Deutschland gegenübergestellt werden; zwei Länder, die sich als die beiden größten Volkswirtschaften Europas grundsätzlich durch wirtschaftliche Vergleichbarkeit auszeichnen.48 Die Vergleichbarkeit beider Länder für das Diskurs- und Handlungsfeld Nachhaltigkeit wurde auch von zeitgenössischen politischen Akteuren in Deutschland und Großbritannien erkannt, die bei der jeweils eigenen Ausgestaltung des Leitbilds Nachhaltigkeit aktiv den Austausch miteinander suchten.49 Jenseits vom Aufstieg der Nachhaltigen Entwicklung zum Leitbild internationaler Politik war Europa in den 1990er Jahren auf der einen Seite durch das Ende der Sowjetunion, auf der anderen Seite durch zunehmende Globalisierungstendenzen und eine vertiefte europäische Integration geprägt.50 Parallel ließen sich vielfach Vermarktlichungstendenzen beobachten, die teils mit dem Schlagwort »Neoliberalismus« überschrieben wurden – ein Begriff, der in der zeitgeschichtlichen Forschung kritisch betrachtet wird.51 Insbesondere wird der Begriff häufig mit dem Großbritannien unter Premierministerin Margaret Thatcher assoziiert. So waren beide Länder im Untersuchungszeitraum, der von der Veröffentlichung des Brundtland-Berichts 1987 bis in die 2000er Jahre reicht, von unterschiedlichen Politikstilen und gesellschaftlichen Zuschreibungen an den Begriff Nachhaltigkeit geleitet, die in Kapitel (I) dargelegt werden.52 Die stark von zivilgesellschaftlichen Akteuren geprägte Umweltbewegung wies in Deutschland und Großbritannien im Untersuchungszeitraum ebenfalls unterschiedliche Ausformungen auf. Der Umweltbewegung in der Bundesrepublik der 1980er Jahre wird im internationalen Vergleich ein »Sonderweg« bescheinigt, da ökologische Themen im öffentlichen Diskurs vielfach beachtet wurden.53 Deren herausragende Bedeutung wird ferner als Reaktion auf sozio-ökonomische Krisenerfahrungen unter der sozial-liberalen Koalition verstanden – da in der Bundesrepublik nicht die Möglichkeit bestand, sich »an einem politischen Projekt à la Thatcher abarbeiten« zu können, füllte die Umweltbewegung dieses »politische Vakuum« aus.54 Die unterschiedlichen politisch-kulturellen Prägungen der beiden Staaten bei gleichzeitig vergleichbaren ökonomischen Rahmenbedingungen, die zudem mit der Europäischen Union einen gemeinsamen Rahmen erhalten, ermöglichen somit einen verlässlichen Vergleich.

Auch bezüglich der zu untersuchenden Branchen ist die Auswahl vom Anspruch geleitet, durch ein Mindestmaß an Unterschieden den möglichen Brancheneinfluss sinnvoll herauskristallisieren zu können. Daher wird mit der Chemie- und Pharmaindustrie exemplarisch eine Branche untersucht, die unter besonderem öffentlichen Druck stand und steht.55 Die bisherige Forschung verweist darauf, dass der Druck zu politischer Regulierung, aber auch zu Eigeninitiativen der Unternehmen geführt habe.56 Der deutschen Chemieindustrie schreibt u. a. Geoffrey Jones ab den 1970er Jahren eine besondere Pionierrolle zu.57 Neben einem generellen Aufstieg von Umweltthemen in Politik und Gesellschaft sieht Jones dies vor allem darin begründet, dass viele Chemieunternehmen ihre Firmenstandorte am stark verschmutzten Rhein hatten, sich auf lokaler Ebene massiver Kritik ausgesetzt sahen und durch umweltfreundliches Verhalten Reputationsgewinne anstrebten.58 Auch zu Beginn des Untersuchungszeitraums verband sich die öffentliche Diskussion zum Umweltschutz häufig explizit mit der Chemieindustrie – ein Resultat aus Chemiekatastrophen wie dem Bophal-Unglück in Indien von 1984, dem Großbrand von Schweizerhalle 1986 sowie einem wachsenden öffentlichen Interesse an Themen wie toxische Baustoffe und Bodenkontamination, die die Branche unmittelbar berührten.59 Mehrere Faktoren, wie das Ausbleiben schwerer Chemieunglücke und ein spürbarer Rückgang der Emissionen, könnten auf eine Verbesserung des negativen Images der Chemiebranche in den späten 1990er und 2000er Jahren verweisen.60 Die Chemie- und Pharmaindustrie ist ferner von einschlägigem Interesse, da sie von der Politik, zumindest im Falle der Bundesrepublik Deutschland, nachweislich bereits frühzeitig als Akteur im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit wahrgenommen wurde, was sich nicht zuletzt in ihrer Beteiligung an der Enquete-Kommission »Schutz des Menschen und der Umwelt« manifestierte.61 Insbesondere die Pharmaindustrie wurde durch internationale Abkommen wie die Millennium Goals von der politischen Gemeinschaft zu einem wichtigen Akteur auf dem Weg zu einer Nachhaltigen Entwicklung erhoben.62

Als zweites Untersuchungsfeld steht die Handels- und Konsumgüterbranche im Zentrum der Analyse. Die Branche ist von besonderem Interesse, da sie die Lebenswelt der Konsumentinnen und Konsumenten unmittelbar berührt und diese nicht-nachhaltiges Handeln durch Kaufentscheidungen bewusst sanktionieren können. An dieser Frage zeigt sich auch die Anschlussfähigkeit einer entsprechenden zeithistorischen Forschung an aktuelle Diskurse, in denen vielfach auf die vermeintlich nachhaltige Anspruchshaltung von Konsumentinnen und Konsumenten verwiesen wird.63 Zeithistorisch gilt es insbesondere zu untersuchen, ob diese von den Unternehmen als Treiber auf dem Weg zur Entwicklung von Nachhaltigkeitskriterien wahrgenommen wurden, welche Interdependenzen zwischen beiden Akteursgruppen bestanden und ob das bis in die Gegenwart kolportierte Narrativ der Nachhaltigkeitsforderungen auf Kundenseite einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten kann. An der Handels- und Konsumgüterbranche zeigt sich ferner besonders deutlich ein grundsätzliches Dilemma unternehmerischer Nachhaltigkeit. Unternehmen als Akteure waren und sind von ihrem Profitablitätsstreben geleitet und ungeachtet ihres individuellen Einsatzes nachhaltiger Praktiken animieren sie zum Konsum und damit grundsätzlich zu Ressourcennutzung und Ressourcenverbrauch.64

Die Studie möchte die Eigenperspektive von Unternehmen als Akteure bei der Entwicklung von Nachhaltigkeit durch intensive Erforschung von Beständen aus Unternehmensarchiven und weiteren Eigenquellen der Unternehmen untersuchen. Entsprechend soll die Analyse nicht möglichst breit gestaltet werden, sondern vorrangig in die Tiefe gehen, das heißt wenige ausgewählte Unternehmen intensiv erforschen. Die Arbeit wird sich auf je zwei Unternehmen aus Großbritannien und Deutschland beschränken, die durch Größe und Ausrichtung jeweils Repräsentativität für ihre Branche beanspruchen können. Die Unternehmen mussten folgende Kriterien erfüllen: Hauptsitz in Deutschland oder Großbritannien, Zuordnung zur Chemie- und Pharmaindustrie oder Handels- und Konsumgüterbranche, Geschäftstätigkeiten in mehreren Ländern, hinreichende Unternehmensgröße65 sowie Firmenaktivitäten im gesamten Untersuchungszeitraum.66 Um dem Anspruch der Arbeit, vorwiegend mit Quellen aus den Unternehmen zu arbeiten, gerecht zu werden, war ein Zugang zu einem ausreichenden Quellenset für jedes Unternehmen unerlässlich. Der Untersuchungszeitraum der 1990er Jahre konfrontiert die Forschung mit einer doppelten Herausforderung: Seine Gegenwartsnähe bedingt Archivschutzfristen, gleichzeitig liegt er zu weit zurück, um Quellen frei zugänglich online vorzufinden. Dies gilt auch für externe Quellen der Unternehmenskommunikation wie Jahres- oder Nachhaltigkeitsberichte. Ein Zugang zu Unternehmensarchiven oder Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ist folglich unerlässlich.

Für die Chemie- und Pharmabranche haben die deutsche Merck KGaA sowie das britische Unternehmen AstraZeneca plc den Zugang zu ihren Beständen ermöglicht, für die Handels- und Konsumgüterbranche wurden Quellen der britischen Marks & Spencer plc sowie der deutschen Otto Group gesichtet. Die Untersuchung jener vier Unternehmen erscheint aus mehreren Gründen lohnend. Allen vier Unternehmen ist zu eigen – dies wird die spätere Analyse zeigen –, dass sie bereits frühzeitig Nachhaltigkeit rezipiert haben. Auch wenn es notwendig ist, vorab ein Bewusstsein für den selektiven Charakter der Auswahl zu schaffen, stellt dieser keinen Nachteil dar. Zum einen konnten die Ergebnisse so über den bloßen Befund einer Abwesenheit des Leitbilds Nachhaltigkeit hinausgehen, zum anderen eröffnet die grundsätzliche Vergleichbarkeit die Chance, Nuancen der Unternehmen als Akteure im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit herauszuarbeiten. Die Auswahl war zudem davon geleitet, dass alle vier Unternehmen zeit- und unternehmenshistorische Forschungsdesiderate darstellen, insbesondere im Feld der Nachhaltigkeit.67

Forschungsstand

In Anbetracht ihrer Ubiquität sowie begrifflichen und inhaltlichen Unschärfe überrascht es wenig, dass die Idee der Nachhaltigkeit in der Forschung über Disziplingrenzen hinweg vielfach rezipiert wurde und wird.68 Gerade aufgrund der thematischen Breite und Akteursvielfalt im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit verlangt eine wissenschaftliche Annäherung zunächst eine tiefergehende disziplinäre Verortung, um die Anschlussfähigkeit der Arbeit an bestehende Forschungen zu gewährleisten. Die folgende Arbeit versteht sich primär als zeithistorische Arbeit ohne sich innerhalb der epochalen Zuschreibung einer bestimmten Unterdisziplin zuzuordnen.69 Eine eigenständige Nachhaltigkeitsgeschichte oder History of Sustainability, die ihren Blick gleichermaßen auf ökonomische, soziale und ökologische Fragestellungen richtet, existiert zum derzeitigen Zeitpunkt nur in ersten Ansätzen und nicht institutionalisiert, was sich nicht zuletzt in der Absenz entsprechender wissenschaftlicher Lehrstühle und Zeitschriften manifestiert.70 Das von der Leibniz-Gemeinschaft geförderte und vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin koordinierte Verbundprojekt »Geschichte der Nachhaltigkeit(en)«, in dessen Rahmen die vorliegende Arbeit an der RWTH Aachen entstand, strebt an, dieses Forschungsdesiderat zu schließen und einen Beitrag zur disziplinären Weiterentwicklung zu leisten.71 Aufgrund des weitgehenden Fehlens einer dezidierten Geschichte der Nachhaltigkeit erweisen sich derzeit insbesondere drei Forschungsfelder als konzeptionell und methodisch-theoretisch anschlussfähig: Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Umweltgeschichte sowie Neue Kulturgeschichte.

Befasst sich eine historische Arbeit mit Unternehmen, ist die Vermutung naheliegend, es handele sich um einen Beitrag zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte72 – eine Annahme, welcher das Gros der Wirtschaftshistorikerinnen und -historiker hingegen widersprechen würde.73 Die Schwerpunktsetzungen wirtschafts- und unternehmensgeschichtlicher Arbeiten zeigen die Grenzen einer solch expliziten und exklusiven Zuordnung auf, die daher weder erfolgen kann noch erwünscht ist. So soll nicht dargelegt werden, welche Logik wirtschaftlichen Handelns und welche Managemententscheidungen die Basis für eine Rezeption und Adaption des Leitbilds Nachhaltigkeit durch Unternehmen bildeten. Vielmehr soll dargelegt werden, wie Unternehmen sich in den Nachhaltigkeitsdiskurs einschrieben, d. h. insbesondere auch, wie sie darüber kommunizierten. Hierbei gilt es zu vermeiden, aus (externen) Quellen der Unternehmenskommunikation übereilte Rückschlüsse auf reale Prozesse in den Unternehmen zu ziehen. Dass diese Arbeit sich nicht als rein wirtschafts- und unternehmenshistorischer Beitrag versteht, bedeutet gleichwohl keine Ignoranz gegenüber deren disziplinären Charakteristika. Zum einen spielen ökonomische Theorien in der Wirtschaftsgeschichte eine gewichtige Rolle und auch diese Arbeit integriert Vorüberlegungen zu Begrifflichkeiten der starken und schwachen Nachhaltigkeit, die aus der neoklassischen Umweltökonomie sowie der ökologischen Ökonomie entlehnt sind.74 Zum anderen betrachten wirtschafts- und unternehmenshistorische Arbeiten auch Schnittstellen zu anderen Akteuren wie der Politik, sei es durch die Analyse politischer Institutionen als gestaltende Kräfte von Wirtschaftspolitik oder im Rahmen der Untersuchung der politischen Macht von Unternehmen.75 Hierin liegt ebenso eine Schnittstelle zum Forschungsinteresse dieser Arbeit.

Naturgemäß weist das Thema der Arbeit ebenfalls Verbindungen zur Umweltgeschichte auf.76 Es vermag angesichts der Abhängigkeit der Wirtschaft von natürlichen Ressourcen und ihrem gleichzeitigen massiven Eingriff in die Umwelt kaum überraschen, dass die Umweltgeschichte wirtschaftliche Faktoren betrachtet hat.77 Jedoch erscheint fraglich, ob ein expliziter Bezug zur Umweltgeschichte einen tatsächlichen Mehrwert für die Arbeit generieren könnte. Es ist durchaus bezeichnend, wenn die Umwelthistorikerin Melanie Arndt betont, dass die Unternehmensgeschichte zunehmend umwelthistorisch ausgeleuchtet wird.78 Was erfolgt, ist offenkundig die Integration der Umwelt in die Wirtschaftsgeschichte, weniger jedoch die Integration des Unternehmens in die Umweltgeschichte. Deutlich wird hier der vielleicht wichtigste Beitrag der Umweltgeschichte: Ihr Agenda-Setting, das mit dazu beitrug, die Umwelt als Kategorie in anderen historischen Disziplinen zu verankern.79 So erweist sich die Umweltgeschichte für diese Arbeit vor allem hinsichtlich der Kontextualisierung als bedeutsam, da sie elementare Vorarbeiten zu sich wandelnden gesellschaftlichen Vorstellungen gegenüber der Ökologie geleistet hat.80 Allerdings analysiert diese Arbeit das Feld der Nachhaltigkeit, bei dem die Umwelt ein Aspekt, aber nicht das allein konstituierende Merkmal ist.81

Vielversprechend erscheint abschließend ein Blick in das Angebot der Neuen Kulturgeschichte, das für das Erkenntnisinteresse der Arbeit vielfältige Anknüpfungspunkte bereithält.82 Statt durch einen konkreten Forschungsgegenstand ist die Kulturgeschichte durch eine bestimmte Perspektivierung charakterisiert; sie kann und sollte folglich auch die Wirtschaft zum Gegenstand ihrer Analysen erheben.83 Gleichwohl ist sie diesem Anspruch bisher nur in überschaubarem Maße gerecht geworden, was sich nicht zuletzt in einer fehlenden, allgemein anerkannten Bezeichnung für eine Verbindung von Kultur- und Wirtschaftsgeschichte manifestiert.84 Die Kulturgeschichte stellt für dieses Forschungsvorhaben vor allem eine methodisch-theoretische Inspirationsquelle dar.85 Ganz wesentlich hat die Kulturgeschichte im Zuge des linguistic turn Angebote der Diskursanalyse rezipiert.86 Dieses methodisch-theoretische Konzept erscheint als Basis besonders fruchtbar. Ergänzend sei abschließend auf die Begriffsgeschichte verwiesen.87 Die vorliegende Arbeit versteht sich nicht als dezidiert begriffsgeschichtlich, untersucht jedoch, welche Termini im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit zu welchem Zeitpunkt durch welche Akteure verwendet wurden. Die Entwicklung von Nachhaltigkeit zum internationalen Leitbild kann als ein historisch innovativer Moment gelten, der sich in begrifflichen Neuprägungen niederschlug. Es wird daher auch analysiert, ob und wie der Sprachgebrauch der Unternehmen durch die Etablierung jenes Leitbilds einem Wandel unterlag.

Ausgehend von den disziplinären Verortungen bestätigt sich, dass die zeithistorische Forschung das Konzept Nachhaltigkeit bisher nur in ersten Ansätzen rezipiert hat. In besonderem Maße gilt dies für Analysen von Nachhaltigkeit in Unternehmen durch die anglo-amerikanische Environmental History und Business History. Die mangelnde Rezeption der Idee der Nachhaltigkeit wurde 2011 durch die unternehmenshistorische Zeitschrift The Business History Review der Harvard Business School kritisch angemerkt.88 Auch in den nachfolgenden Ausgaben der Business History Review finden sich nur wenige einschlägige Artikel, die zudem von einer einseitigen Prägung auf einzelne Länder und Branchen gekennzeichnet sind.89 Die geringe Resonanz der »Nachhaltigkeitswelle« in der Unternehmensgeschichte überrascht in besonderem Maße, da die Vernachlässigung des Feldes bereits 1999 von Christine Meisner Rosen und Christopher C. Sellers in ihrem breit rezipierten Aufsatz »The Nature of the Firm: Towards an Ecocultural History of Business« kritisiert wurde.90 In den vergangenen Jahren lässt sich in den führenden englischsprachigen Zeitschriften in Teilen eine Trendwende beobachten.91 Trotz einiger Fortschritte konstatierten Andrew Smith und Kirsten Greer in ihrer Bestandsaufnahme auch 2017 noch: »far more needs to be done to integrate business and environmental history«.92

Einschlägige Monographien und Sammelbände bildeten lange Zeit ein Forschungsdesiderat, das erst in den vergangenen Jahren vereinzelt überwunden wurde. Besonders erwähnenswert ist das 2017 erschienene Buch Profits and Sustainability des britischen Unternehmenshistorikers Geoffrey Jones.93 Das Werk bietet einen guten Überblick und ist aufgrund seines Zeiträume überspannenden Charakters – Jones analysiert Entwicklungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert – zu würdigen, konzentriert sich aber vor allem auf Individuen und dezidiert »grüne« Unternehmen und verbleibt oft anekdotisch. Nicht zuletzt illustriert sich hier eine grundsätzliche Auffälligkeit vieler (zeit-)historischer Zugänge zur Entwicklung von Nachhaltigkeit in Unternehmen: »The book contains much original research, including from many interviews, but it is not the kind of business history based on deep research in corporate archives.«94 Gerade jene tiefgründigen Archivstudien erscheinen für das Themenfeld Nachhaltigkeit jedoch von essenzieller Bedeutung, um sich dem oftmals vagen Konzept durch fundierte Quellenarbeit zu nähern. Aus internationaler Perspektive sei zudem auf den vom deutschen Wirtschaftshistoriker Hartmut Berghoff gemeinsam mit dem amerikanischen Umwelthistoriker Adam Rome herausgegebenen Sammelband »Green Capitalism« verwiesen.95 Von besonderem Interesse sind Beiträge der Herausgeber, die darlegen, wie Unternehmen und andere wirtschaftliche Akteure sich selbst für einen »grüneren« Kapitalismus einsetzten und welche weiteren Akteursgruppen auf eine Hinwendung zu nachhaltigerem Wirtschaften einwirkten.96 Am Ende des 20. Jahrhunderts sieht Berghoff vor allem Umweltbewegungen und -organisationen, Konsumentenansprüche und regulatorische Anforderungen als wesentliche Treiber für Unternehmen im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit.97 Im 21. Jahrhundert hätten Unternehmen zunehmend das wirtschaftliche Potential eines »grünen Kapitalismus« erkannt, jedoch wären sie weiterhin von externen Faktoren beeinflusst worden.98 Symptomatisch für die Vernachlässigung von Unternehmen als Akteure im Nachhaltigkeitsdiskurs ist hingegen das 2018 erschienene Routledge Handbook of the History of Sustainability. Trotz der offenkundigen Relation zwischen Nachhaltigkeit und Unternehmen untersucht nur einer von insgesamt 26 Artikeln explizit dieses Feld, jedoch ohne Bezugnahme auf Archivstudien.99 Diese Lücke der Eigenperspektive von Unternehmen möchte die vorliegende Studie schließen.

Die Einschätzung für die deutsche unternehmenshistorische Forschung fällt tendenziell positiver aus – ein Umstand, der sich vor dem Hintergrund einer vielfach zitierten umweltpolitischen Vorreiterrolle erklären mag.100 Außerhalb der historischen Wissenschaft für die deutsche Forschung erwähnenswert ist der 2001 veröffentlichte Abschlussbericht eines DFG-Projekts zum Thema »Sustainable Development / Nachhaltige Entwicklung – Zur sozialen Konstruktion globaler Handlungskonzepte im Umweltdiskurs«.101 Im Rahmen der Analyse des deutschen Nachhaltigkeitsdiskurses wurden auch Handlungskonzepte Nachhaltiger Entwicklung in der Wirtschaft untersucht.102 Jüngere Arbeiten der deutschen Forschung thematisieren ferner Umwelt und Wirtschaft in der DDR103, die Rolle der deutschen Chemieindustrie in der Diskussion um das FCKW-Verbot104, die Interdependenz zwischen Stromwirtschaft und Umweltpolitik105 sowie die Transformation des ostdeutschen Kühlgeräteherstellers dkk/FORON, der den ersten FCKW- und FKW-freien Kühlschrank präsentierte.106

Ähnlich wie für die anglo-amerikanische Business History kann jedoch auch hier ein starker Fokus auf spezifische Länder und Branchen sowie eine Verengung auf den Teilaspekt des Umweltschutzes konstatiert werden. Die chemische Industrie wurde von der Unternehmensgeschichte über Ländergrenzen hinweg bereits vielfach zum Forschungsgegenstand erhoben.107 Andere Industriezweige blieben in der Forschung bisher weitgehend marginalisiert. Hierzu zählt auch die Handels- und Konsumgüterbranche. Diese fand vor allem im Rahmen der Konsumgeschichte Eingang in die Forschung in Form von Studien zur ökologischen Konsumkritik, dem Fair Trade Handel und der Entwicklung nachhaltiger Konsumformen.108 Es existieren hingegen kaum einschlägige zeithistorische Studien im Bereich Nachhaltigkeit für die Handels- und Konsumgüterbranche, so dass eine umfassende Untersuchung hier ein Forschungsdesiderat darstellt.109

Komplexe Studien, die Unternehmen als Akteure bei der Entwicklung von Nachhaltigkeit ins Zentrum stellen, intensiv mit Unternehmensquellen arbeiten und deren Eigenperspektive analysieren, bilden weiterhin weitestgehend eine Forschungslücke.110 Als Ausnahme hervorzuheben sind Studien von Simon Tywuschick zum betrieblichen Umweltschutz in der deutschen Chemie- und Automobilindustrie zwischen 1960 und 2005.111 Für die Chemieindustrie analysiert er die Bayer AG. Seine Forschung ist aufgrund des darin angelegten Branchenvergleichs zu würdigen, der nahelegt, dass Nachhaltigkeitskriterien auch stark von der Branchenzugehörigkeit determiniert waren.112 Auch an seiner Arbeit zeigen sich die bisherigen Forschungsschwerpunkte: eine Fokussierung auf Umweltschutz und eine fehlende international vergleichende Perspektive. Eine Pionierrolle kommt Inga Nuhns Dissertation aus dem Jahr 2013 zu Verantwortungskonzepten in Unternehmen nach 1945 am Beispiel des deutschen Chemiekonzerns Bayer sowie des niederländischen Chemieunternehmens DSM zu, die nach derzeitigem Kenntnisstand die einzige international vergleichende unternehmenshistorische, archivbasierte Analyse betrieblicher Nachhaltigkeit darstellt.113 Nuhns Arbeit, die auch den Einfluss externer Akteure untersucht, ist für ihre Grundlagenforschung anzuerkennen, offenbart aufgrund dieses Charakters aber auch Forschungsdesiderate. So wird der Einfluss nationaler Faktoren auf das Nachhaltigkeitsmanagement von Nuhn als gering eingeschätzt und stattdessen eine »internationale Standardisierung« konstatiert.114 Zunächst mag dieser Befund wenig überraschen, erscheint der Begriff doch als genuin internationales Konzept, insbesondere im Rahmen der zweiten Nachhaltigkeitswelle seit den 1970er Jahren. Jedoch verweist Nuhn zum einen selbst auf deutliche Unterschiede zwischen beiden Ländern im Rahmen verwandter (Vorläufer-)Konzepte wie betriebliche Sozialpolitik und betrieblicher Umweltschutz. Zum anderen beschränkt sich ihre Analyse auf zwei Unternehmen der gleichen Branche, was ausblendet, dass Gemeinsamkeiten bei der Entwicklung von Nachhaltigkeitskriterien auch stark von der Branchenzugehörigkeit determiniert wurden, wie die Arbeiten von Tywuschik aufzeigten.

Carolin Schweglers 2018 veröffentlichte Dissertation »Nachhaltigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft. Eine diskurslinguistische Untersuchung von Argumentationen und Kommunikationsstrategien« bietet einen Einblick in unternehmerische Nachhaltigkeit aus linguistischer Perspektive anhand der drei deutschen Unternehmen Henkel AG & Co. KG, Volkswagen AG und RWE AG.115 Trotz erkennbarer disziplinär begründeter Unterschiede zu Erkenntnisinteresse und Quellenauswahl der vorliegenden Arbeit116, verfolgt die Analyse Schweglers auch das Ziel, »historisch gewachsene Wertevorstellungen und -verständnisse« zu beleuchten, und setzt mit ihrer Quellenuntersuchung nach der Rio-Konferenz 1992 an.117 Neben überregionalen Printmedientexten untersucht sie als Eigenquellen der Unternehmen ausschließlich deren Nachhaltigkeitsberichte, so dass die Eigenperspektiven der Unternehmen nur in Teilen erfasst werden können, nicht zuletzt, da die Arbeit sich auf Aspekte der ökologischen Nachhaltigkeit beschränkt.

Trotz erster gehaltvoller Arbeiten illustriert der Forschungsstand, dass die Entwicklung von Nachhaltigkeit in Unternehmen bislang in keinem befriedigenden Maße zum Sujet zeithistorischer Forschung erhoben wurde. Bisherige Studien leiden zum einen an einer häufigen Reduktion des Begriffs auf ökologische Aspekte, die der Komplexität des Leitbilds Nachhaltigkeit nicht gerecht wird. Zum anderen fokussieren vergleichende Arbeiten entweder auf Branchencharakteristika oder Länderspezifika und ermöglichen hierdurch keine umfassende Analyse, die die Entwicklung betrieblicher Nachhaltigkeiten kontextualisiert.

Die Entwicklung von Nachhaltigkeit in den vier Untersuchungsunternehmen stellt ebenfalls ein Forschungsdesiderat dar. Die wenigen existenten historischen Studien konzentrieren sich zumeist auf Zeiträume außerhalb des Untersuchungszeitraums und/oder adressieren das Forschungsfeld Nachhaltigkeit nicht. Studien zur Nachhaltigkeit stammen, wenn überhaupt, entweder aus entfernten Disziplinen wie dem Umweltmanagement und enthalten keine Erkenntnisse, die für eine zeithistorische Arbeit fruchtbar gemacht werden könnten, oder sie stammen von Mitarbeitenden der Unternehmen selbst und sind somit als Zeitzeugendokumente und nicht als objektive Forschung zu klassifizieren. Exemplarisch kann dies am Beispiel des Unternehmens Otto illustriert werden. Hier liegen mehrere (firmeneigene) Veröffentlichungen vor, jedoch fehlt eine Erforschung der Entwicklung von Nachhaltigkeit im Unternehmen.118 Auch für Marks & Spencer und AstraZeneca stellen zeithistorische Studien zur Nachhaltigkeit eine Forschungslücke dar.119 Eine Ausnahme bildet eine 2018 erschienene Monographie über die Firmengeschichte von Merck, die auf knapp fünf Seiten über den »Schutz der Umwelt« berichtet.120 Deren Erkenntnisse beziehen sich jedoch fast ausschließlich auf Zeiträume vor 1990, verbleiben deskriptiv und auf ökologische Fragestellungen beschränkt. Einer Untersuchung jener vier Unternehmen als Akteure im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit kommt somit auch die Aufgabe einer Grundlagenarbeit zu.

Nach Darlegung der Forschungsdesiderate wird in einem nächsten Schritt der theoretische Rahmen vorgestellt. Das Erfordernis einer theoretisch fundierten und methodisch innovativen Annäherung ergibt sich nicht zuletzt aus der notwendigen Abgrenzung von zeitgeschichtlichen Darstellungen in den Medien.121 Gerade die omnipräsente mediale Aufarbeitung der Idee Nachhaltigkeit erfordert in besonderem Maße eine methodisch-theoretische Reflexion. Als Basis kann keine Eins-zu-eins-Adaption des Theorie- und Methodenrepertoires anderer Felder dienen – verwiesen sei hier insbesondere auf die Sozial- und Kulturwissenschaften.122 Daher werden deren Angebote reflektiert, moduliert und integriert. Bei einem per se interdisziplinären Feld wie jenem der Nachhaltigkeit, das soziale, ökonomische und ökologische Aspekte integriert, erscheint es bei einer zeithistorischen Arbeit fruchtbar, disziplinäre Grenzen aufzubrechen und einen Beitrag zur disziplinübergreifenden Anschlussfähigkeit historischer Forschung zu leisten. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt auf der Untersuchung von Diskursen, Praktiken und Kontaktzonen zwischen Akteuren unternehmerischer Nachhaltigkeit. Entsprechend wird das folgende Kapitel den diskursanalytischen Rahmen mit einem besonderen Augenmerk auf der diskursiven Macht von Unternehmen darlegen.

Theoretische Verortungen – Nachhaltigkeit(en) als Diskurs- und Handlungsfeld

Der Diskursbegriff entzieht sich aufgrund der mit ihm verbundenen Bedeutungsvarianten, die von »Gespräch« über »Diskussion« hin zu komplexen Systemen zur Herstellung von Wissen und Wirklichkeit reichen, einer eindeutigen Definition, ist jedoch dennoch nicht als beliebig zu verstehen.123 In einem wissenschaftlichen Kontext zielt der Diskursbegriff auf die Analyse des Sprach- und Zeichengebrauchs sowie dessen formale und inhaltliche Strukturierungen ab.124 Als Prämisse darf gelten, dass die Auseinandersetzung von Unternehmen mit Nachhaltigkeit als Diskurs verstanden werden kann.125 Als einflussreichster und wichtigster Diskurstheoretiker gilt der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault.126 Ein Forschungsvorhaben, das Unternehmen, ergo Akteure, im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit in den Fokus rückt, sieht sich zunächst mit Foucaults dezidierter Abgrenzung vom Subjekt konfrontiert.127 Diese Abgrenzung ist in der Wissenschaft jedoch in Weiterentwicklungen und Ergänzungen der Foucaultschen Diskurstheorie in benachbarten Disziplinen wie der Wissenssoziologischen Diskursanalyse überzeugend aufgebrochen worden.128 Unternehmen können folglich als deutungs- und handlungsfähige Akteure im Nachhaltigkeitsdiskurs auftreten, Wahrnehmungen prägen sowie diskursive Macht ausüben und zugleich selbst durch diesen Diskurs geprägt werden.

Den Diskurs definiert Foucault als »Menge von Aussagen […], insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören.«129 Anschlussfähig für das Untersuchungsfeld Nachhaltigkeit sind insbesondere Foucaults Überlegungen, welche Kriterien nicht die Einheit eines Diskurses konstituieren. Er wendet sich u. a. gegen die Hypothese, Aussagen durch Begriffe zu gruppieren.130 Übersetzt auf Nachhaltigkeitsdiskurse bedeutet dies, dass sich die Einheit des Diskurses nicht allein in der Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten manifestiert, sondern gerade auch ihr jeweiliges Erscheinen, ihre Verstreuung, ein Prinzip der Individualisierung des Nachhaltigkeitsdiskurses darstellt. Einen für diese Arbeit besonders entscheidenden Aspekt des Diskursbegriffs bildet Foucaults Annahme, der Diskurs sei »durch die Differenz zwischen dem konstituiert, was man in einer Epoche korrekt (gemäß den Regeln der Grammatik und der Logik) sagen konnte, und dem, was tatsächlich gesagt wurde.«131 Achim Landwehr sieht hier den »empirisch nachvollziehbaren Nenner« der historischen Diskursanalyse; der Diskursbegriff ist folglich als Analyseinstrument zu begreifen, als Mittel, um Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, »dass es zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Gesellschaften recht klar abgegrenzte Bereiche des Machbaren, Denkbaren und Sagbaren gibt.«132 Übersetzt man das »Machbare, Denkbare, Sagbare« auf den Untersuchungsgegenstand Unternehmen im Forschungsfeld Nachhaltigkeit, bedeutet dies: Nicht alles, was Unternehmen kommunizieren konnten, wurde kommuniziert, nicht alles, was sie machen konnten, wurde gemacht. Im Zentrum steht die prinzipielle Frage, ab wann ein unternehmerischer Nachhaltigkeitsdiskurs existierte, welche Ausprägungen dieser annahm und welchem Wandel er unterlag. Es geht folglich darum, was von Unternehmen im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit wann und wie gesagt wurde. Die Existenz des Diskurses definiert sich empirisch auch ex negativo: Was konnte nicht mehr gesagt werden, was konnte nicht nicht gesagt werden? War es ab einem bestimmten Zeitpunkt unmöglich, sich nicht in den Nachhaltigkeitsdiskurs einzuschreiben, folglich schlichtweg ausgeschlossen, keine Aussagen hierzu zu treffen? Empirisch bestätigt sich dies nicht zuletzt darin, dass ab einem gewissen Zeitpunkt alle untersuchten Unternehmen Nachhaltigkeitsberichte aufwiesen.

Eine Analyse unternehmerischer Nachhaltigkeit(en), insbesondere in ihrer Relation zu anderen Akteursgruppen, ist immer auch eine Analyse von Machtstrukturen.133 Macht wird diskursiv, durch symbolische Praktiken und Kommunikation, ausgeübt.134 Ein Kernelement diskursiver Macht formuliert Foucault in der Archäologie des Wissens. Trotz seiner Abgrenzung vom Subjekt hebt Foucault hier explizit hervor, dass nur bestimmte Gruppen im Besitz des Diskurses sind.135 Entscheidend ist nun auch die sich gegenseitig bedingende Relation zwischen Diskurs und Macht: Macht ist eine Voraussetzung für den Diskurs, der Diskurs bringt wiederum selbst Machtbeziehungen hervor.136 Dem Diskurs kommt somit eine doppelte Funktion zu: als Gegenstand der Macht sowie als Mittel zur Erlangung von Macht.137 Ebenso verweist der französische Soziologe Pierre Bourdieu auf die Interdependenz zwischen Diskursen und Machtbeziehungen.138 Für die historischen Wissenschaften ist jene Beziehung zwischen Diskurs und Macht von besonderem Interesse, da der Diskurs gerade durch seine Verbindung mit »Macht, Institutionen, Praktiken und Politik zu einem Gegenstand der Geschichte« wird.139 Ausgehend von den Konzepten Michel Foucaults und Pierre Bourdieus lautet eine Prämisse dieser Arbeit, dass Unternehmen über Macht im Nachhaltigkeitsdiskurs verfügen und diesen entscheidend konstruieren.140 Für diese diskursive Macht sprechen mehrere Faktoren; nicht zuletzt eröffnet die zumeist fehlende staatliche Regulierung im Feld Nachhaltigkeit den Unternehmen Handlungsoptionen und die Möglichkeit zur Machtausübung.141 Wie kann diskursive Macht nun für dieses Forschungsvorhaben definiert werden? Für eine prägnante Definition empfiehlt sich ein Blick in benachbarte Disziplinen, insbesondere in die Politikwissenschaft.

Im Allgemeinen gilt diskursive Macht in der Politikwissenschaft als dritte Machtdimension neben instrumenteller und struktureller Macht.142Definiert werden kann sie wie folgt: »Discursive power shapes perceptions and identities and fosters the interpretation of situations as of one type rather than another. Thus, it influences the frames of policy problems and solutions, of actors in the political process, and of politics and the political as such.«143 Durch diskursive Macht kann die (politische) Ausgestaltung und Umsetzung des Nachhaltigkeitsgedankens determiniert und Einfluss auf die gesellschaftliche Bedeutung des Konzepts genommen werden.144 Prinzipiell können im Feld der Nachhaltigkeit unterschiedliche Akteure über jene diskursive Macht verfügen, so beispielsweise neben Unternehmen und der Politik auch Umweltverbände und NGOs oder die Kundschaft. Grundsätzlich sind gesellschaftliche Machtverhältnisse abhängig von der Fähigkeit der Akteure, Machtmittel einzusetzen, wobei diese Fähigkeit wesentlich durch die Verteilung der relevanten Machtressourcen geprägt wird.145 Betrachtet man ergänzend die Bedeutung, die Machtressourcen wie Geld, Wissen, symbolischem, ökonomischem, sozialem oder kulturellem Kapital bei der Verbreitung von Diskursen und der Interaktion der Akteure zukommt, offenbart sich die diesbezügliche Machtposition multinationaler Konzerne, entscheidend bedingt durch materielle Faktoren wie marktwirtschaftliche Strukturen und technologisches Wissen.146 In der Politikwissenschaft sowie der Ökonomie wurde bereits auf Charakteristika der diskursiven Macht von Unternehmen im Kontext globaler Umweltpolitik verwiesen.147 Der Politikwissenschaftler und Ökonom Robert Falkner hat in seiner Studie zur Macht von Unternehmen in der internationalen Umweltpolitik aufgezeigt, wie politische Akteure auf diesen Einfluss mit der Schaffung formalisierter Mechanismen zur Einbindung der Unternehmen reagieren und diese in der ihnen zugeschriebenen Expertenrolle den Diskurs prägen.148

In der Forschung finden sich unterschiedliche Positionen zu Faktoren, welche die diskursive Macht von Unternehmen stärken respektive schwächen. Plausibel erscheinen Stimmen, die die diskursive Macht von Unternehmen durch »neoliberale« Strömungen gestärkt sehen.149 Jedoch lassen entsprechende Studien häufig eine kritische Auseinandersetzung mit dem »Neoliberalismus«-Begriff vermissen. Ferner ist die Absolutheit von Thesen wie jener von Roger Tooze, dass durch den »Neoliberalismus« Machtstrukturen und -verteilungen nicht hinterfragt würden, durchaus kritisch zu beurteilen.150 Gleichwohl kann angenommen werden, dass die Macht von Unternehmen in Staaten mit signifikanten Vermarktlichungstendenzen besonders ausgeprägt ist. Forschungen aus benachbarten Disziplinen haben ferner Grenzen und Schwächen der diskursiven Macht von Unternehmen im Kontext umweltpolitischer Diskurse betont.151 So ist die diskursive Macht von Unternehmen stark davon abhängig, dass diese als legitime politische Akteure wahrgenommen werden.152 Infolgedessen kann der Versuch von Unternehmen, sich in Umweltbelangen und sozialen Fragen als verantwortliche Akteure zu inszenieren, um moralische und politische Legitimität zu erlangen, auch negative, mithin gegenteilige Effekte erzielen, falls diese Bemühungen als Greenwashing gedeutet werden.153 Ferner verweisen bisherige Studien auf Faktoren, die die diskursive Macht von Unternehmen schwächen. Hierzu zählen zivilgesellschaftliche Akteure und NGOs, die Kampagnen gegen Unternehmen lancieren, aber ebenso Konkurrenz in der Unternehmenswelt selbst.154

Diese Befunde aus der Politikwissenschaft und Ökonomie bieten Anknüpfungspunkte für eine zeithistorische Untersuchung. Es ist davon auszugehen, dass Unternehmen über eine starke diskursive Macht im Feld der Nachhaltigkeit verfügten, die sie bewusst einsetzten. Dies könnte durch externe Medien der Unternehmenskommunikation erfolgt sein, sich aber auch an die eigene Belegschaft gerichtet haben, um den Diskurs innerbetrieblich zu stärken. Ebenso kann ausgehend von den Befunden aus benachbarten Disziplinen die These formuliert werden, dass Unternehmen einer kritischen Beobachtung unterstanden und sie ihre Einschreibungen in den Nachhaltigkeitsdiskurs immer auch in Abgrenzung zu oder in Kooperation mit anderen Akteursgruppen entwickelten. Es kann ferner angenommen werden, dass Kooperationen zwischen Unternehmen und einheitliche Positionierungen innerhalb von Branchen die diskursive Macht von Unternehmen stärkten und ihnen somit in hohem Maße erstrebenswert schienen. Um ausgehend von diesen theoretisch-methodischen Vorüberlegungen die Forschungsfragen im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Detail beantworten zu können, gilt es nun den Blick von der Theorie zu lösen und empirisch anwendbare Kategorien für eine zeithistorische Analyse im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit zu definieren.

Die Geschichtswissenschaft ist nicht arm an Abhandlungen zu Diskurstheorie und ‑analysen.155 Dennoch fehlt es an überzeugenden Ansätzen für eine zeithistorische Untersuchung des Themenfeldes Nachhaltigkeit mit einem Fokus auf Unternehmen als Akteure. Dies mag nicht zuletzt der geringen Rezeption des diskursanalytischen Angebots durch die Unternehmensgeschichte geschuldet sein.156 Hier erweist sich ein Blick in benachbarte Disziplinen als ebenso lohnend wie geboten.157 Als Ausgangsbasis soll mit einem aus der Politikwissenschaft entlehnten diskursanalytischen Forschungsprogramm von Nina Kolleck gearbeitet werden, die die diskursive Macht multinationaler Unternehmen im Feld Nachhaltiger Entwicklung untersucht hat, jedoch zeitgenössisch und nicht als historische Studie.158 Kolleck nimmt eine Auswahl durch Foucault geprägter diskursanalytischer Bausteine in den Blick: Story-lines, Diskurs-Koalition, Diskursverschränkungen, Gegendiskurse sowie Wortwahl, Wortprägungen und Euphemismen.159 In Anbetracht des notwendigen »Übersetzungsprozesses« bei der Adaption theoretisch-methodischer Konzepte aus benachbarten Disziplinen für die Zeitgeschichte soll Kollecks Programm nicht systematisch abgehandelt, sondern moduliert in diese zeithistorische Arbeit integriert werden. Zwei Bausteine werden herausgehoben betrachtet: Story-lines, abgewandelt als Narrative, sowie Termini unternehmerischer Nachhaltigkeit als eine Form des Bereiches der Wortwahl, Wortprägungen und Euphemismen. Darüber hinaus gewinnen Diskurs-Koalitionen und Gegendiskurse Relevanz bei der Frage nach länder- und branchenübergreifenden Mustern sowie nach Kontaktzonen und Interdependenzen zwischen Unternehmen und weiteren Akteursgruppen.

Der Begriff der Story-line160 bildet ein hilfreiches Analysetool, soll hier jedoch aufgrund der besseren Greifbarkeit durch den Begriff Narrativ ersetzt werden.161 Ein Narrativ umfasst »ein bestimmtes Handlungsschema oder Erzählmuster, welches auf eine prinzipiell unendliche Fülle von Ereignissen und Handlungen bezogen werden kann und sich aus diesem Grund als zugleich stabil und flexibel erweisen muss.«162 Zwar zielt auch eine Story-line auf Erzählungen ab, jedoch betont der Narrativbegriff vor allem auch kollektive Zusammenhänge und Traditionen, rekurriert auf und impliziert große Linien, deren Begründungen und Motive.163 Dabei spielen Kollektiverzählungen auch für Prozesse kollektiver Identitätsbildung eine signifikante Rolle.164 Kulturen werden so definiert als »spezifische Erzählräume […], innerhalb derer bestimmte Narrationen nicht nur sinnhaft erscheinen, sondern eine zugleich integrative und exkludierende Kraft entfalten.«165 Während die Forschung vor allem umfassend die Relevanz von Erzählungen im modernen Nationalismus betrachtete166, lässt sich dies ebenso auf Unternehmen als Kollektive übertragen. Auch hier können Narrative sinnstiftend und identitätsbildend wirken sowie als Abgrenzung nach außen dienen. In der angloamerikanischen Business History existieren erste Forschungsansätze zur Verwendung historischer Narrative durch Mitglieder des Managements und Unternehmen, jedoch ohne einen Schwerpunkt auf das diskursive Feld der Nachhaltigkeit.167 Eine Fokussierung auf Narrative und einen diskursanalytischen Zugang zur Entwicklung von Nachhaltigkeit in Unternehmen erweist sich folglich auch als disziplinäre Erweiterung fruchtbar.168 Für die – für historische Arbeiten charakteristische – Untersuchung von Wandel erweist sich der Narrativbegriff ferner als besonders geeignet, da Narrationen auch Veränderungen beschreiben und selbst Veränderungen unterliegen.169

Erste wichtige Erkenntnisse zu Nachhaltigkeitsnarrativen entstanden im Kontext des am Institute For Advanced Sustainability Studies (IASS) bis Dezember 2021 laufenden Projektes »Narrative und Bilder der Nachhaltigkeit«.170 In Bezug auf Hayden White halten die Projektverantwortlichen fest, »dass ein ›realistisches‹ Erzählen zwar eine Grenze und ein Maß in der Faktizität hat, die Freiheiten für die Auswahl und das Arrangement der Fakten – und damit für das, was mit Narrativen getan wird – aber letztlich kulturell ermöglicht werden.«171 Für die Narrative von Unternehmen im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit bedeutet dies, dass ihnen zwar durchaus real existente Praktiken zugrunde liegen (können), doch die Auswahl in der internen und externen Kommunikation, die Konstruktion der Narration, erfolgt durch und im jeweiligen Umfeld.172 Diese Arbeit fragt ganz wesentlich danach, welche Narrative die zu untersuchenden Unternehmen bedienten, aber auch nach den ihnen inhärenten Zuschreibungen an sich selbst und andere Akteure wie die Politik oder die Kundschaft. Sie fragt gleichsam danach, welche Kontinuitäten sich konstatieren lassen, und welchem Wandel die Narrative unterlagen.

Neben Narrativen widmet sich die Analyse auch der Erforschung von Termini im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit. Bei Kolleck findet sich dieser Aspekt subsumiert als Wortwahl, Wortprägungen und Euphemismen: »Mit neuen Wörtern, Begriffen oder Stereotypen werden Formulierungen ersetzt, um Sachverhalte positiver oder verhüllend darzustellen bzw. negativ besetzte Begriffe zu vermeiden oder zu verschleiern. Ziel ist es dabei insbesondere, legitimierende Konnotationen und positiv anklingende Bedeutungen zu erzeugen.«173 Angelehnt an Kolleck, aber mit anderer Akzentuierung, steht bei der historischen Untersuchung die Erforschung eines möglichen Wandels im Vordergrund. Mit welchen Wörtern und Begriffen wurde das Feld der Nachhaltigkeit besetzt und kommuniziert? Wie definierten Unternehmen Nachhaltigkeit oder Nachhaltige Entwicklung? Lösten diese Termini andere ab?

Vergleichend fragt die Arbeit ferner nach Diskurs-Koalitionen und Gegendiskursen. Unter Diskurs-Koalition wird verstanden, dass Akteure sich auf Basis bestimmter Story-lines bzw. Narrative miteinander vernetzen und Koalitionen bilden, um so diskursive Hegemonie zu erlangen.174 Nicht jedem Akteur, d. h. im konkreten Forschungsfeld jedem Unternehmen und weiteren Akteursgruppen, zu denen Kontaktzonen bestanden, entspricht zwingend ein eigener Diskurs.175 Hervorzuheben ist, dass innerhalb sozialer Handlungsfelder ebenso wie innerhalb einzelner Organisationen unterschiedliche Diskurspositionen möglich sind, folglich auch innerhalb von Unternehmen selbst Diskurskoalitionen, beispielsweise zwischen Geschäftsführung und Belegschaft, vorliegen können.176 Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit kann auf das Konzept der Diskurskoalition insbesondere hinsichtlich der Frage nach einer möglichen branchen- und länderüberschreitenden Prägung des Nachhaltigkeitsdiskurses Bezug genommen werden sowie bei der Untersuchung von Kontaktzonen zwischen Wirtschaft und Politik. Kann der unternehmerische Umgang mit Nachhaltigkeit als eine Diskurskoalition gelten, die unabhängig von Branchen und nationalen Hintergründen auf ähnlichen Story-lines respektive Narrativen beruhte? Bildeten Politik und Wirtschaft eine Diskurskoalition?

Darüber hinaus spielen Gegendiskurse für eine Diskursanalyse im Feld der Nachhaltigkeit eine besondere Rolle. Grundsätzlich sind Diskurse Produkte sozialer Interaktion, »die Gegendiskurse herausfordern und den Kampf um Deutungen und Interpretationen unterstützen.«177 Dadurch, dass Diskurse Gegendiskurse herausfordern, entsteht ein diskursives Feld mit einem Kampf um Interpretation und Begriffsbesetzung.178 Bei der Untersuchung von Gegendiskursen öffnet sich, ebenso wie bei der Untersuchung von Diskurskoalitionen, das Forschungsfeld und weitere an diskursiven Auseinandersetzungen beteiligte Akteure rücken in den Fokus der Analyse.179 Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit sollen Kontaktzonen zwischen ökonomischen und anderen Akteursgruppen, wie beispielsweise der Politik, als Träger des Diskurses analysiert werden. Es geht dabei nicht darum, darzulegen, welche Akteursgruppen insgesamt auf den Nachhaltigkeitsdiskurs eingewirkt haben, sondern welche von den Unternehmen als prägend für die eigene Einschreibung in den Diskurs und die Entwicklung von Nachhaltigkeit wahrgenommen wurden.180 Wie positionierten sich ökonomische Akteure im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit gegenüber politischen oder gesellschaftlichen Akteuren und welche (Gegen‑)Reaktionen nahmen sie hierbei wahr?181

Die Arbeit erhebt den Anspruch, neben Diskursen auch Praktiken im Feld der Nachhaltigkeit in die Untersuchung miteinzubeziehen.182 Bei der Verwendung des Praxis-Begriffs in einer historischen Arbeit lässt sich ein in den vergangenen Jahren vielfach rezipierter Ansatz kaum ignorieren – die Praxeologie bzw. Praxistheorie.183 Wenngleich sich diese Arbeit nicht als dezidiert praxeologisch versteht, so eröffnen sich aus dieser Forschungsrichtung dennoch einige gewinnbringende Ansätze. Insbesondere definitorische Angebote der Praxeologie vermögen zu überzeugen.

Was ist eine Praktik? Während der Begriff zunächst konkrete Assoziationen hervorruft und zumeist synonym zum Begriff Handlung verwendet wird, erweist sich seine wissenschaftliche Definition als weitaus komplexer.184 Der kleinste gemeinsame Nenner aller Praxistheoretikerinnen und -theoretikern beschreibt Praktiken als Handlungsfelder, als Handlungsanordnungen.185 Darüber hinaus zeigen sich die Definitionsangebote in der Soziologie ebenso wie in der Geschichtswissenschaft mannigfaltig186: Sie umfassen »Handlungsweisen«187, »Handlungsvollzüge«188, werden als »eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens«189 beschrieben, die »spezifische Formen des Wissens, des know how, des Interpretierens, der Motivation und der Emotion«190 umfasst, oder als »kollektive Handlungsgefüge«.191 Für die vorliegende Arbeit erweist sich ein Ansatz von Lucas Haasis und Constantin Rieske, entstanden im Kontext des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« an der Universität Oldenburg, als fruchtbar.192 Sie definieren Praktiken daran anknüpfend »als rekonstruierbare (Alltags-)Muster vergangenen menschlichen Tuns und Sprechens.«193 Praktiken zeichnen sich demnach primär durch ihre Musterhaftigkeit aus. Ein zweiter wichtiger Ansatz der Praxeologie ist die Betonung der Überindividualität von Praktiken.194 Eine Praktik zeichnet sich dadurch aus, dass sie »über die Diskontinuität der Zeit und die Verstreutheit räumlicher Orte hinweg immer wieder neu hervorgebracht wird«.195 Übertragen auf Unternehmen im Handlungsfeld Nachhaltigkeit handelt es sich dann um eine Praktik, wenn sich ein überindividueller Charakter feststellen lässt, beispielsweise ähnliche Handlungsmuster, respektive ähnliche Praktiken, im Verlauf des Untersuchungszeitraums wiederholt werden.

Ein drittes wichtiges Element des Praktikbegriffs ist seine Prägung durch Wissen und Wissensordnungen.196 Andreas Reckwitz postuliert, »dass sämtliche Komplexe von Praktiken der Vergangenheit und Gegenwart […] erst vor dem Hintergrund der jeweiligen sehr spezifischen Sinnhorizonte und Bedeutungscodes möglich sind«197, und versteht Praktiken und Diskurse als »zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materialen Existenz von kulturellen Wissensordnungen«.198 Das Verhältnis zwischen Diskursen und Praktiken wird in der Praxeologie als reziprok verstanden; »[e]rst diskursiv regelte sich die zeitgenössische Verstehbarkeit oder (ebenso) das zeitgenössische Unverständnis von Praxis und deren Folgen«.199 Übertragen auf das Forschungsinteresse der Arbeit bedeutet dies, dass zum zeitgenössischen Verständnis einer Praktik das Wissen darüber, was unternehmerische Nachhaltigkeit umfasst, existieren musste; damit überhaupt verstanden werden konnte, dass eine Praktik nachhaltig war, musste folglich ein Nachhaltigkeitsdiskurs bestehen. Daran anknüpfend lässt sich die These formulieren, dass Unternehmen bewusst ihre diskursive Macht für eine Schärfung des Wissens und Bewusstseins für nachhaltige Praktiken nutzten – beispielsweise durch Konsumentenaufklärung –, um sich so selbst wiederum als nachhaltig zu inszenieren. Gleichzeitig konnten Praktiken selbst auf ebenjene Wissensordnungen einwirken und das diskursive Feld der Nachhaltigkeit stärken. Der Nachhaltigkeitsdiskurs manifestierte sich in unternehmerischen Praktiken, die Praktiken stärkten den Diskurs. Beides steht sich nicht diametral gegenüber, sondern konstituiert und bedingt sich gegenseitig. Die genannten definitorischen Angebote der Praxeologie, die Musterhaftigkeit und Überindividualität von Praktiken und ihr reziprokes Verhältnis zu Wissen und Wissensordnungen, ergo zu Diskursen, erweitern die theoretisch-methodische Basis der vorliegenden Arbeit um wichtige Aspekte. Nach der konzeptionellen und theoretischen Verortung werden abschließend die Forschungsleitfragen, Konzeption und Gliederung sowie die Quellenbasis dargelegt.

Gliederung der Arbeit, Konzeption, Forschungsleitfragen und Quellen

Eine zeithistorische, länder- und branchenübergreifende Analyse zur Entwicklung des Leitbilds Nachhaltigkeit in Unternehmen stellt ein lohnendes Forschungsfeld und Forschungsdesiderat dar. Die theoretische Verortung hat illustriert, dass insbesondere eine Analyse von Narrativen, Termini und Praktiken einen Erkenntnisgewinn darstellen kann. Die Arbeit verfolgt zudem eine übergeordnete Forschungsfrage im Kontext der Untersuchung länderspezifischer Rahmenbedingungen:

I. Welche Kontaktzonen bestanden zwischen Politik und Wirtschaft bei der Entwicklung des Leitbilds Nachhaltigkeit in Deutschland und Großbritannien und welche Narrative und Zuschreibungen waren hier prägend?

Bei der Analyse beider Länder (Kapitel I) sollen anhand zeitgenössischer Quellen aus politischen Archiven die Kontaktzonen zwischen Wirtschaft und Politik bei der Ausgestaltung des Leitbilds Nachhaltigkeit analysiert werden. Im Fokus steht die Frage, wie die Politik die Akteursrolle der Wirtschaft im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit definierte und die Wirtschaft wiederum den politischen Diskurs prägte. Die Analyse übergeordneter Kontaktzonen leistet zugleich einen Beitrag dazu, das Engagement einzelner Unternehmen besser zu kontextualisieren.

Im Vordergrund dieser Studie steht die Frage, wie Unternehmen selbst das Leitbild Nachhaltigkeit rezipierten, kommunizierten und implementierten sowie welche Akteursgruppen sie bei der Entwicklung von Nachhaltigkeitskriterien als prägend wahrnahmen. Der Arbeit liegt die These zugrunde, dass Unternehmen sich aktiv in den Nachhaltigkeitsdiskurs einschrieben und eigene Definitionen, Praktiken und Narrative entwickelten. Dabei ist davon auszugehen, dass sie in einem reziproken Verhältnis zu anderen Akteursgruppen standen, folglich gegenüber diesen ihr spezifisches Verständnis von Nachhaltigkeit formulierten und gleichzeitig von diesen in ihrer Entwicklung geprägt wurden. Die Studie möchte die Eigenperspektive der Unternehmen erforschen, indem sie deren zeitgenössische Einschreibungen anhand einer fundierten Quellenbasis untersucht. Sie möchte nicht untersuchen, welche Akteursgruppen – seien es Politikerinnen und Politiker, die Kundschaft oder NGOs – grundsätzlich auf den Nachhaltigkeitsdiskurs einwirkten, sondern welche von den Unternehmen selbst rezipiert und adressiert wurden.200 Im Zentrum der Untersuchung deutscher und britischer Unternehmen der Handels- und Konsumgüterbranche sowie der Chemie- und Pharmaindustrie stehen drei Forschungsleitfragen:

II.Welche Praktiken kommunizierten Unternehmen bei der Entwicklung des Handlungsfelds Nachhaltigkeit und welche Relation schrieben sie ökonomischen, ökologischen und sozialen Zielen zu?

III.Wie inszenierten sich die Unternehmen im diskursiven Feld der Nachhaltigkeit und welche Termini und Narrative kommunizierten sie?

IV.Welche Kontaktzonen und Interdependenzen zu anderen Akteursgruppen rezipierten Unternehmen bei der Entwicklung von Nachhaltigkeitskriterien?

Übergeordnet gilt es bei der Beantwortung der Forschungsfragen Kontinuitäten und Wandel im Untersuchungszeitraum zu analysieren, ebenso wie spezifische Länder- und Branchen-charakteristika. Als Untersuchungszeitraum wird jener Zeitraum definiert, ab dem das Konzept Nachhaltige Entwicklung sich zum internationalen politischen Leitbild formierte, d. h. der Zeitraum nach dem Brundtland-Bericht 1987 mit einem besonderen Schwerpunkt auf die Entwicklungen nach der Rio-Konferenz 1992. Eine valide Einschätzung der historischen Entwicklung des Leitbilds Nachhaltigkeit in Unternehmen wird gewährleistet durch einen Untersuchungszeitraum von rund zwei Jahrzehnten bis in die späten 2000er Jahre.

Um die Forschungsleitfragen zu Nachhaltigkeit als diskursivem Feld, Handlungs- und Kontaktfeld theoriegeleitet und empirisch valide zu beantworten, untersucht die Arbeit die Bestände der vier Unternehmen Merck KgaA, AstraZeneca plc, Otto Group sowie Marks & Spencer plc. Die Quellenbestände unterscheiden sich in Umfang und Institutionalisierungsgrad. Merck und Marks & Spencer verfügen über klassische institutionalisierte Firmenarchive in Darmstadt beziehungsweise Leeds, UK, mit sehr umfangreichen Quellenbeständen. Die Bestände der Otto Group, die sich in Hamburg befinden, entziehen sich teils einer eindeutigen Sortierung und Klassifizierung, konnten jedoch in großem Umfang eingesehen werden.201 Die britische AstraZeneca hat hingegen keine zugänglichen Archivbestände an den Firmenstandorten in Macclesfield, UK, und Cambridge, UK. Über den dortigen Umweltdirektor Prof. Dr. Jason Snape konnte dennoch ein Großteil der Jahres- und Nachhaltigkeitsberichte im Untersuchungszeitraum gesichtet werden. Um die im Vergleich zu den anderen drei Unternehmen spürbar reduzierte schriftliche Quellenlage auszugleichen, wurde ergänzend ein Interview mit Snape durchgeführt, der bereits seit den 1990er Jahren im Unternehmen tätig ist.

Für die Untersuchung, wie die Unternehmen sich öffentlich in den Nachhaltigkeitsdiskurs einschrieben, wurden als wichtigste Medien der externen Unternehmenskommunikation, sofern zugänglich, alle Jahresberichte sowie Nachhaltigkeitsberichte und deren Vorläufer im Untersuchungszeitraum ausgewertet. Da jene Publikationen zum einen stark formalisiert waren und zum anderen regelmäßig erschienen, lässt sich an ihnen Kontinuität und Wandel in besonderem Maße ablesen. Für Merck, Otto und Marks & Spencer konnte zudem Einsicht in die Mitarbeiterzeitschriften genommen werden. Die Quellengattung erlaubt einen Einblick, wie Unternehmensleitung und -kommunikation Nachhaltigkeit gegenüber der eigenen Belegschaft kommunizierten und inszenierten.202 Ergänzend wurden – abhängig von den jeweiligen Archivbeständen – Pressemitteilungen, Strategiepapiere, Reden, Korrespondenzen, Gesprächsnotizen, Sitzungsprotokolle und Unternehmenspräsentationen gesichtet und ausgewertet.