Nachrede auf drei Väter - Hertha Poppinga - E-Book

Nachrede auf drei Väter E-Book

Hertha Poppinga

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Beschreibung

Der Ich-Erzähler Michael versetzt sich 71 Jahre zurück in die Nachkriegszeit. Er reflektiert sein Aufwachsen in einem vom nationalsozialistischen Erziehungsstil geprägten Elternhaus und muss sehr spät erfahren, dass er nicht der leibliche Sohn ist. Seine Suche nach Wahrheit und Identität beginnt.

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heimweh

ich hab heimweh, oft,

nicht nach dem alten hof, nicht nach warmen kuhställen oder der tenne, auf der ich als kind mit meinem holzpferd und dem leiterwagen gespielt hatte,

nein, ich hab heimweh

nach mir selbst.

Hertha Poppinga

Ich danke Michael für seine Erzählungen. Sie haben mich tief berührt und mich über die bedingungslose Liebe nachdenken lassen.

Hertha Poppinga

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

PROLOG

Die biografischen Erzählungen erstrecken sich über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der 1980er- Jahre. Der Ich-Erzähler Michael geht intensiv auf das persönliche Leben von drei Vätern und den damit verbundenen Ereignissen ein und setzt sich mit ihnen auseinander. Sein Blick richtet sich zurück auf eine Zeit 71 Jahre zuvor, die von Vaterlosigkeit, Hunger und dem autoritären Erziehungsstil der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt war.

Die Autorin übernimmt nicht nur vollständige Erinnerungen des Erzählers, sondern auch zahlreiche Erinnerungslücken, Einzelheiten und Gedankensplitter und fügt sie zu zusammenhängenden Bildern zusammen. In diesem Prozess versetzt sie sich emotional in seine Perspektive, erweitert, ergänzt und entfaltet die Geschehnisse, um ihnen eine »malerische«, nachdenkliche und emotionale Tiefe zu verleihen.

Dabei entwickelt sie aus den Ereignissen ein eigenes Konzept, in dem sie bestimmte wiederkehrende Traum- und Bildersequenzen konstruiert. Diese geben den Erzählungen eine durchgehende Grundstruktur und sollen die zuerst unbewusste, nur in Träumen vorhandende und erst spät erkannte bedingungslose Liebe symbolisieren.

Es war ihr auch wichtig, die damaligen gesellschaftlichen Erziehungsmuster, Normen und Werte der Nachkriegszeit zu beleuchten. Festgefahrene Ansichten, insbesondere Widersprüche und Illusionen, werden überprüft und reflektiert, sodass sie im Gesamtgefüge der biographischen Erzählungen einen anderen Stellenwert beim Ich-Erzähler erhalten.

Ein gemeinsames Anliegen mit dem Ich-Erzähler ist es, alle Ereignisse in ihrer authentischen Wahrheit wiederzugeben. Aufgrund schmerzhafter oder eindrucksvoller Erinnerungen kann sich der Erzähler gut zurückerinnern. Vor allem Aussagen in direkter Rede wurden oft übernommen, wie sie damals aus seiner Sichtweise stattfanden.

1

Er lag regungslos und quer auf dem Bett, nur in seiner alten Anzugshose gekleidet. Sein Oberkörper war nackt und sein Gesicht unrasiert. Beim Ein- und Ausatmen entstiegen ihm brummende, teilweise zischende Laute. Ich bemerkte, wie sich ein alkoholgetränktes Tuch aus dichtem Nebel im kleinen Schlafzimmer meiner Eltern ausbreitete. Ekel erfüllte mich und deshalb öffnete ich beide Flügelfenster. Von unten drangen weinende Stimmen nach oben, die Enkelkinder warteten auf die Weihnachtsfeier, vermissten den Opa und auch mich. Dann hörte ich das Öffnen von Türen und aufgeregtes Stimmengewirr.

Meine fünf Geschwister mit ihren Familien und Kindern, sowie meine Mutter warteten auf uns. Es war Heiligabend. Wie es unsere Familientradition war, sollte die Bescherung um 17 Uhr in meinem Elternhaus stattfinden. Ich warf einen Blick auf die Uhr und dann auf meinen Vater, der sich nun umdrehte, die Bettdecke hochzog und mir mit seinem Gesicht zugewandt lag. Er schlief immer noch tief und aus seinem halb geöffneten Mund entwich ein zischendes Säuseln.

Unentschlossen stand ich vor ihm. Meine Mutter hatte mir als ältestem Sohn die Aufgabe übertragen, den Vater zu wecken, so dass er pünktlich zur Bescherung mit dabei war. Schon wieder wurde mir eine heikle Aufgabe übertragen, schon wieder sollte ich Verantwortung übernehmen, diesmal sogar für den Erfolg des Heiligabends. Schon wieder sollte ich alles ins Lot bringen, wie früher, als ich auf meine jüngeren Geschwister aufpassen musste … nur weil ich der Älteste war …

Und nun lag der Vater vor mir, betrunken von einer Weihnachtsvorfeier am Vormittag mit seinen Skatkollegen, tief in Schlaf versunken.

Die Stimmen aus der weihnachtlich geschmückten Stube wurden lauter, meine Mutter stand ungeduldig im Flur und forderte uns erneut auf, zu kommen.

Nein, mir ging es nicht gut. Da lag er, dieser Vater, der mir in meiner Kindheit und Jugendzeit immer barsch Lektionen erteilte. Er war zumeist abwesend und selbst jetzt, mit 30 Jahren, erinnerte ich mich kaum an positive Gefühle, die er mir gegenüber gezeigt hatte. Nachdenklich betrachtete ich ihn … und dann platzte es aus mir heraus: »Alle warten auf dich und du kommst nicht herunter. Wie kann man sich an einem so wichtigen Tag wie Heiligabend so betrinken? Da betrinkt man sich nicht.« Ich ermahnte ihn. »Wo ist heute dein Benehmen, deine Disziplin, die du von uns allen immer und immer wieder gefordert hast?« Ich wiederholte mich, schrie ihn jetzt an, zeigte ihm den hoch erhobenen Zeigefinger, den ich noch von früher kannte. Während meiner Wut merkte ich dennoch, wie sehr meine Gedanken und Gefühle ihm gegenüber abfällig wurden und wie erbost ich war. Ich wollte jetzt austeilen, ihn bestrafen für alle verletzenden ironischen Sprüche und seine ständige Abwehrhaltung mir gegenüber in meiner Jugendzeit.

Atemlos starrte ich ihn an. In seinem tiefen, alkoholgeschwängerten Ein- und Ausatmen war plötzlich Stille. Seine Augen waren geschlossen. Anscheinend hatte ich trotz meiner Lautstärke nichts bei ihm bewirkt. Ich trat zurück von seinem Bett und lehnte mich an den Türrahmen des Schlafzimmers. Meine Hände zitterten. Eine nervöse Erwartung breitete sich in mir aus, danach fühlte ich mich ohnmächtig.

Plötzlich bewegte er sich, richtete sich auf und sagte mit heiserer Stimme: »Du hast mir nichts zu sagen, hörst du? Du nicht! Du bist nicht mein Sohn!« Schnell drehte er sich zur Schlafzimmerwand, zog die Bettdecke über sich.

Seine Worte hallten im Raum nach. Ich hatte ihn deutlich verstanden: DU BIST NICHT MEIN SOHN.

Dennoch blieb ich noch einen Moment stehen und horchte. Dann schloss ich leise die Tür des Schlafzimmers und stand verwirrt und unschlüssig auf der obersten Treppenstufe. Irgendwann spürte ich den Halt des Treppengeländers und befand mich plötzlich inmitten der Vorbereitungen des Weihnachtsessens.

Ein dumpfes Schweregefühl lastete in meinem Körper. Es war sehr warm im Wohnzimmer und ich konnte kaum atmen. Das Weihnachtsessen wurde serviert und mein Vater nahm plötzlich seinen Platz am Weihnachtstisch ein. Er grüßte alle, aber sah mich nicht an.

Ich musste aus dieser angespannten Atmosphäre herauskommen. Meine Familie musste sie ebenfalls gespürt haben und so erklärte ich laut, dass wir nach Hause gehen wollten. Schnell verließen wir das Wohnzimmer. Im Auto konnte ich durchatmen und informierte sie über das Geschehene.

Ich wusste, dass ich noch um Klarheit kämpfen musste. Mir wurde bewusst, dass ich ihn heftig kritisiert und provoziert hatte. War seine Aussage eine Reaktion auf meine provokativen Ermahnungen? Seine Worte klangen allerdings aufrichtig.

Mein Vater ist nicht mein leiblicher Vater…, mein Vater ist nicht mein leiblicher Vater? Das Bild des Schlafzimmers blitzte in meinem Kopf auf, als er sich umdrehte und mir den Rücken zuwandte. Dieses Abwenden war mir vertraut, unsere Beziehung war nie innig gewesen und im Laufe der Zeit hatte ich gelernt, ihn distanziert und unnahbar zu betrachten. Nun, da ich erfuhr, dass ich nicht sein leiblicher Sohn bin, waren meine Verwirrung und Verletzung nicht mehr allein auf ihn gerichtet – was war mit meiner Mutter?

Sie hatte nie mit mir darüber gesprochen. Ich war jetzt 30 Jahre alt und musste von ihm hören, dass ich nicht sein leiblicher Sohn bin. 30 Jahre lang hatte meine Mutter geschwiegen.

2

Erschöpft von dieser schlagartigen Nachricht saß ich zuhause vor unserem geschmückten Tannenbaum und rätselte über die Geschichten nach, die früher in der Familie über meinen Vater erzählt wurden.

Inmitten des Krieges, als das Leben existenziell bedroht war und der Hunger erbärmlich, kehrte mein Vater ins Dorf Wardenburg zurück. Dort stand er vor seiner Frau und seiner damals fünfjährigen Tochter Waltraud, die er lange Zeit nicht gesehen hatte.

Nachdem er als Partisanenbekämpfer in den Balkan geschickt wurde, musste er auf dem Weg nach Hause viele Zwischenstopps einlegen, um sich durch die Weiten der Balkangebiete hindurchzuschlagen. In diesen Pausen arbeitete er in einer Versorgungseinheit und war für die Verpflegung der Soldaten zuständig. Nach Kriegsende schloss er sich einem Schmugglerring in Goslar an, der große Mengen an Lebensmitteln aus den Lagern der amerikanischen Besatzungsmächte in die östlichen Gebiete der russischen Besatzungszone brachte. Die Schmuggler blieben unentdeckt, entkamen knapp dem Tod und waren dank der Lebensmittel, die sie mitbrachten, gut genährt. Deshalb konnte mein Vater bei seiner Rückkehr blühend und wohlgenährt in seinem Zielort ankommen.

Die Dorfbewohner staunten, da sie glaubten, er sei den Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges ausgesetzt gewesen. Es war auch erstaunlich, dass meine Mutter schwanger war, als mein Vater zurückkehrte. Ich war schon unterwegs. Im Dorf erzählte man, dass ich während des Heimaturlaubs meines Vaters in Krumau gezeugt wurde, wo sich meine Mutter damals aufhielt.

Aber erst viel später erfuhr ich, dass diese Geschichte nicht stimmte. Meine Eltern wollten nicht, dass im Dorf über ein »Kuckuckskind« getratscht wurde. Da er ein hervorragender Fußballspieler war und den Fußballverein Viktoria Oldenburg als Spieler unterstützte, sorgte dieser Verein dafür, dass er eine Arbeitsstelle bekam und er arbeitete dann als Schlosser bei der AEG. Meine Mutter arbeitete trotz der insgesamt sechs Kinder als Aushilfe in der Küche der städtischen Kliniken in Oldenburg. Sie musste für das Einkommen sorgen, da der Fußballverein das Hauptaugenmerk meines Vaters bestimmte. Deshalb beanspruchte er den größten Teil des Verdienstes für sich. Kneipenbesuche nach den Heimspielen und Unterkünfte bei Auswärtsspielen mussten finanziert werden, da er ein sehr talentierter Fußballspieler war… und das war alles, was zählte. Gelegentlich konnten meine Brüder und ich je nach Spielort und Dauer mitkommen und bewunderten dann auch seinen Fußballstil. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg baute er alte Männerfreundschaften in Wardenburg wieder auf, trat den Skatvereinen bei, übernahm auch in anderen Vereinen Verantwortung und war ständig als Fußballspieler auf dem Platz. Er intensivierte auch seine politische Arbeit. Später nahm er an Ratssitzungen in der Gemeinde Wardenburg als Mitglied der SPD teil.

Das Familienleben war stark von seinem sportlichen Ehrgeiz geprägt. Er war ständig unterwegs, sodass wir ihn kaum zu Gesicht bekamen. Wenn er jedoch zu Hause war, musste er sich von seinem intensiven Training und seinen Einsätzen auf dem Fußballplatz erholen und war dann wieder für uns abwesend, da er sich oft zurückzog und schlief. Auch seine Erziehungsmethoden uns gegenüber waren stark vom Sport geprägt. Attribute wie Fairness, Gehorsam, Pünktlichkeit, Verantwortung und Anerkennung von Leistungen gehörten zu seinen Erziehungsmethoden… er sprach sie aus, aber nicht selten lebte er sie auch vor. In der Dorfgemeinschaft genoss er aufgrund seiner Tätigkeiten hohes Ansehen. Auf Plattdeutsch hieß es: »He is wäär«, er war jemand… auf den man im Dorf zählen konnte.

3

Mein Vater zeigte sich allerdings zu Hause nicht als »he is wäär«. In seinen Erholungs- und Schlafphasen ereigneten sich verstörende Vorfälle, die im starken Kontrast zu seinem öffentlichen Auftreten im Dorf oder der Umgebung standen.

Seine Kriegserlebnisse drangen in unser Zuhause ein. Selbst wenn wir sechs Geschwister anwesend waren und viel Lärm machten, tauchte er plötzlich im Schlaf auf der Treppe zum Untergeschoss oder vor dem Küchentisch auf. Wir waren erschrocken von seinem angsterfüllten Gesichtsausdruck. Je nachdem, wie laut er schrie, versuchten wir entweder, ihn aufzuwecken oder zu beruhigen. Oftmals versteckten wir uns jedoch sofort oder beobachteten ihn ängstlich hinter halboffenen Türen.

Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, wird mir klar, dass er aufgrund seiner Kriegserlebnisse desorientiert, extrem verwirrt und traumatisiert war.