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Arthur Mandelbaum, erfolgreicher Berliner Zeitungsverleger, stellt fest, dass es immer weniger Orte gibt, an denen Juden gut und sicher leben können. In Israel erreichen die Konflikte mit den arabischen Nachbarn einen neuen Höhepunkt, während die innenpolitische Lage zunehmend ungemütlich wird. In Europa nimmt der Antisemitismus weiter zu, und auch die USA bieten nicht mehr die Sicherheit, auf die man sich jahrzehntelang verlassen konnte. Was tun? Mandelbaum schmiedet mit ein paar Vertrauten einen genialen, zunächst streng geheimen Plan: Er möchte ein zweites Gelobtes Land gründen, und zwar in Australien. Um dieses Vorhaben umzusetzen, setzt er Jan Bernstein ein, einen ehemaligen jüdischen Gemeindepräsidenten, dessen Aufgabe es nun ist, für Mandelbaums Idee zu werben. Doch wie soll das gelingen? Mit Charme und Beharrungsvermögen überzeugt Bernstein seine Amtskollegen in Europa, Nord- und Südamerika und nicht zuletzt auch in Australien – unterstützt wird er dabei von unzähligen Begleitern, vor allem aber Begleiterinnen, die sich seiner unwiderstehlichen Anziehungskraft kaum entziehen können. "Nächstes Jahr in Australien" ist eine Satire, die auf visionäre Weise beschreibt, wie man den unwahrscheinlichsten Plan in die Tat umsetzen kann – wenn man nur fest genug daran glaubt!
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Seitenzahl: 422
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Für meine kürzlich verstorbenen Eltern Amyund Thea Bollag-Schächter, die mich mitihrer weltoffenen und fürsorglichenArt geformt und zum Guten geprägt haben.
ANDRÉ BOLLAG
ROMAN
Alle Rechte vorbehalten
© 2023 JMAG⫶books, Zürich
Projektleitung: Alfred Rüdisühli
Korrektorat: Daniel Lüthi
Gestaltung: Siri Dettwiler
eISBN 978-3-7245-2671-1
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2670-4
www.jmagproductions.com/books
PROLOG
KAPITEL 1
Eduard Silberstein
KAPITEL 2
Jan Bernstein
KAPITEL 3
Arthur Mandelbaum
KAPITEL 4
Arthur Mandelbaum und Anne-Marie in Paris
KAPITEL 5
Darina
KAPITEL 6
Jan Bernstein und Jaara
KAPITEL 7
Rekrutierung Eduard Silberstein
KAPITEL 8
Dr. Silbersteins Karriere beginnt
KAPITEL 9
Arthur Mandelbaum rekrutiert Jan Bernstein
KAPITEL 10
Arthur Mandelbaum trifft Jan Bernstein
KAPITEL 11
Anne-Marie mischt sich ein
KAPITEL 12
Eduard und Anne-Marie, der Beginn einer Beziehung
KAPITEL 13
Jan Bernstein und der Anschlag
KAPITEL 14
Jan, Eduard, Arthur und Natascha
KAPITEL 15
Jan Silberstein. Kontakt mit dem Zentralrat
KAPITEL 16
Arthur Mandelbaum. Es geht langsam los
KAPITEL 17
Judith Halberstamm – Anne-Marie Bauer
KAPITEL 18
Wechsel des Präsidiums im Zentralrat
KAPITEL 19
Natascha und ich in New York
KAPITEL 20
Entlarvung in New York
KAPITEL 21
Der Spion, der aus der Kälte kam
KAPITEL 22
Fast aufs falsche Pferd gesetzt
KAPITEL 23
Auswechslung von Arthurs Chauffeur
KAPITEL 24
Übertritt von Anne-Marie
KAPITEL 25
Lettland
KAPITEL 26
Oleg
KAPITEL 27
Wiederbegegnung mit Rona
KAPITEL 28
Besuch in Israel
KAPITEL 29
Sehnsüchte
KAPITEL 30
Abschied von Arthur Mandelbaum
KAPITEL 31
Benno Lensky
KAPITEL 32
Haferkamp
KAPITEL 33
Leben wie ein Adliger in Frankreich
KAPITEL 34
Konferenz in Paris
KAPITEL 35
Abschied aus Paris
KAPITEL 36
Haferkamps Vergangenheit
KAPITEL 37
Meeting in New York
KAPITEL 38
Abflug nach Sydney
KAPITEL 39
Das Treffen mit dem australischen Premier
KAPITEL 40
Mary und ich
KAPITEL 41
Jonathan Mazati
KAPITEL 42
Die Erpressung
KAPITEL 43
Kompromisse
KAPITEL 44
Dr. Lothan
KAPITEL 45
Psychotherapie
KAPITEL 46
Supervision
KAPITEL 47
Treffen mit dem Innenminister
KAPITEL 48
Es wird konkret
KAPITEL 49
Buenos Aires
KAPITEL 50
Rona und ich
KAPITEL 51
Konferenz mit Brasilien
KAPITEL 52
Jetzt gehts los
GLOSSAR
BIOGRAFIE
Gestern Abend feierte ich, in einem kleinen Kreis, meinen achtzigsten Geburtstag. Seit fünf Jahren lebe ich nun in einem neuen Land, für meine Begriffe sogar am anderen Ende der Welt. Nie hätte ich geglaubt, dass ich, als eingefleischter Europäer, den Mut hätte, mich auf sowas einzulassen. Anfänglich dachte ich einfach, dass ich nur meinem verstorbenen Freund Arthur Mandelbaum helfen werde, seinen Lebenstraum in die Realität umzusetzen. Dass ich dann selber mit auf diesen Zug springen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten.
Jeder Mensch, der irgendwann einmal ein gewisses Alter erreicht, zieht Bilanz. Die einen tun das öfters, die andern seltener. Als mich gestern meine Gäste fragten, was ich mir zu meinem Geburtstag wünsche, fiel mir eigentlich nur ein weiteres gesundes Leben ein. Ferner teilte ich meinen Gästen mit, dass ich am ersten Tag nach meinem achtzigsten Geburtstag anfangen würde, mein aufregendes Leben niederzuschreiben. Ich fühle mich wie Moses, dabei war Arthur Mandelbaum der eigentliche Moses. In der jüdischen Bibel durfte Moses schlussendlich nicht ins Heilige Land eintreten und verstarb kurz vorher. Ich selbst hingegen habe es geschafft. Ich besitze ein kleines Haus und bewohne es mit meiner Rona, die «alle anderen Frauen» überlebt hat. Da das Wetter in Australien sehr milde ist, kann ich mich acht Monate lang im Jahr in meinem geliebten kleinen Garten aufhalten und möchte dort auch mehrheitlich mein Erlebtes aufschreiben. Gesundheitlich bin ich mehr oder weniger fit, wenn auch altersbedingt mein Begehren nach dem weiblichen Geschlecht kleiner geworden ist. Dort und da mache ich kleine Ausnahmen, die mir Rona grosszügigerweise bewilligt. Rona, mittlerweile in ihren Sechzigern, lehrt Kinder in einer Schule Hebräisch und jüdische Kultur. Sie arbeitet unentgeltlich, da wir über ausreichend Einkommen verfügen. Mittlerweile leben drei Millionen Menschen in New Island, so nennen wir unser neues Land bisher. Wir haben eine wunderbare Infrastruktur errichtet, obwohl sich der ganz grosse Erfolg, wie wir ihn uns vorgestellt hatten, bis jetzt noch nicht eingestellt hat.
Mein lieber Freund Eduard Silberstein ist mit seiner Frau Anne-Marie in Berlin hängen geblieben und praktiziert dort immer noch als Chefarzt. Zwei Mal hat Eduard uns besucht und war sehr glücklich über das Erreichte, konnte sich aber nicht dazu entschliessen, auch hierherzuziehen. Wir sind immer noch Teil von Australien, haben aber einen Kolonievertrag abgeschlossen, so dass New Island für Australien so etwas ist, wie das ehemalige Hong Kong für die Chinesen war. Befriedigend ist das Ganze noch nicht, aber immerhin nutzen die Australier auch schon einiges Know-how von uns. Die Beziehungen sind mehr oder weniger herzlich, und auch wenn mir klar ist, dass ich die totale Unabhängigkeit unseres Staates nicht mehr erleben werde, bin ich guten Mutes, dass wir sie eines Tages erreichen werden. Da wir also noch eine Kolonie sind, haben wir keinen eigenen Präsidenten, sondern einen Landesgouverneur. Dov Ölbaum, geboren in Melbourne, beschloss ziemlich am Anfang, sich uns anzuschliessen, und zog von seiner Heimatstadt nach New Island, und weil er sowieso ein Lokalmatador ist, wurde er unser Gouverneur. Ursprünglich war er Kantor in der Hauptsynagoge in Melbourne, nebenbei aber hatte er sich immer politisch engagiert. Ausserdem verfügte er über ausgezeichnete Beziehungen, was die ganze politische Situation vereinfachte.
Erstaunlicherweise besteht die Hälfte unserer Bevölkerung, nämlich eineinhalb Millionen Einwohner, aus Israelis. Dieser Umstand entspricht absolut nicht meinen ursprünglichen Vorstellungen. Wir haben es geschafft, viele interessante Wissenschaftler und sonstige wichtige Fachleute für uns zu gewinnen, es gibt aber auch einige Menschen, die unser Land als Sprungbrett nutzen und sich hier nur für zwei oder drei Jahre aufhalten.
Auch meine ehemalige Geliebte Natascha ist mitgekommen und ist jetzt die Stellvertreterin von Dov Ölbaum. Sie ist verheiratet mit dem aus Paris eingewanderten Robert Dupond, der unserem Land die grössten Dienste als Epidemiologe und Virologe erwies. Natürlich habe ich auch neue Freunde kennengelernt, bedaure aber doch, dass nicht noch mehr Leute aus Europa zu uns gestossen sind. Wenn es weitere Wellen des Antisemitismus in Europa und Amerika geben sollte, dann wird, so denke ich, unsere Einwohnerzahl in die Höhe schnellen, deshalb will ich, trotz meines Alters, die Verhandlungen mit der UNO über unsere Unabhängigkeit vorantreiben. Wenn wir erst ein komplett eigenständiges Land sind, werden wir noch attraktiver sein, denn wir sind genug weit weg vom Festland und haben ausreichend Platz, um auch zehn Millionen Menschen zu beherbergen. Wir haben zwar noch keine eigene Fluggesellschaft und sind auf die Quantas angewiesen, aber auch darum werden wir uns zu gegebener Zeit kümmern und ein paar Flugzeuge kaufen, um eine eigene Airline aufzubauen.
Die Situation in Deutschland ist für die jüdischen Mitbürger nicht katastrophal, aber ein bisschen Vorkriegsweimar ist schon zu spüren. Mein Plan ist es, unbedingt noch einmal in meine zweite Heimat zu fliegen, um gewisse Sehnsüchte zu befriedigen. Auch möchte ich Jaara wieder einmal treffen, die in Berlin glücklich mit einem Schweden verheiratet ist. Unser Kontakt war nie abgebrochen, und wir führen eine sehr niveauvolle, angenehme Mailbeziehung. Der Entschluss, alle meine Erlebnisse aufzuschreiben, gibt meinem Optimismus gehörigen Auftrieb. Seit mir damals Arthur Mandelbaum die jährliche Zahlung von einer Million zusagte, habe ich nie wieder eine Zeile geschrieben. Dieser Fakt betrübte mich sehr, doch ich war einfach zu stark beschäftigt und hatte keine Kraft mehr, um noch irgendetwas auf Papier zu bringen. Jetzt aber bin ich hoch motiviert und nicht mehr so ins tägliche Geschäft eingebunden und möchte einfach anderen vermitteln, was ich in den letzten Jahren erlebt habe.
Tief in meinen Gedanken versunken und über Schreibkonzepte nachdenkend, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Es ist Rona, die gerade von der Schule zurückgekehrt ist. Sie setzt sich auf meinen Schoss, streichelt mein bärtiges Gesicht und fragt mich, was ihr Hemingway sich heute ausgedacht hat. Ich frage sie: «Wieso sagst du jetzt Hemingway, kannst du schon meine Gedanken lesen?»
«Ich wäre eine schlechte Ehefrau, wenn ich dir nicht ansehen würde, dass du heute bereits ein Konzept zu deinem neuen Buch vorbereitet hast.»
Die Art, wie sie das zu mir sagt, macht mich glücklich. Ich wusste immer, dass ich die innere und äussere Schönheit bei Rona liebte. Wenn sie spricht, ist es nicht nur ihr Mund, sondern auch ihre Augen, die das Gesagte ausdrücken. Damit bestätigt sie mir fast täglich, dass ich mit der richtigen Frau zusammen bin. Jetzt kommt der lange Weg des Schreibens, den ich parallel zu meinen Verhandlungen mit der UNO unter einen Hut bringen will.
September 2017, acht Uhr morgens. Eduard Silberstein nahm an der morgendlichen Ärztevisite im Hospital St. Elizabeth und St. Barbara teil. Seine Kollegen klebten am Mund ihres Chefs, Professor Dr. Manuel Bammert. Die jungen Ärzte wirkten, als lauschten sie einer Vorlesung ihres Chefarztes. Bammert war ein sechzigjähriger Mann, der sein ganzes Leben der Medizin in Spitälern widmete. Ein Idealist, dem der Eid des Hippokrates moralischer und rechtlicher Grundcodex ist. Aus Geld machte sich der ehemalige DDR-Bürger nie etwas. Die angehenden Ärzte, die unter ihm in Halle arbeiteten, waren fasziniert von seiner Ethik. Obwohl er von seiner Herkunft her völlig säkular war, hatte er das Wort «Gott» bei seiner Arbeit immer wieder in den Mund genommen. «Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist», zitierte er häufig Israels ersten Ministerpräsidenten David Ben Gurion. Immer wieder betonte er, dass man neben der medizinischen Wissenschaft auch noch andere Hilfe brauchte, um Patienten am Leben zu erhalten.
An diesem Morgen debattierten sie über einen fünfzigjährigen Mann, der einen Herzinfarkt erlitten hatte und trotz seines Bypasses nicht richtig gesund wurde. Als die Visite gegen halb elf beendet war, ging Eduard Silberstein mit seinem Kollegen für einen Kaffee in die Kantine. Der Kollege wollte von Eduard etwas mehr über dessen Religion wissen. Er sei doch Jude und arbeite hier in Ostdeutschland – wie das für ihn sei, fragte er. Eduard erklärte ihm, dass er ein völlig assimilierter Jude war und mit seiner Herkunft, ausser vielleicht mit der Geschichte, nichts am Hut hatte. Seine Eltern seien mehrere Jahre nach Kriegsende zwar in Israel auf die Welt gekommen, aber offensichtlich hätten sie ihn und seine Schwester bewusst säkular erzogen. Vergangenheitsbewältigung scheine eine individuelle Angelegenheit zu sein. Seine Religion sei momentan seine Freundin. Damit war die Religionsunterhaltung beendet. Eduard war bei seinen Kollegen und seinem Chef sehr beliebt, weil er trotz seines stattlichen Aussehens eine sehr bescheidene Erscheinung an den Tag legte. Er war immer pünktlich und hatte zur Freude seines Chefs kreative Ideen und Vorschläge.
Gegen fünf Uhr abends fand ein langer Tag sein Ende und Eduard lief in Richtung Krankenhausausgang. Draussen wartete seine Freundin Hanna, die ihm schon von Weitem zuwinkte, ihn küsste und dann Hand in Hand mit ihm in Richtung eines italienischen Restaurants ging. Es war schon fast Tradition, dass sich die beiden jeden Donnerstag das Essen im «Da Capo» leisteten. Hanna, fünfundzwanzig Jahre alt, arbeitete als Bibliothekarin in der Stadtbibliothek, somit war das Budget des Paares noch begrenzt.
Um halb sechs schlürften beide noch an ihrem Tomatensaft, als auf einmal zwei junge, sichtlich angetrunkene Männer ins Lokal kamen und ein Bier bestellten. Die beiden Herren, deren rasierte Schädel keinen Zweifel an ihrer politischen Überzeugung liessen, warfen einen Blick auf das junge Paar und fingen sofort an, Hanna schwach anzureden. Warum sie denn einen solchen Freund hätte, statt sich mit ihnen einzulassen, fragten sie. Hanna drehte sich von den beiden ab und flüsterte Eduard etwas ins Ohr. Plötzlich schlug einer der beiden mit der Faust auf den Tresen und schrie: «Hier wird nicht geflüstert!» Eigentlich hätte man annehmen können, dass spätestens jetzt der Wirt eingreifen würde, was aber nicht geschah – er hatte sich verdrückt.
Kurz bevor die Stimmung komplett explodierte, griff sich plötzlich einer der beiden Skinheads mit der Hand fest ans Herz und rang schmerzverzerrt nach Luft. Sein Begleiter schrie wild umher: «Ein Arzt, ein Arzt!» Eduard ging sofort auf den zusammenbrechenden Mann zu, woraufhin der Begleiter ihn zurückhalten wollte und brüllte: «Was willst du denn?»
«Ich bin Arzt, du Knallkopf! Willst du, dass ich deinem Freund helfe, oder nicht?», erwiderte Eduard genervt. Mittlerweile kam der Wirt wieder zum Vorschein und beobachtete den Vorfall. Er griff zum Telefon und rief die Polizei. Inzwischen tastete Eduard seinen neuen Patienten ab und stellte fest, dass dieser, eigentlich noch ein junger Mann, einen Herzinfarkt erlitten hatte. Er griff in seine Tasche, holte eine Schachtel heraus und steckte dem Skinhead eine Tablette in den Mund. Zwei Minuten später traf die Polizei ein, die einen Krankenwagen anforderte. Eduard wartete neben seinem Patienten, bis der Notarzt an Ort und Stelle war. Er teilte seinen Berufskollegen mit, was vorgefallen war und wie seine Diagnose lautete.
Am nächsten Morgen versammelten Chefarzt Bammert und seine Mannschaft sich zur Visite am Bett des Skinheads. Als Silberstein seinen Kontrahenten vom letzten Abend wiedererkannte, flüsterte er seinem Chef etwas ins Ohr.
«Na, wie gehts uns denn heute, Herr Rademann?», fragte Dr. Bammert. «Sind Sie sich im Klaren, dass Sie ohne meinen Kollegen hier neben mir wahrscheinlich nicht mehr am Leben wären?» Der sehr verdutzte Patient glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als ihm klar wurde, wer ihm da gegenüberstand. Peinlichkeit war kein Ausdruck für das, was er in diesem Moment fühlte. Rademann, aus bescheidenen Verhältnissen stammend, war nicht gerade ein intelligenter Mensch. Während seiner Schreinerlehre in Chemnitz war er durch die Neo-Nazi-Szene politisiert worden. Die Hitlerphilosophie des reinrassigen Ariers war ihm so lange eingetrichtert worden, bis er daran glaubte. Jetzt lag er also im Bett und sein Retter hätte eigentlich sein Opfer sein sollen.
Silberstein sagte zu seinem Patienten, dass er in den nächsten Tagen absolute Bettruhe einhalten müsse. Das ganze Team marschierte aus dem Krankenzimmer und begab sich in das Chefzimmer von Dr. Bammert. Als alle Ärzte am Tisch sassen, eröffnete der Chefarzt die Sitzung. Die Assistenzärzte und -ärztinnen trauten ihren Ohren kaum, als Silberstein die Geschehnisse des vergangenen Abends schilderte. Marie Lou Fontaine, Assistenzärztin aus Paris, meinte zu Eduard: «Ich finde, du bist bei der Visite total cool geblieben.»
Worauf Silberstein erwiderte: «Das ist doch selbstverständlich. Immerhin habe ich, und auch alle anderen hier, diesen Beruf gewählt, um allen Menschen zu helfen, selbst unseren Feinden.» Anzeige wolle er im Moment noch nicht erstatten, um die Genesung des Patienten nicht zu gefährden. Das könne er schliesslich später immer noch nachholen.
Genau über dieses Thema entbrannte am Abend ein Streit zwischen Eduard und Hanna, die nicht verstehen wollte, warum ihr Freund sich weigerte, zur Polizei zu gehen. Die medizinischen Gründe wischte sie mit einer abfälligen Geste beiseite und kündigte an, dass sie die Anzeige am nächsten Tag selbst in die Hand nehmen würde. Es störte Eduard enorm, dass Hanna nicht auf seine humanen Bedenken einging. Dies war der Anfang vom Ende ihrer Beziehung.
Im Jahr 2014, kurz nach meinem siebenundsechzigsten Geburtstag, tobte der sogenannte Gaza-Krieg auf seinen Höhepunkt zu. Selbst in der ruhigen Schweiz hinterliess er seine Spuren. Eine Gruppe von palästinensischen Exilanten drohte durch die jüdischen Viertel Zürichs zu marschieren und alles zu Kleinholz zu schlagen. Seit Jahren kam ich ohne Bodyguard aus, wurde aber in jenem Sommer von meinen israelischen Sicherheitsleuten angehalten, die Wohnung nicht zu verlassen. Falls ich dies aus irgendeinem Grund nicht einhalten könnte, möge ich Bescheid geben. Ich war in Zürich geboren und lebte schon in dritter Generation dort, daher wollte ich dies nicht so recht einsehen, aber meine zweite Frau Karla bat mich um Vorsicht.
Seit jeher war ich ein Verfechter des Dialoges mit Antisemiten, musste nun aber erkennen, dass der neu importierte muslimische Antisemitismus ein Phänomen war, das ich bisher noch nicht gekannt hatte. Schon in der Schule versuchte ich immer Leute, die sich gegen das Judentum äusserten, vom Gegenteil zu überzeugen. Nicht, dass mir das immer gelungen wäre, aber mit der Zeit bekam ich ein Gefühl dafür, wie mit ihnen umzugehen war. In meiner Jugend war das Land Israel kein Thema im Zusammenhang mit Judenhass. Der Jude wurde nicht automatisch mit Israel identifiziert. Damals ging es einfach darum, dass der Jude der Mörder von Jesus Christus gewesen war, was natürlich nicht den Tatsachen entspricht. Ich war in zweiter Ehe verheiratet und leitete seit sechs Jahren die Jüdische Gemeinde von Zürich. Die Verhältnisse in der Schweiz waren mit denen in Deutschland nicht zu vergleichen. In der Schweiz kann sich ein Bundesrat noch heute ohne persönliche Bewachung frei bewegen. Nicht selten passiert es, dass man in der Bahnhofstrasse in Zürich den einen oder anderen von ihnen auf der Strasse zu sehen bekommt. Eigentlich eine paradiesische Situation, die man in kaum einem anderen Land auf der Welt wiederfindet. Umso mehr empfand ich die Situation im Sommer 2014 als sehr bedrückend. Da ich mich als Autor und Gemeindepräsident immer wieder mit diesen Themen befasste, musste ich feststellen, wie Theorie und Praxis doch weit voneinander entfernt waren. Ein Jahr später hängte ich mein Präsidium an den Nagel und widmete mich nur dem Schreiben. Leider litt meine Ehe stark unter dieser Veränderung, und ich verbrachte immer mehr Zeit getrennt von meiner Ehefrau in Berlin. Dort trieb ich mich vor allem in den Bibliotheken herum und unternahm Recherchen für ein neues Buch. In dieser Zeit wurde bei mir Verdacht auf Prostatakrebs diagnostiziert.
Im Juli 2016 befand ich mich an der Humboldt Universität im Bibliothekssaal. Wie in Bibliotheken üblich, herrschte totale Stille. Auf einmal fiel mir ein grosses Buch aus der Hand und knallte auf den Boden. Sämtliche Bibliotheksbesucher sahen mich verächtlich an, als hätte ich etwas gestohlen, nur eine freundliche Dame um die dreissig half mir das Buch aufzuheben, um es wieder zurück ins Regal zu stellen. Ich sagte ganz leise: «Ich wusste gar nicht, dass die deutschen jungen Frauen so höflich sind und alten Männern helfen.»
Ein breites Lächeln zeichnet sich bei ihr ab, wir setzen uns wieder auf unsere Plätze und studierten weiter in unseren Büchern. Zehn Minuten später verliess ich den Bibliothekssaal, worauf die junge Dame mir folgte. Im Gang trafen wir uns wieder, und ich fragte sie nach ihrem Namen. «Jaara», antwortete sie und erkundigte sich: «Darf ich Sie etwas Indiskretes fragen? Sie entsprechen nicht gerade dem durchschnittlichen Bibliotheksbesucher. Was führt Sie hierher?»
Ich antwortete ihr und erklärte in kurzen Worten, dass ich immer auf Motivsuche für meine Bücher wäre. Schnell stellte Jaara fest, dass wir zum selben «Stamm» gehörten. Wir verliessen die Humboldt-Uni und schlenderten unter den Linden Richtung Brandenburger Tor, bis wir ein Kaffeehaus entdeckten. Die fünfunddreissigjährige Jaara und ich verstanden uns in kurzer Zeit ausgezeichnet. Sie war die Tochter eines bekannten Urologen in privater Praxis und einer Israelin jemenitischer Herkunft, war in Deutschland geboren, studierte Literatur und Theater und promovierte über Arbeiten von Hannah Arendt. Obwohl ihr Vater eigentlich einen jüdischen Namen trug (Breuer, eine bekannte jüdische Rabbinerfamilie), war er kein Jude. Er stammte aus einem atheistischen, sozialdemokratischen Berliner Haus. Gemäss Halacha war Jaara also jüdisch und fühlte sich auch so. Sie sprach perfekt hebräisch, englisch und deutsch, was mir natürlich gefiel, da ich mich in diesen Sprachen am besten ausdrücken konnte. Das Gespräch mit ihr dauerte lange und wurde so vertraulich, dass ich ihr sogar von meinem Prostataproblem erzählte. Jaara bestand darauf, einen Termin für mich bei ihrem Vater zu machen.
Es wurde schon spät, und wir stellten fest, dass wir bereits sechs Stunden ohne Pause miteinander gesprochen hatten. Ich wohnte im Hotel Münster in Charlottenburg und wollte mir ein Taxi suchen. Jaara bot mir an, mich mit ihrem Auto zum Hotel zu bringen, da auch sie in Charlottenburg wohnte. Wir fuhren schweigend durch die dicht befahrenen Strassen von Berlin-Ost nach Berlin-West. Ich war total in Gedanken über unsere Begegnung versunken, als Jaara mich an der Schulter stupste und mir mitteilte, dass wir angekommen waren. Immer noch entrückt und verwirrt sagte ich: «Ja klar, vielen Dank. Wir telefonieren.»
Wir schauten uns an und verabschiedeten uns mit einem Wangenkuss. Jaara versprach, mit ihrem Vater zu reden, damit ein Termin vereinbart werden konnte.
Im Frühling 2019 sass Arthur Mandelbaum, der gerade achtzig geworden war, in Berlin Kreuzberg im vierzehnten Stock seines Verlagshauses. Die Sicht über ganz Berlin ist umwerfend und stadtbekannt. Nicht selten finden dort oben Empfänge statt, zu denen die ganze Berliner Prominenz eingeladen ist. Arthur baute dieses Hochhaus in den Achtzigerjahren, nah an der damaligen Mauer, um die Sicht in den Osten zu haben und um vom Osten aus gesehen zu werden. Er war fünf Mal verheiratet und lebte jetzt in einer Beziehung mit einer Dame, die seine Enkeltochter sein könnte. Arthur, ein Meter zweiundneunzig gross und äusserst charmant, wirkte trotz seines Alters ziemlich jugendlich und war dank seiner Ausstrahlung und seines Geldes sehr beliebt bei den Frauen. Als Realist wusste er immer einzuschätzen, ob seine Ausstrahlung oder doch eher das Geld der Grund für seinen Erfolg war. Er gehörte zu jenen Menschen, die wussten, dass es auf dem Friedhof keine Safes gibt, und wollte, trotz geschäftlicher Zielstrebigkeit, sein Leben geniessen. Seine fünf Scheidungen machten ihm zudem klar, dass nichts im Leben für die Ewigkeit ist. Die Endlichkeit wurde ihm schon als junger Mensch bewusst. Er kam 1939 auf die Welt und gehörte zu den wenigen Juden, die den Krieg innerhalb Deutschlands überlebten. Nach der Deportation seiner Eltern wurde er von den christlichen Nachbarn bis Kriegsende vor den Nazis versteckt. Nach 1945 kam er zu seinem Onkel in Basel, doch mit knapp zwanzig Jahren beschloss er, wieder zurück in das Land der Täter zurückzukehren, um in dem neuen Deutschland eine Rolle zu übernehmen.
Im Frühling 2019 also sass er versunken in seinem Bürostuhl, als es an der Tür klopfte und seine Sekretärin ihm mitteilte, dass er bitte im deutschen Kanzleramt anrufen sollte. Die achtundzwanzigjährige Anne-Marie Bauer aus Potsdam war vor drei Jahren durch reinen Zufall in den Verlag gelangt und war nicht nur seine hübsche Sekretärin, sondern auch seine momentane Freundin. Mandelbaum war vom ersten Moment an von dieser jungen Frau verzückt und fasziniert, ohne aber benennen zu können, weshalb genau. Sie war in einem Waisenhaus aufgewachsen, da ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als sie ein Jahr alt war. Nach einer schwierigen Jugend sehnte sie sich immer nach einem ruhigen Pol und fand in Arthur Mandelbaum den fehlenden Vater, den sie ein Leben lang vergeblich gesucht hatte. Da sie und Arthur nicht verheiratet waren, musste sie sich keine Gedanken darüber machen, mit kaum fünfzig Jahren Witwe zu werden. Die beiden waren ein komisches Paar, das aber auf einem fantastischen Niveau funktionierte. Anne-Marie nutzte ihre Position, die Geliebte des Chefs zu sein, in keiner Weise aus, überzeugte durch ihre präzise Arbeitsweise und wurde von allen Mitarbeitern geschätzt. Selbst die fünf Kinder, die Arthur aus zwei Ehen hatte, waren mit Anne-Marie bestens befreundet und bildeten für sie die Familie, die sie nie hatte.
Gelegentlich ging sie mit einigen jungen Männer in ihrem Alter aus, aber jedes Mal danach musste sie feststellen, dass keiner dieser Männer Arthur auch nur annähernd das Wasser reichen konnten. Es beeindruckte sie vom ersten Moment an, wie er aus eigener Kraft sein Imperium aus dem Nichts aufgebaut hatte, und ausser wenigen leichten Handicaps sah man ihm sein Alter ohnehin kaum an. Jeden Morgen um sieben Uhr kam die Personal-Trainerin ins Haus und trainierte mit ihm vor dem Frühstück. Selbstverständlich hatte Arthurs ältester Sohn George, der auch schon die fünfzig überschritt, seinen Platz im Verlag und wurde behutsam als Nachfolger aufgebaut, aber noch hatte Arthur das alleinige Sagen bei seinen fünf Tageszeitungen.
Auf den Hinweis von Anne-Marie erwiderte Arthur, dass sie Angela Merkel doch bitte mitteilen sollte, er hätte heute leider keine Zeit. Die Kanzlerin suchte immer wieder den Kontakt zu Mandelbaum, da er als die moderate jüdische Stimme galt. Der zunehmende Antisemitismus, vierundsiebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, beängstigte viele jüdische Bürger in Deutschland, die es eigentlich kaum für möglich hielten, dass sie sich wieder wegen ihrer Religion bedroht fühlen müssten. Als vier von Arthurs fünf Kindern von Arthur beschlossen, nach Israel auszuwandern, war dies für ihn einerseits nachvollziehbar, andererseits betrachtete er Deutschland als sein Zuhause und war nicht begeistert von der Entscheidung. Wenn er sich jedoch die Entwicklungen in Europa ansah, stieg sein Verständnis für seine Kinder, obwohl die Verhältnisse im Nahen Osten auch nicht gerade rosig waren.
Das Land, in dem bis heute überdurchschnittlich viele Holocaustüberlebenden leben, ist Australien, und das ist kein Zufall. Als die Juden nach dem Zweiten Weltkrieg Zuflucht in anderen Ländern suchten, gingen sie möglichst weit weg, und das war eben Australien. In Sydney gibt es ein wunderbares Holocaust-Museum, das noch bis vor Kurzem von Überlebenden betreut wurde. Arthur dachte in letzter Zeit immer wieder darüber nach, dass es ausser Israel noch eine andere Zufluchtsstätte für die offensichtlich verhasste, jüdische Bevölkerung geben sollte. Er fragte sich, wann der richtige Zeitpunkt war, um einer solchen Idee genauer nachzugehen, und wer die richtigen Leute waren, die so etwas in die Hand nehmen könnten. Aber war der Leidensduck der europäisch jüdischen Bevölkerung überhaupt schon gross genug, dass sie einmal mehr ans Weiterziehen denken? Wäre dies nicht ein Verrat an seiner deutschen Heimat, die er als jüdischer Deutscher so liebte und in die er als junger Mann aus der Schweiz zurückgekehrt war? Wie auch immer seine Haltung dazu war – er könnte eine solche Idee nicht offiziell anregen, sondern eigentlich nur ihrer Umsetzung folgen. Der aktuelle Zentralratspräsident der Juden in Deutschland wäre sowieso zu schwach, um solch eine Operation in irgendeiner Form zum Starten zu bringen. Arthur hatte nie eine Funktion innerhalb der Jüdischen Gemeinde zu Berlin innegehabt, aber natürlich war er als mehrfacher Milliardär ein wichtiger Sponsor für jüdische und sonstige Angelegenheiten. Die ehemaligen Bürgermeister von Berlin boten ihm mehrfach an, einen Platz nach ihm zu benennen, weil er der Stadt Berlin viel Gutes tat. Er verneinte dies immer wieder und wies darauf hin, dass die Stadt das nach seinem Tode machen könne.
Gegen sechs Uhr abends stand Anne-Marie an der Tür ihres Chefs und Liebhabers und fragte ihn: «Arthur, gehen wir nach Hause oder hast du noch andere Pläne?»
Arthur schaute sie etwas verwirrt an und erwiderte: «Wir gehen, wohin du willst.»
Anne-Marie meinte: «Ich würde gern zu Abend essen in Paris, im Restaurant Tour Eiffel.»
Arthur nahm das Telefon in die Hand und rief im Restaurant an, in dem man normalerweise drei Monate im Voraus einen Tisch reservieren muss. Mit seinem Namen war es kein Problem, für den gleichen Abend noch einen Platz zu bekommen. Dann organisierte er noch mit seinem Sekretär, dass sie in einer Stunde am Flughafen ankämen und nach Paris fliegen wollten. Anne-Marie schaute mit grossen Augen und offenem Mund zu Arthur und war völlig verdutzt. Obwohl sie seine Verhältnisse sehr gut zu kennen glaubte, war ihr so etwas noch nie passiert. Sie wusste, dass Arthur ein Macher war, sie wusste, dass Arthur eine eigene Boeing 737 besass, aber sie hätte nicht geglaubt, dass er, wenn sie in Paris essen gehen wolle, diesen Wunsch sofort wörtlich nehmen würde.
Arthur sagte zu Anne-Marie: «Wir haben zwei Möglichkeiten: Wir fliegen nach dem Essen wieder zurück, oder wir packen ein paar Sachen ein, schlafen dort und gehen nach dem Essen an die Rue du Pigalle.»
«Du bist schon der unglaublichste Typ, den man sich vorstellen kann. Mit achtzig fliegst du spontan mit mir zum Essen nach Paris und willst nachher noch mit mir in einen Swinger Club gehen. Mit deinem Rhythmus komme ich nicht mal als Achtundzwanzigjährige mit.»
«Du hast mir keine Antwort gegeben», hakte er nach.
«Okay, let’s swing», antwortete sie.
Neunzig Minuten später sassen Arthur und Anne-Marie bequem in ihren Sesseln im privaten Jet und hoben über Berlin ab Richtung Paris.
Im Restaurant «Tour Eiffel» in Paris wurde für Arthur Mandelbaum und seine Freundin Anne-Marie das Dessert aufgetischt. Während sie ihre Süssspeise verzehrten, dachte sich Anne-Marie, dass das eigentliche Dessert ihres Geliebten später im Swinger Club serviert wird, aber man kann ja zwei Mal zum Nachtisch greifen. Eine Viertelstunde später machten sich die beiden auf den Weg ins 19. Arrondissement. Dort befand sich nämlich ein Etablissement, das sie schon einige Male besucht hatten. «Le Tripplex» war ein äusserst gepflegter Club mit sehr hohen Eintrittspreisen, der dadurch automatisch die Besucher aussiebte. Nur weil jemand viel Geld hat, heisst das nicht, dass diese Person auch sauber ist, trotzdem fand man dort nur Leute aus der Pariser und auch europäischen High-Society. Fünfhundert Euro für ein Paar wollte einfach nicht jeder hinblättern. Männer, die ohne Frauenbegleitung kamen, mussten sogar siebenhundertfünfzig Euro Eintritt zahlen. Arthur war sicher einer der älteren Teilnehmer und war zeit seines Lebens nie ohne Begleitung in so einen Club gegangen. Er hatte auch kein Interesse, sich dort mit anderen Frauen als seiner eigenen zu beschäftigen. Ihm war es nur wichtig, seiner jungen Partnerin zuzusehen, wie sie sich mit anderen Männern amüsierte. Das war sein grosser Kick. Er versuchte immer wieder herauszufinden, warum ihm das so gefiel, kam aber nie zu einem definitiven Ergebnis. Es war einfach so. Frauen, die, ihm diesen Wunsch nicht erfüllen konnten oder wollten, hatten bei ihm keine Aussichten auf eine längere Beziehung. Er kommunizierte solche Dinge relativ schnell und geradeaus. Weil er es sich aber nicht leisten konnte, in einem solchen Club entdeckt zu werden, ging er dafür immer ins Ausland. Nicht selten kam es dennoch vor, dass er in Paris einigen vertrauten Gesichtern begegnete, die aber in der Regel genau so wenig daran interessiert waren, jemandem davon zu erzählen. Da Arthur eher durch seinen Namen als durch sein Aussehen bekannt war, wussten die Franzosen nicht, dass sich hier ein deutscher Milliardär tummelte.
An diesem Abend jedoch geschah etwas Unerwartetes: Nachdem Anne-Marie sich bereits mit zwei Gefährten vergnügte, kam eine junge Frau auf Arthur zu und legte ihren Arm auf seine Schulter: «Na, mein Lieber, gefällt es dir, wie deine Frau von diesen beiden hübschen Herren verwöhnt wird?» Arthur war etwas erstaunt, dass ihn diese Dame auf Deutsch ansprach. Sie fuhr fort: «Sie kennen mich nicht, Herr Mandelbaum, aber ich kenne Sie. Ich arbeite bei Ihnen in der Versandabteilung und bin zum ersten Mal hier. Mein Pariser Freund hat mich hierhergeholt.» Arthurs Herz blieb in diesem Moment beinahe stehen. Sein Erschrecken blieb der jungen Dame nicht unbemerkt und sie umarmte Mandelbaum und flüsterte ihm ins Ohr: «Machen Sie sich keine Sorgen, von mir wird das niemand erfahren. Aber solange sich Ihre Frau gerade mit diesen beiden Herren vergnügt, zeigen Sie mir, wozu ein Herr wie Sie noch in der Lage ist.»
Als alle Beteiligten zu einem frohen Ende kamen, bat die junge Dame Arthur, seiner Begleitung nichts von ihrer Identität zu erzählen: «Lass es unser Geheimnis bleiben.»
Wir befinden uns in Prag im Jahre 1967. Es ist die Zeit, in der viele Tschechen an eine neue Zukunft glaubten. Die achtzehnjährige Darina Sonnenfeld hatte gerade ihren ersten Semestertag an der Uni Prag hinter sich und traf sich danach mit ihren Freunden. Sie war in der medizinischen Fakultät eingeschrieben, aber nicht, weil sie glaubte, eine begabte Ärztin zu werden, vielmehr entsprach es dem Ehrgeiz ihrer Mutter, die in typisch jüdischer Manier wollte, dass sie eine Medizinerin werde.
Sie marschierten Richtung Wenzelsplatz und sahen grosse Demonstrationen, die für die Freiheit und Unabhängigkeit der Tschechoslowakischen Republik schrien. Darina, die aus einem assimilierten jüdischen Haus stammte, solidarisierte sich sehr stark mit diesen Leuten, war aber selber nicht unbedingt die grosse Kämpfernatur. Auch Darinas Freunde – die meisten von ihnen waren Juden oder Antikommunisten – hielten sich eher zurück. Eigentlich wollten sie ihre Heimat nicht verlassen, waren sich aber im Klaren, dass ein freies Leben, trotz Alexander Dubček, in der Tschechoslowakei nie stattfinden würde. Westeuropa, vor allem die Schweiz, war das grosse Wunschziel dieser jungen Truppe. Da die Schweiz immer eine sehr restriktive Flüchtlingspolitik verfolgte, musste in der Tschechoslowakei schon eine starke Bedrohung herrschen, damit sie aufgenommen würden. Ein knappes Jahr später rollten russische Panzer auf den Strassen Prags, und Teile der Bevölkerung flohen in alle Himmelsrichtungen. Darina und ihr jüngerer, kränkelnder Bruder flohen mit ihren Eltern auf Irrwegen nach Frankreich. Am 5. Dezember 1968 kam die Familie Sonnenfeld mit dem Zug am Pariser Bahnhof Gare de Lyon an. Eine französische Hilfsorganisation erwartete sie dort und führte die ganze Familie in eine kleine Dreizimmerwohnung, die sich im fünften Arrondissement befand. In ihrer Heimat hatte die Familie Sonnenfeld keine finanziellen Sorgen gehabt. Der Vater war Textilvertreter gewesen, mit vielen treuen Kunden, der über ein gutes Einkommen verfügte. Jetzt sassen sie mit leeren Händen in der sogenannten Freiheit und waren von jüdischer und auch nicht-jüdischen Unterstützung abhängig. Darina wusste, dass es völlig unmöglich sein würde, weiter Medizin studieren zu können, was ja ursprünglich der Traum ihrer Mutter war. Sie konnte nur Tschechisch und war ohnehin kein grosses Sprachtalent – selbst fünfzig Jahre später war sie nicht imstande, fehlerlos einen französischen Satz zu sprechen. Darina war immer etwas mollig, hatte aber einen gewissen Charme. Ein paar Monate später, sie war mittlerweile in einer Integrationsschule, die den Flüchtlingen versuchte, das französische Leben und die Sprache beizubringen, lernte sie einen netten Mann kennen. Es handelte sich um Jurek Poznanski, ein aus Polen stammender, dreissigjähriger Exilant, der schon mehrere Jahre in Paris lebte und recht gut Französisch verstand, aber trotzdem eigentlich nur Polnisch sprach. Jurek war Kleiderproduzent, der die diversen Designer in Paris belieferte. Er war etwas untersetzt und hatte bis dahin keinen grossen Erfolg bei Frauen. Mit Darina verstand er sich auf Anhieb und wusste sofort, dass er bei dieser Frau zugreifen musste. Es dauerte nicht lange, bis er seiner neuen Freundin anbot, in seine Firma einzutreten. Jurek hatte mittlerweile dreissig Leute in seinem Textilbetrieb und brauchte eine Person, die das Personal managte. Ein knappes Jahr später heirateten die beiden und waren nach kurzer Zeit Eltern von zwei Söhnen. Mittlerweile hatte Darina die französische Sprache mehr oder weniger erlernt (es war ja die einzige Kommunikationsmöglichkeit mit ihrem Ehemann), jedoch mit einem starken, tschechischen Akzent, den sie nie loswurde. Auch mit der Grammatik stand sie ein Leben lang auf Kriegsfuss.
Zehn Jahre später wurde ihr das Präsidium eines grossen, jüdischen Wohltätigkeitsvereins angetragen, und noch einmal ein paar Jahre später, im Jahre 2010, wurde sie für das Präsidium der grossen jüdischen Gemeinde in Paris angefragt. Alleine traute sich diesen Job nicht ganz zu und schlug vor, auch noch einen Vizepräsidenten dazuzunehmen. Also suchte die französische Gemeinde den geeigneten Partner für die doch etwas unsicher scheinende Darina. Fündig wurde man beim französischen Immobilienhändler Rubert Brandeis. Rubert, dessen Familie seit einigen Generationen in Paris lebte, war schon in mehreren jüdischen Organisationen tätig und hatte somit viel Erfahrung in seinem Rucksack. Er war mehrsprachig und, da er aus orthodoxem Hause stammte, in jüdischen Belangen sehr erfahren. Sein Ziel war es eigentlich, einmal Rabbiner zu werden, doch seine Mutter fand, dass man mit Immobilien mehr Geld verdienen könnte.
Rubert suchte den Kontakt zu Darina und traf sich mit ihr. Obwohl er eigentlich der Meinung war, dass er selbst viel besser geeignet gewesen wäre für den Job des Präsidenten, fand er schnell einen guten Draht zu ihr und stellte bald fest, dass er ihr total überlegen war, aber wenn sie am gleichen Strick ziehen würden, so sein Eindruck, dann könnten sie ihre gegenseitigen Schwächen ausgleichen.
Ein paar Tage danach beschloss das sehr ungleiche Paar, sich gemeinsam der Wahl zu stellen, und wenige Wochen später waren beide im Amt. Der sehr redegewandte Rubert kümmerte sich um das Gemeindegeschäft nach aussen, während Darina mit ihrer Personalerfahrung für die inneren Belange zuständig war. Eine Zeit lang funktionierte die Zusammenarbeit, aber schon bald tauchten die ersten Probleme auf. Rubert wurde von seiner Präsidentin immer wieder zurückgepfiffen und ermahnt, dass sie die Chefin war. Es ging so weit, dass Rubert ihr am Morgen eine Problematik erklärte und sie ihm Stunden später das gleiche Geschäft zurückerklärte und nicht mehr merkte, dass sie die Information von ihm hatte. Nach vier Jahren wollte Rubert sich diesem psychologischen Stress nicht mehr aussetzen und zog sich aus dem Amt zurück. Darina verstand es zwar weiterhin, ihre Defizite zu verstecken, indem sie die richtigen Berater um sich scharte. Doch die Erfahrung, dass es nicht immer klappte, aus dem Schlamassel rauszukommen, stand ihr noch bevor.
Ich sass an der Bar im Hotel Münster und arbeitete an meinem Laptop. Seit meiner eindrücklichen Begegnung mit Jaara war schon eine Woche vergangen. Der Ball lag bei ihr, da sie mir versprochen hatte, einen Termin mit ihrem Vater zu arrangieren. Es herrschte kein grosser Druck bei mir, da der zeitliche Faktor in meinem medizinischen Befund keine übergeordnete Rolle spielte. Jaara ging mir aber nicht aus dem Kopf und ich fing an, Fantasieschlösser aufzubauen. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich in eine viel jüngere Frau verliebte. Ich verstand nicht, wieso diese Dame sich nicht bei mir meldete. Ich achtete jedoch stets auf die Regeln, also kam ich nicht einmal in Versuchung, mich bei ihr zu melden. Stattdessen fing ich an, sie in den Sozialen Medien zu stalken. Da weder ich noch sie die privaten Einstellungen im WhatsApp eingeschränkt hatten, sah ich immer die letzte Zeit, zu der sie online war. Ich kam mir wie ein Teenager vor. Plötzlich erreichte mich die ersehnte Nachricht, mit der ich fast nicht mehr gerechnet hatte: «Hallo Jan, es tut mir furchtbar leid, dass ich mich eine Woche nicht gemeldet habe. Ich hatte Stress mit meinen Eltern, die miteinander einen Streit hatten, den ich so noch nie erlebt habe. Meine wirklich toleranten Eltern stritten sich um etwas, von dem ich nie geglaubt hätte, dass es jemals auftauchen würde. Ich möchte dich nicht mit allzu vielen Details langweilen, aber um dir wenigstens ein paar Stichworte zu nennen: Es ging um ihre unterschiedliche Herkunft. Meine Mutter, die Jüdin, und mein Vater, der atheistische Christ, kamen in einen Religionsstreit, den ich den beiden nie zugetraut hätte. Ich werde dir bei Gelegenheit alles erzählen. Ohne dich gut zu kennen, bin ich überzeugt, dass du dich sehr über meine Funkstille gewundert hast. Ich war bis vor Kurzem in einer schrecklichen Verfassung und wollte auf keinen Fall, dass du mich so siehst. Wir haben erst ein paar Stunden miteinander verbracht, und die grosse Pause war um einiges länger als das Kennenlernen. Wir haben einen riesigen Altersunterschied und trotzdem weiss ich, dass ich mit dir zusammen sein will. Darf ich in den nächsten Stunden kurz bei dir vorbeikommen? Ich möchte unbedingt kurz mit dir sprechen. Gib mir Bescheid. Liebe Küsse.»
Mein Herz pochte. Ich antwortete Jaara: «Wann kommst du?»
Eine halbe Stunde später war Jaara an der Rezeption des Hotels und meldete sich an. Ich bat die Rezeptionistin, sie hochzulassen. Nachdem sie mit dem Lift in die fünfte Etage gefahren war, klopfte sie an meine Tür, ich öffnete ihr und wir umarmten uns, als ob wir uns schon immer gekannt hatten. Wir wurden bei der innigen Umarmung fast kurzatmig und mussten uns nach ein paar Sekunden davon erholen. Jaara begutachtete die Suite. Sie stand in einem schönen, grossen Wohnzimmer und sah den Durchgang zum Schlafzimmer.
«Dieses Zimmer dürfte nicht ganz billig sein, lieber Jan», sagte sie.
«Es gibt das englische Sprichwort ‹My home is my castle›. Ich wohne so oft in Hotels, dass sie dann mein Zuhause werden. Dies ist eine konstante Ausgabe in meinem Leben, bei der ich nichts ändern werde. Ich bin nicht superreich, aber ausreichend vermögend, um mir so etwas leisten zu können.»
Wir setzten uns im Wohnzimmer auf die Sessel und sahen uns an. Nach einer Schweigeminute brach ich das Eis und meinte zu Jaara: «Weisst du, dass ich jetzt eine Woche lang gelitten habe, weil du dich nicht gemeldet hast? Ich war überzeugt, dass wir beide dasselbe empfinden, was unsere Gefühle füreinander angeht. Nur ein Satz von dir hätte mein Leben erleichtert.»
Jaara antwortete: «Jeder Mensch hat seine Stärken und Schwächen. Meine Schwäche ist, dass ich nicht fähig bin, einem Mann gegenüber meine Schwächen zu zeigen, vor allem dann, wenn ich ihn kaum kenne.»
Ich musterte sie. Zum ersten Mal schaute ich nur die Frau in ihr an. Ich hatte mich in Jaara eigentlich nur platonisch verliebt, und jetzt, als ich sie so beobachtete, sah ich auf einmal ihre äusserliche Attraktivität. Jaara trug eine schöne Bluse, enge Jeans, einen Designergürtel und Sandalen, alle Kleidungsstücke waren edel. Sie hatte die Grösse, aber nicht die Schlankheit eines Topmodels, was mir persönlich sehr behagte. Was gibt es Besseres als eine intelligente Frau mit viel Charme und Schönheit.
«Willst du mich nur anschauen, oder willst du auch mit mir sprechen?»
Die intuitive Jaara merkte natürlich, was sich da in meinem Kopf zusammenbraute und fuhr fort: «Jan, ich bin hierhergekommen, weil ich mich persönlich bei dir entschuldigen wollte. Es tut mir wirklich leid, dass ich mich eine Woche lang nicht bei dir gemeldet habe. Ich möchte dir auch den Konflikt meiner Eltern beschreiben. Neben dem Fakt, dass du fast ein Experte auf diesem Gebiet bist, brauche ich auch deinen Rat. Nach diesem Konflikt benötigte ich Distanz, um überhaupt über dieses Problem mit jemandem zu sprechen. Ich habe meinem Vater wegen der Situation geraten, für eine Weile auszuziehen. Momentan wohnt er bei einem Freund von ihm.»
Ich sagte ihr, dass ich ihr alle Zeit der Welt gäbe, die sie bräuchte, und fragte, warum sie denn jetzt schon wieder gehen müsste?
«Meine Mutter ist in einem katastrophalen Zustand. Meiner Ansicht nach ist sie suizidgefährdet. Das Leben meiner Mutter ist völlig auf meinen Vater ausgerichtet und sie hat ausser mir nichts, was sie hält. Ich wollte dich darum bitten, ob du zu meinem Vater in die Praxis gehen und versuchen kannst, mit ihm auf eine persönliche Ebene zu gelangen, wenn du dich als interreligiöser Experte zu erkennen gibst.»
Ich erwiderte ihr: «Einerseits bin ich schon in einer Verfassung, in der ich fast alles für dich machen würde, andererseits bin ich ein Realist. Ohne genau zu wissen, um was es in dieser Geschichte geht, nehme ich an, dass bei deinem Vater sich über die Jahre diverse antisemitische Stigmen, wenn auch unbewusst, aufgebaut haben. Ich kenne dieses Phänomen aus frühster Jugend. Mein Vater, der ein sehr offener, modern-religiöser Mensch war, hatte mich vor einer Sache immer gewarnt: Wenn du mit einer Nichtjüdin zusammen bist, kann es passieren, dass sie dich bei einem fundamentalen Streit ‹Saujude› nennt. Ich will dir damit sagen, dass das psychologisch ein kompliziertes Gebilde ist. Ich verspreche dir, ich vereinbare einen Termin bei deinem Vater und werde mich als guter Bekannter von dir ausgeben. Ich werde auch versuchen, dem Problem auf den Grund zu gehen. Dein Vater ist mit einem typisch jüdischen Namen aufgewachsen, ohne einer zu sein. Dann hat er zur Krönung eine jüdische Frau geheiratet. Für einen Juden gehalten zu werden und keiner zu sein, ist ein beliebtes Motiv in der Literatur.»
Jaara war von meiner Ausführung sehr angetan und bemerkte einmal mehr diese grosse Feinfühligkeit, die ihr an mir so sehr gefiel. Sie erhob sich vom Sessel und kam auf mich zu. Dann reichte sie mir ihre Hand und zog mich zu sich. Sie fing an, mich aggressiv zu küssen, indem sie ihre Zunge in meinen Mund stiess. Unweigerlich bemerkte Jaara, wie sich bei mir in der Hose was regte. Selbst einem routinierten Mann wie mir war diese unerwartete Erektion peinlich.
«Das ist das Faszinierende an dir. Du bist ein erwachsener gestandener Mann und funktionierst aber in gewissen Situationen wie ein Teenager. Solch einen Partner habe ich mein Leben lang gesucht», sagte Jaara. Dann entschuldigte sie sich, dass sie schon wieder gehen musste. Ich versprach, ihren Vater am nächsten Morgen anzurufen, begleitete sie nach unten, und wir verabschiedeten uns mit einem langen Kuss.
Eduard Silberstein befand sich in einer Situation, die er bis dahin nicht kannte. Er führte seit einem Monat ein Leben, ohne in einer Beziehung zu sein. Von Hanna hatte er sich getrennt, weil er zur Einsicht gekommen war, dass seine Partnerin ethisch auf der gleichen Stufe sein sollte wie er. Er merkte überdies, dass er aus Ostdeutschland wegwollte, da ihm die Szene im Restaurant immer noch in den Knochen steckte. Eigentlich wollte er am liebsten nach Berlin ziehen. Für ihn war das die Hauptstadt Europas, deren liberale, multi-kulturelle Atmosphäre ihn anzog. In Halle, wo er sich jetzt befand, war ihm alles zu eng, und er hatte auch keine Lust, sich irgendeine der Krankenschwestern zu angeln, die ihn zu Dutzenden anhimmelten.
Also bat Eduard die Sekretärin seines Chefs um einen Gesprächstermin. Es dauerte kaum eine Stunde, bis das Telefon bei ihm klingelte. Eduard hob ab: «Bammert hier, Sie wollten mich sprechen.» Eduard sagte, dass er ihn gerne sehen würde. Sieverabredeten sich noch am selben Abend um achtzehn Uhr. Als Eduard in das Büro seines Professors eintrat, bat ihn Bammert, Platz zu nehmen. «Mein lieber Eduard. Ich darf Sie doch so nennen?» Eduard nickte.
Bammert fuhr fort: «Ich bin zwar Professor der Medizin und kein Wahrsager, aber ich gehe davon aus, dass Sie mir Ihren Austritt mitteilen wollten.»
Eduard war völlig verdutzt. «Wissen Sie, Herr Professor, das Einzige, dass mich hier noch hält, sind Sie. Ich habe selten einen Menschen gesehen, bei dem der emotionale Quotient genauso hoch ist wie der Intelligenzquotient. Dass Sie genau wissen, was die Absicht meines Besuches hier war, bestätigt dies.»
«Na, mein lieber Freund, das war nicht weiter schwer. Sie haben gerade zum ersten Mal um Audienz gebeten. Sie wissen, dass ich Sie äusserst schätze und für einen ausgezeichneten Mediziner halte. Sie wären auch absolut mein Wunschkandidat, um meine Nachfolge anzutreten. Ich habe Sie aber nie darauf angesprochen, weil es mir klar war, dass ein Mann mit Ihren Fähigkeiten und Ihrer Herkunft auf lange Sicht in Halle nicht glücklich werden würde.»
«Was meinen Sie mit Herkunft?»
«Ich weiss, dass Sie zwar ein säkularer Jude sind und mit Ihrer Religion nicht allzu viel am Hut haben. Ich sage Ihnen aber als gläubiger Christ, der in der DDR geboren ist und seine Religion nie richtig ausüben konnte, dass Ihre Glaubensbrüder einen Mann wie Sie eines Tages brauchen werden. Und da sind Sie in Berlin am richtigen Ort.»
«Ich verstehe Sie nicht ganz, wieso kommen Sie auf Berlin?»
«Na, wohin wollen Sie denn sonst hin, nach Rostock?», fragte Bammer. Beide lachten.
Bammert fuhr fort: «Nachdem Sie mich heute Mittag um dieses Gespräch gebeten haben, war ich bereits aktiv. Ich habe mit Professor Schuhmann, Leiter der Inneren Medizin in der Charité, gesprochen und ihm von Ihnen erzählt. Wir haben jetzt April, und wenn Sie wollen, können Sie dort am 1. Juni als Arzt anfangen.»
Bammert erhob sich, und auch Eduard stand auf. Er konnte seine Rührung kaum verbergen, ging auf den Professor zu und wollte ihm die Hand drücken. Bammert jedoch umarmte ihn und sagte: «Ich verliere Sie wirklich ungern, aber Sie sind ein so fantastischer Diagnostiker und werden es, wenn Sie Ihre Frauengeschichten im Zaum halten, noch weit bringen. Sie gehören in die Stadt. Mein Freund Schuhmann wird in eineinhalb Jahren pensioniert, und ich bin guter Dinge, dass Sie seine Nachfolge antreten können. Aber Silberstein», sagte er mit scharfem Unterton, «vergessen Sie Ihre jüdischen Glaubensbrüder nicht. Ich verfolge, was im politischen Leben momentan im Gange ist, und in der jüdischen Führung sind schwache Leute am Ruder. Da braucht es so einen Typen wie Sie. Ich hatte letztens ein Telefongespräch mit einem alten Patienten von mir. Sein Name ist Arthur Mandelbaum.»
Eduard fragte erstaunt: «Sie meinen Mandelbaum, den Zeitungsverleger? Der hat doch überhaupt keine Funktion in der jüdischen Welt.»
Bammert antwortete: «Das stimmt. Trotzdem hat er einen grossen Einfluss und hat grosse Ideen. Auch er sieht das schwache Leadership beim Zentralrat der Juden und möchte etwas ändern. Er ist in einem Alter, in dem er nicht mehr an die Front gehen wird, aber er hat genug Einfluss und Geld, um die Strippen von hinten zu ziehen. Also seien Sie nicht überrascht, wenn Sie nach ein paar Wochen in Berlin von jemandem unerwartet kontaktiert werden.»
Eduard sagte: «Ich schätze es wirklich sehr, dass Sie mich nicht nur gehen lassen, sondern mir sogar noch die Stellensuche ersparen. Ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nicht enttäuschen.»
Die beiden verabschiedeten sich, und Eduard ging sehr nachdenklich nach Hause.
Dort angekommen, rief er seine Eltern an und teilte ihnen mit, dass er in zwei Monaten wieder nach Berlin zurückkäme. Die Eltern waren hoch erfreut und wollten ihm sofort ein Zimmer bei ihnen anbieten, was Eduard dankend ablehnte. Keine Stunde später, es ging auf einundzwanzig Uhr zu, klingelte das Telefon. Eine sonore Stimme war zu hören und begrüsste Eduard: «Schuhmann hier, guten Abend, Herr Dr. Silberstein. Ich freue mich, Sie bald bei uns begrüssen zu dürfen. Ich habe Manuel versprochen, dass ich mich persönlich um Sie kümmern werde, und wollte Ihnen mitteilen, dass eine Wohnungssuche in Berlin nicht nötig ist. Wir haben bei uns, neben dem Krankenhaus, einige Wohnungen für unsere Ärzte, die von auswärts kommen, reserviert. Natürlich ist diese Aktion nicht ganz uneigennützig, da Sie somit auch keinen langen Arbeitsweg haben werden und wir Sie auch dann im Notfall einsetzen können, wenn Sie keinen Dienst haben.»
Eduard bedankte sich und versprach, am 1. Juni in Professor Schuhmanns Büro zu kommen. Mit einem etwas mulmigen Gefühl, aber trotzdem optimistisch, ging Eduard zu Bett.
Am darauffolgenden Montag sass Arthur bereits am Morgen in seinem Büro und las in seiner eigenen Zeitung mal wieder von einem antisemitischen Vorfall in Berlin-Kreuzberg. Wie man endlich reagieren könnte, fragte er sich und rief seinem guten Freund Bammert aus Halle an, um ihm freundschaftlich seine Sorgen mitzuteilen.
Bammert sagte: «Hör zu, Arthur. Ich habe hier einen Arzt, der am 1. Juni in der Charité bei der Inneren Medizin anfängt. Er ist ein Glaubensbruder von dir, ist aber nicht in der jüdischen Gesellschaft integriert. Ein äusserst fähiger Mann, den ich zu motivieren versuche, damit er sich in der Gemeinde engagiert und Verantwortung übernimmt. Gib ihm einen Monat zum Einleben und melde dich dann bei ihm. Ich bin überzeugt, dass dieser junge Mann, obwohl er überhaupt keine Erfahrungen in den jüdischen Gremien hat, perfekt geeignet wäre, den Zentralrat der Juden in Deutschland zu führen. Mach dir ein Bild von ihm und teile mir dann mit, ob du das auch so siehst. Warte aber noch ein wenig. Sein zukünftiger Chef, mein Freund Schuhmann von der Charité, wird dir jegliche Unterstützung geben. Ich glaube, Schuhmann hat selbst irgendwie jüdisches Blut.»