Nachtgedanken - Wallace Shawn - E-Book

Nachtgedanken E-Book

Wallace Shawn

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Beschreibung

"Aufhören, nachdenken. Und noch einmal anfangen. Anders." Wallace Shawn Männlich, weiß, ein wohlhabendes und gebildetes Elternhaus: Dem US-Amerikaner Wallace Shawn wurden die Privilegien in die Wiege gelegt. Doch was passiert, wenn man anfängt, das, was selbstverständlich erscheint, zu hinterfragen und feststellt: Ich bin auf der Seite, die Gewalt ausübt? In seinen Nachtgedanken spricht Shawn leise, einfach, aber umso eindringlicher über Herrschaftsverhältnisse und soziale Ungleichheit, Globalisierung und Teilhabe an Ressourcen, über die politische Praxis der westlichen Mächte und über den militanten Islamismus; er denkt über die Verantwortung der wenigen "Glücklichen" gegenüber den vielen "Glücklosen" nach und hält unserer Zivilisation einen Spiegel vor.

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Seitenzahl: 65

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Wallace Shawn, geboren 1943 in New York City, studierte in Havard und Oxford Philosophie, Geschichte und Politik. Bekannt wurde er als Drehbuchautor für Louis Malle und als Verfasser zahlreicher Theaterstücke, u. a. Das Fieber (1990). »Shawn ist einer der wichtigsten Autoren dieser Tage, weil er die Ruhe stört. Eine Ruhe, an der das System krepieren wird, wenn es sich nicht selbst als Feind erkennt.« (Der Spiegel)

Als Schauspieler debütierte er 1979 in Manhattan unter der Regie von Woody Allen. 2001 wurde Shawn in die American Academy of Arts and Sciences und 2006 in die American Academy of Arts and Letters gewählt.

WALLACE SHAWN

NACHTGEDANKEN

Aus dem Amerikanischen vonJoachim Kalka

Erste Auflage

© by Alexander Verlag Berlin 2020

Alexander Wewerka, Postfach 19 18 24, D-14008 Berlin

[email protected] · www.alexander-verlag.com

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Night Thoughts bei Haymarket Books, Chicago

© 2017 by Wallace Shawn

Layout, Satz und Umschlaggestaltung: Antje Wewerka

Redaktion: Marilena Savino

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-89581-532-4 (eBook)

INHALT

MORD

NACHT

ÄNGSTE

ZIVILISATION

LEHRER

ZIVILISATION

MORAL

EIN AUFSCHREI

EIN UNWETTER

ANHÄNGER BIN LADENS

UMWÄLZUNG

LEHRER

ZIVILISATION

DIE GLÜCKLICHEN

NACHT

LITERATUR

MORD

Nachts. Ein Hotel. Ein dunkles Zimmer in einem oberen Stockwerk. Draußen meilenweit leere Straßen, stumm, grau, wie graue Felder im Winter. Drinnen bin ich allein in einem sehr kalten Raum mit einer summenden Minibar. Durchs Fenster kann ich tief unten auf der Straße zwei dünne, einsam dahinwandernde Männer sehen, der eine hat den Hut in flottem Winkel auf den Kopf gedrückt. Dann mache ich eine schwache Lampe an und starre auf die Zeitung, und mein Blick geht wie immer zu den Geschichten über Verbrechen, zu den Morden. Ein Verbrechen aus Leidenschaft – Eifersucht, Furor –, ein Körper stürzt in der Dusche hin. Merkwürdige Todesfälle in einer ruhigen Vorstadt – eine seltsame Waffe – ein Serienmörder? Meine Sinne erwachen, meine Lethargie verschwindet. Man schreibt über mich. Nun ja, nein, nicht über mich, nicht ganz, noch nicht. Aber ich weiß, während ich lese, dass ich nicht als Opfer lese, ich lese als Mörder.

In einem Gerichtssaal; es wird ein Einbruch mit ungewollter Wendung verhandelt. Der Dieb war im Haus, als der Besitzer überraschend heimkam. Der Dieb war mit einem Messer auf den Mann losgegangen, und als man ihn fragte: »Warum haben Sie 38 Mal auf ihn eingestochen, wo Sie doch wussten, dass er nach dem ersten Mal schon tot war?«, antwortete er darauf: »Ich weiß nicht.« Es scheint, als sagten Mörder immer »Ich weiß nicht«, sofern sie nicht sagen: »Ich kann mich nicht mehr erinnern, was da geschehen ist.«

Dann im Fernsehen eine andere Art von Mord. Hellgekleidete Studenten in Blutlachen, ihre Bücher liegen auf der Straße verstreut. Der Islamische Staat. Eine Maschinenpistole. Schreie. Schluchzen. Ein arabisches Imperium im 14. Jahrhundert?

Das Hotel selbst ist trotz des toten, ruinierten Viertels – nichts als Glasscherben und im Wind treibende Fetzen – recht prächtig, mit imposanten Ballsälen, als lebten wir im 19. Jahrhundert. Vor nicht langer Zeit hatten junge Leute aus einer Hochhaussiedlung in der Nachbarschaft eine ziemlich große Summe aufgebracht, um in Smokings und Abendkleidern in einem solchen Ballsaal ein Fest zu feiern. Im Verlauf der Party dachte einer der Jungs, ein anderer habe mit seiner Freundin geflirtet. Es kam zu einem Kampf und die Party endete in Tod und Gefangenschaft – ein Junge für immer dahin, ein anderer in Handschellen weggeschafft.

NACHT

Der Fernsehschirm kehrt immer wieder mit verrückter Obsessivität zum Gesicht Trumps zurück. Mein Gott – hört das denn nie auf? Ich schalte den Fernseher ab, mache das Licht aus. Als ich einzuschlafen versuche, springt mich immer wieder das Gesicht von Trump an, dann verblasst es langsam, und ich denke über mich selbst nach, den Lauf meines Lebens. Worte und Gedanken der Vorfahren – meiner Eltern, ihrer Freunde, der Autoren von Büchern, die vor langer Zeit geschrieben worden sind – dringen zu mir.

Sie wiederholen und wiederholen wie aus eigenem Antrieb Wörter, Gedanken, Namen, bestimmte Formulierungen – manchmal auch Bilder. Meine Kindheit liegt sehr, sehr nahe. Ein erschreckend magerer Mann mit dünnem Haar, der in einem grauen Anzug mit einer langen Zigarette in der Hand an einem Fenster steht, das vor Spiegelungen flirrt – er redet mit großem Nachdruck – es geht um Beethoven …

Von Anbeginn Glück gehabt. Leute wurden bezahlt, damit sie sich um mich kümmerten. Wir wohnten in einem großen Apartmenthaus in einer sehr großen Stadt, und wenn meine Mutter wollte, dass etwas Schweres aus einem Zimmer in ein anderes geschafft wurde, oder wenn sie glaubte, die Geschirrspülmaschine mache ein merkwürdiges Geräusch, dann rief sie den Hausmeister an, und jemand erschien und regelte die Sache. Bücher und Musik ganz von Anfang an.

Bücher und Musik. Niemand sagte das jemals ausdrücklich zu mir, aber ich setzte es voraus: Mein Vorhaben in dem Leben, das sich vor mir auftat, war, dass ich versuchen würde, glücklich zu sein. Das wäre meine wichtigste berufliche Verantwortung. Ich würde jeden Tag aufwachen und versuchen, glücklicher zu werden.

Aus verschiedenen Gründen sollte sich herausstellen, dass meine Freunde und ich allesamt das wurden, was man vor einigen Jahrzehnten »soziale Absteiger« nannte. Unsere Stellung in der Gesellschaft ist ein wenig niedriger als die unserer Eltern. Als ich heranwuchs, ging mein Vater niemals in Lebensmittelläden, um einzukaufen. Das taten andere für ihn. Er ging niemals mit einer großen Tüte Einkäufe vom Lebensmittelgeschäft nach Hause. Nie ging er die Treppe zu seinem Apartment hoch und trug dabei eine Einkaufstüte. Ich wohne in einem kleinen Gebäude, wenn etwas mit der Elektrizität oder der Wasserleitung nicht stimmt, kann ich keinen Hausmeister anrufen, damit er jemanden vorbeischickt. Trotzdem hat mein Glück angehalten. Ich wohne in einem ruhigen, stillen Stadtteil. Ich schreibe. Ich lese. Ich besuche Freunde. Ich gehe in Konzerte. Ich gehe in Restaurants.

Als ich zwanzig war, erfuhr ich von dem Leben, das Menschen am japanischen Kaiserhof im 11. Jahrhundert führten. Dies wurde ausführlich in der Geschichte vom Prinzen Genji von Murasaki Shikibu und dem Kopfkissenbuch einer Hofdame (einer Art Tagebuch) der Sei Shōnagon beschrieben. Ich spürte gleich, dass das etwas für mich war – Frauen und Männer, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatten als nachzudenken und über Liebe und Schönheit zu reden. So schien es wenigstens. Sie ruhten nebeneinander auf Kissen und schrieben Briefe und Gedichte vom frühen Morgen bis tief in die Nacht, auf parfümiertem Papier in vielen Farben. Jedenfalls schien das ein erstrebenswertes Leben.

ÄNGSTE