Nachthall - Udo Wieczorek - E-Book

Nachthall E-Book

Udo Wieczorek

4,9

Beschreibung

Kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner 1945 in Ulm entsorgt eine Seilschaft um Maximilian Ströttner verräterische Altlasten in einem Steinbruch bei Blaubeuren. 35 Jahre später strengt ein Höhlenverein in unmittelbarer Nähe eine Grabung an. Die junge Höhlenforscherin und Geologin Doris Ehrnsteiner ist Ströttner schnell auf der Spur und fördert weitere Ungereimtheiten zutage. Gemeinsam mit Oberkommissar Ruckgaber, versucht sie, die Rätsel um Ströttner zu lösen. Dabei macht sie eine entsetzliche Entdeckung ...

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Udo Wieczorek

Nachthall

Kriminalroman

Impressum

Handlung sowie alle einzelnen Geschehnisse sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die geologischen und orografischen Schilderungen entsprechen teilweise nicht den tatsächlichen Gegebenheiten.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Autor Udo Wieczorek

ISBN 978-3-8392-4680-1

Widmung

Für Hans

1. Kapitel

Der Nebel liegt wie ein Leichentuch in den Straßen der verdunkelten Stadt. In den Kellern der geschundenen Häuser ist es still nach der ersten Angriffswelle. Totenstill. Die Bewohner der Ruinen sitzen dicht aneinandergedrängt. Stumm teilen sie ihre Angst, spenden sich Schulter an Schulter Hoffnung. Mit jedem Staubkorn, das von den maroden Ziegelgewölben rieselt, wächst der Hass in ihnen. Wut schreit aus den traumatisierten Gesichtern derer, die sich nach der Entwarnung scheu auf die brennenden Straßen retten. Etwa so, wie am betonierten Luftschutzkeller gegenüber dem hohen Amtsgebäude, das wie zum Hohn noch nie einen Treffer abbekommen hat – mitten in Stuttgart.

19. April 1945, 02:38 Uhr

Gramers Blick flieht gehetzt auf das emaillierte Zifferblatt der Wanduhr. Federnd springt der Minutenzeiger einen Balken weiter. Unzählige Ordner und Mappen türmen sich um ihn herum. Aufgerissen, als würden sie nach ihm geifern, erzählen sie von panischem Beseitigungszwang.

In den von offenen Feuern beleuchteten Räumen des Amtsgebäudes herrscht Hektik. Unsichtbar wabert die Furcht durch die kahlen Gänge, mischt sich mit dem säuerlichen Schweiß der Linientreuen. Sie kennen das Gefühl nicht, das sie noch vor wenigen Tagen selbstbewusst unter die Bevölkerung gestreut haben. Nun nimmt sie die Panik ein, wie eine zurückschlagende Woge, die sie selbst ausgelöst haben.

Und so leistet auch Bartholomäus Gramer dem System einen letzten, treuen Dienst. Sterbehilfe, Schadensbegrenzung oder wie man es auch nennen will. Er weiß, dass dieser Akt nichts anderes ist als das Eingeständnis kollektiven Versagens. Aber Gramer gehorcht, spielt beharrlich seine Rolle zu Ende. Wenn auch mit einer veränderten Intension, die nicht nach außen dringt. Er folgt nicht länger der großen Order aus Berlin. Er ist nur noch darauf bedacht, alles Verdächtige auszulöschen. Alles, was seinen Namen, seine Handschrift trägt. Und in seiner Vernichtungswut ist er gründlich. Gramer funktioniert. So, wie er es immer getan hat.

Niemand im Amt schätzt den jungen Emporkömmling mit dem unbewegten Gesichtsausdruck. Keiner sieht hinter seine makellose Fassade. Wann immer er darauf angesprochen wird, macht Gramer einen strikten Hehl aus seinen Verbindungen nach ganz oben. Selbst dann noch, als die Adern des Systems schon amputiert sind; als er ganz auf sich selbst gestellt ist. Gramer genießt die Einsamkeit hinter seiner Maske aus steifem, aalglattem Nazigehabe. Sie ist Garant für ein Leben über der Masse; dem Pöbel, den er abfällig als Speichellecker bezeichnet. Ein ungewöhnlich hoher Rang droht von seinen schwarzen Schulterklappen. Nur, wie lange noch? Einen Tag, ein paar Stunden?

Irgendwann hält Gramer gedankenversunken inne. Er wischt sich mit dem Uniformärmel den Schweiß von der Stirn. Wohltuende Erinnerungen drängen sich zwischen seine fliehenden Gedanken. Er lässt sie zu, träumt sich für einen Moment nach Berlin zurück. Er sei der perfekte Mann, hatte der Führer gesagt. Er wäre wie geschaffen für diesen koordinativen Posten außerhalb der Politik, nahe der Wehrmacht und mitten in der lukrativen Kriegswirtschaft.

Als er aus seinem Wachtraum erwacht, scheint ihm die Gegenwart schal und grau. Eine Gänsehaut überläuft seinen Körper. Wie hatte sich all das Heroische, das Überragende so schnell abnutzen können? Wo war die Vorstellung von Ehre, der Glaube an das tausendjährige Reich hingegangen? Versank all das unaufhaltsam im Dunkel einer ungewissen Zukunft? Gramer gesteht sich den Untergang seiner Ideologie ein. Widerwillig, trotzig. Dabei hatte er schon vor Monaten begriffen, dass er sterben muss, um zu leben. Zumindest auf dem Papier. Es wird rasch gehen, denkt er vor sich hin und flüchtet sich für ein paar Sekunden hinüber in die rettende Fantasie des Endsieges. Für einen Moment hofft er auf die viel gepriesenen Wunderwaffen. Er weiß, dass es sie gibt. Gramer muss es wissen, gerade er.

Der nächste Alarm schwillt an. Gramers Bewegungen stocken. Das lodernde Feuer im Kamin lässt dunkle Schatten auf seinem glänzenden Gesicht tanzen. Für einen Moment sieht er auf die beiden eleganten Lederkoffer neben seinem Schreibtisch. Dann nickt er sich selbst zu, als würde er sich soeben von jemandem verabschieden. Der SS-Standartenführer Gramer sagt sich im blutleeren Augenblick des Untergangs von allem los. Von seiner ideologischen Überzeugung, von den Erinnerungen an das, was geschehen war, ja, selbst von dem, was noch in Begriff ist zu geschehen. Zum ersten Mal seit Jahren kreisen seine kanalisierten Gedanken nicht mehr um den Krieg. Sie greifen nach dem Frieden, der weder zu seinem Geist noch zu seiner ganzen Erscheinung passen will. Sie wechseln verräterisch die Seite, ringen um seine neue Identität, die beruhigend in den schwarzen Koffern ruht.

Gramer weiß um das doppelzüngige Spiel in den nächsten Tagen. Diesen zerrissenen Akt, in dem er seinem sterbenden Herrn noch treu die Hand hält. Ihm graut vor den Hyänen der Gestapo. Er kennt ihre Folterverhöre, mit denen sie alles zutage fördern könnten, was am Grunde seiner Seele begraben liegt. Am Ende steht für ihn eine mit erschreckender Einfachheit beseelte Einsicht: Er muss handeln. Jetzt. In diesem Augenblick.

Unzählige Bombermotoren pflügen sich in 3.000 Meter Höhe durch den schwäbischen Nachthimmel. Das Schummerlicht der Verdunklung zittert; erlischt schließlich ganz. Gramer ist allein. Ruckartig reißt er den Telefonhörer von der Gabel. Er weiß, dass die Leitungen während eines Angriffes kaum belegt sind, dass alle außer ihm im Schutzraum des großen Gebäudes sitzen. 20 Meter unter der Erde, gleich neben der Telefonzentrale. Gramers Stimme klingt militärisch bestimmt: »Ab heute sind wir in Verzug. Sind wir ausverkauft?«

Der Sturmscharführer am anderen Ende fasst sich entnervt an die Stirn. Mathes Krüb ist fahrig, vollkommen aufgelöst. Er weiß, dass Gramer seine Antwort nicht gefallen wird. »Wir haben noch Restposten«, dringt es nüchtern aus dem Hörer.

Gramer schlägt mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und fingert nach dem Befehlsschreiben des Oberkommandos. »Wie kann das sein? Ich muss Vollzug melden!«

Krüb, der klein gewachsene, drahtige SS-Mann, wird ungehalten. »Wie das sein kann? Sieh aus dem Fenster, du Idiot! Es gibt keine Züge mehr, überall nur noch zerbombte Bahnstrecken. Die Lastwagen sind alle schon auf dem Weg zur Alpenfestung. Eine verdammte Scheiße ist das hier!«

Gramer zwingt sich zur Ruhe, lässt Krübs ungestüme Welle in einer langen Pause abebben. Er kennt seine aufbrausende Art seit der Volksschulzeit in Blaubeuren. »Wie viel ist es?«

180 Kilometer entfernt nimmt Krüb eine zerknitterte Liste auf und blättert umständlich auf die letzte der klammen Seiten. »Ladung für zwölf Achsen plus zwei für die Mannschaft.«

Gramer spürt, wie sein Puls gegen den engen Kragen hämmert. Er verzieht das kantige Gesicht, als habe er Schmerzen. »Es muss alles weg! Alles! Es darf in keiner Weise auch nur den geringsten Rückschluss geben. Kein Zettel Papier, kein Fetzen Stoff und schon gar keine … Die Operation muss …«

Er wird energisch unterbrochen. Krübs Stimme überschlägt sich: »Wie denn, verdammt noch mal? Bei mir liegt derselbe Befehl und noch ein weiterer dazu! Unternehmen Nero, Operation Zunft! Fällt euch da oben denn nichts Besseres ein? Natürlich! Jetzt, da der Amerikaner über den Rhein ist, pressiert es den hohen Herren! Und wir stehen hier allein, ohne Material, ohne Transport und sollen die Kartoffeln aus dem Feuer holen? Gestern ist der letzte Zug durchgekommen. Seither ist ab Karlsruhe alles dicht! Aber wem sage ich das!«

Gramer kann den aufgebrachten Atem Krübs deutlich hören. Er sinkt entmutigt auf seinen Sessel zurück und knöpft sich nervös die Uniformjacke auf. »Wir werden es zu Ende bringen! Ich melde mich wieder, sobald ich Max erreicht habe.«

Die Nacht hat Blaubeuren fest im Griff. Dunst zieht von der Blau in die steilen Wälder. Alles ist ruhig, beinahe schon friedlich. Doch man schläft nicht gut in dieser Nacht; obwohl es eine der wenigen ist, in der kein Alarm über die Hügelkette von der Stadt herüberschwappt. Wie ein Schatten schwebt die Ohnmacht des Untergangs über der unschuldig wirkenden Gemeinde, lässt diese Nacht noch schwärzer wirken als die vielen vor ihr. Schiere Angst schleicht sich in die Häuser; unsichtbar und unaufhaltsam. Blaubeuren stockt der kommunale Atem in der Stunde Null, die nun schon Tage andauert.

Der Hörer zittert viermal auf der Gabel. Es dauert eine Weile, ehe Maximilian Ströttner das aufdringliche Klingeln wahrnimmt. Scheppernd zieht es ihn aus seinem intensiven Traum. Als sich das finstere Bild der Realität vor seine Augen schiebt, jagen unliebsame Ahnungen durch sein Gehirn. Ströttner ist sofort klar, dass es um diese Zeit nur einer sein kann.

Zögerlich legt er seine Hand auf den Hörer, glaubt am penetranten Klingeln hören zu können, dass es Schwierigkeiten gegeben haben muss. Schließlich nimmt er ab. »Ja?«

Ströttner erkennt Gramers Stimme sofort. Er bleibt ruhig, hört ihm wortlos und konzentriert zu, bis nur noch Schweigen durch die Leitung knistert. Dann knarrt es aus seiner vom Schnarchen ausgetrockneten Kehle: »Ich soll euch den Kopf aus der Schlinge ziehen?«

Gramer stößt seinen Atem überheblich in den Hörer. »Lassen wir die Spielchen, Max. Du steckst genauso tief drin wie wir alle. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, fliegen wir auf! Du kannst dich jetzt nicht verweigern!«

»Ihr bekommt also Druck von oben?«

»Herrgott, Max. Es gibt eben gewisse Befehle, denen ich mich nicht widersetzen kann. Die Kette besteht aus vielen Gliedern.«

»Konntest dein Maul nicht halten, was? Wer weiß es und welche Namen kennen sie?«

Gramer schnürt es die Kehle zu. Ströttner ist sein einziger Ausweg. Es kostet ihn Überwindung, einfühlsam zu klingen: »Ich habe alles unter Kontrolle; so wie immer. Wo steht dein Zug, Max?«

Auf Ströttners Gesicht schleicht sich ein berechnendes Grinsen. Er schweigt, hört die Detonationen im Hintergrund.

»Max! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit! Wo steht der verdammte Zug?«

»Mein Material soll’s am End’ also richten? Und wenn ich mich weigere? Was wäre, wenn im Ströttnerbruch wieder gearbeitet wird?«

Gramer atmet seine Fassungslosigkeit abgehackt in das Telefon. »Unsinn! Ich weiß, dass du den Betrieb letzte Woche eingestellt hast. Und dir ist selbst klar, dass es sich ohne Beweise am besten lügt. Und glaub mir: Lügen müssen wir in der nächsten Zeit viel. Also: Wo ist der Transportzug der StuMAG?«

Für einen Moment ist es gänzlich still in der Leitung.

»Wo soll er denn schon sein? Bei uns im Bahnhof auf dem Steinbruchgleis! Seit die Alliierten über den Rhein sind, gibt es ja keine Transportaufträge mehr von der Montan.«

»Gut!«, kommt es erleichtert von Gramer.

»Was heißt hier, gut! Ausgemachter Schafmist ist das!«

Gramer harrt wieder aus, gibt Ströttner Zeit, bevor er besänftigend einfällt. »Ich habe einen Auftrag für dich. Den letzten – für das Reich.«

Ströttners Lachen klingt zynisch. »Oha. Und was habt ihr am Lager?«

Gramer zögert, klingt beschämt, als er antwortet: »Leichte Fracht. Vier Ladungen auf 14 Achsen, inklusive Zugabe.«

Ströttner schweigt wieder, nickt wissend vor sich hin, als habe er nur darauf spekuliert. »Und was wäre das den Herren wert?«

»Fünf Kilo in krisensicherer Währung und …« Gramers Innehalten scheint schwerer zu wiegen als das zeitlose Zahlungsmittel. »… Totales Vergessen.« Er weiß, dass er die verbale Zugabe ohne Garantie vergibt.

Ströttner aber hört den zweiten Halbsatz nicht. Über sein Gesicht huscht die Gier. Er atmet betont gönnerhaft aus, als hätte er tatsächlich eine andere Wahl, als zuzusagen. »Du weißt, was für ein Sauglück du mit mir hast! Wie viel hast du noch?«

Die Leitung schweigt eine Sekunde.

»Genug.«

»Und der große Rest ist sicher?«

Gramer zögert. »Heinrich ist unterwegs.«

»Sechs Kilo«, fordert Ströttner. »Kein Gramm weniger!« Das belastete Ausatmen ist ihm Bestätigung genug. »Eine Lokomotive und ausreichend Kohle wirst du brauchen. Die Steinbruchmaschinen wurden abgezogen. Außerdem haben wir kaum noch Diesel, seit die SS-Division hier durchkam.«

Am anderen Ende der Leitung schließt Gramer für einen Moment die Augen und wischt sich den kalten Schweiß von der Stirn.

»Die Maschine steht in Ulm bereit. Morgen Nacht um punkt eins stehen alle Signale der Strecke auf Durchfahrt. Wir sehen uns im Bruch.«

Die Leitung rauscht eintönig.

»Hörst du noch?« Gramer wiegt den Hörer eine Weile voller Nachdenklichkeit in der Hand. Er kennt Ströttner, weiß um seine Schläue und den Verlass, wenn es um seinen eigenen Vorteil geht. »Elender Speichellecker«, zischt er vor sich hin und wirft den Hörer auf die Gabel.

19. April 1945. 04:55 Uhr.

Als die Entwarnung erleichternd durch die Straßen dröhnt, öffnet Gramer das Fenster. Nur für einen kurzen Moment, um zu atmen; zu erwachen, aus diesem verhangenen Moloch der letzten Stunden. Ein beißender Geruch liegt in der Luft. Asche regnet vom Himmel, als wäre der werdende Tag verbrannt. So, wie all die Akten im Kamin des hohen Raumes.

Das Zimmer ist leer, als sich Gramer mit seinen schweren Koffern auf den Weg nach Süden macht. Nur der graue Qualm von verbranntem Papier wird von der leise knisternden Glut im Kamin am Schweben gehalten. Sie ist alles, was von Bartholomäus Gramer, seiner Arbeit und den vier langen Jahren im Amt übrig bleibt. Ein Häuflein federleichter, schwarzer Staub.

2. Kapitel

22. April 1945, 00:10 Uhr. 80 Kilometer südlich der Donau.

Die Puffer von doppelachsigen Güterwagen schlagen hart aufeinander. Ihre schweren Schiebetüren sind mit rostigen Ketten verschlossen. Kein Schimmer einer Laterne beleuchtet die Stätte des geheimen Geschehens. Alles wirkt gegenstandslos, als gäbe es nur Geräusche in dieser Nacht. Ab und zu zischt ein Überdruckventil, taktet der Zylinder der Dampflokomotive. Martialische Klänge, losgelöst von allem Gegenständlichen.

Weißer Rauch steigt in einen Himmel der endlosen Schwärze. Es ist eine Maschine der Baureihe 89, die geduldig auf ihren Einsatz wartet; ohne Stirnlampen, mit verhängter Feuerbüchse. Selbst in der Nacht wirkt sie angeschlagen, ausgezehrt und viel zu schwach für den Zug, den sie befördern muss; so wie alles in den Tagen des letzten Aufgebotes. Kaum jemand des Trupps ahnt, wohin die Fahrt tatsächlich gehen soll. Nur ein paar wenige wissen, welche Brisanz von diesem letzten Transport ausgeht. Es sind wohlgehütete Geheimnisse, die vorsichtig in die Waggons geladen werden. Entsetzlich schweres Packgut, das plötzlich überflüssig ist. Ein lästiges Geschwür am gesunden Bein der greifbaren Zukunft.

Kein Pfiff, kein Abfahrtssignal hallt durch den nahen Wald. Nur ein klirrender Ruck geht durch den Zug. Der erste Stoß des Dampfzylinders lässt die Lokomotive verbissen am Zug reißen. Ihre Räder rutschen auf den blanken Schienen, suchen Reibung, bis der Zug rollt. 14 Achsen rattern ins Dunkel einer alles umgebenden Nacht des Vergessens. Dann ist es ruhig auf dem Gelände. Nur der Wind streicht sacht über die Wipfel der Tannen und nimmt ihn ein Stück weit mit sich, diesen beißenden Geruch von verglühter, minderwertiger Braunkohle.

Alles ist leer, als das Waldstück seinen letzten explodierenden Atemzug in den Nebel faucht.

Der Fahrtwind zieht scharf über das außen liegende Podest zwischen Lokomotive und Mannschaftswagen. Krüb sieht Gramer skeptisch von der Seite an, bevor er mit dem Kopf auffallend auf den Koffer weist. »Es ist doch alles in Ordnung?«

Gramer schlägt den Kragen seines schwarzen Klepper-Mantels nach oben und nickt. »Wenn alles verladen ist?«

Krüb kann seine fragenden Augen nicht sehen, die den Zweifel an seiner Gründlichkeit und Zuverlässigkeit verraten hätten. »Alles, ohne Ausnahme«, bestätigt er. »Das Gelände ist leer, und was verbrannt werden konnte, ist jetzt Asche.«

Gramer stößt seinen kondensierenden Atem in die Nacht. Er scheint erleichtert, hält Krüb einen Marschbefehl entgegen. »Wie viele Männer hast du noch?«

»Wir sind elf Mann, voll bewaffnet; einschließlich mir und dem Lokführer.«

Barthel Gramer hebt den Kopf leicht an und verschränkt die Arme. »Du kennst das Vorgehen?«

Krüb presst angespannt die Lippen aufeinander, bevor er erwidert:

»Natürlich. Alles wie besprochen.«

Der Sturmscharführer greift nach der Türklinke des Mannschaftswagens. Er sehnt sich nach ein wenig Wärme. Gramer aber hält ihn zurück und drückt ihm einen verschlossenen Umschlag in die Hand. »Du fährst auf der Lok.« Sein Blick ruht kurz auf dem Umschlag. »Der Zug ist mit höchster Priorität freigeschaltet. Dies ist der Passierschein für alle Stationen. Unser Transport hat in jedem Fall Vorrang!«

Krüb lacht bitter in den Wind. Er weiß, dass er keine Wahl hat. »Der feine Herr will nicht in Erscheinung treten, was? Ich soll also wieder die Drecksarbeit machen …«

»Jeder von uns macht in diesen Zeiten seinen Teil der Drecksarbeit!«, gibt Gramer barsch zurück. Seine Miene ist versteinert, als er betont seine Koffer aufnimmt. »Ich denke, das ist es wert, sich die Hände schmutzig zu machen. Oder etwa nicht? Im Übrigen hebt sich der Kohlenstaub weder von deiner schwarzen Uniform noch von deiner Seele ab.«

Krüb schnaubt unwillig vor sich hin. »Treib es nicht zu weit, Gramer! Ab heute bist du nicht mehr und nicht weniger als ich!« Gramer aber hört ihn nicht mehr.

22. April 1945, 04:17 Uhr.

Der Lokführer lehnt sich aus dem Führerstand. Er kneift die Augen zusammen, um sich vor dem Ruß und dem Fahrtwind zu schützen, und versucht, in der nächtlichen Ferne etwas zu erkennen. Hinter der Donaubrücke tanzt das Licht einer roten Laterne von links nach rechts. Krüb legt die Hand an die Stirn und reckt den Kopf aus dem anderen Fenster.

»Verdammt! So kurz vor dem Ziel!«

»Wir haben Glück, dass wenigstens die Brücke noch befahrbar ist!«, ruft der Lokführer zu ihm hinüber und greift ins polierte Bremsrad. »So, wie das aussieht, ist hier Feierabend.« Er deutet mit dem Kopf auf den beinahe leeren Tender. »Schon der Kohle wegen!«

Krüb atmet schwer, seine Augen sind weit aufgerissen. »Wann hier Feierabend ist, bestimme ich!«

Der Lokführer hebt nur abwehrend die Hände.

Sie passieren den Posten mit der Laterne. Er grüßt gezwungen in das Führerhaus hinauf. Auf seinem Gesicht liegt der Schatten des nächtlichen Angriffs.

Gleich zu Beginn des Ulmer Bahnhofs leitet die Weichenstraße den Zug auf ein freies Abstellgleis am Rande des Areals. Wieder steht ein Posten mit einer Warnlaterne zwischen den Gleisen. Hinter ihm gähnt ein tiefer Bombenkrater, in den sich die verbogenen Schienenstränge hinabwinden. Wie ein zerfressener Obelisk ragt der Münsterturm über den orangefarbenen Schein, der träge über die Stadt zieht.

Plötzlich schiebt Gramer seine Koffer in den Führerstand und klettert hinauf. »Was ist los? Weshalb stehen wir schon wieder?«

Krüb schüttelt den Kopf und deutet zuerst auf den Bombentrichter, dann auf den Kohlentender. »Es ist aus, Barthel. Sieh dich um.«

Gramer schwitzt vor Anspannung. Er spürt, wie der fehlende Schlaf an ihm nagt, ihn benommen macht. Energisch wendet er sich an den Lokführer: »Sie nehmen sich vier Mann der Wache und treiben Kohle auf! Gleich wie; wir brauchen genug für die letzten Kilometer bis Blau­beuren. Und wenn Sie es schaufelweise von anderen Maschinen herübertragen!« Er packt Krüb hart an den Schultern und fixiert ihn mit seinen stechenden Augen. »Du gehst mit deinen zwei Ranghöchsten zum Bahnhofsvorsteher und zeigst ihm den Schein. Dann lässt du den Zug auf der Hauptstrecke einreihen, die als Erstes instand gesetzt sein wird. Wenn erst einmal ein weiterer Zug hinter uns steht, ist alles zu spät!«

Gramer rinnt der Schweiß von der Stirn, als er sich an das schmutzige Blech der Lokverkleidung lehnt und für ein paar Sekunden die Augen schließt. Er ist allein, umgeben von den heißen Armaturen. Wie auf einer winzigen Insel der Ruhe keucht er inmitten des hektischen Treibens seine Furcht in die Nacht. Gramer hofft auf den puren Zufall.

22.04.1945, 06:08 Uhr.

Hannes Strelin geht über zerborstene Schwellen und aufgebogene Gleise; ohne zu denken, weit entfernt vom Hier und Jetzt. In seinem Schritt liegt Unsicherheit und der Unglaube an das, was er nicht sehen will. Das, was zu schwer für seine jungen Augen ist.

Es riecht nach Kohle, abgelassenem Dampf und verbranntem Fleisch. Er ahnt, was da ungeordnet und unnatürlich verdreht zwischen den Schienen, auf dem rauchenden Schotter liegt. Hannes ist froh um die Nacht, die das tote Gelände noch fest im Griff hat. Hier und da fallen Lichtstrahlen von irgendwoher zwischen die Trümmer der Wagen, lassen diabolische Schatten über die Toten wandern. Es ist der Mond, der in das Grauen ein Bild der leblosen Bewegung zeichnet. In diesem Moment des Wahnsinns aber dringt es nicht bis zu Hannes vor.

Hannes Strelin aus Blaubeuren ist 13 Jahre alt. Er ist groß, blond und sein Geist geblendet. Abgerichtet von den immerwährenden Hassrednern im Internat, der Napola. Als habe man ihm den Sinn für Unrecht verbal aus der Seele gepeitscht, ist er blind gegenüber dem, was vor ihm liegt. Und er will es auch sein. Hannes klammert sich hartnäckig an den schmelzenden Rest von Heldentum und Glorie. So lange, bis darunter endlich der wohltuende Gedanke zutage tritt: Heimzukommen. Endlich zu Hause zu sein.

Langsam fällt die Mauer aus Hass und Stolz. Wut steigt in ihm auf, als sich die Ruinen seiner Heimatstadt über die Sträucher des Bahndamms erheben. Hannes hat von den Angriffen gehört, doch dass es so schlimm steht, hat er sich nicht vorzustellen gewagt. Ihm ist, als reiße jemand mit aller Kraft eine gute Erinnerung aus seiner Seele. Hoffnungslosigkeit verlangsamt seinen Schritt, als er an den Gleisen der Hauptstrecke entlang auf den Hauptbahnhof zu taumelt. Hannes ist unendlich müde, als er die ersten Wagen hinter der Brücke erreicht.

Zögernd tritt er in den finsteren, schmalen Zwischenraum zweier Güterzüge. Einen Steinwurf entfernt zischt heller Dampf in die Waggonflucht, reflektiert das spärliche Licht. Die Waggonwände lassen den Durchgang zu einer unheimlichen Schlucht werden, deren Ende er nicht ausmachen kann. Die nächtliche Einsamkeit spielt seinem jungen Geist gemeine Streiche. Hannes sieht sich gehetzt um. Ist das ein Schatten einer Person hinter den Wagen? Sind das schon die Amerikaner? Doch hinter ihm liegt nur die Nacht und die Vergangenheit; menschenleer und grau.

Er legt den Kopf in den Nacken und erspäht ein zartes Morgenrot am Himmel. Es wärmt seine frierende Seele, schickt einen Hauch von Hoffnung in sein Denken. Während er weitergeht, gleitet seine linke Hand über die rauen Wände der Waggons. Spielerisch, als suche sie nach einem Halt, nach irgendetwas, an das sich Hannes’ durcheinandergeratener Geist festhalten kann. Die krümelige Tünche einer hastigen Aufschrift reibt sich an seinen Fingerkuppen ab, hinterlässt einen Hauch von dreckigem Weiß. Hannes sieht die Aufschrift auf den Waggons nicht. Alles, was er wahrnimmt, sind Geräusche. Laute, die ihn erschaudern lassen.

Hannes summt ein Lied der Verdrängung. Er wehrt sich verbissen gegen seine Sinne, indem er seine Hände fest auf die Ohren legt. Hannes will weglaufen, nur fort von hier. Doch statt seinen Schritt zu beschleunigen, bleibt er plötzlich stehen. Seine Augen sind starr auf ein Rinnsal gerichtet, das aus einer Ritze am Wagenende fließt und im Schotter des Bahnsteiges versickert. Es riecht schal und sauer, setzt sich beißend in seinen Nasenschleimhäuten fest.

»Nur ein Viehtransport.« Flüstert er sich selbst vor, als habe er Angst, die Tiere könnten es hören. Die Vorstellung, die sich in seinem Kopf formiert, verbannt er ins Finster der Umgebung. Er schickt sie weit von sich. Doch sie gehorcht nicht, zwingt Hannes eine brennende Neugier auf. Er handelt gänzlich gegen die Vernunft; tut, wozu er eigentlich viel zu feige ist. Er muss seinen Geist aufräumen; muss die bösen Bilder entweder verbannen oder realisieren. Hannes atmet wild, als er durch ein kastaniengroßes Loch in der Waggonwand späht. Sein rechtes Auge stochert im Nichts. Dann schreckt er zurück.

Sein Gesicht ist fahl. Es dauert lange, bis er sich abwenden kann und zu laufen beginnt. Geradewegs auf die weiße Dampfwolke an der Lok zu. Er weiß nicht, was hinter ihr liegt, was sie verbirgt. Und dennoch will Hannes nur noch in diesen Nebel fliehen. Hinein in diese Wolke der Unsichtbarkeit. Das fliehende Weiß des Dampfes umgarnt ihn nur kurz. Für einen Augenblick riecht er glühende Kohle, heißes Schmierfett. Es ist dieser eigentümliche, typische Geruch von Kraft und Masse. Hannes läuft blind weiter, als er hart mit einem Uniformierten zusammenstößt.

»Verdammter Bengel! Pass doch auf!«, flucht der SS-Mann vor sich hin und nimmt den fallen gelassenen Sack Kohle wieder auf.

Hannes’ Schritt verlangsamt sich erst, als er den Bahnsteig der Hauptstrecke betritt und sich unter die Menschen mischt. Er labt sich an ihrer puren Anwesenheit, an jeder ihrer Bewegungen. Genießt jedes Wort, das er aufschnappt, so armselig es auch sein mag. Hannes saugt aus der tristen Szenerie den letzten Rest Geborgenheit, den sie tief in sich trägt. Inmitten des Gedränges lehnt er sich erschöpft an einen Randpfeiler der großen Halle und gleitet an ihm in die Hocke hinab. Nur einen Moment der Ruhe erhaschen, den rasenden Puls beruhigen, flieht es durch seinen Kopf. Dann schließen sich seine Augen wie von selbst und alles um ihn herum versinkt in der rettenden Stille des Schlafes.

3. Kapitel

Ganze 35 Jahre waren ins Land gegangen. Man war noch einmal davongekommen, wie man hierzulande, in diesem unverwechselbar gemütlichen Dialekt zu sagen pflegte. Und es hatte tatsächlich Zeiten gegeben, in denen die Erinnerung zu verblassen schien. Tage, an welchen sich Hannes selbstsicher vorgaukelte, all das wäre nicht mehr von Belang. Wenn er aber dann in seinen Albträumen wieder zwischen die Waggonreihen am Bahnhof schritt, griff sein Unterbewusstsein hemmungslos nach seiner Seele. Dann kam dieses Dröhnen, dieser penetrante Hall mitten aus dem Nichts der Nacht.Nachthalltaufte er diese stets gleiche Sequenz für sich selbst. Und eben nachts, wenn sein Geist wehrlos war, kam es über ihn. Unerbittlich, wie der Zorn Gottes, den er nicht verstand. Was am Morgen blieb, war dieser imaginäre Ruf, sein Wissen nicht leichtfertig wegzuwerfen. Hannes schob die Tatsache, dass dieses Rufen von Mal zu Mal lauter wurde, weit von sich. Wann immer er schweißgebadet aufschreckte, dauerte es Minuten, bis er wieder zu sich fand. Bis die zerrende Vergangenheit von ihm abließ. Was blieb, war eine subtile Erkenntnis: Wäre das Vergessen nicht etwa genau das, was sie von ihm wollten? Und die Antwort sprang wie von selbst in seinen innerlichen Dialog: Nein, er durfte es nicht vergessen! Niemals! Irgendwann, so schwor er sich, würde der Tag kommen, an dem er alles ans Licht bringen konnte. An dem ihr erfülltes Leben einen jähen Abbruch erfahren würde. Dann, wenn sie nicht mehr damit rechneten.

Nach diesen schlaflosen Nächten zog es Hannes ins Blautal hinaus. Er ging oft stundenlang spazieren. Ziellos, vielleicht auf der Suche nach dem, was er in dieser einen Nacht verloren hatte. Wie ein einsamer Wolf umkreiste er den Ort des Geschehens. Abwartend, lauernd. Als warte er nur auf den richtigen Moment, sein Wissen zur Waffe machen zu können. Eine Waffe, die unsichtbar in seinem Gedächtnis vergraben war. In jedem Blick, den er über das Tal schickte, wohnten Trost und Sorge zugleich.

Viele Jahre zuvor versuchte er, der Gegenwart all dieser Erinnerungen durch einen Wegzug zu entfliehen. Heute wusste er, dass er vor den Erlebnissen nicht weglaufen konnte. Dabei hatte Hannes nie beabsichtigt, seiner Heimat den Rücken zu kehren. Er wollte nur heraus aus dem ewigen Tal, auf eine freie Terrasse des südlichen Albrandes, wo sich die Augen im Voralpenland verlieren konnten. Die Obstwiese am Waldrand bei Blaubeuren hatte er nie verkauft. Er betrachtete sie gewissermaßen als seine Lebenswurzel. Sie schien ihm wie ein gut angelegtes Faustpfand. Ein Faustpfand wider des Vergessens. Trotzdem er sein verwildertes Ländle seit Jahren nicht mehr betreten hatte, sprossen aus ihm unzählige Erinnerungen. Gute und böse Fragmente seines Lebens.

So sah er, wie sich die Stein- und Mahlwerke Blaubeuren immer weiter nach Süden, und nur nach Süden, ausdehnten. Er hatte genau registriert, wie ein zusätzlicher Zaun mit roten Warnschildern um das einsame Waldgrundstück nahe dem Bruch errichtet wurde. Er sah das wuchtige Fundament für die Ströttner’sche Jagdhütte ebenso wie die meterhohe Hecke aus Thujabäumen und Fichten. Ein immergrüner Burgfried gegen neugierige Blicke.

Hannes war oft mit Doris, seiner Tochter durch das Tal gewandert; damals, als sie noch klein war. Er erinnerte sich gern daran, wie er ihr alles gezeigt hatte. Das Elternhaus, die Felsen, den türkisfarbenen Blautopf. Im Grunde jeden einzelnen Quadratmeter des Tals. Und dennoch hatte Hannes schon zu jener Zeit in einer immerwährenden Skepsis gelebt. Einer höflichen Distanz zu allem und jedem. Vielleicht wurzelte diese Eigenart im Jahre 1945. Eben in diesem Frühjahr, das ihm unverhohlen die bestialische Seite der Menschen vorführte. Und vielleicht hatte ihn eben diese Zeit auch so stumm gemacht.

Hannes sprach nicht viel, weder mit sich selbst noch mit denen, die sein Leben tangierten. Es gab nur zwei Menschen denen er beinahe uneingeschränktes Vertrauen schenkte. Seiner Tochter und seiner Frau. Doch beide weilten weit von ihm. Eigentlich war Hannes allein und einsam, seit seine Ute im vergangenen Jahr unerwartet von ihm gegangen war. Sie hatte ihn wirklich verstanden; war der einzige Mensch gewesen, der auf den Grund seiner Seele sehen durfte. Der Krebs hatte sich ihres Körpers rasch und gründlich bemächtigt. Er gestand ihnen von der erschütternden Diagnose bis zum Abschied kaum drei Wochen zu.

Doris’ Ähnlichkeit zu ihrer Mutter war frappierend. Wenn Hannes sie unbemerkt von der Seite ansah, zeichneten sich Falten in sein Gesicht. Falten des Glücks und des Schmerzes zugleich. Doris war, was ihm von seiner Ute verblieben war. Sie und der Mädchenname, den er damals an der Hochzeit aus gutem Grund angenommen hatte. Ehrnsteiner wollte er heißen, nicht mehr Strelin.

Doris war hübsch. Sie versprühte mit ihrem herzlichen Lachen pure Lebensfreude, ohne sich ihrer besonderen Ausstrahlung bewusst zu sein. Alles an ihr wirkte intensiv, von Natur aus unterstrichen und trotzdem weiblich filigran. Nichts ließ vermuten, dass sie mit beinahe penetrantem Selbstbewusstsein beseelt war.

»Die Trasse der Steinbruchbahn sieht man immer noch.« Doris schwang ihre rotblonde Lockenmähne aus dem Gesicht und schmunzelte aufmüpfig. »Ich sollte wieder einmal durch den Tunnel gehen.«

Sie sah, wie sich ein Schatten über den seligen Gesichtsausdruck ihres Vaters legte. Doris lies ihr aufgesetztes Spiel in der kalten Luft verebben. Sie nahm ihren Vater jovial an der Hand, um ihn behutsam auf eine Ruhebank zu ziehen. Genüsslich sog sie die Frühjahrsluft ein und schloss für einen Moment die Augen. »Was sind wir hier schon überall herumgewandert. Bergauf und bergab auf jeden Felsen mit und ohne Weg.« Sie machte eine Pause von eifriger Nachdenklichkeit. »Aber immer nur auf der Sonnenseite. Weshalb eigentlich?«

Hannes entwich ein ruckartiger Atemzug. Fast so, als ersticke er darin einen Schreck. »Man hat hier den besseren Blick.« Er spürte, dass Doris auf mehr wartete. Seine Augen wandten sich unter einem gezwungenen Achselzucken vom Tal ab. »Drüben ist es kalt und es gibt nur den hässlichen Steinbruch von der StuMAG.«

Doris löste sich von Hannes, sah über die vor dem Wald liegende Wachholderheide hinunter ins Städtchen und schließlich auf den Friedhof. »Du vermisst sie sehr, nicht wahr?«

Hannes senkte den Kopf. »Ja«, erwiderte er tonlos. Er fand seine Fassung in seinen ineinandergelegten Händen wieder, obwohl er nur eine davon wirklich spüren konnte. »Sie wollte hier beerdigt werden. Es war ihr letzter Wunsch.«

Doris nickte betroffen und legte ihren Kopf an Hannes’ Schulter. »Ich weiß, Vater. So wie es der deine auch ist.«

Für ein paar Sekunden schien in Hannes’ Lippen ein unkontrollierbarer Schmerz zu beben. Das um seinen Mund spielende Zucken verriet, dass ihm etwas auf der Zunge lag. Etwas, das er sich gerne von der Seele geredet hätte. Doch Hannes blieb stumm.

Doris musterte ihn nachdenklich von der Seite. »Gibt es etwas, worüber du mit mir sprechen willst, Paps?«

Hannes wirkte verdutzt. Er mimte den Unbeschwerten, erstickte die ertappten Gedanken im Keim. »Nein, Riesle! Aber sag, wie steht es im Höhlenverein? Kommt ihr in der Falkensteiner Höhle weiter?«, versuchte er geschickt, das Thema zu wechseln.

Doris senkte lächelnd den Kopf »Ich habe neben dem ganzen Prüfungsstress kaum Zeit für die Höhlen. Fritz sagte, es stehe ein Großprojekt an, hier in Blaubeuren. Die Forschung ist nur durch einen anonymen Hinweis und eine Spende möglich geworden.« Sie zuckte mit den Achseln, als wäre es ihr gleichgültig; nahm nicht wahr, dass auf den Zügen ihres Vaters kein frisches Erstaunen lag.

»Und wo genau soll das sein?«, fragte Hannes unbedarft.

»Drüben am Hang vor dem Wald haben Fritz, Michl und Woody letzten Monat eine Stelle lokalisiert, an der kalte Umgebungsluft in den Hangschutt zieht. Sie vermuten eine größere Höhle hinter dem Hang beim Ströttnerbruch.«

Hannes’ Backenmuskulatur verkrampfte sich. Seine Stimme klang unüblich laut, als er darauf einging. »So, eine Großhöhle …«

Doris war für eine Sekunde irritiert und wies zögerlich auf eine kleine Ausbuchtung am Waldrand. »Dort hinten wollen wir schon bald zu graben beginnen. Der Grund gehört, Gott sei Dank, der Stadt. Es dürfte nicht allzu schwer sein, eine Genehmigung zu erhalten. Sollte es jedenfalls losgehen, bin ich ganz vorne mit dabei! Das hat mir Fritz zugesichert, schon wegen der Geologie.«

Hannes verschluckte sich an seinem eigenen Speichel, hustete unterdrückt. »Auf keinen Fall! Zuerst das Studium!«, brach es gequetscht aus seiner Kehle.

Doris klopfte ihm sanft auf den gebeugten Rücken. Hannes aber wehrte ab, stand mit einem Male auf und ging ein paar unbeholfene Schritte in die Einsamkeit der Heide. Er schien in sich versunken zu sein, spähte suchend auf den Boden, als wäre ihm soeben der rote Faden seines Lebens entglitten. Doris begleitete ihn sorgenvoll aus der Distanz. Sie sah sein licht gewordenes Haar, den hinkenden Gang. Und sie sah seinen tauben, linken Arm, wie er gezwungen mitschwang. Sie liebte ihren Vater über alles. Und seit dem fiel zu früh erlittenen Schlaganfall noch mehr als zuvor. Dabei konnte und wollte sie nichts von seinem schweren Schicksal kompensieren. Sie wollte ihn nur stützen. Ihm, dem Unnahbaren helfen. Ihm ein kleines Lächeln auf die schmalen Lippen zaubern.

»Ich verstehe ja, dass Du dich sorgst, Paps! Aber ich kann diese Chance nicht an mir vorüberziehen lassen! Ich werde dabei sein, wenn das entdeckt wird, was seit Jahrhunderten hinter dem Ursprung vermutet wird!«

Hannes nickte ihr über die Schulter missmutig zu. Er war stehen geblieben, ließ die Begeisterung seiner Tochter an sich vorüberströmen.

»Ich kann dadurch eine einzigartige Diplomarbeit schreiben. Du wirst stolz auf mich sein!«

Hannes zuckte kurz auf. Ein ahnungsvoller Blick floh zurück zu Doris, als wäre er auf ein nicht wieder gut zu machendes Versehen aufmerksam geworden.

»Nun freu dich doch ein wenig mit mir.« Unter einem schmollenden Augenaufschlag entlockte ihm Doris ein knappes, angespanntes Nicken. Er humpelte weiter bergab und schien mehr mit dem Weg als mit seiner Tochter zu sprechen.

»Überlass das besser den anderen im Verein. Ich kenne die Höhlen hier wie kein Zweiter. Sie sind anders als die übrigen auf der Alb. Das Gestein ist unzuverlässig. Diese Löcher sind trügerisch und unberechenbar. Du weißt nicht, auf was du dich da einlässt.«

Doris war in ein paar federnden Sätzen zu ihm gesprungen. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und suchte seine Augen. »Ich studiere Geologie. Und glaub mir, wenn ich auf etwas gefasst bin, dann auf diese speziellen Gegebenheiten, die ich von dir veranschaulicht bekommen habe.«

Hannes schwieg. Es dauerte einen Moment, bis er es sich eingestehen konnte. Bist auch noch selbst dran schuld, alter Idiot, warf er sich in Gedanken vor. »Zuerst müsst ihr sie finden; diese Höhle. Bis dahin ist es wohl ein langer, mühsamer Weg. Immerhin seid ihr an diesem Punkt mehr als einen halben Kilometer vom Blautopf entfernt. Aber grabt nur.« In seinem letzten Halbsatz schwang eine Spur des Belächelns.

Doris ließ ihre Arme niedergeschlagen von seinen Schultern fallen. So kannte sie ihren Vater nicht.

Hannes’ besorgter Blick haftete noch eine ganze Weile auf dem Hang nahe des Steinbruches, als wollte er ihn beschwören, seine Geschichte noch eine Weile für sich zu behalten. Auf einmal legte sich ein unbestimmbarer Zwang auf sein so sorgfältig zurechtgelegtes, gedankliches Konstrukt. Ohne sein Zutun würde es von dieser Stunde an, mit jedem Tag, der verging, konkreter werden. Dass nicht er allein darüber entschied, wann es so weit sein sollte, hatte er bewusst provoziert. Die Frage der Zeit hätte ihn dabei kaltgelassen. Aber die Tatsache, etwas nicht mit einkalkuliert zu haben, etwas Gravierendes vergessen zu haben, trieb Hannes den Schweiß auf die hohe Stirn. Nichts war schlimmer für ihn als die Vorstellung, seine Tochter unbewusst und unverschuldet mit in den Strudel der Vergangenheit gerissen zu haben. Und wäre es nur am Rande gewesen. Es war seine, ureigene offene Rechnung mit dem Teufel. Sein ungewolltes Schicksal, das nur er selbst zu Ende leben konnte. Doris wähnte er dabei immer weit weg. Zog nicht in Betracht, was nicht sein durfte. Er hatte stets ein Bild von sauberen Lehrsälen der Uni Tübingen vor Augen. Ein Bild, in das er Doris nur allzu gern einfügte. Strebsam und brav. Er hatte es nicht einmal erwogen, dass sie daneben noch Engagement für die Höhlenforschung aufbringen könnte. Ihre Zensuren waren zu gut, um ihr freie Zeit zuzugestehen.

Hannes weilte einige Minuten fern der Gegenwart. Schließlich wischte er die ahnungsvollen Gedanken fort und hakte sich stumm bei Doris unter, als hätte es die vergangenen Minuten nie gegeben.

Hannes wusste, dass es genau diese Momente waren, die einem die Zeit unwiederbringlich entrissen. Sie gebaren diesen habgierigen Schmerz, der jedes Mal ein winziges Stück seiner Seele verbrannte. Die Zeit wird’s zeigen, was zu tun ist. Bald schon, dachte Hannes vor sich hin, als sie ins Tal zurückwanderten und das Waldgrundstück aus seinem Fokus rückte.

Doris konnte nicht wissen, welche Furcht in Hannes wohnte. Sie sah diese scharf gezeichnete Erinnerung nicht, die in ihm nach Sühne schrie. Sie ahnte es nicht einmal.

4. Kapitel

Die Falten in Maximilian Ströttners Gesicht kündeten von einem Leben, das ihm kaum Zeit gelassen hatte, seinen Reichtum zu genießen. Und er hätte es gar nicht anders gewollt. Max Ströttner sah den Perfektionismus als vaterländische Pflicht an. Sein Bruch, die Stein- und Mahlwerke AG war sein Leben. Stillstand war für ihn gleichbedeutend mit dem Beginn vom Untergang. Und seit diesem einen, großen politischen Untergang vor 35 Jahren, duldete er nicht einmal mehr einen Gedanken an diesen Heldentod, wie er es nannte.

Ströttner saß in seinem ledergepolsterten Sessel hinter dem großen Schreibtisch. Er wirkte angespannt; bei Weitem nicht so abgeklärt wie sonst. Der alternde Zementmagnat gab sich keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen. Das stumpfe Ende seines Bleistiftes schlug unaufhörlich auf die grüne Plastik-Schreibunterlage. Ihm gefiel nicht, was er hörte.

Karl Weidlinger gab auf dem kleinen, spartanischen Holzstuhl vor dem wuchtigen Möbel seines Chefs eine tragisch komische Figur ab. Der beleibte Laborleiter der StuMAG hätte zwei der unter seinem Gewicht ächzenden Stühle gebraucht, um seine Masse unterzubringen. Aber er nahm es geduldig hin. Er, der älteste Mitarbeiter der Firma, der kaum fünf Jahre vom Ruhestand entfernt war. Sein grau meliertes, fettiges Haar, glänzte auf der fleckigen, Kopfhaut. Obwohl es nicht übermäßig warm im Büro des Chefs war, hatte sein hellblaues Hemd unter seinem Laborkittel dunkle Flecken bekommen. Ströttner hatte sie sofort bemerkt. Das aufgesetzte, großspurige Gerede und die abstrusen Prognosen Weidlingers hingegen kümmerten ihn wenig. Er hörte ihm kaum zu; wusste längst, worauf er hinaus wollte. Nie war auch nur eine von seinen blumigen Prophezeiungen über herausragende, bevorstehende Anschnitte im Süden des Bruches eingetroffen.

Ströttner begann ihn mit beinahe sarkastisch wirkender Großzügigkeit zu belächeln. »Komm endlich auf den Punkt, Karl! Das soll doch eine letzte Gehaltserhöhung vor dem Ruhestand werden, oder?«

Weidlinger verstummte und blies den Atem verächtlich aus der Nase. »Und zwar eine, die sich gewaschen hat!«

Ströttner lehnte sich unbeeindruckt zurück und musterte Weidlinger abwartend aus der Distanz. Er wartete vergeblich auf eine seiner maßlos übertriebenen Hypothesen. Weidlinger machte nur eine unterstreichende Handbewegung vor seinem unförmigen Bauch. »Ich bin raus, Max.«

Ströttner griff in die Holzschatulle auf dem Tisch, nahm zwei Zigarren heraus und reichte seinem Laborleiter eine davon. Abschätzig verfolgte er, wie sie Weidlinger unbeachtet in seine nass geschwitzte Hemdtasche steckte.

»Was soll das heißen? Raus?«

Weidlinger beugte sich vor. »Ich gehe. Ab nächsten Monat bin ich nicht mehr im Betrieb. Und ich hau’ nicht ohne einen ordentlichen Batzen ab!«

Ströttner fixierte ihn, bis er seinen stechenden Blicken auswich. »In Ordnung. Reisende soll man nicht aufhalten.«

Über Weidlingers Gesicht huschte ein Hauch von Verunsicherung. »Vier Jahrzehnte lang schufte ich schon in diesem Drecksbruch. Ich weiß so viel über die Firma wie kein anderer hier! Und ich habe 35 Jahre lang das Maul gehalten.« Er schloss mit Daumen und Zeigefinger ein imaginäres Schloss vor seinen schmalen Lippen auf zu und warf den Schlüssel über seine Schulter. »Schluss damit. Ich habe genug! Verstehst du?«

Ströttner nickte wissend, ließ Weidlingers Worte an der Wand abprallen. Er hasste es, ihn als Einzigen in der Firma duzen zu müssen. »Du bist eine elementare Säule in der Firma. Es steht wieder ein Großauftrag vom Bundesverkehrsministerium ins Haus. Das bedeutet viel Arbeit für uns. Zudem bist du gerade dabei, ein verbessertes Produktionsverfahren aus der Taufe zu heben. Jetzt zu gehen, wäre Hochverrat!« Ströttner suchte in den Augen seines Laborleiters vergeblich nach wiederkehrendem Respekt. »Hast du denn gar keine Ehre im Leib?« Er gab ihm keine Möglichkeit zur Antwort, hob nur abwehrend die Hand. »Gut. Ich werde nach Erhalt des Auftrages über eine großzügige Gehaltserhöhung nachdenken.«

Der schwer atmende Laborleiter aber verzog keine Miene und schob Ströttner einen unverschlossenen Umschlag zu.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah Ströttner irritiert auf das Kuvert. Er rührte es nicht an und legte seine Hände abwartend auf seine Oberschenkel. »Was ist das? Deine Kündigung?«

Weidlingers schlecht rasierte Mundpartie verzog sich zu einem unsicheren Grinsen. »Wir reden hier nicht über eine lapidare Gehaltserhöhung. Wenn ich einen Batzen sage, dann meine ich das auch so!«

Ströttner griff nach dem Umschlag, ohne sich von Weidlinger abzuwenden. Erst im letzten Moment folgten seine Blicke dem, wonach er griff. Es war eine Fotografie, die mit der bedruckten Seite nach unten im Kuvert steckte. Weidlinger wurde ungeduldig.

»Na los! Sieh es dir an.«

Bisher war es Ströttner immer leichtgefallen, Weidlinger zu durchschauen. Jetzt aber konnte er ihm nicht mehr folgen. Eine böse Ahnung beschlich ihn, als er seine Lesebrille auf die Nase schob und das Schwarz-Weiß-Foto umdrehte.

Weidlingers Lachen erstarkte im selben Moment, in dem Ströttners Gesichtszüge fahl wurden. »Du verdammter …«

»Langsam, Max«, unterbrach ihn Weidlinger mit einem Male energisch. »Wir wollen doch nicht ausfallend werden! Aber ich sehe schon; du hast die Tragweite dieses Gesprächs erkannt, nicht wahr?«

»Woher hast du dieses Bild? Wie kann das …«, zischte Ströttner aufgebracht.

»Das ist nicht von Belang. Wichtig ist nur, dass ich es habe und daneben noch viele andere. Es gibt noch bessere und eindeutigere Bilder, die auch deine Freunde von damals in bester Pose zeigen. Es wäre doch jammerschade um die drei steilen Karrieren.«

Ströttner hatte schlagartig die Brisanz der Lage begriffen. Vor ihm lag, was er aus seinem Gedächtnis gelöscht wähnte: ein unscheinbarer, schwarz-weiß bedruckter Fotokarton. Ein Bild, das ihm in seiner schlichten Existenz seine grenzenlose Erpressbarkeit vor Augen führte. Widerwillig würgte er seine Wut hinunter, spielte auf Zeit. Er brauchte sie, um wieder einen kühlen Kopf zu bekommen und nachzudenken. »Wie viel?« knarrte es aus seiner rauen Kehle.

Vorsichtige Zufriedenheit flog über Weidlingers Mundpartie. Seine Antwort klang einstudiert: »Das Zehnfache von dem, was mir die Presse dafür bieten würde, wäre wohl angemessen.«

»Die Presse?«, entgegnete Ströttner barsch. »Und wie viel soll das sein?«

Weidlinger verschränkte die Arme vor seinem dicken Bauch. »Sieh, Max. Ich bin fett, trinke zwei Kannen schwarzen Kaffee und rauche zwei Schachteln Reval ohne Filter am Tag. Ich habe keine Familie und vielleicht noch ein paar Jahre. Ich will nicht mehr, als ich in meinen letzten Jahren verbrauchen kann.« Er wog seine Hand hin und her, als würde er sich gerade in diesem Moment über die Höhe seiner Forderung klar werden. »Sagen wir eine halbe Million.«

Ströttner wich die Farbe gänzlich aus dem Gesicht. »Das ist unmöglich!«, prustete er hervor. »Du bist verrückt!«

Weidlinger hingegen stand auf und warf Ströttner noch zwei Bilder auf den Tisch.

»Wie gut, dass ich mir meine Altersversorgung mit der Kamera gesichert habe. Im Übrigen gibt es auch noch ein paar Minuten Filmdokumentation über die Vorgänge; damals in der Dämmerung.« Er machte eine gehaltvolle Pause, in der er Ströttner mit falschem Mitleid ansah. »Damit hast du nicht gerechnet. Sag nur, derjenige, der sonst immer alles über seine Mitarbeiter weiß, ist das erste Mal fassungslos? Ich gebe dir zwei Wochen, Max. Dann wirst du das Geld auf eine Bank in der Schweiz transferieren; Nummernkonto versteht sich. Bis dahin liefere ich dir auch noch das verbesserte Verfahren und die neue Lagerstätte unseres zur Neige gehenden Mergels1. Allein das sollte es dir wert sein.«

Ströttner wirkte wie eine aus seinem eigenen Stein gehauene Büste. Er saß nur da und versprühte mit seinen Blicken vernichtende Wut. Hinter seiner regungslosen Fassade aber sinnierte er längst über einen Ausweg aus seiner misslichen Lage. Und dieser Weg nahm rasch Gestalt an. Es gab nur eine Lösung.

Es war bereits kurz vor acht Uhr, als Ströttner das Labor betrat. Weidlinger saß auf seinem Drehstuhl und hatte die Beine entspannt verschränkt von sich gestreckt, als habe er auf Ströttner gewartet. Auf seinem Gesicht lag ein Anflug des Triumphs als die Tür hart an die Wand schlug.

»Ich wusste, dass es nicht lange dauert«, säuselte er süffisant vor sich hin, ohne aufzusehen. Ströttners Stimme klang gefroren. »Wir machen das sofort.«

Weidlinger zog die Brauen nach oben und stellte seine Kaffeetasse auf den gegenüberliegenden Versuchstisch. Seine Augen hafteten fiebrig auf dem kleinen schwarzen Koffer, den ihm Ströttner vor die Füße stellte.

»Bar war nicht vereinbart«, lies er ablehnend fallen, »aber es soll mir recht sein.«

Ströttner ging ein paar Schritte zurück und lehnte sich rücklings am Arbeitstisch an, während Weidlinger gierig nach dem Koffer griff und ihn aufriss. Seine Bewegungen stockten kurz, als er die abgezählten, banderolierten Scheinstapel überstrich. Der Duft von gebrauchtem Geld kroch in seine Nase und schickte seligen Glanz in seine Augen. Er bemerkte nicht, wie Ströttner seine Kaffeetasse ertastete und die kleine Aluminiumampulle aufschraubte. Ein weißes Pulver stahl sich hinterhältig ins tiefe Kaffeebraun.

»Und nun her mit den Bildern und diesem Film!«

Weidlinger löste sich nur schwer von seinem Glück, zelebrierte an zwei Bündeln das Zählen übertrieben langsam. Dann stand er auf, öffnete seinen Schreibtisch und griff nach einer alten, grün emaillierten Schatulle. Mit unbekümmertem Gesichtsausdruck reichte er sie Ströttner. »Hier, die gesammelten Werke.«

Ströttner griff grob danach, sah ihn lange und durchdringend an. »Dann hätten wir das ja hinter uns gebracht. Gibt’s hier keinen Kaffee?«

»Kaffee? Jetzt?« Weidlinger war kurz irritiert. »Moment.«

»Und das ist auch wirklich alles?«, rief ihm Ströttner in den Nebenraum hinterher.

»Absolut«, drang es knapp zu ihm zurück. »Keine Kopien, keine weiteren Abzüge, nichts. Ich spiele nicht falsch, Max.«

Ströttner öffnete die Schatulle und schaute hinein. Er kramte über ein paar vergilbte Fotos hinweg. Jedes einzelne rief längst verdrängte Szenen in ihm wach, frischte unliebsame Erinnerungen auf. Dabei waren es weniger die damaligen Vorkommnisse, die ihn beunruhigten. Es waren vielmehr die Folgen, die sich daraus aufgedrängt hätten, wäre das Material an die Öffentlichkeit gelangt.

Als Weidlinger wieder auf ihn zukam, zog er den Filmstreifen aus der Kunststoffrolle heraus und hielt ihn unprofessionell gegen das Neonlicht an der Decke. Umgekehrt polarisierte Lichtpunkte verrieten Gesichter und Szenen; schickten ihm vergessene Details entgegen.

»Warum erst jetzt?« Ströttners Blicke huschten forschend in Weidlingers Gesicht umher.

Weidlinger zuckte nur mit den Achseln. »Nur Narren spielen ihren höchsten Trumpf am Anfang der Partie aus.« Er nickte der Schatulle zu. »Wäre ich damit vor 30 Jahren an dich herangetreten, hätte ich mir eine andere Arbeit suchen müssen und das Geld längst im Unverstand verpulvert. Es gibt für alles im Leben den richtigen Zeitpunkt. Die Kunst ist es, ihn zu sehen.«

Ströttner blieb unbeeindruckt. »Und die Aufnahmen hast du alle selbst gemacht?«

»Natürlich. Die Fotografie ist seit Kindertagen mein Steckenpferd.« Er grinste wieder zufrieden. »Das ist dir wohl auch entgangen. Was glaubst du denn, wer die große Luftaufnahme vom Bruch gemacht hat, die in deinem Büro hängt? Ich habe sie anno ’42 deinem Vater geschenkt. Kurz vor seinem Tod.« Er kniff die Lippen anerkennend aufeinander. »Das war noch ein Mann von Format und Ehre! Gott hab ihn selig.«

Ströttner berührte der Seitenhieb wenig. Er hob seine Tasse an und hielt mitten in der Bewegung auffordernd inne, während Weidlinger seinen lauwarmen Kaffee zu sich zog.

Ströttner wich einen Schritt zur Seite und griff in die Innentasche seines karierten Jacketts. Er zog einen kleinen Flachmann hervor und wollte soeben einen Schuss in Weidlingers Tasse geben, als dieser mit einem schelmisch wissenden Grinsen seine Hand darüber hielt.

»Ich denke du verstehst, dass ich dir ab jetzt mit gesunder Skepsis begegnen muss. Wer weiß, was du da in dem Fläschchen hast!«

Ströttner schüttelte den Kopf. »Was du mir zutraust, nach all der Zeit …« Er goss den Brandy in seine dampfende Tasse. »Auf so ein schmutziges Geschäft sollte man wenigstens mit reiner Flüssigkeit anstoßen. Aber wenn du nicht willst …«

Ein kleiner Rest in Weidlinger haderte noch mit sich, als er Ströttner seine Tasse hinhielt. »Wenn du selbst davon nimmst, kann es bestimmt nicht giftig sein.«

Ströttner reagierte nicht darauf, nahm den ersten Schluck, zog kalte Luft zwischen den Zähnen hindurch. Er nahm die Augen nicht von seinem Laborleiter.

Weidlinger schien beruhigt, trank seinen lauwarmen Kaffee in einem Zug aus.

»Es gibt keine Mitwisser außer dir?«

Weidlinger lächelte müde; suchte nach einem Grund für den aufkommenden Schwindel. »Ich … konnte noch nie teilen.«

Ströttner wies hastig auf eines der Bilder, als habe er es eilig. »Was ist mit Krüb und Grameisner?«

Weidlinger zwinkerte auffallend. Seine Stimme hatte abrupt an Kraft verloren: »… Wissen nichts«, stammelte er, »Polizei und Politik … sind mir … zu heiß.« Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzerfüllten Grimasse. Er griff sich panisch an die Brust. Für eine Sekunde floh sein Blick ahnungsvoll zu seiner Kaffeetasse hin, um schließlich anklagend auf Ströttner haften zu bleiben.

»Was hast du …«

Ströttner durchfuhr keine Regung, als sein Laborleiter zu Boden sank und der starre Glanz fliehenden Lebens langsam in seine Augen kroch.

»Ich habe vorgesorgt«, floh es mit dem letzten Atemzug leise aus Weidlingers Kehle. »Du wirst büßen. Schon bald.« Ein erstickendes Röcheln durchschnitt die stickige Laborluft. Dann war es still im Raum.

Ströttner betrachtete nachdenklich den leblosen Körper. Es wollte keine Zufriedenheit in ihm aufkommen. Weidlingers leise Warnung hatte eine gehasste Saat in seinen selbstsicheren Geist gepflanzt. Ein Unkraut, das schmutzig-schwarze Blüten austrieb. Blüten der Furcht.

Nach einer Weile schüttete Ströttner den Inhalt beider Tassen in den Ausguss und spülte ordentlich mit Wasser nach. Als eine dritte, frisch aufgegossene Tasse auf dem Boden neben Weidlingers Hand aufschlug, durchschnitt zerschellendes Porzellan die Stille des Labors. Dunkler Kaffee sickerte in das rechteckige Geflecht der dunkelroten Klinkerfliesen und stieg langsam im weißen Ärmel von Weidlingers Arbeitskittel auf.

Ein verächtlicher Blick verirrte sich auf das starre Gesicht des Toten, als Ströttner über ihn hinwegschritt und nach Schatulle und Koffer griff. »Jedem Verräter das, was er verdient.«

Ströttner wusste, dass spätestens in vier Stunden der Nachtwächter aufgeregt bei ihm zu Hause anrufen würde. Ihm war klar, dass er sich dann mit der Polizei hier treffen musste – mit dem Obersten vom Posten – mit Mathes Krüb.

Als Ströttner mit seinem schweren Benz über die alte Blaubrücke fuhr, hielt er in der Mitte an und stieg aus. Der eisige Ostwind trieb trockene Schneeflocken über den Asphalt. Er griff in seine Jackentasche und ließ zwei weiße Kaffeetassen auf dem Boden zerschellen. Der liegen gebliebene Schnee auf dem Trottoir dämpfte das Klirren, als er die Scherben mit seiner Schuhspitze unter dem Geländer hindurch in die Blau schob. Ströttner verfolgte die weißen Bruchstücke, bis sie vom Bart einer tanzenden Grünalge verschlungen wurden. Dann stieg er in seinen Wagen und beruhigte seine Gedanken mit der Blechdose und dem kleinen Lederkoffer auf dem Beifahrersitz. Der Spuk war vorüber; zumindest dieser.

1 Sedimentgestein, Grundstoff für die Zementherstellung

5. Kapitel

Mathes Krüb beobachtete immer wieder genervt aus dem Augenwinkel, wie Max Ströttner nervös vor der Fensterfront seiner Villa auf und ab schritt. Der Chef vom Polizeiposten Blaubeuren hatte die Arme ignorant vor der Brust verschränkt. Er sah dem Spiel der Flammen im offenen Kamin zu, als lodere vor ihm ein Heil versprechendes Orakel.

»Schlimme Sache; das mit Weidlinger«, sagte er flüchtig, um das unheimliche Schweigen zu brechen. Ströttner stierte nur gleichgültig weiter hinaus in die Nacht.

Im selben Moment hatte im oberen Hausflur eine Person innegehalten. Der eben ausgesprochene Name ließ ihre Mundwinkel zucken. Sie senkte den Kopf und zog sich ein paar Schritte ins Halbdunkel zurück. Erika war in der Ströttnervilla nicht mehr wegzudenken. Sie kannte jeden Winkel des Gebäudes, jeden Schrank und jedes einzelne Stück des teuren Geschirrs. Sie musste es kennen, als treue, schweigsame Haushälterin.

Krüb schüttelte gespielt ergriffen den Kopf und sah naiv zu Ströttner hinüber. »Wer alles im Übermaß tut … Das akute Herzversagen war die logische Folge seines Lebenswandels. Glasklar. Oder nicht?« Sein Tonfall hatte etwas Provokantes.

Ströttner strafte ihn mit einem stechenden Blick. »Schwätz’ keinen Dreck daher! Es hat sich lediglich das bestätigt, was ihm Doktor Frieser schon vor 20 Jahren prophezeit hat. Und jetzt Schluss damit!«

Erika presste unter schmerzverzerrtem Gesicht die geballte Faust gegen ihre Lippen. Das blasse Bild von Karl flog durch ihren Geist. Rachsucht stieg in ihr auf. Sie sah sich an Ströttner rächen, sah ihn um sein Leben flehen. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu einem ruhigen Atem fand.

Krüb fasste sich ergriffen ans Kinn. »Das muss ein großer Verlust für die StuMAG sein.«

»Kümmere dich um deinen eigenen Mist«, fuhr ihm Ströttner über den Mund.

Krüb sparte sich eine Antwort, nickte Ströttner nur drohend zu. Er sah die Erleichterung in seinen fahlen Zügen, als die Türglocke ging.

Bartholomäus Grameisner wirkte eisern. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt, musterte sein Gegenüber mit skeptischer Gleichgültigkeit. Er wusste sofort, was Ströttner umtrieb, als er in seine Augen sah. So wie damals auch.

Die Begegnung war alles andere als unverhofft. Grameisner verschwendete nicht einen sentimentalen Gedanken daran, wie lange sie sich nicht mehr gesehen hatten. Um das ging es nicht. Nicht heute und wahrscheinlich nie mehr. Er hätte sich vielmehr gewünscht, dieses Treffen wäre niemals vonnöten gewesen. Aber das war es; und er wusste das.

Grameisner, der Wirtschaftsminister, schwieg, als er langsam die letzte Stufe der Treppe nahm. Er ließ seinen bohrenden Blick nicht von Ströttner. So, als würde er eben in diesem Moment der Stille alle Fragen mitsamt den ungewissen Antworten aus seinem Hirn saugen.

»Welch Ehre. Der Barthel«, entwich es Ströttner leise unter einem berechnenden Lächeln. »Oder muss ich Doktor Grameisner zu dir sagen?«

Grameisner reagierte unbeeindruckt auf Ströttners Worte. »In Anbetracht der Lage ist eine Diskussion über Anredeformen wohl eher von untergeordneter Bedeutung. Ich darf eintreten?«

Ströttner ließ seinen in den Türrahmen gestemmten Arm kraftlos niedersinken. »Aber bitte. Deinen Mantel?«

»Bemühe dich nicht, Max. Höflichkeit hat dir noch nie gestanden. Ich habe nicht vor, lange zu bleiben. Die Termine, du weißt …«

Sie schritten durch den Eingangsbereich. Grameisners Augen wanderten kaum merklich über alle Auffälligkeiten in Ströttners Haus. Zuletzt über den rötlich schimmernden Marmorboden und die chinesischen Vasen, die raffiniert von irgendwoher, indirekt beleuchtet wurden. »Respekt. Da hat es jemand weit gebracht – dank mir.« Grameisners Pause zwischen den Sätzen verriet, dass er seinem Gastgeber nicht einmal den Staub auf seiner Marmortreppe gönnte. Ströttner tat so, als habe er ihn nicht gehört, und schritt voraus.

Mathes Krüb stierte noch immer in die Glut. Er machte nicht einmal den Versuch, seinen Unmut über die gezwungene Zusammenkunft zu verbergen. »Dann wären wir ja vollzählig«, stieß er gallig hervor und hieb mit seiner zusammengerollten Zeitung ungeduldig in seine hohle Hand. »Heraus mit der Sprache. Weshalb hast du uns herbestellt? Wegen Weidlingers Tod wohl kaum.«

»Du warst noch nie eine Leuchte, Mathes«. Ströttner blies den Atem abschätzig durch die Nase. »Hast es anscheinend schon vergessen, was uns drei verbindet?«

Sofort legte sich eine vergiftete Stille in den Raum. Krüb wandte sich von Ströttner ab.

Grameisner entfloh nur ein widerwilliger Seufzer, als ekele ihn allein der Gedanke an diese wirre, verdrängte Zeit an. Und, weiß Gott, er tat es auch. Der routinierte Landespolitiker besaß einen sechsten Sinn für heraufziehende Gewitter. Er kannte dieses elektrisierende Knistern im Raum. Und er kannte diese zähen, wortfaulen Sitzungen, gleich, wie sie sich auch tarnten. Er wusste um ihre unscheinbare Essenz, die etwas nahezu Lebendiges schufen. Etwas, das gefestigte Existenzen zielgenau ins Chaos lenkte, das steile Karrieren lautlos begrub. Der Zeitpunkt, an dem es nicht mehr aufzuhalten war, hatte eine ganz bestimmte, fahle Aura an sich. Ein unscheinbarer Todesbote am Wegrand der Konversation. Grameisner aber hatte gelernt, dennoch Fassung zu behalten. Er mimte den Überraschten.

»Weidlinger? Dein Laborleiter ist tot?«

Ströttner nickte, warf ihm nur einen kurzen, bestätigenden Blick zu.

In Grameisner stieg ein Gefühl des Unbehagens auf. Er sah Ströttners zuckende Augen. Nahm genau wahr, wie ein Hauch von Unsicherheit an seiner selbstsicheren Maske zerrte. Grameisner wollte das Geheimnis, das sie verband, für alle Zeit behütet wissen, wollte sich in gewohnter Sicherheit wiegen. Doch die heile Welt gab es nicht mehr. Irgendetwas war aus dem Lot gekommen, hatte das Pendel des Vergessens aus seinem gleichmäßigen Takt gebracht. Grameisner verschränkte seine Arme, überlegte laut: »Es ist dieser Bursche. Wie hieß er noch?«

Ströttner winkte in einer Geste der Lächerlichkeit ab. »Der Hitlerjunge? Nein. Der wird uns nichts mehr anhaben. Er ist schon in den 60ern weggezogen. Ich habe ihn seither nie wieder gesehen. Der hat das Ganze längst vergessen. War ja noch ein Kind damals.« Ströttner überbrückte das Schweigen in der Runde. Er nahm eine Zigarre aus einer edlen Holzschatulle und steckte sie sich grob an der Glut des Kaminfeuers an. Grameisner zog pikiert die Brauen nach oben. Ströttner war ganz offensichtlich in jeder Hinsicht der Alte geblieben. Alles, was er tat, was er anfasste oder gar nur betrachtete, war von kaltem Zorn erfüllt. So, als könne er selbst leblosen Dingen Schmerzen zufügen. Grameisners abgenutztes Bild der Erinnerung versank in einer Wolke bläulichen Zigarrenqualms.

»Es ist was anderes im Busch«, knarrte es rauchgedämpft aus Ströttners Kehle. »Der Höhlenverein macht Schwierigkeiten.«

Krüb grunzte amüsiert. »Der Höhlenverein? Alle Höhlen im Blautal sind zuverlässig verschlossen. Außerdem würde sich dort sowieso kein vernünftiger Mensch hineinwagen!«

»Ich spreche nicht von vernünftigen Menschen, sondern von Höhlenforschern!« Blaffte Ströttner zurück.

Grameisner sah gehetzt auf seine sündteure Armbanduhr und ging ungeduldig dazwischen. Seine Frage klang wie ein Befehl. »Würdest du die Freundlichkeit besitzen und endlich auf den Punkt kommen, Max!«

Ströttner ging ein paar Schritte in den Raum, um sich dann abrupt umzudrehen.

»Sie haben eine Grabungsgenehmigung bei der Stadt gestellt.«

Krüb zuckte mit den Schultern. »Was geht uns das an?«

Ströttner reagierte nicht, sah nur in Grameisners nachdenkliches Gesicht.

»Wie weit ist es entfernt?«, kam es ahnungsvoll von ihm.

Ströttner entrollte schwungvoll eine Landkarte auf dem wuchtigen Mahagonitisch. Sein Zeigefinger zog eine unsichtbare, alles verdeutlichende Linie auf dem Papier.

»Rund 520 Meter Luftlinie vom Bruch, etwas über 300 von …«, er zögerte, »… ihr wisst schon.«

Grameisner nickte bitter, während aus Krübs Zügen nur naiver Zorn sprach.

»Erstens«, begann er selbstbewusst, »halte ich es für unwahrscheinlich, dass eine unterirdische Verbindung besteht, und zweitens wird dieses Grabungsgesuch durch den Gemeinderat und letztlich den Bürgermeister abgelehnt. Das kann doch für dich und deinen Sohn kein ernsthaftes Problem darstellen. Ich begreife nicht, weshalb du uns beide wegen einer solchen Lappalie …«

»Halt’s Maul, Dorfbüttel!«, explodierte Ströttner. Er warf seine kubanische Cochiba mit wütender Verachtung ins lodernde Kaminfeuer und schritt forsch auf Krüb zu. »Lappalie!«, donnerte er. »Wenn es so einfach wäre, stünden wir heute nicht hier!« Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Färbversuche ergaben, dass die Stelle an der gegraben werden soll, direkt in den Blautopf entwässert. Unser Problem ist bekanntlich nicht weit davon entfernt. Und was die Genehmigung anbelangt …«, er machte eine kurze Pause, in der er verlegen die Lippen aufeinanderpresste, »sie wurde vorgestern erteilt.«

Für einen Moment war es ruhig. Barthel fuhr sich nervös durch die grauen Haare. Nun zuckten auch seine Augen unruhig hin und her. Ströttners letzter Satz hatte ihn seiner Hoffnung beraubt, es würde sich lautlos bereinigen lassen.

Krüb fächelte mit seiner zusammengerollten Zeitung unablässig durch die Luft. »Ich habe es damals schon gesagt! Das wird uns irgendwann einholen.«

»Und nun hat der Ströttner nicht einmal mehr seinen Filius im Griff!«

Ströttner fuhr aufgebracht herum. »Liegt es etwa in meiner Hand, wenn dieser rote Stadtrat, Kühnel, in Vertretung handelt? Einmal im Jahr darf der Bürgermeister ja wohl auch in den Urlaub gehen!«

Krübs Stimme überschlug sich. »Dann soll er das Ding, verdammt noch Mal, wieder rückgängig machen, wenn er wiederkommt!«