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Die Albträume, die Udo Wieczorek in der frühen Kindheit plagen, erzählen von hohen Bergen und Krieg. Er verdrängt sie, bis sie ihn Jahre später wieder einholen. Er geht auf Spurensuche, findet in Südtirol ein vertrautes Tal und wandert auf alten Pfaden. Déjà-vus und schrecklich real anmutende Träume leiten ihn 1997 schließlich zu einem Fund auf einem ehemaligen Schlachtfeld. Er findet, wovon er nachts zuvor geträumt hatte: die Botschaft eines sterbenden Soldaten aus dem Jahr 1915.
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Seitenzahl: 470
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Udo Wieczorek / Manfred Bomm
Seelenvermächtnis
Udo W.: Mein zweites Leben
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Udo Wieczorek: Nachthall (2015)
Manfred Bomm: Lauschkommando (2015), Machtkampf (2014), Grauzone (2013), Mundtot (2012), Blutsauger (2011), Kurzschluss (2010), Glasklar (2009), Notbremse (2008), Schattennetz (2007), Beweislast (2007), Schusslinie (2006), Mordloch (2005), Trugschluss (2005), Irrflug (2004), Himmelsfelsen (2004)
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© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2015
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos der Familie Fulvio Weiss, Centa (Porträt), sowie Udo Wieczorek (Brief)
ISBN 978-3-8392-4868-3
Dies ist kein Buch, das um jeden Preis überzeugen will.
Es ist ein Buch, das alle denkbaren und undenkbaren Ansichten toleriert.
Dies ist ein Buch, das denjenigen, der es liest, vielleicht ein klein wenig verändert.
Nachfolgendes hat sich tatsächlich zugetragen.
Dialoge stellen keine Zitate dar. Aufgrund des zeitlichen Abstands werden Gespräche im Folgenden so inhaltsgenau wie möglich wiedergegeben.
Es gibt Geschichten, die dürfen nicht wahr sein. Sie sind viel zu fantastisch für unsere materiell eingestellte Welt. Der »moderne Mensch« verdrängt, was nicht ins gewohnte Weltbild passt. Er hat für Schilderungen des Unglaublichen und Mysteriösen allenfalls ein mitleidiges Lächeln übrig. Oder er wagt es nicht, darüber zu sprechen. Denn was sich nicht wissenschaftlich plausibel erklären lässt, wird leider allzu oft als Spinnerei oder Hirngespinst abgetan. Davon aber ist diese Geschichte, die hier dargestellt werden soll, weit entfernt. Dies, obwohl sie grenzwissenschaftliche Bereiche berührt.
Die Autoren dieses Buches, Udo Wieczorek und Manfred Bomm, sind sich der Komplexität dieses Themas bewusst. Aber sie wagen den Versuch, das Unerklärliche zu dokumentieren. Sie wollen zum Nachdenken anregen und es letztendlich dem Leser überlassen, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind. Die Geschichte, die sich in allen Details so zugetragen hat, wie sie es aufgeschrieben haben, soll aber eines belegen: dass es jenseits unserer Vorstellungswelt noch etwas gibt, das wir nicht zu ergründen vermögen. Als Trost, Hoffnung und Zuversicht. Unabhängig davon, ob wir an Gott glauben oder nicht.
Die Autoren versichern, nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert und dokumentiert zu haben.
Die zentralen Fragen, die sich daraus ergeben, sind so alt wie die Menschheit: Ist der Tod wirklich das Ende oder ist er etwa ein Neuanfang?
Kommen wir möglicherweise wieder – und was tragen wir dann aus der Vergangenheit in uns? Udo Wieczorek hat jahrelang nach einer Antwort gesucht und ist dabei auf viel Unerklärliches gestoßen. Es war ein weiter Weg, der mit anhaltenden Albträumen in Kindheitstagen begonnen hat und erst jetzt seinen Abschluss in einem Vermächtnis findet, dessen Bestandteil diese Dokumentation ist.
Udo Wieczorek beschreibt detailliert, wie ihn die rätselhaften und bisweilen dramatischen Träume in eine Vergangenheit zurückversetzt haben, die ihm zunächst völlig fremd erschien. Es waren immer nur einzelne Szenen, die sich wie Fragmente eines zerschnittenen Schwarz-Weiß-Films wiederholten, ergänzten und erst Jahre später ein abgerundetes Bild ergaben, das einen unglaublichen Einblick gewährt: in Wieczoreks früheres Leben als Soldat im Ersten Weltkrieg.
Wieczorek, der die Träume auf einfühlsame Weise schildert, lässt die Leser an den kurzen Szenen und deren schnellem Wechsel in kursiv gedruckten Abschnitten teilhaben. Die Schilderungen seiner detektivischen Spurensuche, das Eintauchen in die eigene Vergangenheit liest sich so spannend wie ein Kriminalroman. Und das Unglaubliche: Für das, was er geträumt hat, fanden sich sogar an Ort und Stelle Beweismittel.
Wieczorek weiß jetzt, dass er einmal Vinz hieß und im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Folgt man dem Unerklärlichen, so wurde er 63 Jahre später in Ulm wiedergeboren – mit all der Last, die seine Seele aus dem vorherigen Leben mitgebracht hat. Dies mag seltsam und befremdend klingen. Doch bei ihren akribischen Nachforschungen sind die beiden Autoren immer wieder auf erstaunliche Übereinstimmungen gestoßen. Und eben dies zeichnen sie in diesem Buch nach. Udo Wieczorek, der als Betroffener nicht nur seine Geschichte erzählt, sondern auch seine Gefühle schildert – und Manfred Bomm, der als kritischer und an tiefgreifende Recherche gewohnter Journalist die Spurensuche organisiert und begleitet hat.
Was im Folgenden geschildert wird, fußt also in der Zeit um den Ersten Weltkrieg in Sexten im Südtiroler Pustertal, nahe der damaligen Grenze zu Italien. Man schreibt das Jahr 1915. Der Erste Weltkrieg erreicht die romantisch-idyllischen Dolomiten-Täler. Die Front zwischen Italien und Österreich-Ungarn verläuft quer über das Gebirge – genauer gesagt: direkt durch Sexten. Irgendwo dort oben, auf einem einsamen Gipfel, stehen sich zwei junge Männer gegenüber, die einst unzertrennliche Freunde gewesen waren. Dass sie eines Tages Feinde sein würden, ist eine Tragik, die in unserer Geschichte die entscheidende Rolle spielt. Wie wir heute wissen, kämpft einer der beiden, Vinzenz, als Kaiserjäger auf österreichisch-ungarischer Seite. Der andere, Josef, auf Seiten des Königreichs Italien.
Das Geschehen rankt sich um den im Sterben liegenden Soldaten namens Vinz, dessen Schicksal, wie wir heute wissen, nicht tragischer hätte verlaufen können. Sein Tod gibt 1915 den Anstoß für eine unglaubliche Schicksalsfügung, die den Autor Udo Wieczorek wie aus heiterem Himmel trifft und nicht mehr loslässt. Bis ins Jahr 2013 hinein, das Jahr der Wahrheit.
Die beiden Autoren haben sich seines Vermächtnisses angenommen; in aller Bescheidenheit, Demut und Ehrlichkeit.
Um verstehen zu können, wie sich die politische Situation zu Beginn des Ersten Weltkrieges im heutigen Südtirol dargestellt hat, sei ein grober Blick auf die Geschichte gestattet:
Das Königreich Italien war bis zum Kriegsausbruch im Jahr 1914 Bündnispartner der sogenannten Mittelmächte, zu denen damals das Deutsche Reich sowie Österreich-Ungarn gehörten. Nach dem Attentat von Sarajevo, bei dem der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand von einer separatistischen Untergrundorganisation ermordet worden war, scherte Italien aus dem Dreibund aus, wahrte jedoch seine Neutralität bis in den Mai des Jahres 1915.
Auf Drängen von Frankreich, England und Russland, die das sogenannte »Entente-Bündnis« geschlossen hatten, gab Italien schließlich seine neutrale Haltung auf und erklärte Österreich-Ungarn den Krieg. Am 28. Mai 1915 marschierte die italienische Armee im Süden von Tirol gegen die Donaumonarchie auf, die zu diesem Zeitpunkt nahezu verteidigungslos vor der Übermacht stand. Die wehrfähigen Männer kämpften bereits seit 1914 an der weit entfernten Ostfront gegen Serbien und Russland. Es war den Standschützen1 und den Kriegsfreiwilligen zu verdanken, dass das damalige Südtirol nicht sofort von der italienischen Armee überrannt wurde. Die schwache Front hielt bis zuletzt – vom Ortler bis zum Isonzo, quer durch die Dolomiten und eben auch in Sexten im Hochpustertal, wo sich die in diesem Buch erzählte Geschichte ereignete.
Direkt am Kreuzbergpass lag die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und Italien und somit auch die direkte Front. Dort, wo noch heute die Sprachgrenze verläuft, wo sich das Wasser zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer entscheidet, wurde um jeden Quadratmeter der kargen Erde gerungen, um dabei mehr zu verlieren, als man jemals hätte gewinnen können. Es waren einzelne Gipfel, Scharten oder Grate, um die erbittert und mit allen Mitteln gekämpft wurde. Dort, am Kreuzbergpass, wo sich das Gelände etwas weniger schroff zeigt, wurden schwerste Waffen eingesetzt. Die Gemeinden Sexten und Moos lagen dabei nicht nur innerhalb der aktiven Kampfabschnitte, sondern auch in der Reichweite der feindlichen Artillerie. Bereits 1915 wurden die Orte Ziel und Opfer eines verheerenden Brandes. Die Gemeinde musste evakuiert werden. Und eben dort hat etwas stattgefunden, was seltsamerweise mit einem Menschen verbunden zu sein scheint, der diese Zeit nie erlebt hat, der dieses Tal bis zum Jahr 1994 nie besucht hatte. Einem Menschen, der über viele Jahre hinweg nicht wusste, wie ihm geschieht …
Der Frontverlauf zwischen Österreich-Ungarn und Italien zu Beginn des Krieges im Jahre 1915. (durchgezogene Linie).
Die Front im Süden zwischen Ortler und dem Mittelmeer. (Quelle: V. Schemfil) Am rechten Bildrand, Sexten und der Kreuzbergpass.
Der Frontverlauf im Abschnitt Sexten zwischen Rotwand und Kreuzberg.
1 Erste Verteidiger an der Südfront, gebildet aus Schützenformationen Tirols.
Seit ich Udo Wieczorek zum ersten Mal begegnet bin, frage ich mich, ob alles, was danach geschah, wirklich nur zufällig passiert ist. Die Vorstellung, dass es so geschehen musste, ist beruhigend und unheimlich zugleich.
Eines Tages im Frühjahr 2009 legte mir einer meiner Redaktionskollegen ein dickes Buch auf den Schreibtisch. Ich solle es bei Gelegenheit lesen und einen kleinen Artikel im Feuilletonteil unserer Zeitung darüber veröffentlichen. Auf dem Cover ein roter Adler, dazu der Titel: »Flieg, mein roter Adler«. Der Name des Autors, ein gewisser U.W. Mercz, sagte mir nichts. Ein Pseudonym, wie ich später erfuhr.
Der kurzen Beschreibung meines Kollegen nach war dieser U.W. Mercz alias Udo Wieczorek ein bodenständiger Beamter. Er sei von Kindesbeinen an bergbegeistert und klettere in jeder freien Minute entweder in den Höhlen der Schwäbischen Alb oder im Allgäu herum.
Der Klappentext seines Romans ließ auf ein erfundenes Kriegsdrama im Gebirge schließen. Eine Geschichte zweier junger Bergsteiger, die der Krieg entzweit. Die kurze, blumige Erläuterung hat mich dabei nicht besonders eingenommen. Ich tat den Inhalt als einen ganz normalen Roman mit erfundener Handlung ab, ahnte also nicht, welche Brisanz sich zwischen den Zeilen des 700 Seiten starken Wälzers verbarg.
Abgeschreckt vom erheblichen Umfang, deponierte ich das Buch ungelesen auf dem Fenstersims neben meinem Redaktionsschreibtisch. Dort verstaubte der Roman dieses unbekannten Autors. Ich konnte nicht wissen, dass mich diese Geschichte schon bald nicht mehr loslassen würde, dass in ihr möglicherweise ein atemberaubender Beweis schlummerte. Der Beweis für das, was es schlicht nicht geben konnte, das mit unseren Sinnen nicht zu erfassen zu sein schien. Etwas, das Udo Wieczorek aus gutem Grund lange für sich behalten hatte.
Anfang Oktober 2009 fuhr ich mit meiner Partnerin für eine Woche mit dem Wohnmobil in die Dolomiten zum Wandern. Ich hatte mich wieder des »Adlers« entsonnen und ihn mit auf die Reise genommen. Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht bewusst, wo genau sich die Geschichte um Vinzenz und Josef, die beiden Protagonisten in Wieczoreks Roman, tatsächlich abspielte. Ich war kein besonderer Kenner der Historie des Ersten Weltkrieges und wusste schon gar nichts vom Frontverlauf in den Alpen.
Es war um den 3. Oktober, als ich eines Abends auf dem komfortablen Campingplatz in Sexten, unweit der Drei Zinnen, zu Wieczoreks Roman griff. Die Widmung versprach Tragik: »Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die ihr einsames Grab in den Bergen ihrer Heimat gefunden haben. In den Bergen, die wir heute so lieben, die auch sie einst geliebt haben. Diese Zeilen gehören jenen, an die sich niemand mehr erinnert«.
Worte, die genauso gut am Anfang unseres jetzigen Buches stehen könnten. Denn an viele der zahllosen Gefallenen erinnern tatsächlich kaum mehr als ihre in Stein gemeißelten Namen auf den gleichförmigen Kreuzen der Soldatenfriedhöfe. Würde man versuchen, das Schicksal eines bestimmten Gefallenen nachzuvollziehen, wäre man auf Chronisten, historische Archive oder die Erzählungen von Nachkommen angewiesen. Dass ich rund vier Jahre später genau diesen Weg beschreiten sollte – zusammen mit Wieczorek –, hätte ich nie für möglich gehalten.
Wieczoreks erstes Buch lässt die Leser darüber im Unklaren, inwieweit der Einstieg in seine Geschichte Fiktion oder Wirklichkeit ist. Es geht um einen Traum, dem er im Romanstil nachspürt – irgendwo an der Dolomiten-Front des Ersten Weltkriegs. Er entführt seine Leser in die Zeit vor dem drohenden Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Italien 1915, als die Freundschaft der beiden jungen Männer Vinzenz und Josef zerbricht. In den Wirren der Vorkriegszeit auseinandergerissen, kämpfen sie schließlich auf verschiedenen Seiten. Der Leser ahnt, wohin die Geschichte führt: Es wird irgendwann zu einem tragischen Wiedersehen kommen.
Wieczorek berührt den Leser mit bewegend geschilderten Gefühlen und beschreibt die Schönheiten der Bergwelt so plastisch, als sei er selbst ein Teil des damaligen Geschehens gewesen. Ich staune über sein literarisches Talent. Offenbar kann er sich mühelos in eine Epoche hineinversetzen, die uns, mit dem Abstand eines Jahrhunderts, schon beinahe fremd erscheint. Erstaunlich, denke ich, wie erschreckend treffend er die Gefühlswelt der Soldaten darstellt, seine Schilderungen versetzten mich mitten in diese grausame Zeit, als rund um Sexten ein unaufhörliches Stahlgewitter niederging. Nach wenigen Seiten des Lesens aber kroch eine Gänsehaut über meinen Rücken. Konnte das sein? Spielte die Handlung dieses Buches, das ich so lange unbeachtet hatte liegen lassen, exakt dort, wo ich es nun zufällig las – direkt hier? War dies der Kriegsschauplatz gewesen, den mir dieser Autor vor Augen führte? Und mit einem Mal war es da, dieses elektrisierende Gefühl. Ich erkannte, dass das Areal des heutigen Campingplatzes exakt im damals hart umkämpften Gebiet lag. Der Kreuzbergpass, den Wieczorek mehrfach erwähnt, ist nur zwei Kilometer entfernt – und der Seikofel, ein 1.900 Meter hoher überwucherter Höhenrücken, erhebt sich gleich hinter dem bewaldeten Hang des Campinggeländes. Ich war tatsächlich da, las mich mit jeder Zeile aktiver in das Geschehen ein, das eben hier stattgefunden hatte, ziemlich genau 94 Jahre später. Ein Zufall?
Die folgenden Seiten verschlang ich richtiggehend. Und je mehr ich mich in den einnehmenden Stil Wieczoreks einlas, sah ich auch die gut zwischen den Zeilen versteckten Botschaften. Ausdrücke und Formulierungen, die erst dann unter die Haut gehen, wenn die Augen schon zwei Zeilen vorausgeeilt sind. Ich mochte gar nicht so recht glauben, dass dieses Buch von einem nüchtern und analytisch denkenden Beamten stammte. Doch irgendetwas schien ihn bestärkt zu haben, nicht einfach über sein persönliches Schicksal hinwegzugehen. Ein Schicksal, das tatsächlich eng mit seinem Buch verbunden ist, das er eben in seinem Roman zu verarbeiten versucht hat – ohne sich selbst darin zu nennen.
Als ich gegen Ende meiner Urlaubswoche beim Nachwort angelangt war, das er mit der mystischen Überschrift »Das Dahinter« beginnt, wurde ich ein weiteres Mal stutzig. Wieczorek schreibt plötzlich in der Ich-Form, macht den Leser glauben, er selbst sei ein Teil der Geschichte. Er berichtet von zahllosen Träumen, in denen er all die Schrecken seines Buches selbst durchlitten hat, erzählt von einem mysteriösen bestätigenden Fund. Hier in einem der Schützengräben. Sofort begann mich eine gewisse Ahnung zu beschleichen: War das wirklich noch Fiktion oder etwa der wahre Kern der Geschichte? Mit jeder Zeile, die ich las, wuchs meine Neugier, bis zum Schluss, bis zum letzten Wort, das mir meine Vermutung weder bestätigte noch versagte. Dennoch: Auf diesen letzten Seiten schien sich mehr zu verbergen als im ganzen Buch zuvor. Ich sah auf die Rückseite des Covers, versuchte, die unscharfen alten Lettern zu entziffern, studierte ungläubig die zwei dort abgebildeten alten Münzen. Ein geschickt arrangiertes Ensemble? Oder ein versteckter Fingerzeig darauf, dass es zwischen Himmel und Erde tatsächlich noch mehr gab, als wir uns vorstellen können? Hat Wieczorek wirklich etwas gefunden, wovon er lediglich träumte? Etwas, das seinen Ursprung in einer Zeit hatte, in der er noch gar nicht lebte? Wenn ja, wie war das möglich?
Wenn ich mit meinem heutigen Wissen Wieczoreks Nachwort »Das Dahinter« noch einmal lese, erscheint es mir in einem völlig anderen Licht. Ich weiß nun, dass er darin sein persönliches Anliegen niedergeschrieben hat; weiß, dass er mit seiner feinfühligen Ausdrucksweise jedem Leser bewusst die Möglichkeit offen lässt, sich ein eigenes Bild der Dinge zu machen. Letzten Endes kommt darin die essenzielle Frage zum Ausdruck, die uns in diesem Buch beschäftigt – ganz sachlich, ohne Sensationsgier:
Ist es möglich, dass Wieczorek schon einmal gelebt hat? Damals im Krieg – bis 1915?
Nüchtern betrachtet: Sofern diese Zeilen der Wahrheit entsprachen und diese abgebildeten Gegenstände wirklich authentisch waren, wäre ich auf etwas gestoßen, auf das ich schon ein Journalistenleben lang gewartet hatte – auf etwas, das man nicht erklären kann; auf etwas Unfassbares.
Als ich mir wieder den nötigen Freiraum verschafft hatte, ließ ich mir von meinem Kollegen Anschrift und Telefonnummer des Autors geben. Ich musste ihn kennenlernen, diesen Wieczorek, musste wissen, was das für ein Mensch ist. Und ich wurde letztendlich überrascht.
Unser erstes Telefonat verlief seinerseits zurückhaltend. Ich spürte sofort, dass Wieczorek gewisse Hemmungen im Umgang mit Journalisten hatte. Er schien verständlicherweise misstrauisch, was mir allein schon ein Indiz dafür war, dass ich mit meiner These richtig lag. Schließlich riskierte ich die direkte Frage, ob die in Vor- und Nachwort seines Romans geschilderten Träume und der mysteriöse Fund auf Tatsachen basierten – und er antwortete mit einem zögerlichen »Ja«. Er schlug ein Treffen vor, bei dem er mir auch etwas vorlegen könne – ein »Artefakt«, wie er sich ausdrückte. Ein Fundstück also – für das Unmögliche?
Ich rief mir die Münzen auf dem Cover seines Buches in Erinnerung. Sollte es in der Tat etwas Greifbares zu dieser Geschichte geben?
Es war schließlich der 26. Juni 2010, als ich mit meiner Partnerin, die gegenüber solchen Dingen überaus skeptisch eingestellt ist, Richtung Ulm zu den Wieczoreks fuhr.
Wir werden freundlich aufgenommen, obgleich eine höfliche Distanz zu spüren ist. Wie ich erkennen lasse, keiner jener Journalisten zu sein, die sich mit kaltschnäuziger Arroganz über Themen wie diese echauffieren, scheint das Eis langsam zu brechen. Wieczorek und seine Frau werden zunehmend gesprächiger.
Ich war damals sehr auf das spätere Urteil meiner Partnerin gespannt. Sie ist so etwas wie die sachlich-nüchterne Kritikerin im Hintergrund, die mich manchmal auf den Boden der Tatsachen zurückholen kann, wenn ich ein Thema allzu euphorisch angehe. Doch diesmal sollten wir uns am Ende des langen Abends einig sein: Wieczoreks emotionale Erzählungen waren authentisch. Vollends überzeugt haben uns seine »Artefakte«. Handfeste Fundstücke, unwiderlegbare Hinweise aus einer fernen Zeit, als hätten sich seine Träume in ihnen für immer vergegenständlicht.
Am Ende der langen Unterhaltung mit den Wieczoreks unternahm ich einen ersten zaghaften Versuch, Wieczorek von der Bedeutung seines Erlebnisses zu überzeugen und davon, ein weiteres Buch zu verfassen – über seine Erlebnisse. Doch er zeigte keinerlei Interesse daran. Er selbst habe nach dem Erscheinen seines Buches den inneren Frieden gefunden, sagte er. Es ginge bei der ganzen Sache auch nicht um seine Person, sondern um jenen Vinz und um sein Vermächtnis. Ich verstand sofort: Ihm war weder daran gelegen, in die Öffentlichkeit zu treten, noch aus der Geschichte irgendwie Kapital zu schlagen.
An jenem Juniabend machte er auf mich den Eindruck eines zufriedenen Mannes, der zwar wusste, dass etwas Außergewöhnliches mit ihm geschehen war, sich jedoch mit erstaunlicher Gelassenheit damit abgefunden hatte. Ich kann bis heute nicht beurteilen, ob er sich damals überhaupt der Tragweite dessen bewusst war, was ihn seit dem vierten Lebensjahr begleitet hatte und welch ungeheure Botschaft ihm indirekt zuteil geworden war. Während ich seine Artefakte ehrfürchtig in den Händen hielt, wirkte er auf mich, als sähe er darin ganz normale Gegenstände. Mitbringsel, Andenken, die wie selbstverständlich zu ihm gehörten. Nur eben aus einer anderen Zeit.
Die Zeichen, die Wieczorek von seiner Kindheit an vernommen hatte, waren nicht laut. Sie waren leise und dennoch so schonungslos eindrücklich und nachhaltig, dass er sie nicht als Einbildung abtun konnte. Hätte er geschwiegen, wäre seine eigene Geschichte, der letztendliche Auslöser für dieses Buch, verloren gegangen. Doch irgendetwas stimmte ihn um; ließ ihn anfangen zu schreiben – das Ganze noch einmal schmerzlich durchleben, um es zu Papier zu bringen. Ganz aus seiner Sicht. Woher diese Einsicht kam, vermag ich bis heute nicht zu sagen. Ich bin lediglich froh darum, dass er diesen Schritt gewagt hat. Vielleicht tat er es wegen des zeitlichen Abstandes gegenüber der erlebten Vergangenheit. Vielleicht aber auch nur aus einem Pflichtgefühl gegenüber sich selbst.
Als Wieczorek damals im Wintergarten beginnt, jene Ereignisse zu schildern, die sein Leben ein gutes Stück weit geprägt haben, herrscht andächtige Stille. Er spricht fast vier Stunden lang und schließt mit jenem ebenso subtilen wie eindringlichen Vermächtnis, das sowohl sein erstes als auch dieses Buch enthält:
»Schreib alles auf, so wie du es siehst.«
Und nichts anderes haben wir getan. Ein jeder aus seiner Sicht.
Ich widme meine nachfolgenden Zeilen
Joel, Jasmin und meine Eltern
*
und allen, die bisher nicht den Mut hatten, über ihr Schicksal zu reden.
Die Taschenbuchausgabe meines Romans, die Manfred Bomm anlässlich unseres Treffens mitgebracht hat, ist abgegriffen. Besonders die Seiten des ersten und letzten Kapitels– natürlich jene. Alles andere hätte mich auch gewundert. Manfred Bomm ist erfolgreicher Krimiautor und Journalist. Seine Hand liegt auf meinem Schmöker, als läge vor ihm ein schlagender Beweis nach langer Recherche. Mein Beweis– für was auch immer. Ich dachte lange, ich wäre am Ziel, hätte mit diesem Buch einen guten Abschluss gefunden– für ihn und für mich. Mein innerer Zustand war »stabil«. Aber er war nicht vollkommen, war nicht rund. Insgeheim wusste ich: Dieses Buch wird dich nicht loslassen, solange du lebst. Weil es ein Teil von dir ist– weil du ein Teil von ihm bist.
Bomms Blick ist offen, klar; suggeriert ehrliches Interesse. Er versichert mehrfach: So treffend, wie ich mein gesamtes Buch geschrieben hätte, nähme er mir jedes Wort ab. Steht er etwa für einen neuen Abschnitt meiner Geschichte? Wird er, als Journalist, Klärung in die verbliebene Rätsellandschaft bringen? Ich sträube mich gegen die Hoffnung, stecke mein geistiges Terrain ab. Nicht etwa, weil ich diesem Bomm nicht traue. Vielmehr weil mich allein der Gedanke an meinen bisherigen Weg schmerzt.
So etwas denke sich niemand einfach nur aus, sagte er. Für ihn lese sich das, als wäre ich vor beinahe 100 Jahren selbst dort gewesen.
Ob er wohl weiß, wie nahe er dem Kern der Sache mit diesem Ausspruch ist? Sicher nicht. Für einen Augenblick ruht mein Blick auf einem hölzernen Bilderrahmen, der auf der Ablage steht. Wohl nur ein unscheinbares Artefakt. Und dennoch vereinigen sich für mich in dieser kleinen Reliquie das Jetzt und das Einst. Sie ist Omen und Orakel zugleich, ist die einzige Rückversicherung, nicht verrückt zu sein. Die Reise, die mich zu ihr geführt hat, war lang und kraftraubend. Und wenn ich an die vielen schmerzlichen Wegmarken darin denke, ist sie es bis zu dieser Sekunde. Ich bilde mir tatsächlich ein, eine Entscheidung treffen zu können, ob diese Reise weitergehen soll. Dabei tut sie es bereits, ungeachtet meines fehlenden Mutes. So wie immer.
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