Nahaufnahmen. Fünfzig Gespräche mit dem Leben - Gero von Boehm - E-Book

Nahaufnahmen. Fünfzig Gespräche mit dem Leben E-Book

Gero von Boehm

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Beschreibung

Seit mehr als drei Jahrzehnten interviewt der Autor, Regisseur und TV-Produzent Gero von Boehm Prominente aus der internationalen Kulturszene. Seinem besonderen Einfühlungsvermögen sind intensive, intime Porträts zu verdanken, die den Gesprächspartnern neue, unbekannte Seiten entlocken. Gero von Boehm hat sie alle getroffen: Künstler, Musiker, Schriftsteller, Theater- und Filmregisseure, Schauspieler, Modemacher, Architekten und andere außergewöhnliche Persönlichkeiten. »Nahaufnahmen« versammelt die Highlights dieser Interviews – unter anderem mit Roman Polanski, Federico Fellini, Ernst Jünger, Arthur Miller, Helmut Newton, Peter Handke, Orhan Pamuk, Ulrich Tukur, David Chipperfield, Jonathan Meese, Michael Ballhaus, Susan Sontag, Patti Smith, Golo Mann, Norman Mailer, Hans Magnus Enzensberger, Anne-Sophie Mutter, Loriot und zahlreichen anderen. Neben bereits veröffentlichten enthält der Band zum großen Teil neue, bisher unveröffentlichte Gespräche – ein höchst anregender, oftmals überraschender Blick hinter die Kulissen des kulturellen Lebens unserer Zeit.

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Das Buch

»Nahaufnahmen« versammelt fünfzig Highlights der Gespräche, die Gero von Boehm in den letzten Jahren geführt hat – unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Ferdinand von Schirach, Daniel Kehlmann, Jonathan Meese, Martina Gedeck, Paul Auster, Anselm Kiefer, Susan Sontag, Daniel Libeskind, Armin Mueller-Stahl, Harry Belafonte, Till Brönner und zahlreichen anderen. Neben bereits legendären enthält der Band neue, bisher unveröffentlichte Interviews – ein höchst anregender, oftmals überraschender Blick hinter die Kulissen des kulturellen Lebens unserer Zeit.

Der Autor

Gero von Boehm, geboren 1954 in Hannover, ist seit mehr als dreißig Jahren ein erfolgreicher TV-Regisseur und -Produzent. In seinen Gesprächsformaten »Wortwechsel«, »Gero von Boehm begegnet ...« oder »Close up« interviewt er Prominente der zeitgenössischen Kulturszene. Die ZDF-Reihen »Deutschland-Saga« und »Europa-Saga« mit Christopher Clark gehören neben großen Porträts und Reportagen zu seinen dokumentarischen Arbeiten.

Gero von Boehm

Nahaufnahmen

Fünfzig Gespräche mit dem Leben

Propyläen

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ISBN 978-3-8437-1426-6

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort

Mein Freund George ordnet das Treiben unserer Zunft, zu der auch er gehört, dem Vampirismus zu. Wir ernährten uns alle vom warmen Blut unserer Opfer, meint er. Ganz falsch ist das natürlich nicht. Aber die in diesem Buch Versammelten haben sich immerhin freiwillig geopfert und zu jener Form der journalistischen Ernährung, die sich »Interview« nennt, beigetragen. Manche, so schien mir, hatten sogar Vergnügen dabei. Und dennoch: Letztlich spricht, wie schon Montaigne wusste, »niemand über sich ungestraft«. Er schrieb das einst in seinem grandiosen Essay über Die Kunst, sich im Gespräch zu verständigen.

Eine Kunst ist es freilich nicht, ein Interview zu führen, eher schon ein Handwerk. Und das gehorcht noch nicht einmal, wie beim Bäcker oder Tischler, festen Regeln – höchstens einer einzigen: Langweile deinen Gast nie. Denn sonst bekommst du nicht, was du willst. Darüber hinaus hilft der immer halsbrecherische Versuch, eine gewisse Augenhöhe zu erklimmen. Nur dann kann der Gesprächspartner denken: Auch der kennt das Leben, er ahnt, wie es mir ums Herz ist, also kann ich es ausschütten. So kommt man, im besten Fall, mit dem Interviewten auf jene Ebene, die hinter der zurechtgelegten öffentlichen Maske, jenseits der dicken Mauer des Verdrängten und Verborgenen, liegt. Und genau dort wird es interessant. Wenn der Interviewer ein Türchen in der Mauer öffnen kann und der Befragte hindurch geht, beginnt das Spiel eigentlich erst. Ein Spiel, bei dem das Timing – fast – alles entscheidet. Ein längerer Augenblick des Schweigens zum Beispiel, dem der oft entscheidende Satz folgt, ist wertvoller Bestandteil eines guten Interviews.

Hirnforscher wollen übrigens herausgefunden haben, dass besonders neugierige Menschen eine außerordentlich starke Verbindung zwischen zwei zentralen Schaltstellen des Gehirns, dem Hippocampus und dem Striatum, aufweisen. Angeblich macht sich diese Ausprägung bereits in frühester Kindheit bemerkbar. Tatsächlich soll ich schon in zartestem Alter wildfremde Menschen ausgefragt haben. Manchmal blitzte ich ab, doch in der Regel bekam ich Antworten. Der Appetit nach immer mehr hat bei mir seit dieser Zeit nicht im mindesten nachgelassen. Und die erste Frage – frei nach George wäre das der erste »Biss« – fällt mir meist nachts ein. Zugegeben, zum Vampirismus ist es da nicht weit.

David Chipperfield

Berlin, warten auf den Meister. Er ist gerade aus Schanghai zurück, morgen geht es weiter nach New York. Warum fühlt man sich in dem riesigen, hohen Raum mit seinen grauen Betonwänden so wohl? Liegt es an der elfenhaften Evelyn Stern, seiner Frau, die so freundlich umherschwebt? Natürlich auch. Aber vor allem: David Chipperfield baut um den Menschen herum – in diesem Fall um Evelyn und sich selbst, denn es handelt sich um seine private Wohnhalle in Berlin-Mitte. Über den Hof das Büro mit vielen jungen Mitarbeitern. Sir David, leise, zurückhaltend, immer in Schwarzweiß gekleidet, kennt den magischen Schnitt, der anscheinend direkt auf unsere Sinne wirkt. Und der stimmen muss. Das ist ihm wichtiger als die signature, die viele Architekten vor sich her tragen.

GvB: Als Schüler hatten Sie den Ehrgeiz, der schnellste Läufer zu sein. Was bedeutet Ihnen Geschwindigkeit?

Chipperfield: Ich hatte nicht den Ehrgeiz, der schnellste Läufer zu sein. Ich war in einer Boarding School, aber einer zweit- oder drittrangigen, nicht einer der bekannten. Das ist wie ein Internat, wo man drei Monate bleibt und dann wieder nach Hause kommt. Ich war nicht besonders gut in der Schule. Und mir wurde klar, dass es in einer solchen Gemeinschaft wichtig ist, in irgendeiner Sache besser als die anderen zu werden. Ich war einigermaßen sportlich, aber kein besonders talentierter Tennis- oder Fußballspieler. Ich war aber ein recht guter Läufer und erkannte, dass ich noch besser werden könnte, wenn ich Lauftraining machte – dafür interessierte sich sonst keiner. Ich beschloss also, mich über die 400, 800 und 1500 Meter zu verbessern. Da habe ich gelernt, dass ich, wenn ich etwas übte und es mehr als andere wollte, die anderen schlagen konnte. Ich musste meinen Platz finden. Und auf diese Weise habe ich etwas gelernt. Dass man nämlich, indem man sich wirklich auf eine Sache versteift, seine eigenen Grenzen überwinden kann.

GvB: Sie führen ein extrem schnelles Leben, beschäftigen sich mit Hunderten von Projekten in aller Welt. Heute New York, morgen Schanghai, dann wieder ein paar wenige Tage Berlin, wo wir jetzt sprechen. Was hilft Ihnen in Augenblicken der Erschöpfung?

Chipperfield: Schlaf. Und ansonsten meine Familie. Ich habe eine sehr präsente Familie, die mich so weit wie möglich auf dem Boden der Normalität hält. Mich an die wichtigen Dinge erinnert, so dass ich mich nicht so sehr durch andere Perspektiven verwirren lasse.

GvB: Durch Erfolge?

Chipperfield: Nicht so sehr durch Erfolge, sondern durch Ablenkungen vom Eigentlichen.

GvB: Was ist das Eigentliche?

Chipperfield: Ich war immer der Überzeugung, dass in der Architektur so vieles mit dem Menschsein zu tun hat, mit menschlichem Verhalten. Daher sollte man seine eigenen Werte und Einschätzungen über das, was das Leben ausmacht, wie man es führt und wie man es durch die eigene Arbeit anderen vorführt, in Einklang bringen.

GvB: Es ist interessant, dass in der Architektur die Gesellschaft und der Einzelne einander so nahe kommen. Weil die Sinne mitwirken und es nicht nur ein gesellschaftliches Konstrukt ist. Wenn du ein Gebäude betrittst, spielen alle deine fünf Sinne mit.

Chipperfield: Architektur ist so etwas wie eine Nachbildung der Natur. Wenn es gut funktioniert, ist sie eine künstliche Natur. Die Betonung liegt auf Natur, und deshalb sollte Architektur Wohlbehagen erzeugen. Der beste Wertmaßstab eines Gebäudes oder eines Ortes ist der, dass ich mich gern dort aufhalte, wie in der Natur. Man spaziert irgendwo entlang und sagt: Das ist ein schöner Platz zum Hinsetzen. So wie man sagt: Dieses Zimmer ist angenehm, ich halte mich hier gern auf. Nicht wegen des Betons oder der Farbgebung, sondern es erzeugt ein angenehmes Raumgefühl. Architektur hat gleichsam ein Potential, zwischen uns und der Welt zu vermitteln. Wir leben in einer Stadt, wir blicken aus unserem Haus, aus unserem Fenster, und durch dieses Fenster sehen wir die Welt. Architektur hat also einerseits eine Schutzfunktion; wir haben sozusagen eine Mauer um uns herum gebaut, und dann machen wir ein Fenster hinein, und durch dieses betrachten wir die Welt. Architektur hat diese beiden Dinge, die uns einen gewissen Schutz vor den Elementen und vor der Gesellschaft gewähren, uns aber auch mit ihnen bekannt machen und verbinden.

GvB: Demnach muss Architektur einen immensen Einfluss auf unser Gehirn haben, uns sehr stark prägen …

Chipperfield: Ja. Winston Churchill ist nicht berühmt als Baumeister, aber als Denker. Er hat gesagt, dass wir unsere Gebäude machen, und unsere Gebäude machen uns. Ich nehme an, es ist für jemanden, der in Blenheim Palace aufgewachsen ist, folgerichtig, einen so weiten Blick auf die Welt zu haben.

GvB: Architektur ist also eigentlich sehr viel mehr als »gefrorene Musik«, wie Goethe gesagt hat. Aber es ist auch ziemlich gewagt, zu sagen, sie sei nachgebildete Natur. Das bringt mich auf die Frage: Beschleunigung ist zu einem Merkmal unserer Zeit geworden. Kann die Architektur ein Gegengewicht dazu schaffen?

Chipperfield: Ja, ich halte das für möglich. Ja, in gewisser Weise beruht die Architektur auf Qualitäten, die ein bisschen anachronistisch geworden sind. Wir erwarten von ihr so etwas wie Dauerhaftigkeit. Unsere Zeit setzt aber nicht auf Dauerhaftigkeit, sondern auf Wandel und Flexibilität. Architektur beruht auf einer bestimmten Integrität und Qualität in der Art, wie etwas gemacht wird. Das widerspricht unserem Zeitgeist. Unsere Zeit ist eigentlich eine Zeit des Bauens, nicht der Architektur. Wir wollen so schnell wie möglich sein. Weil sich das in klingender Münze auszahlt. Architektur beruht aber eigentlich auf einem Gleichgewicht zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir nicht wissen, einem gewissen Grad von Pioniergeist und vielleicht so etwas wie Innovation. Sobald es um viel Geld geht, gehen wir ins Risiko. Man kennt in der Architektur die Dinge, die ihr immer innegewohnt und ihr Qualität verliehen haben: Vorstellungen von Dauerhaftigkeit, von Substanz, von Handwerkskunst, alle diese Dinge. Die stammen irgendwie aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit. Aber dasselbe kann man auch über unser Essen sagen. Man könnte sagen, dass wir heute Nahrungsmittel in industriellen Mengen produzieren, im industriellen Zuschnitt und Tempo. So dass wir einen Hamburger für drei Euro kaufen können. Doch gleichzeitig gehen Leute ins Restaurant und geben dreißig Euro für ein Stück Fleisch aus, zehnmal mehr, als sie eigentlich müssten. Es gibt diese eigenartige Paradoxie in unserer Gesellschaft. Qualität wird in den grundlegenden, alltäglichen Dingen reduziert. Und dann bezahlen wir viel Geld für die Sachen, die wir verloren haben. Wir begeben uns auf Reisen. Wir geben ein Vermögen dafür aus, irgendwo hin zu reisen, wo wir möglichst einfach leben können. Und wir geben ein Vermögen für ein Abendessen aus, das nicht ganz so gut ist wie das, was unsere Mutter gekocht hat. Ich meine, das Gute ist, dass wir noch nicht aufgegeben haben – wir haben immer noch ein Verlangen nach Qualität, nach Dingen, die mit Sorgfalt hergestellt wurden; wir haben noch immer ein Verlangen nach Dingen, die gut durchdacht sind. Gleichzeitig verlieren wir aber ein bisschen den Bezug zur Normalität des täglichen Lebens.

GvB: Und das beobachten Sie auch in der Architektur?

Chipperfield: Auf jeden Fall. Die Architektur ist Teil der Gesellschaft, sie ist nicht von ihr zu trennen. Sie ist etwas anderes als die Kunst. Wenn jemand sagt, ein Architekt sei ein Künstler, dann redet er von jemandem, der nicht wirklich ein Architekt ist. Die Architektur ist voll und ganz in die Gepflogenheiten und Werte der Gesellschaft eingebettet.

GvB: Wenn Sie ein Attribut für Ihre Gebäude wählen sollten, ein einziges signifikantes Adjektiv für alle – wie würde das lauten?

Chipperfield: Ich weiß nicht. Ich könnte das nicht in einem Wort zusammenfassen. Wenn ich Ihre Frage aus einer anderen Richtung angehen darf, würde ich sagen, dass wir versuchen, ein Gleichgewicht zwischen der Normalität und dem Außergewöhnlichen zu finden … und mir ist es unangenehm, wenn die Dinge getrennt wurden. Anders gesagt: Es wäre gut, wenn Qualität ein regulärer Bestandteil von Normalität wäre. Diesen Rang sollte die Qualität behalten, sie sollte nicht etwas sein, wofür man extra bezahlen muss. Eine phantastische Mahlzeit braucht nicht aus vierzig Gängen zu bestehen, serviert mit blubberndem Sauerstoff oder Stickstoff oder was auch immer. Sie sollte in einer Schüssel kommen und zur Normalität gehören. Sie sollte ein Teil von uns sein. Es sollte nicht nötig sein, eine Wallfahrt zu einem Restaurant zu unternehmen, wenn man Qualität finden will. Ich habe also sehr großes Interesse an der Vorstellung, dass wir versuchen, an der Qualität des Alltäglichen festzuhalten, Qualität nicht auf einen exotischen Moment zu reduzieren. Gleiches gilt für die Architektur. Architektur sollte nicht etwas sein, wohin man eine Wallfahrt macht mit Aussichtspunkten und Photokamera. Sie kann das auch mal sein – es gibt Momente, in denen wir den Konzertsaal oder das Opernhaus brauchen. Aber das Wichtigste sind doch die Sachen, die uns jeden Tag umgeben. Das ist es, was mir hier gefällt. Wir leben in einem normalen Haus.

GvB: Ich kenne viele Ihrer Bauten, und meine Bezeichnung für sie wäre: »glanzvolle Einfachheit«.

Chipperfield: Das sind aber zwei Wörter!

GvB: Zugegeben. Aber »Einfachheit« allein reicht nicht.

Chipperfield: Ich würde es »besondere Normalität« oder »normale Besonderheit« nennen. Ich habe lange Zeiten in Japan verbracht, und was mir an Japan so sehr gefällt, ist, dass dort Dinge mit Sorgfalt gemacht werden – Na ja, es gibt da auch ein Moment der Fetischisierung von Qualität. Aber im Großen und Ganzen geht es einfach darum, dass etwas gut gemacht wird. Da herrscht so etwas wie Sorgfalt. Es hat nichts mit Geld zu tun und nichts mit Exotik, sondern einfach damit, dass man sich mehr Gedanken macht.

GvB: Ist es ein gutes Gefühl, Ihre Gebäude wieder zu besuchen, wenn sie fertig sind?

Chipperfield: Nicht immer. Weil man sofort alle Fehler bemerkt, und man sieht alle Probleme. Und man hat vielleicht auch zu lange mit einem Projekt gelebt. Mir gefällt es, wenn die Bauten »normal« werden, wenn sie sich füllen. Mir gefällt es, wenn sie dann jemand anderem gehören. Es ist, als wenn man ein Schiff baut und es vom Stapel laufen lässt und sich irgendwie freut, wenn es schwimmt.

GvB: Nehmen wir mal das Nobelpreis-Zentrum in Stockholm, das Sie gerade planen. Den Nobelpreis assoziiert man ja nicht gerade mit einem neuen Gebäude.

Chipperfield: So etwas wie ein Nobel Center gibt es bisher nicht. In gewisser Weise muss man erst einmal definieren, was ein Nobel Center ist. Der Nobelpreis hat einen Ruf, nicht das Gebäude. So interessierten wir uns vermutlich erst einmal dafür, welche Facette des Projekts im Vordergrund stehen könnte. Uns faszinierte die Vorstellung, dass da eine Zeremonie stattfindet – Nobel steht für die Idee einer Preisvergabe, daher kommt dem Ort, an dem der Preis verliehen wird, eine bestimmte rituelle und repräsentative Qualität zu.

GvB: Fast religiös …

Chipperfield: Genau das ist es. Aber tatsächlich findet das Ritual an genau einem Tag im Jahr statt, das ist das Eigenartige daran. Was uns klarwurde, ist, dass der Raum, in dem der Preis bis heute verliehen wird, so etwas wie ein Theater sein muss. Dieser Raum könnte emblematisch für die ganze Idee des Nobelpreises werden: Wenn man sich klarmacht, dass der Nobelpreis individuelle Leistungen in den Bereichen Literatur und Wissenschaft feiert, dann sind der Dialog und das Zusammenkommen ein Teil davon. Und deshalb könnte dieser Raum, in dem die Menschen die Verleihung des Preises feiern, vielleicht auch der künftigen Evolution der Institution Nobelpreis eine schärfere Identität verleihen. So gehen wir da heran, anstatt das zu tun, was man sich vielleicht als das Sinnvollste für einen so großen Raum vorstellen könnte. Auf Bodenniveau oder mindestens in Bodennähe heben wir ihn so hoch wie möglich nach oben. Es ist fast ein griechisches Amphitheater, mitten in Stockholm, mitten in der Großstadt, an sehr exponierter Stelle.

GvB: Die Wurzeln des Denkens und der Wissenschaft haben mit dem Amphitheater der alten Griechen zu tun …

Chipperfield: … und das benutzt man. Es ist ein Mittel, um diese Institution ins rechte Licht zu setzen. Ansonsten hat sie keine Gestalt.

GvB: Wie hat sich nach Ihrer Meinung die Rolle der Architektur im Verlauf der Jahrhunderte verändert?

Chipperfield: Was sich verändert hat, ist die Gesellschaft. In einer zunehmend kommerzielleren Welt wird die Architektur von der Geschäftswelt dazu benutzt, Geld zu vermehren. Wenn Sie also fragen, was sich verändert hat – nehmen wir London. Was ist der Unterschied zwischen der Existenz als Architekt in den 1960er oder 1970er Jahren und dem Architektendasein im 21. Jahrhundert? Ich würde sagen: In der Nachkriegszeit hatten die Architekten noch eine gesellschaftliche Rolle, man übernahm Verantwortung für den Aufbau einer neuen Gesellschaft und eines Sozialstaats, einer Infrastruktur, von Schulen und Wohnungen.

GvB: Das ist total passé, wie mir scheint.

Chipperfield: Verschwunden. Zuerst hat Margaret Thatcher das beseitigt. Und die Marktideologie hat es noch weiter erledigt. So dass der Architekt heute kein Impulsgeber mehr ist, sondern jemand, der für Wertsteigerung sorgt. In den meisten Fällen – draußen in der wirklichen Welt – sind wir dann am nützlichsten, wenn wir für Mehrwert sorgen können. Weil wir uns in einer Wirtschaft und einer Gesellschaft bewegen, in der das der Motor ist, der einfach alles antreibt. Es gibt natürlich Ausnahmen und kulturelle Bauten. Und deren Wert entspricht noch irgendwie dem altmodischen Wertbegriff – sie haben einen Wert, aber nicht im geldlichen Sinn. Das sind die grünen Zonen, wie ich sie nenne, in denen man die Jacke ausziehen, die kugelsichere Weste ablegen und den Helm abnehmen kann.

GvB: Und da bewegen Sie sich doch meistens …

Chipperfield: Ja, wir haben inzwischen einen großen Teil der »grünen Zone« besetzt, und ich musste um die ganze Welt reisen, sie zu finden. Seitdem haben wir viele Museen gebaut, und das ist ein großes Privileg.

GvB: In New York bauen Sie gerade ein Hochhaus am Bryant Park. Welchen Einfluss haben Sie da zum Beispiel?

Chipperfield: Keinen großen. Es ist ein Projekt, mit dem wir das Geld verdienen, das wir in andere Projekte investieren. New York ist eine Stadt der Türme, deshalb habe ich kein Problem damit, dort einen Turm zu bauen. Da verändert sich nicht viel. Wir haben sehr darum gekämpft, das schön zu bauen, auch was die Materialien betrifft. Es ist also vielleicht schon möglich …

GvB: Apropos Museen. Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Berlin als Stadt in Ostdeutschland?

Chipperfield: Lebhaft. Das war 1981. Ich beteiligte mich an einem kleinen Studentenwettbewerb um den jährlich vergebenen Schinkel-Preis. Wir stiegen in einer kleinen Pension in der Knesebeckstraße ab, und ich wusste nichts über Berlin. Ich erinnere mich, dass wir losliefen und versuchten, die Stadtmitte zu finden, nur um fünf Stunden später mit der Erkenntnis zurückzukommen, dass das Zentrum auf der anderen Seite der Mauer lag. Aber es war wirklich schön. Wir verbrachten vier oder fünf Tage in Berlin und bekamen unseren Preis im Auditorium der Hochschule für Kunst unweit vom Bahnhof Zoo überreicht. Dabei kam es zu einer großen Studentendemonstration. Alle kamen auf die Bühne: der Bürgermeister, der versuchte, die Preise zu übergeben, und die Studenten, die gegen den Mangel an Studentenwohnungen oder so etwas protestierten. Wenn man aus London kam, war das sehr ungewöhnlich. Also: eine sehr intensive Erfahrung.

GvB: Und dann, viele Jahre später, das Neue Museum des Schinkel-Schülers Friedrich August Stüler, das Sie völlig neu gestalteten. Erinnern Sie sich daran, wie Sie zum ersten Mal das leerstehende Gebäude betraten? Was war Ihr Eindruck?

Chipperfield: Na ja, es war ein Gemisch mit einer ganzen Palette von Sachen. Denn das war damals sehr kurz nach dem Mauerfall. Alles war sehr heruntergekommen. Alle Architekten, die an dem Wettbewerb teilnahmen, wohnten in einem Hotel unweit vom Alexanderplatz. Es war das eine große Vorzeigehotel der DDR, und es war, witzigerweise, eigentlich gar nicht schlecht. Mir gefiel es jedenfalls. Und es ging nicht nur um das Neue Museum. Es war dieses ganze Erlebnis, in Berlin zu sein, einem Berlin, das sich selbst wieder aufbaute. Aber durch diese bemerkenswerte Ruine des Neuen Museums zu spazieren war faszinierend, und ich bekam fast Gänsehaut angesichts der Aufgabe. Wie ein Kind, das plötzlich einen großen eigenen Spielplatz hat.

GvB: Was waren – wenn Sie zurückblicken – die wichtigsten Einflüsse in Ihrer Kindheit? Was hat Sie am meisten geprägt? Ich rede nicht von Gebäuden oder Räumen …

Chipperfield: Auf einem Bauernhof aufzuwachsen war schon sehr prägend – und dort viel allein zu sein. Ich war vier Jahre älter als mein Bruder und meine Schwester. So ein Bauernhof ist etwas sehr Körperliches. Ich habe eine starke Erinnerung an all die Gerüche und wie sich alles anfühlte. Es ist eine sehr intensive Erfahrung. Wenn du mitten in der Nacht rausmusst, im strömenden Regen, um die Schweine vom benachbarten Feld zu holen, das ist schon krass. Es gab viel Heulerei, aber es war trotzdem eine glückliche Zeit, ganz und gar nicht negativ. Meine Eltern waren dann sehr großzügig auf ihre Weise. Sie versuchten mich zu fördern, indem sie mich auf dieses Internat schickten, eine Privatschule. Sie konnten es sich kaum leisten, aber sie wollten mir helfen, den Absprung aus dem Bauerndorf zu schaffen. Sonst wäre ich einfach Landwirt geworden. Stattdessen wurden der Zeichensaal und das Sportgelände im Internat die beiden Orte, an denen sich mein Leben abspielte. Ansonsten brauchte ich nicht viel.

GvB: Ist es wichtig, im Leben ein Stadium zu erreichen, in dem man immer weniger braucht?

Chipperfield: Da bin ich sicher.

GvB: Ist das eine Form von Freiheit?

Chipperfield: Ja – aber es ist schwierig. Ich verreise für eine Woche, und wenn ich wiederkomme, habe ich zwanzig neue Bücher, die Leute mir geschickt haben, und andere Sachen. Bücher sind leichter aufzubewahren, aber auch das ist ziemlich mühsam. In Spanien haben wir ein winziges Häuschen, und ich versuche, es wie ein Boot zu führen. Ich bin für die Küche verantwortlich. In der Küchenschublade ist nichts, was nicht zum grundlegenden Bedarf gehört, und ich werfe alles andere raus. Das habe ich grade gemacht. Ich habe auch eine kleine CD-Schublade – nur so und so groß, damit ich, wenn ich eine neue CD reintun will, eine andere rausnehmen muss. Das heißt, dass das Haus immer wieder von Überflüssigem bereinigt wird. Auch, weil man dann merkt, wie wenig man eigentlich braucht.

GvB: Das klingt, als ob Sie von Ihrer Architektur sprechen. Aber Sie haben noch nicht gesagt, was Freiheit wirklich für Sie ist?

Chipperfield: Oberflächlich betrachtet ist man schon ziemlich eingezwängt, vor allem in Zeitpläne. Wir machen zu viele Dinge, ich bin zu viel unterwegs. Und doch habe ich einen extrem hohen Grad an Freiheit. Ich denke sehr oft an die Eltern meiner Frau Evelyn. Als Juden entkamen sie 1939 aus Deutschland, sie waren noch Kinder. Da kannten sie einander noch gar nicht. Und sie sind ihr ganzes Leben über in Bewegung geblieben, von Deutschland nach England, die Mutter ging in die Schweiz, dann nach Argentinien. Lebte dort unter Perón und zog später nach Kolumbien, als Evelyn acht Jahre alt war. Um dann 1965 den ganzen weiten Weg nach Deutschland zurück zu kommen. Aber damit nicht genug: Wenn ich Evelyns Vater sehe, der mich ganz besonders unterstützt hat in all den Firmenfragen. Immer wenn ich sagte, ich habe ein großes Problem, und mich ganz elend fühlte, dann sagte er einfach: »Es wird eine Lösung geben. Wo ist das Problem? Es gibt doch gar keins.« Wenn man so viel durchgemacht hat im Leben, dann sehen alle Probleme lösbar aus. Ich glaube, dass wir das Ausmaß an Freiheit, das wir haben, nicht verstehen. Dass wir nicht dankbar genug sind. Ich versuche es zu sein.

Federico Fellini

Wir bauen die Technik im Vier Jahreszeiten auf, er hat eine Stunde Zeit, kommt natürlich verspätet. Und führt, ohne mich eines Blickes zu würdigen, sofort Regie. Leise Befehle im Falsett, in Englisch: »Coulde you pute thate lighte a little lowerrr and the other one on the other side …« Herrliche Szene, alles auf Band. Fellini will gewonnen werden, wendet sich am Beginn des Gesprächs erst mal ab. Es gelingt dann aber. Am Ende Widmung in das schöne Buch mit seinen Zeichnungen: »Buon lavoro«. Lavoro difficile ma non troppo.

GvB: Sind Sie eigentlich eitel? Schauen Sie gern in den Spiegel?

Fellini: Ja, manchmal. Wenn der Spiegel völlig beschlagen ist mit Wasserdampf, dann seh’ ich einen Schatten. Das ist dann ganz akzeptabel. Aber wer möchte nicht gern sein Spiegelbild verbessern? Ja, der Hals könnte etwas dünner und länger sein, das Kinn vielleicht etwas fliehender, und die Haare, da müsste man natürlich einiges tun.

GvB: In Ihrem Büro gibt es ungezählte Stapel von Photos. Das ist Ihre Menschensammlung, Ihr Arsenal von Gesichtern. Und die Stapel haben die unterschiedlichsten Bezeichnungen: »Komische Alte«, »melancholische Frauen«, »schmutzige Visagen« und viele hundert Etiketten mehr. Wenn Sie nun Ihr eigenes Photo in der Hand hätten, welchem Stapel würden Sie es zuordnen?

Fellini: Ja, ich habe da große Behälter, wo der größte Teil dieses photographischen Archivs eben nach Gruppen unterteilt ist. Auf der einen Kiste steht einfach zum Beispiel: »Nicht sehr zuverlässige Gesichter«. Da würde ich mich auch reinstecken. Anderswo steht »edle Gesichter«, vielleicht auch dort. Und irgendwo steht dann, »dickliche Typen«, manchmal würde ich dort ganz gut reinpassen. Ja, und dann »merkwürdige Typen«, auch »die Glatzköpfigen« – irgendwann werde ich wahrscheinlich auch dort drin landen.

GvB: Wenn Sie sich selber eine Rolle zuteilen müssten, wenn Sie sich selbst in Szene setzen müssten, was würden Sie dann am liebsten spielen?

Fellini: Auch in diesem Moment spiele ich ja eine Rolle. Ich möchte hier sympathisch, intelligent, geistreich erscheinen. Welche Rolle würde ich spielen? Ja, das hängt vom Film ab. Wenn ich verführerischer gewesen wäre oder dünner, dann hätte ich vielleicht die Rolle von Mastroianni in 8 ½gespielt, da es ja in dem Film um einen Regisseur geht, der sich in einer Krise befindet. Ich weiß nicht, welche Rolle ich mir geben würde. Jedenfalls eine recht komplexe Rolle. Ich würde versuchen, die Leute zu rühren, sie zum Lachen zu bringen. Zum Nachdenken anregen, bedrohen, den Propheten, den Clown, den Priester spielen, den Eremiten, vielleicht den Kalifen.

GvB: Fellini, das ist längst mehr als ein Name. Das ist ganz einfach ein Mythos geworden, und Sie pflegen ihn vielleicht sogar am meisten. Und das Publikum braucht das Bild von diesem Barockmenschen Fellini, um Ihre Filme zu verstehen, soweit man sie überhaupt verstehen kann und soll. Aber kann so ein Mythos nicht manchmal auch ungeheuer belastend sein, und wären Sie nicht in Ihrer Arbeit viel freier, wenn Sie mal einen Film anonym machen könnten?

Fellini: Manchmal habe ich mir gewünscht, einen Film ohne Namensnennung machen zu können, nicht wegen dieser Last, die ich absolut nicht spüre – im Gegenteil. Ich glaube, dass alles doch dazu beiträgt, mich so zu erhalten, wie ich bin, in dieser ständigen Hochstimmung, die eine kreative Arbeit ermöglicht. Nein, ich habe schon mal gedacht, wenn ich einmal arbeiten könnte ohne die Pflicht, meinen Namen darunterzusetzen, dann hätte ich vielleicht etwas mehr Verantwortungsfreiheit, etwas mehr Leichtigkeit, aber das ist natürlich ein psychologischer Aspekt – nur das. Ich glaube, dass ich jedes Mal bei einem Film die gleichen Emotionen wiederfinde, die gleichen Unsicherheiten, die gleichen Sorgen und Befürchtungen, die gleiche Angst, etwas falsch zu machen. Das ist keine Last.

GvB: Ist es denn wirklich immer gleich schön oder haben Sie auch manchmal Filme mehr als Draufgabe für die Produzenten gemacht, um andere Dinge tun zu können, die Sie etwas mehr interessieren?

Fellini: Nein, ich kann mich nicht beklagen. Ich kann mich hier nicht zum Märtyrer stempeln, der Filme machen musste, die er nicht machen wollte. Was ich machen wollte, hab’ ich gemacht, und ich glaube, ich habe recht viel Glück gehabt. Natürlich gibt es Reibungspunkte. Die Widersprüche müssen überwunden werden, und dann habe ich am Ende doch immer die Filme gemacht, die ich machen wollte, und so, wie ich sie machen wollte. Ich brauche diese Hindernisse, ich muss diesen Widerstand spüren, ich habe das Bedürfnis, zu kämpfen. Ich brauche einen Produzenten. Ich glaube nicht, dass man wirklich völlig frei sein muss, wenn man in diesem Job arbeitet. Nein, die absolute Freiheit ist meiner Meinung nach etwas Schädliches, vielleicht aus psychologischen Gründen. Und ich streite eigentlich ganz gerne, muss ich sagen. Ja, ich bin glücklich in jedem Sinne, und ich bin auch froh, dass es Gegensätze gibt.

GvB: Aber Sie haben immer wieder verlockende Angebote aus Amerika gehabt. Sehr viel Geld war da im Spiel, und Sie haben sich auch manchmal verlocken lassen, Sie haben Zusagen gemacht und haben dann im letzten Moment doch zurückgezogen. Woher kommt diese Berührungsangst? Sie hätten auch in Amerika ein Superstar werden können.

Fellini: Ich habe Einladungen angenommen, um zu sehen, wie ich die Schwierigkeiten überwinden kann, in einer fremden Sprache zu leben und mich dort auszudrücken. Nach Amerika zu fahren und dort das amerikanische Leben zu erzählen, das kann nicht funktionieren, das würde ich nicht schaffen. Ich brauche, wenn ich meine Geschichte erzähle, wirklich das absolute Wissen dessen, was ich in diese Bilder hineintun will. Woraus zum Beispiel der Stoff dieser Decke besteht, wie man eine Mahlzeit gestaltet, wie man sich dort unterhält, wie man sich bewegt, wie man sich kleidet und so weiter. Ich kenne dieses Land nicht. Das Ganze blendet mich eigentlich. Ich bin dort immer sehr beeindruckt hingefahren, denn Amerika ist ein außergewöhnliches Land, ein Land, das wirklich sehr spektakulär ist. Das passt eigentlich zu mir, die Gesichter, die Rassenvermischung, dieser ständige Karneval des Zukünftigen.

GvB: In Rom sind Sie da natürlich besser dran, denn Rom kennen Sie nun wirklich sehr genau, Sie unternehmen tagelange Autofahrten durch die Straßen. Und wenn wir sagen, das ist Fellini, und diese Typen, die sind ja toll, dann ist das ja im Grunde Rom, das ist Italien. Eigentlich ist es kein Patent von Fellini, dieses Chaos und diese Typen, es ist ein Patent von Rom und Italien, und Sie sind im Grunde der Lizenznehmer. Was bedeutet diese Stadt, was bedeutet dieses Rom für Sie?

Fellini: Ja, das ist ein großes Theater und Filmstudio geworden, wo die Marionetten und Puppen der Geschichten wohnen, die ich erzählt habe, die ich gegenwärtig erzähle und die ich in Zukunft erzählen werde. Ich fühle mich wohl wie ein Puppenspieler bei sich zu Hause.

GvB: Wenn man die Frauen in Ihren Filmen sieht, dann kann einem ja ganz schön angst werden. Das sind meistens oder sehr oft regelrechte Monster mit Raffgebiss oder überdimensionalem Busen, verschlingende Vamps sehr oft, und man könnte meinen, dass sich da so ein bisschen die Ängste des impotenten Mannes ausdrücken.

Fellini: Meinen Sie? In meinen Filmen hab’ ich ja immer einen bestimmten Typ des italienischen Mannes dargestellt, der eben unreif ist, katholisch konditioniert, mit Tabus belegt, das heißt emotional verbrannt, verbrüht. Und dort haben wir die Frau zwischen diesen verschiedenen Gefühlen, Bedrohung einerseits und Vertrauen andererseits. Es ist ja wohl nichts Neues, wenn ich ganz frei psychoanalytisch improvisierend sage, dass die Beziehungen zwischen Mann und Frau auch durch den Aspekt der gegenseitigen Zerstörung bestimmt ist. Einer der beiden unterliegt. Wenn wir etwas von uns in eine Frau projizieren, dann ist es ja auch so, dass wir uns der Frau ausliefern. Wenn sie dann verschwindet, fühlt man sich beraubt. Das ist eine Art Sterben. Ich glaube schon, dass die Angst da ist vor einer Frau.

GvB: Bei Ihnen persönlich? Wir sprechen jetzt über Sie!

Fellini: Nein, nein, ich spreche von den Darstellern, von den Personen meiner Filme, nicht von mir.

GvB: Aber das sind doch Sie.

Fellini: Meinen Sie mich persönlich?

GvB: Das sind Sie. Ja, Sie stellen sich mit Ihren Personen dar.

Fellini: Auch ich fürchte, gefressen zu werden. Ich glaube, wer emotional leidet, der macht eine gewisse psychologische Selbsttherapie durch, und der Künstler befindet sich in einer Zone, wo er einfach durch die phantastischen Dinge des Unbewussten angreifbarer ist. Er würde vielleicht auch zerrieben werden. Er ist also ständig irgendwo verletzbar. Er würde vielleicht sogar zerstört und krank werden, während er etwas über die Ängste erzählt. Er schafft sich vielleicht sogar eine Art zweite Haut, die ihn auf wunderbare Weise beschützt. Ich glaube, dass ich so etwas tue, und deswegen hab’ ich persönlich keine Ängste – nicht die Ängste, von denen ich erzähle. Ich glaube aber im Allgemeinen, dass die Anwesenheit einer Frau nicht nur faszinierend ist, sondern immer eine gewisse Unruhe schafft, denn wir stehen vor einem Urteil. Bin ich schön genug? Wie liegen meine Haare? Passt ihr die Stimme? Es ist immer eine schöne Frau da mit einem schönen Lächeln, mit ihrem Blick, und unausweichlich befinden wir uns in einer kritischen Situation. Wir wissen nie, ob sie uns akzeptiert, ob wir einen Freispruch bekommen, ob sie uns vielleicht auch einen Passierschein für eine intimere Begegnung mit ihr gibt. Wieso sprechen wir eigentlich so lange darüber? Haben Sie Probleme? Brauchen Sie Trost?

GvB: Ich glaube nicht. Was halten Sie von Treue Frauen gegenüber? Das ist jetzt die letzte Frage zu diesem Thema.

Fellini: Ich glaube, die wahre Treue ist die zu sich selbst. Andere Arten der Treue in diesem sentimentalen Pakt, Tauschhandel und Vertrag, den man mit einer Frau eingeht, zeigen schon in der ersten Phase etwas vom Ende. Ich glaube nicht, dass das die wahre Treue ist. Man kann einem Archetypen treu sein. Wir haben vielleicht eine Frauenfigur, die wir ständig in verschiedenen Zeiten unseres Lebens in verschiedenen Städten wieder suchen. Das ist die Treue. Aber auch nur aufgrund einer Evolution, einer Entwicklung, einer Änderung, einer Bereicherung oder einer Verarmung. Auch das könnte sich ganz plötzlich wandeln. Ich glaube, dass das weibliche Bild in unserem Innersten uns zur Treue, zur extremen Treue aufruft, auch zur Kunst. Denn in der griechischen Mythologie sehen wir ja Venus auch als die Beschützerin der Künstler. Frau und künstlerische Kreativität gehören zusammen. Und so kann eine Frau auch die symbolische Verkörperung dieser unausgedrückten Spannung sein, die den Künstler kennzeichnet.

GvB: Absolute Treue zu einer Frau ist unrealistisch, würden Sie sagen?

Fellini: Ja, das sind irgendwie Mythen. Irgendwo passt sich der Mensch im Laufe seines Lebens an eine Treue an. Er verzichtet darauf, weiterzusuchen. Das heißt, wir versuchen dem treu zu bleiben, was wir gefunden haben. Das ist aber gar keine Treue, sondern nur Gewohnheit.

GvB: Die katholische Kirche hätte darüber wahrscheinlich etwas andere Ansichten. Trotzdem sind Sie ja ein gläubiger Mensch und ein guter Italiener und guter Katholik.

Fellini: Ich glaube nicht, dass ich mich einen guten Katholiken nennen kann. Ich bin katholisch kraft meiner Geburt. Ich bin in einem Land geboren, das seit zweitausend Jahren unter der katholischen Macht steht, und das Land ist in diesen Katholizismus eingetaucht.

GvB: Ihre Mutter wollte, dass Sie Priester werden, und Sie hätten vielleicht gute Chancen gehabt, eines Tages Papst zu werden. Wenn Sie heute Papst wären, was würden Sie ändern?

Fellini: Ich habe immer Schwierigkeiten bei Fragen, die mit »wenn« anfangen. Da verirre ich mich immer, das muss ich Ihnen ganz ehrlich gestehen. Ich weiß, dass ich jetzt etwas sehr Witziges antworten müsste, und ich weiß im Moment nicht, was ich Witziges sagen soll. Ich weiß nicht, wie ich meine Haltung identifizieren soll, welche Gesetze, welche Maßnahmen ich auf dem Stuhl Petri ergreifen würde. Vielleicht kann ich Ihnen beim nächsten Besuch darauf antworten. Dann werde ich mich vorbereiten.

GvB: Ich finde es ganz beruhigend, dass Federico Fellini nicht auf Anhieb immer gleich was Witziges einfällt. Aber bleiben wir noch ein bisschen bei Ihrem Glauben und bei Ihrer Einstellung dazu. InLa Strada, einem Ihrer frühen Filme, aber auch in späteren Filmen leuchten am Horizont einer sonst manchmal doch eher düsteren Welt so fast franziskanische Werte auf – Demut, Zufriedenheit, Unterwürfigkeit, Einfachheit im Geist. Und diese Werte stellen Sie dar als mögliche Schiene einer Neuordnung der Menschen untereinander. Kann es sein, dass diese Werte, Demut, Unterwürfigkeit, Einfachheit im Geist, die so wichtig waren in Ihren früheren Filmen, irgendwie verlorengegangen sind?

Fellini: Auch das Leben derjenigen, die meinen Beruf haben, geht ja weiter wie jedes Leben. Das ist ein biologisches Fortwähren durch die Jahreszeiten des Lebens. Ich verleugne keinen Film, den ich gemacht habe. Ich verleugne auch nicht die Gefühle.

GvB: Wollen Sie, dass man Ihre Filme versteht?

Fellini: Ja, sicher. Es wäre doch sehr merkwürdig, wenn es einen Autor gäbe, der sagt, ich will nicht verstanden werden. Ich meine, der müsste irgendwo eingeliefert werden.

GvB: Apropos einliefern, Sie holen sich ja viele Anregungen aus psychiatrischen Kliniken. Ihre Sekretärin beschreibt so schön, wenn Sie sich dann durch eine solche psychiatrische Klinik führen lassen, dass Sie dann mit geröteten Wangen herauskommen, etwas erhitzt, als ob Sie Ihre Batterie, Ihre innere, neu aufgeladen hätten. Was fasziniert Sie am Wahnsinn?

Fellini: Diese Sekretärin, die das geschrieben hat, ist vor allem erst mal entlassen worden. Ich war in psychiatrischen Kliniken, nicht als Patient, sondern aus Neugier und als Freund von vielen psychiatrischen Ärzten. Und ich wollte vor vielen Jahren einmal einen Film machen über ein Buch, das Mario Tobino geschrieben hat. Der war lange Jahre Leiter einer psychiatrischen Klinik in der Nähe von Lucca. Er hat sehr beeindruckend über das Thema geschrieben, das geht einem unter die Haut. Mir hat das Buch sehr gefallen, und ich wollte es verfilmen. Da waren Emotionen enthalten, die man sehr gut hätte darstellen können. Ich habe ihn besucht, habe sogar eine Zeitlang in dieser psychiatrischen Klinik gelebt. Und dann habe ich darauf verzichtet, diesen Film zu machen – nicht wegen des Unwohlseins, das ich verspürt habe angesichts dieser Krankheit, dieser Dekadenz, dieses Abnormalen, sondern ich habe gespürt, dass das eine gefährliche Atmosphäre war, eine sehr suggestive Atmosphäre, sehr einladend. Der Wahnsinn – allein schon deshalb, weil er außerhalb jeder Norm liegt – hat ja etwas Belebendes, etwas Gefährliches. Da gibt es eine Dimension, die eben durch Mauern abgeschlossen ist gegenüber der normalen Welt. Auch das ist natürlich stimulierend, und das kann einen betören und mitreißen. Das war gefährlich, jedenfalls beunruhigend, und deswegen habe ich den Film nicht mehr gemacht. Hin und wieder taucht das Projekt mal wieder auf. Ich habe den Eindruck, in einer Gesellschaft zu leben, die einfach ausufert, die einfach ihre Grenzen verloren hat, die keine Dämme mehr hat. All das gibt diesem alten Projekt eine Aktualität, die wirklich berauschend ist. Deswegen taucht es wieder auf.

GvB: Haben Sie selbst jemals einen Psychiater aufgesucht oder gebraucht?

Fellini: Nein, nein, so tief bin ich noch nicht gesunken, also, in diesen psychotischen Bereich bin ich nicht hinabgestiegen. Aber wer meine Arbeit macht, wer eben mit dem Unbewussten zu tun hat, der kann mitunter auch etwas verbrannt rauskommen.

GvB: Es heißt, dass Sie als Kind von zu Hause ausgerissen seien, um Clown zu werden und einem Zirkus nachzureisen. Das ist wahrscheinlich eine dieser vielen Legenden, die nicht unbedingt stimmen. Aber wenn ich behaupte, dass Sie heute im Grunde immer noch ein großes Kind sind, das einem Zirkus nachreist – inzwischen vielleicht mehr dem eigenen Zirkus, dem Zirkus im Kopf –, würden Sie mir da widersprechen oder ist das richtig gedacht?

Fellini: Ja, ich glaube, die Tatsache, dass man in sich das kindliche Wesen bewahrt, ist etwas Unerlässliches, wenn man in einer gewissen Weise kreativ ist. Man muss diese Fähigkeit bewahren, staunen zu können, überrascht sein zu können, etwas Wunderbares zu sehen und das Mysterium zu erleben. Das ist, glaube ich, ein typisches Merkmal der Kinder. Deswegen ist die Welt etwas, was man nicht von sich loslösen kann. Da gibt es kein Subjekt und Objekt. Das Kind ist in dieser wunderbaren Welt, die es sieht, diese Farben, diese Linien, diese Töne. Und ich glaube, dass diese Identifikation mit dem, was dann hinterher zur objektiven Realität wird, dass diese Identifikation, dieses fehlende Entwurzeln, eine der Bedingungen dafür ist, sich künstlerisch äußern zu können. Sie haben also recht. Ich bin ein Kind geblieben und will es bis zum Ende bleiben. Und solange es geht dem Zirkus hinterherreisen.

Helmut Newton

Traumhafter Tag in L. A., auch hier gibt es Spätsommer. Im Chateau Marmont, bei Helmut. Er geht mit mir in den Keller, wo die Waschmaschinen sind. Dort hat er einst eine schöne Serie mit »nackten Mädels«, wie er sagt, photographiert. Seine Passion ist und bleibt der weibliche Körper. Werde nie vergessen, wie wir im Stadtpark Schöneberg auf die »Pirsch« gingen, im Sommer. Er schwärmte flüsternd von den high cheek bones and slave lips der Berliner Mädchen und von ihrer blassen Haut. Solche Exemplare spürten wir auf – sie sonnten sich auf der Wiese. Wir sprachen von Hans Albers und er sang Komm’ auf die Schaukel, Luise, ein Lied aus seiner Kindheit. Er ist immer der kleine Junge mit dem Bubikopf geblieben wie auf dem alten Photo. Später kleine Tour auf dem Sunset Boulevard, kurzer Stopp bei Book Soup, wo sein Sumo-Buch liegt. Und vorbei an einem Laden (»Hustler Shop«, 8920 W Sunset) mit Sexspielzeug, das ihn interessiert. Just for the fun of it.

GvB: Wann hast du das letzte Mal Angst vor einer Frau gehabt?

Newton: Das war die Margaret Thatcher …

GvB: … die du photographiert hast.

Newton: Ja, das war wirklich ein Ereignis. Sie war so streng.

GvB: Du spielst gern mit Angstmomenten, wenn du Frauen inszenierst. Du hast ja selber furchteinflößende Frauen in Gestapo-Mänteln inszeniert. So was tut man doch nur gegen die Angst.

Newton: Schrecklich, dass du in mich reinguckst wie ein Röntgenbild. Muss das sein?

GvB: Ja – es ist doch interessant zu wissen, warum du das alles machst. Auch ein bisschen furchteinflößend fand ich immer deine Big Nudes, diese großen, blonden, germanischen Mädchen.

Newton: Ja, das sollten sie auch sein, so wie ich sie photographiert habe. Das haben mir viele Männer gesagt, dass sie Angst haben. Die Kamera war immer auf dem Boden, ich saß auf dem Boden … So dass man erst mal raufguckt, und die Mädels gucken runter auf den Mann, der sie anguckt.

GvB: Was wolltest du uns in all den Jahren über die Frauen erzählen?

Newton: Ich weiß nicht. Die Big Nudes jedenfalls kamen von den deutschen Polizistenphotos, den Fahndungsphotos der Baader-Meinhof-Bande, die in den Dienststellen hingen. Die hatte ich einmal in einer Reportage gesehen, in einem Magazin, ich weiß nicht mehr, wo. Und das hab’ ich ausgeschnitten – ich schneide sehr viele Sachen aus …

GvB: Was dich, glaub’ ich, immer interessiert hat, ist nicht so sehr deine persönliche Macht über Models, die du inszenierst, deine Macht in der Modewelt, sondern Macht überhaupt, mächtige Menschen, Gesichter der Macht. Ist das so?

Newton: Ja, mich interessiert halt immer, wie du sagst, Macht. Sexuelle Macht, finanzielle Macht, politische Macht, Leute, die diese Macht ausüben. Das sind interessante Sujets für meine Porträts, auch die großen Stars, die eine Macht über ihr Publikum haben.

GvB: Also Liz Taylor zum Beispiel.

Newton: Ah, das ist schon lange her, sehr lange. Ja, sie war sehr nett. Oder Leni Riefenstahl. Leni hat viel künstlerische Macht …

GvB: Die Ästhetik eurer Bilder ist ja nicht so weit voneinander entfernt, manchmal trifft sie sich an einem bestimmten Punkt.

Newton: Sie ist sehr weit entfernt. Sehr weit. Ich habe Kollegen, zum Beispiel Bruce Weber, der stand sehr stark unter dem Einfluss von Leni. Ich überhaupt nicht … Ich hab’ all ihre Filme gesehen, als ich ein Schuljunge war. Triumph des Willens, der natürlich ein abscheuliches Thema hat, ganz abscheulich, aber ein revolutionärer Film war. Zum ersten Mal wurde da im Film richtig Propaganda betrieben. Natürlich hatten das die Sowjets schon gemacht, aber die Nazis machten es cleverer. Jeder weiß, dass ich Jude bin, aber stelle dir ein Kind vor, das verrückt nach Bildern ist! Alles, was es will, ist, Bilder anzusehen, und alles, was es sieht, sind Nazibilder und die Glorifizierung wie bei Leni Riefenstahl. Ich war fasziniert. Sie hat eine sehr gute Arbeit für die Naziregierung geleistet, niemand hätte das besser machen können als sie, die auch ein verdammtes Genie ist. Ich werde angeklagt, immer noch einen gewissen nazistischen Einfluss zu haben. Aber das ist ganz natürlich, ich wuchs damit auf. Ich wuchs auch damit auf, dass mich die Nazis jederzeit ins Konzentrationslager schicken konnten, bloß weil ich bei Rot die Straße überquerte. Es war eine angstvolle Zeit, aber Kinder sind da anders, sie haben mehr Kraft. Wir wussten, dass es gefährlich war.

GvB: Geboren und aufgewachsen bist du in Berlin, geboren 1920, genauer gesagt in Schöneberg. Fühlst du dich noch als Berliner?

Newton: Ja, irgendwie schon. Weißt du, es ist immer schön für mich, nach Berlin zurückzukommen. Dann gehe ich oft in den Stadtpark Schöneberg. Meine Mutter scheuchte mich mit meiner Gouvernante jeden Tag in den Stadtpark Schöneberg, ob es eisig kalt war oder brütend heiß, nur weil sie alleine sein wollte, um sich auszuruhen. Der kleinste Lärm machte sie schon verrückt, und so musste ich leiden – jeden Tag. Ich hasste diesen Park, aber er birgt auch Erinnerungen. Ich mochte ihn im Sommer; im Winter war es schrecklich, es war so kalt und ich hasste die Kälte und fror so leicht. Als ich fünf war, raste ich auf meinem Holzroller einen Hügel runter und sah ein Mädchen, wahrscheinlich sechs oder etwas älter, drehte mich um, fiel natürlich hin und brach mir das Handgelenk.

GvB: Was für eine Frau war deine Mutter?

Newton: Ah, verwöhnt – und sehr elegant. Wenn ich jetzt darüber spreche, rieche ich Chanel No. 5; das war ihr Parfum. Sie kam aus einer reichen Familie in Tiergarten. Sie war ein bisschen hysterisch. Meine Mutter hatte Angst vor allem. Vor Bazillen, die überall lauerten, am Treppengeländer, im Sand, in Buddelkisten und an den Händen anderer Menschen. Aber sie war eine phantastische Mutter, und ich hatte auch einen phantastischen Vater. Das Elternhaus könnte man sich nicht besser vorstellen.

GvB: Haben sie dich verwöhnt, deine Eltern?

Newton: Na, und wie! Nach Strich und Faden sozusagen.

GvB: Womit?

Newton: Mit allem, was ich haben wollte. Wenn ich’s nicht gekriegt hab’, habe ich geschrien und mit den Füßen aufgestampft. Meine Eltern schenkten mir wunderschöne Spielsachen, die entweder innerhalb achtundvierzig Stunden kaputt waren oder im Müll landeten, und dann wollte ich neue. Mit meiner Arbeit heute ist es dasselbe. Ich muss dauernd was anderes machen, weil mich das meiste schnell langweilt. Ich mag Menschen, die etwas machen, die schnell sind; ich selbst habe keine Geduld, und jede Arbeit, die länger dauert als zweieinhalb Tage … Mein Geduldsfaden ist sehr dünn, darum mache ich keine Filme, das dauert zu lange.

GvB: Wann hast du dein erstes Photo gemacht?

Newton: Ich nahm eines Abends meine kleine Kamera mit in die Metro und machte acht Bilder, darunter eines vom Funkturm, den ich immer so liebte. Ich brachte den Film zum Drogisten an der Ecke, und alle Bilder waren schwarz, außer dem Funkturm, aber das war egal, ich fand mich brillant. Und diese Liebe zur Nacht, auch zu Nachtphotos ist immer geblieben. BrassaÏ war und ist mein Held. Der hat die schönsten Nachtphotos gemacht. Aber ich bin auch nicht so schlecht.

GvB: Und die ersten Mädels?

Newton: Die traf ich im Schwimmbad Halensee. Ich kam morgens immer dorthin, die Schule war mir scheißegal. Ich kam natürlich immer zu spät, mein Haar tropfend nass vom Schwimmen. Ich werde nie vergessen, als ich mit einem Mädchen an einer Boje hing und sie unter Wasser auszog. Der Bademeister kam und beobachtete uns. Ich wurde rausgeschmissen aus dem Schwimmbad und durfte nicht mehr zurück. Und da waren auch Schilder: Für Juden und Hunde verboten. Das hielt mich aber nicht davon ab; ich liebte es zu schwimmen, und ich ging mit meinen Freunden und Freundinnen so oft schwimmen, wie ich wollte.

GvB: Irgendwann hast du dann eine Photolehre gemacht, bei Yva, der berühmten Modephotographin.

Newton: Ja, da hab’ ich unglaublich viel gelernt. Ich war ein richtiger Lehrling und habe alles gelernt, das ganze Handwerk. Ich lernte, wie man Negative retuschiert, wie man das Studio belichtet, auch wenn ich das letzte Glied der Kette war. Beleuchten in dieser Zeit war wirklich schwierig, die Belichtungszeiten waren so lang. Ich lernte viel. Ich lernte, den Film, das Material und seine Möglichkeiten zu respektieren, statt bloß einen Knopf zu drücken. Wir arbeiteten für die Berliner Illustrierte und für die Elegante Dame – alles nicht so viel anders als das, was ich heute mache. Yva ist dann im Konzentrationslager umgekommen, wahrscheinlich in Majdanek.

GvB: Wann hast du Deutschland verlassen?

Newton: Ich verließ Deutschland am 5. Dezember 1938 im Zug vom Bahnhof Zoo. Im Jahr 2000 hing über demselben Gleis im Bahnhof Zoo ein riesig großes Poster meiner Ausstellung. Damals nahm ich den Zug nach Triest, um das Schiff nach China zu erreichen, dessen Namen ich noch weiß: Conte Rosso, ein Triester Schiff. Während meiner Ausstellung in Berlin ging ich zum Bahnhof Zoo und photographierte dieses Poster mit all den Menschen, die an demselben Ort den Zug bestiegen wie ich damals. Das hat mich schon sehr bewegt.

GvB: Wohin brachte dich das Schiff?

Newton: Zunächst nach Singapur. Dort hab’ ich zwei Wochen lang als Bildreporter bei der Straits Times gearbeitet, dann haben sie mich wegen »Unfähigkeit« entlassen. Ich war einfach zu langsam. Wenn ich auf den Auslöser drückte, war das Ereignis, das ich photographieren sollte, schon vorbei. Peinlich. Aber ich war auch ganz froh und erleichtert, kein Reporter mehr sein zu müssen. Ich bin dann nach Australien gegangen, da war ich Lastwagenfahrer bei der Armee und hab’ dann später Eisenbahnen gebaut. Aber richtige, keine Spielzeugbahnen. Das war Schwerstarbeit. Später habe ich dann wieder photographiert, erst für die australische Vogue, dann auch für andere Vogue-Ausgaben. Und in den späten fünfziger Jahren bin ich nach England und dann nach Paris gegangen.

GvB: Was hast du in Paris gemacht?

Newton: England war eine große Niete, ich war bei der englischen Vogue, noch vor »swinging London«, meine Bilder waren schrecklich, wirklich schlecht, saumäßig, sehr deprimierend. Und eines Tages habe ich zu meiner Frau June gesagt, pass auf, der Bart ist ab, der Film ist gerissen, wir gehen nach Paris. Da hatte ich einen schönen weißen Porsche, aber kein Geld in der Tasche, wie immer, schönes Auto, aber kein Geld, und habe June und die Koffer und die beiden Apparate eingeladen, und dann sind wir abgehauen. Paris war alles, wovon ich geträumt hatte: die Stadt, die Leute, die Arbeit, alles hat geklappt, auf einmal waren die Photos ganz gut, alles hat sich geöffnet, es war die aufregendste Zeit. Dreiundzwanzig Jahre in meiner Pariser Wohnung, die aufregendsten Jahre meines Lebens als Modephotograph.

GvB: Wie oft hast du deine Seele verkauft?

Newton: Sehr oft, wie eine Hure. Ich brauchte Geld, ich war arm. Und dann kommt ein Moment, Gott sei Dank, da hat man das, was die Amerikaner fuck-you-money nennen: Geld auf der Bank. Und dann kann man sagen: »Dein Gesicht gefällt mir nicht, deine Art gefällt mir nicht, dein Auftrag gefällt mir nicht, ich mache es nicht.« Das ist natürlich sehr wichtig und sehr schön, wenn man da ankommt, an diesem Punkt. Also, ich liebe Geld, ich finde es wunderbar. Unter anderem aus diesem Grund. Und weil man tolle Autos kaufen und First Class fliegen kann. Das muss ich schon zugeben.

GvB: Du hast dann unglaublich viel gearbeitet, konntest dich vor Aufträgen nicht retten – und bist dann in New York auf der Straße umgefallen, mit einem Schlaganfall. Was war das für eine Erfahrung?

Newton: Danach hat sich mein Leben sehr geändert. Als ich aus der Intensivstation rauskam, war meine erste Frage an den Doktor: »Kann ich noch als Photograph arbeiten?« Und er sagte, »Ja, Sie können, aber Sie müssen sehr vorsichtig sein, denn Ihre Kraft ist auf fünfzig Prozent gesunken«.

GvB: Warum hast du die Kamera sogar mit in den Operationssaal genommen?

Newton: Die Kamera hilft mir über schwierige Stunden meines Lebens hinweg. Sie ist wie ein Schutzschild. Damals zum Beispiel hab’ ich dem Tod in die Augen geguckt. Und ich hab’ mich selbst mit all den Schläuchen auf der Intensivstation photographiert. Es stand wirklich Spitz auf Knopf. Aber ich hab’ gekämpft.

GvB: Denkst du seitdem öfter an den Tod?

Newton: Der Tod ist etwas Negatives, ich verweigere mich solchen Gedanken. Ich will meine Zeit nicht damit verschwenden, ich will sie nutzen, positive Sachen zu machen und an Schönes zu denken.

Am 23. Januar 2004 raste Helmut Newton vor dem Hotel Chateau Marmont in Hollywood, wo wir uns oft getroffen hatten, mit seinem Cadillac gegen eine Betonwand und starb in der darauffolgenden Nacht.

Peter Handke

Von seinem schönen, verwunschenen Haus in Chaville aus auf den Chemin Jean Racine. Muss an dessen Zeile aus den Plaideurs denken: »Tel qui rit vendredi, dimanche pleurera. Wer am Freitag lacht, der wird am Sonntag weinen.« Es ist eine Melancholie um Handke, aber er ist ein positiver Mensch. Vielleicht ist es am Ende die Natur, die ihn dazu macht. Wie er sie auf diesem Gang genießt, Gerüche, Geräusche. Immer wieder Suche nach Pilzen. Er kennt die Stellen. Dazwischen große Intimität im Gespräch, auch wenn eine ganz leichte Abwehr immer zu spüren ist, die ich verstehe. Es geht durch den Wald, über Hügel. Bis zur Abbaye Port Royal des Champs. Dahinter eine Urlandschaft aus Sumpf. Dort über die Serbien-Kontroverse, seine Grabrede für Miloševic, die Absetzung seines Theaterstücks vom Spielplan der Comédie Française. Mir fällt noch mal Racine ein: »Durch Gefahren setzt ein großes Herz sich durch.« Wir finden schließlich Pilze. Die nehmen wir mit in das kleine Restaurant, wo wir den Tag beschließen, und lassen sie als Entrée köstlich zubereiten.

GvB: Reisen, Wandern – Bewegung ist Ihnen ungeheuer wichtig, nicht, ohne das geht’s kaum?

Handke: Ja, richtig, das ist lebensnotwendig.

GvB: Ihre Figuren sind ja auch ununterbrochen unterwegs.

Handke: Ja, leider! Ich weiß nicht, wahrscheinlich sind sie schon hysterisch, dass sie nicht an Ort und Stelle bleiben können.

GvB: »Reisen ist eine Loslösung vom Pfahl des eigenen ›Ich‹.«

Handke: Das ist Doderer.

GvB: Ja, genau, Heimito von Doderer hat das gesagt. Sind Sie im Zwiespalt mit Ihrem »Ich«?

Handke: Ja, natürlich, so ist man gemacht. Ich möchte irgendjemanden sehen, der nicht im Zwiespalt mit dem »Ich« ist. Das »Ich« ist da, damit der Kampf abgehalten wird …

GvB: Der innere Kampf …

Handke: … Ja, wie der Islam sagt, es gibt die vielen kleinen Kriege, schreckliche Kriege, aber der große Krieg des Menschen ist der Krieg gegen sich selbst.

GvB: Wo kommt diese Liebe zu Landschaften her, die Sie ja immer wieder beschreiben?

Handke: Das hat doch jeder, oder? Wer hat das nicht?

GvB: Wann hat das angefangen?

Handke: Ach, das war schon als Kind. Aber das bleibt manchmal eingeprägt für lange Zeit, dass ich mich eben für den Moment erlöst gefühlt habe, indem ich überging in die Landschaft, in den Baum, in einen Feldweg.

GvB: Der Ich-Erzähler im Kurzen Brief zum langen Abschied stolpert, so heißt es da, den in sich zusammengesunkenen Wald entlang und ruft in den Wald hinein nach jemandem, der am Morgen in den Wald gegangen und noch nicht herausgekommen war.

Handke: Das war die Angst um meine Geschwister, die alle jünger waren als ich. Ich hatte immer Angst um andere. Angst um mich hab’ ich eigentlich noch nie gehabt. Angst hab’ ich immer um andere. Das ist meine Krankheit der Angst.

GvB: Ist das die Angst vor Verlust oder kommt das einfach daher, dass Sie ein so guter Mensch sind?

Handke: Ja, wahrscheinlich, dass ich ein guter Mensch bin, ha. Nein, ich weiß nicht, woher das kommt, vielleicht aus meiner Kindheit, durch diese Bombenflüchte, das Flüchten dauernd in die Keller, das ist meine etwas hanebüchene Theorie.

GvB: Haben Sie daran eine Erinnerung? Sie waren ja aus Griffen in Kärnten nach Berlin gegangen, weil Ihr Stiefvater hoffte, dort Arbeit zu finden. Welche Erinnerung haben Sie ganz konkret …

Handke: Ich hab’ keine Angst gehabt.

GvB: Sie hatten keine Angst in diesem Berlin, das in Schutt und Asche lag?

Handke: An persönliche Angst aus der Zeit kann ich mich nicht erinnern, nein. Ich hab’ immer Angst um jemand anderen gehabt.

GvB: Ja, besonders um Ihre Mutter, glaub’ ich.

Handke: Ja, seltsam, ja, ja. Es muss da eine Ahnung in mir gewesen sein, dass meine Mutter von innen her bedroht war.

GvB: Sie haben mal beschrieben, wie Ihre Mutter auf einem hohen Felskegel steht …

Handke: Ja, das ist der berühmte Selbstmordkegel meines Scheiß-Heimatortes. Das geht wirklich hundert Meter stracks hinunter, ja. Und meine Mutter hat mir immer wieder erzählt, von Freundinnen aus der Schule, die sie hatte, und von anderen Menschen, die halt dort ihren Himmelssprung unternommen haben.

GvB: Und einmal hatten Sie die Vision, sie stünde dort oben. Sie wurde ab und zu schwermütig …

Handke: Jetzt lassen Sie mich mit meiner Mutter in Frieden. Sie möchte das, glaub’ ich, nicht, dass wir jetzt nur über sie sprechen.

GvB: … Na, aber das ist mehr über Sie, was ich jetzt lese …

Handke: Ah ja.

GvB: »Sie wurde ab und zu schwermütig, und ich glaubte, sie hätte sich, wenn nicht hinuntergestürzt, so doch einfach hinabfallen lassen. Ich konnte den Mund nicht mehr aufmachen, die Luft tat mir weh, alles an mir war vor Angst tief nach innen gesunken.«

Handke: Hm. In der Jugend hatt’ ich diese Zustände. Und davon, von solchen Zuständen der Weltangst um Geliebte oder Angehörige, hab’ ich eben im Kurzen Brief zum langen Abschied – am Anfang zumindest – versucht zu erzählen, aber eigentlich, um durch das Erzählen die Angst auch loszuwerden. Auf irgendeine Weise scheint es mir jedoch, dass es mir nicht ganz gelungen ist. Kein Affe scheint so eine Angst um andere zu haben, wie ich sie hab’, kein Gorilla, kein Gorillavater.

GvB: Sind Sie Christ?

Handke: Hm, das Hauptwort ist so blöd, ja. Also, ich fühle und denke mit dem, was die Worte Gottes in den Evangelien und auch zum Teil im Alten Testament sind. Damit lebe ich, auf eine reine Weise. Das Glaubensbekenntnis könnte ich nicht mitbeten. Ich gehör’ dazu, verstehen Sie? Aber ich könnt’ es nicht selber sagen.

GvB: Das Vaterunser beten Sie mit?

Handke: Na, eher im Stillen, ja. Das ist mein Problem, ja, mein Vater-Problem, glaub’ ich, dass ich in dem Sinne nie einen Vater gehabt habe, vielleicht ist es ein bisschen leichtsinnig und leichtfertig, wie ich jetzt spreche.

GvB: Sie hatten dann einen Stiefvater, deshalb sagten Sie, Sie hätten vielleicht nie einen richtigen Vater gehabt.

Handke: Ah – ich hatte ein großes Bedürfnis, einen anderen Vater zu haben als den, den ich achtzehn Jahre lang meines ersten Lebens für meinen Vater ansah. Von meinem leiblichen Vater, als ich ihn dann mit achtzehn traf, war ich enttäuscht. Bis jetzt ist mir sozusagen das Vatererleben ausgeblieben.

GvB: Sie haben jahrelang, wirklich wie eine Mutter, wenn ich das so sagen darf, für Ihre Tochter Amina gesorgt …

Handke: Ja …

GvB: … als Vater.

Handke: Dadurch, dass ich in dem Sinn Halbwaise bin, bin ich ein mütterlicher Vater, ein mütterlicher Mensch, wenn überhaupt. Ich möchte aber auch, dass die Kinder möglichst bald verschwinden und mich in Ruh’ lassen, denn ich bin auch ein Einzelgänger, das ist meine Hauptnatur.

GvB: Der Dichter in der Morawischen Nacht sagt, glaube ich, »ich konnte nicht der Mann einer Frau sein«.

Handke: Ja, das sagt der Dichter – aber ich sag’ gar nix. Ich werde eben nur im Schreiben ganz, sonst bin ich brüchig, besteh’ ich aus Bruchstücken und bin kein Ganzer – außer wenn ich arbeite. Aber ohne Frauen ist kein Leben, ohne Liebe, ohne das gegenseitige Begehren. Um den blöden Hegel zu zitieren: »Begehren, des Begehrens des anderen«. Das ist das Schönste, ich begehre dein Begehren, oder auf Österreichisch gesprochen »Ich kitzel es aus dir hervor«. Klingt ein bissl unanständig, aber warum nicht?

GvB: Jetzt ist es windig geworden – eigentlich schön …

Handke: Ich bin eine Kreatur des Windes als Schreiber. Ohne Wind wär’ ich auch nicht zum Schreiber geworden. Die Gegend, wo ich herkam, Kärnten, war eigentlich eine nicht sehr windige Gegend. Und wenn einmal ein Wind kam, meist aus Westen natürlich, bin ich aus dem Bauernhaus meines Großvaters zum Waldrand gewetzt und hab’ mich hingesetzt, nur zum Hören. Es gibt ja unglaublich viele heimliche Geräusche, also nicht unheimliche, die fast nicht zu hören sind. Aber gerade indem man zu lauschen anfängt, werden das die Weltgeräusche. So feine, kleine, heimliche Geräusche, die haben mich auf den Weg gebracht oder auf die Abwege gebracht, wo ich jetzt bin, als Schreiber.

GvB: Das klingt fast, als gäbe es einen großen Souffleur.

Handke: Man muss das ja nicht personalisieren. Ich bin da eher Pantheist. Ich verlass’ mich auf nix. Ja, auf die Liebe. Und auf die Freude, die aber auch nicht immer da ist. Die Freude ist ein unglaubliches Geheimnis. Ich weiß nicht, wo die steckt.

GvB: Was Sie schreiben ist Weltliteratur?

Handke: Sagen Sie das nur noch einmal, na ja …

GvB: Ich möchte wissen, wie Sie’s selber sehen.

Handke: Ja, ich hab’ schon ein Bedürfnis als Leser, ich sprech’ jetzt als Leser, ich hab’ ein Bedürfnis nach Weltliteratur. Aber als … als Schreiber denk’ ich mitunter immer, dass ich zu schwach gewesen bin.

GvB: Immer noch?

Handke: Ich möchte dann richtig Atlasschultern haben. Manchmal spür’ ich, dass ich das unvergleichlich in mir hab’, obwohl ich nicht so aussehe. Ich hab’ einen unglaublichen Atem. Und der kommt nur dann, wenn ich fast nicht atme. Also, beim Schreiben atme ich fast nicht. Ich halte eher den Atem an, und dann kommt ab und zu ein ganz tiefes Ein- und Ausatmen. Und das, stell’ ich mir vor, geht über aus meinen Geschichten auf den, der liest.

GvB: Wie stellten Sie sich Ihre Laufbahn vor, damals?

Handke: Überhaupt nicht.

GvB: Wo sollte das hingehen?

Handke: