Nähe und Gemeinsinn - Rüdiger Ulrich - E-Book

Nähe und Gemeinsinn E-Book

Rüdiger Ulrich

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Beschreibung

Die globalisierten Wertschöpfungsprozesse sind eigentlich keine – denn sie schaffen keine Werte, sie vernichten sie vielmehr, sei es in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen oder in unserem Umgang mit der Natur. Der Ökonom Rüdiger Ulrich fordert deshalb eine fortgesetzte friedliche Revolution nach dem Vorbild von 1989. Denn so wie die kommunistische Mangelwirtschaft an ihr Ende gekommen ist, so kommt auch die kapitalistische Überflusswirtschaft an ihr Ende. An die Stelle von Ausbeutung, Egoismus und Vereinzelung müssen Wertschätzung, Nähe und Gemeinsinn treten – eine Ökonomie der Liebe, in der Mensch und Umwelt wieder etwas wert sind. Ganz konkret zeigt das Buch, welche Mechanismen der globalen Wachstums- und Konsumdynamik zugrunde liegen und wie wir ihnen begegnen können: indem wir uns auf Werte besinnen, selbst aktiv werden und regionale und kooperative Strukturen aufbauen.

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Rüdiger Ulrich
NÄHEundGEMEINSINN
Plädoyer für eineÖkonomie der Liebe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Layout: Reihs Satzstudio, LohmarLektorat: Konstantin Götschel, oekom verlagKorrektorat: Silvia Stammen, MünchenUmschlagkonzeption: www.buero-jorge-schmidt.deUmschlaggestaltung: Elisabeth Fürnstein, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-617-7
Für Dorothea, Oskar und Emanuel
Was hast du, das du nicht empfangen hast?
1. Kor 4,7

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung
I  Die Metastasen der Globalisierung
Von Alexander dem Großen, Tiefkühlpizzen und dem schwierigen Globalisierungsbegriff
Die Ideologie des Radikalegoismus
Menschliche Monokulturen
Das quantitative Epizentrum
Unkonsumierbare, leistungslose Einkommen
Die neue Armut des Kapitals
Demoralisierte Eliten
II  Tiefendiagnosen und Therapiegrundlagen
Die Globalisierung in ihrem Lauf …
Wille und Weltverbesserungswahn
Grenze und Heilung
Umrisse einer neuen Ökonomie
III  Fortgesetzte friedliche Revolution
Stufen der Befreiung
Die Renaissance der Heimat
Gemeinsinn und Inspiration
Manuelle Präsenz und Kapitalniveauausgleich
Regionale Grundversorgungsautonomie
Wertschöpfungswiderstand und Regionalwerkstätten
Empirischer Befund
IV  Stein des Anstoßes
Anstelle eines Nachworts:24 Thesen für die Vollendung der friedlichen Revolution
Anhang

Vorbemerkung

Womit kompromittiert man sich heute?Wenn man Konsequenz hat.Wenn man gerader Linie geht.Wenn man weniger als fünfdeutig ist.Wenn man echt ist …
Friedrich Nietzsche
Der Untergang des real existierenden Sozialismus kam nicht wie ein Dieb in der Nacht. Sein ökonomisches, politisches und moralisches Scheitern war bereits Jahre zuvor absehbar gewesen. Unerklärlich scheint bis heute, warum die Integration Ostdeutschlands in ein Gesamtdeutschland völlig unvorbereitet erfolgt ist. Mit leeren Taschen, stereotyp ihre Alibis wiederholend, sah man die Fachleute stehen, von denen der größte Teil seit Jahrzehnten in Freiheit lehren und forschen durfte. Es muss daher gerade heute, wo die dunkle Ahnung der nüchternen Erkenntnis weicht, dass das entfesselte Kapital genauso entsetzlich ist wie das losgelassene Proletariat, eine wahrhaft bürgerliche Verpflichtung sein, ernsthaft darüber nachzudenken, was dem Elend des ökonomischen Status quo folgen muss.
Wer wollte daran zweifeln? Deutschland bewegt sich – vor und nach weltweiten Finanzkrisen – in dieselbe Richtung. Die real existierende soziale Marktwirtschaft ist täglichen Angriffen ausgesetzt; daran haben wir uns gewöhnt. Aber wer hätte im Herbst 1989 gedacht, dass sie innerhalb von nicht einmal 25 Jahren an ihre offensichtliche Entwicklungsgrenze gekommen sein würde? Die Parallelen zur untergehenden DDR sind augenfällig. Und trotzdem existiert ein entscheidender Unterschied zur revolutionären Vorwendezeit: In den Köpfen der Menschen gab es damals ein klares Ziel und eine präzise Vorstellung, wer diesem Ziel im Wege stand. Das gemeinsame Ziel jener Jahre – auch des Verfassers – war die Marktwirtschaft westdeutscher Prägung. Doch welches Ziel gibt es heute? Vergeblich sucht man danach. Ein nur noch heillos zu nennendes Durcheinander von Nebenkriegsschauplätzen wie Lohnnebenkosten, Ladenschlussgesetzen, Demografie und Sozialstaat verdunkeln den Horizont. Damals saßen die Gegner im SED-Politbüro. Wo sitzen sie heute? Sind es tatsächlich die verantwortungslosen Politiker und die »gierigen« Manager, wie es die allabendlichen Polittalkshows suggerieren? Oder geht es um ganz andere Feindbilder? Völlig bruchstückhaft sind die gewaltigen Kräfte der Selbstzerstörung in ihrer geistigen und moralischen Bodenlosigkeit im öffentlichen Bewusstsein erkannt. Genau aus diesem Grunde gilt es noch einmal, eine geradezu unscheinbare Frage aufzuwerfen; eine Frage, die längst beantwortet scheint; eine Frage, über die Wissenschaft und Praxis längst zum Alltag übergegangen sind. Dennoch, die in Rede stehende Frage ist eine Frage besonderer Art – es ist die mit den meisten Antworten. Die Frage lautet: Was eigentlich ist Globalisierung? Und was wird unserer zunehmend als zukunftsunfähig erkannten Wirtschaftsweise nachfolgen?
Die Überlegungen dazu bilden das zentrale Anliegen meines Entwurfs einer »Ökonomie der Liebe«. Es geht um konkretisierte Überleitungsstrategien – die ohne eine umfassende Analyse der Krise der globalisierten Wirtschaftsweise genauso wenig entwickelt werden können, wie ohne eine Tiefendiagnose der psychisch-seelischen Dimensionen dieser Krise.
Was aber haben Ökonomie und Liebe miteinander gemein? Vordergründig sehr wenig. Doch wenn Ökonomie die Lehre ist, die sich damit beschäftigt, wie man aus knappen Ressourcen wertvolle, also wertgeschätzte Wirtschaftsgüter herstellt,1 dann ist die Verknüpfung nicht zu weit hergeholt, denn: Liebe ist letztlich nichts anderes als die maximale Form dieser Wertschätzung. Und genau um diesen Referenzpunkt muss es gehen, wenn man die dramatischen Wertschätzungsverluste eines Volkes reflektiert, das nach eigenen Angaben mehr als 20 Millionen Tonnen Lebensmittel im Jahr wegwirft. Insofern kulminiert die ökonomische Frage des Haushaltens und der Sparsamkeit in ebendieser Liebe. Gleichzeitig zeigen die Überlegungen, dass das ökonomische Problem letztlich ein geistliches Problem ist. Hier liegen die Übergänge zu einer Konzeption der fortgesetzten »friedlichen Revolution«. Ausgehend von meiner zentralen These, dass die 89er-Revolution unvollendet geblieben ist und demzufolge einer Fortsetzung bedarf, sollen deren Voraussetzungen und Charakteristika präzisiert werden. Es geht um eine von Gewaltlosigkeit inspirierte Bewegung zur Überwindung der globalisierten Wirtschafts- und Gesellschaftskrise zugunsten regionaler Wertschöpfungsprozesse.
Dieses Buch ist für Menschen geschrieben, die jenseits politischer Schablonen und ideologischer Vereinfachungen nach den Ursachen der gegenwärtigen Widersprüche in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem fragen, für Menschen, die auf der Suche nach wirklichen Lösungsansätzen sind. Am Ende des Buches findet sich eine Zusammenstellung zentraler Thesen. Es empfiehlt sich vielleicht, diese zuerst zu lesen. Naturgemäß wird man dabei noch nicht alles verstehen, dennoch wird sich auf diesem Wege der Gesamttext mit seinen Argumentationslinien gewinnbringender erschließen lassen.
Am Ende dieser Vorrede steht der eindringliche Wunsch, die Ausführungen mögen vor allem jungen Menschen Mut machen; Mut, sich von einer oberflächlich gewordenen Gesellschaft ihre Wurzeln nicht ausreden zu lassen, sondern diese leidenschaftlich zu verteidigen.
Rüdiger UlrichLeipzig, im Mai 2019
Kapitel I
Die Metastasen der Globalisierung

Von Alexander dem Großen, Tiefkühlpizzen und dem schwierigen Globalisierungsbegriff

Wenn die KP Chinas Mehrheitsaktionär bei Daimler geworden ist: Ist das der Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus oder eher das Gegenteil?
Was ist eigentlich die Globalisierung, über die heute allerorten so viel diskutiert wird? »Globalisierung ist sicher das am meisten gebrauchte – missbrauchte – und am seltensten definierte, wahrscheinlich missverständlichste, nebulöseste und politisch wirkungsvollste (Schlag- und Streit-)Wort der letzten, aber auch der kommenden Jahre.«2 So zutreffend diese Einschätzung des Soziologen Ulrich Beck ist, so richtig ist auch, dass ohne eine belastbare Globalisierungsdefinition ein Verständnis der modernen Gesellschaften unmöglich ist. Es scheint deshalb zunächst einmal sinnvoll, unterschiedlich akzentuierte Sichtweisen gegenüberzustellen.
Hans-Olaf Henkel, ehemaliger Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Professor der Wirtschaftswissenschaften und späterer Europaabgeordneter der AfD, konstatierte vor einigen Jahren: »Wer die Chancen der Globalisierung für sich selbst und sein Land erkennt, braucht kein Gutmenschentum mehr vor sich herzutragen. Er sieht die individuelle Freiheit aller als größte Chance für alle. Ethik heißt demnach, diese Freiheit zu fördern und die Spielregeln zu definieren, die jedem den Weg zum Erfolg in der globalisierten Gemeinschaft öffnen. Die gottgegebene Würde jedes Menschen kann nicht losgelöst werden von seiner Freiheit, sich durch Bildung und Leistung an der Weltgemeinschaft zu beteiligen. […] Und während die Religionen den Menschen nach ihrem Bilde zu formen suchen, erlaubt die Globalisierung der Menschheit, sich ihr eigenes Bild von sich zu bilden. Durch Information und Austausch, durch Begegnung und gegenseitige Bereicherung. Während jede Moral zu einer Trennung der Welt in Gut und Böse führt […], eint die Globalisierung die Menschheit, indem sie alle einander näher bringt.«3 Nach solchen geradezu metaphysischen Auszügen ist man beinahe geneigt, Globalisierung mit der nahenden Erfüllung einer Heilserwartung in Verbindung zu bringen. Die Verwirklichung eines lange währenden Menschheitstraumes – »die künstlichen Schranken« fallen und die Völker werden schließlich durch »Bildung und Leistung« in Freiheit und Wohlstand geeint – scheint in greifbare Nähe gerückt. Globalisierung in dieser Fassung beschreibt dabei so etwas wie ein Treffen der fortschrittlichen Weltjugend, in Art und Pathos den einstigen kommunistischen Weltfestspielen ähnlich. Und präzise in diesem Sinne ist die »gute« Globalisierung auch omnipräsent in Stellenanzeigen und studentischen Karrierezeitschriften. Sie zeigen junge, dynamische, optimistische Menschen: Ein Inder, ein Chinese, ein Deutscher lösen hoch über den Dächern New Yorks gemeinsam anspruchsvolle Zukunftsaufgaben – »Let’s make things better!«
Rüdiger Pohl, ehemaliger Präsident des führenden Wirtschaftsinstituts für den Osten Deutschlands, des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, rückt die Globalisierung in einen größeren historischen Kontext: »Die Globalisierung gibt es seit ewigen Zeiten. Alexander der Große errichtete lange vor Christi Geburt ein Weltreich. Und die Seidenstraße bis nach China ist ein Ausdruck dessen, dass die Menschen schon immer die regionalen Grenzen gesprengt und die Welt, die sie kannten, zum Tummelplatz gemacht haben.«4 Diese Ausführungen setzen in Erstaunen: Pohl führt die grenzüberschreitenden Militäroperationen Alexanders des Großen, also die zahllosen Raub- und Beutezüge, als Beleg für den gesetzmäßigen Ausbreitungsmechanismus der Globalisierung an. Diese »ewige« Globalisierung ist demzufolge eine Art Naturgesetzmäßigkeit, nicht wesentlich anders als die Energieerhaltung oder die Schwerkraft. In ähnlicher Weise findet man in ökonomischer Standardliteratur ein sogenanntes Gravitationsmodell des Welthandels, das in Analogie zu Newtons Gravitationsgesetz die Naturgesetzmäßigkeit der Globalisierung unter Beweis zu stellen versucht. Derlei Ansätze weisen denkwürdige Parallelen auf: In Diskussionen mit einstigen Ideologen des Marxismus-Leninismus waren ganz ähnliche Argumentationen zu beobachten. Auch sie behaupteten, der Kommunismus sei eine Art Naturgesetzmäßigkeit. Man sprach vom »Rad der Geschichte«, das man nicht zurückdrehen könne, von den zwingenden »Gesetzmäßigkeiten« der »neuen Gesellschaftsformation« und von gesellschaftlichen Gesetzen, die sich grundsätzlich aus Naturgesetzen ableiteten. Ein denkwürdiges Déjà-vu, wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus! Doch diejenigen, die ihn erlebt haben, wissen: Eine anschwellende Summe gesellschaftlicher Missstände ist keine Naturgesetzmäßigkeit. Wer die sich ausbreitende Globalisierung in diesen Rang erhebt, befindet sich auf dem Niveau alter SED-Parteiideologen.
Auf der Suche nach einer gehaltvolleren Globalisierungsdefinition greift man also zum internationalen Standardlehrbuchtitel und Bestseller »Internationale Wirtschaft, Theorie und Politik der Außenwirtschaft« des Nobelpreisträgers Paul Krugman und seines Kollegen Maurice Obstfeld. Der Begriff »Globalisierung« wird darin unzählige Male verwandt – aber erstaunlicherweise nicht definiert. Über seine Bedeutung mag der Leser mutmaßen. »Globalisierung« wird in diesem Lehrbuch wie in der überwiegenden Anzahl vergleichbarer Titel im Sinne von wachsenden internationalen Handelsverflechtungen oder, wie in Veröffentlichungen der Bundesbank, als »Prozess fortschreitender internationaler Arbeitsteilung«5 gebraucht. Gemessen wird sie durch anwachsende Außenhandelsumsätze. Es werden danach zwei Phasen der Globalisierung unterschieden, eine erste von Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914 und eine zweite etwa von 1945 bis in die Gegenwart. Zwischen diesen Phasen herrschten Weltwirtschaftskrisen, Kriege und Protektionismus. In einer ähnlichen Weise wird die Globalisierung von Jagdish Bhagwati, einem weltweit führenden Handelsökonomen, gebraucht: »Wirtschaftliche Globalisierung führt zur Integration einzelner Volkswirtschaften in die internationale Wirtschaft durch Handel, Auslandsdirektinvestitionen (von Unternehmen oder multinationalen Konzernen), kurzfristige Kapitalströme, grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen (nicht nur) von Arbeitskräften sowie durch die Verbreitung von Technologie.«6 Vordergründig leuchtet diese Begriffsdefinition ein. Zu welchen Schlussfolgerungen sie allerdings verleitet, verdeutlichen Bhagwatis Äußerungen zu dem Problem stagnierender Arbeitslöhne in den USA: »Die lang anhaltende Stagnation […] der Arbeitslöhne in den Vereinigten Staaten hat die Vorstellung genährt, dass die Globalisierung der Kern des Problems ist, unter anderem wegen des Handels mit den armen Ländern und auch wegen der illegalen, ungelernten Einwanderer aus diesen Ländern […]. Anstatt die Globalisierung zum Schuldigen zu machen, muss man zu dem Argument zurückkehren, dass ein umfassender, ungelernte Arbeit einsparender technischer Wandel die Löhne ungelernter Arbeitskräfte unter Druck setzt […]. Der Druck auf die Löhne hält jetzt lange an, er wirkt über längere Zeiträume als bei früheren Erfahrungen mit technischem Wandel, durch den ungelernte Arbeitskraft eingespart wurde. Aber dieser technische Wandel, der wie ein Tsunami fortschreitet, hat nichts mit der Globalisierung zu tun.«7 Die Ansicht, dass technischer Wandel mit zunehmendem internationalen Handel nichts oder, wir wollen es abschwächen, wenig zu tun hat, ist jedoch schlicht unhaltbar. Ein einfaches Beispiel soll das verdeutlichen. Wenn ein württembergischer Schraubenproduzent plant, mit seinen Produkten künftig auch die Nachfrage aus Neuseeland zu bedienen, und zu diesem Zweck durch eine Investition seine Produktionskapazitäten wesentlich erhöht, wird mit ein und derselben Entscheidung der internationale Handel ausgeweitet und der technische Wandel massiv beschleunigt. Die Ausdehnung der Produktions- und Absatzmenge ist eine der wichtigsten Triebkräfte für Automatisierung und technischen Wandel. Bhagwatis Schlussfolgerung aus seiner öffentlichkeitswirksamen Streitschrift »In Defence of Globalisation« (Verteidigung der Globalisierung) folgt also aus einer zweifelhaft fragmentarischen Globalisierungsdefinition.
Zuletzt soll der Globalisierungsbegriff eines weiteren Ökonoms, der sich intensiv mit Fragen der Globalisierung auseinandergesetzt hat, untersucht werden Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz bestimmt die Globalisierung als »die engere Verflechtung von Ländern und Völkern der Welt, die durch die enorme Senkung der Transport- und Kommunikationskosten herbeigeführt wurde, und die Beseitigung künstlicher Schranken für den ungehinderten grenzüberschreitenden Strom von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Wissen und (in geringerem Grad) Menschen.«8 Zugegeben, diese Definition erscheint plausibler. Ist sie auch belastbar? Wir wollen das grundlegende Verständnis beispielhaft anhand eines Global Players wie Dr. Oetker entwickeln. Das Unternehmen ist im Mutterland der Pizza mittlerweile zum Marktführer geworden (übrigens produziert Oetker jährlich über 550 Millionen Tiefkühlpizzen, die, würde man sie aneinanderreihen, drei oder vier Mal um die Erde reichen würden). Warum wurde Oetker in Italien der dominierende Anbieter auf dem Pizzamarkt und nicht der mittelständische Pizzabäcker aus Neapel? Durch gesunkene Transportkosten? Die Transportkosten von Bielefeld nach Neapel sind doch in jedem Fall höher als die von Neapel nach Neapel, ebenso die Kommunikationskosten. Sollte also tatsächlich von diesen Faktoren der maßgebliche Globalisierungsimpuls ausgehen? Zumal Transport- und Kommunikationskosten sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart nur relativ unbedeutende Teile der gesamten Wertschöpfungskosten sind. Wenn Oetker heute in Neapel unter dem italienisch klingenden Namen »Cameo« eine Pizza profitabel für einen Euro verkauft, liegt das nicht primär an gesunkenen Transport- und Kommunikationskosten. Denn diese Pizza entsteht nicht mehr in der warmen und beschaulichen Stube eines Pizzabäckers, sondern im Inneren eines kraftwerksähnlichen Pizzavollautomaten mit Herstellungskosten von 25 Cent je Stück. Mit derartig niedrigen Herstellungskosten erschließt man selbst mit Eisenbahn, Dampfschiff und Telegraf, also mit den Transport- und Kommunikationsmitteln des Jahres 1914, mühelos die halbe Welt. Entscheidend ist also die produktivitätsbedingte Reduzierung der gesamten Wertschöpfungskosten, mit der im Falle Oetkers kein italienischer Mittelständler konkurrieren kann. Die Reichweite des internationalen Handels erhöht sich also primär, wenn man einmal von der Lohngefälle-Globalisierung absieht, durch die produktivitätsbedingte Reduzierung der gesamten Wertschöpfungskosten – und nicht nur einiger untergeordneter Teile. Denn wachsender internationaler Handel begründet sich grundsätzlich durch Wettbewerbsunterschiede zwischen den sich austauschenden Ländern beziehungsweise Unternehmen, etwa hinsichtlich des Klimas, der Lohnkosten oder der Produktivität. Auch das verbreitete Argument, wonach primär die »Internetrevolution« die Globalisierung verursacht habe, überzeugt nicht: Hätte es ohne Internet etwa keine Globalisierung gegeben? Wäre Oetker ohne Internet etwa nicht in der Lage gewesen, länderübergreifend Billigpizza anzubieten? Natürlich hätte es deutliche Zuwächse im Außenhandel auch ohne die Erfindung des Internets gegeben, es ist lediglich ein Verstärker, aber nicht der Verursacher der Globalisierung. Am Beispiel Oetkers sieht man auch, wie entscheidend der historische Verlauf der Kapitalanhäufung ist, der schließlich den Pudding-Pizza-Abzweig ermöglichte oder eigentlich erst erforderlich machte.
Die Unschärfen bei der Abgrenzung des Begriffs »Globalisierung« unter Ökonomen sind bemerkenswert. Insbesondere die vollkommene Abkopplung der realwirtschaftlichen Seite von der finanz- oder geldwirtschaftlichen Seite in einer Globalisierungsdefinition ist nicht nachvollziehbar. Diese Definitionsunschärfen sind alles andere als nebensächlich und haben Konsequenzen. Es sollte daher nicht verwundern, dass eine Wirtschaftswissenschaft, die das fundamentale, sie vollständig durchdringende Phänomen der Globalisierung nur derart ungenau zu beschreiben vermag, Schwierigkeiten hat, die wirtschaftliche Gegenwart zu deuten oder vielleicht noch mehr, globale Wirtschafts- und Finanzkrisen vorherzusehen, was eigentlich ein selbstverständliches Aufgabenfeld der Disziplin sein sollte.
Deutlich treffender und richtungsweisender als die skizzierten Ansätze, den Globalisierungsbegriff handhabbar zu machen, sind interessanterweise Formulierungen aus der katholischen Soziallehre. »Der neue Horizont der globalen Gesellschaft ist nicht einfach durch das Vorhandensein wirtschaftlicher und finanzieller Verbindungen zwischen Akteuren gegeben, die in verschiedenen Ländern tätig sind – die es im Übrigen immer gegeben hat –, sondern durch den alles durchdringenden und absolut neuen Charakter des Beziehungssystems, dessen Entwicklung wir gerade erleben. Von zunehmend entscheidender und zentraler Bedeutung sind dabei die Finanzmärkte, deren Ausmaße infolge der Liberalisierung des Austauschs und der Zirkulation des Kapitals mit beeindruckender Geschwindigkeit beträchtlich gewachsen sind und es den Beteiligten mittlerweile sogar ermöglichen, »in Echtzeit« große Mengen von Kapital von einem Ende des Erdballs zum anderen zu verschieben. Es handelt sich um eine vielgestaltige und nicht leicht zu deutende Realität, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielt und sich auf schwer vorhersehbaren Wegen beständig weiterentwickelt.«9 Warum sind diese Ausführungen wesentlich brauchbarer als die von oben stehenden Fachökonomen? Weil Globalisierung hier nicht »ahistorisch«, als etwas schon ewig Existierendes definiert und andererseits die zentrale Bedeutung der Finanzmärkte und der damit in Verbindung stehenden vordergründigen Undurchschaubarkeit des Prozesses hervorgehoben wird. Welche zwangsläufigen Konsequenzen hat er?
Um belastbare Antworten auf diese Fragen zu finden, müssen wir uns eingehender mit dem komplexen Wesen dieser beispiellosen planetarischen Umwälzung befassen.

Die Ideologie des Radikalegoismus

Wie sagte ein amerikanischer Milliardär zum Mitarbeiter einer gerade von ihm übernommenen Firma vor seiner Entlassung: »Wenn du einen Freund brauchst, kaufe dir einen Hund!«
Das Elend der globalwirtschaftlichen Zivilisation, darüber gibt es kaum einen Zweifel mehr, liegt im Stammbaum eines planetarisch voll entfesselten Egoismus begründet. Ebenso klar und offensichtlich ist dessen finale Konsequenz: Das Ende dieses Egoismus ist Einsamkeit – »die Lepra des Westens«, wie Mutter Teresa treffend formulierte –, und zwar Einsamkeit in einem nie dagewesenen Ausmaß: Legionen von Ich-AGs in Kinderzimmern und »sozialen« Netzwerken, auf Klassenfahrten und in Fußballstadien, in Singlehaushalten und Seniorenheimen. Mit ihrem digitalen Equipment schlägt sich die Generation »Selfiestick« durch ein Leben, in dem noch die letzten Brücken zwischen zwei Menschen eingerissen werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Genealogie dieses Egoismus zu verstehen, um die naturgemäßen von den gesellschaftlich angestachelten Momenten darin zu unterscheiden.
Wir beginnen beim Verständnis der grundlegenden historischen Entwicklung dieser Erscheinung mit einem im deutschsprachigen Raum verbreiteten volkstümlichen Sprichwort aus vergangenen Tagen: »Wer nichts heiratet und erbt, der bleibt ein Bettler bis er stirbt«, lautet es und offenbart einen wichtigen Aspekt der ökonomischen Vergangenheit. Die Weichen für Reichtum wurden hier offensichtlich nur in wenigen Momenten des Lebens gestellt, eben etwa durch ein Erbe oder eine vorteilhafte Heirat. Reichtum durch eine lange Ausbildung, permanentes Unternehmertum, Wettbewerb und wirtschaftliches Wachstum waren in der vorkapitalistischen Ära weitgehend unbedeutend, den Vermögenden war es in erster Linie um die Verwaltung des vorhandenen Reichtums zu tun, nicht um seine dauernde Neuerschaffung. Erst deutlich später, etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eröffneten sich durch die beschleunigte Produktivkraftentwicklung ganz neue Möglichkeiten der Reichtumserzeugung, kam es zu einer zunehmenden Vereinnahmung der Idee von Wachstum und Wohlstand, nicht zuletzt durch konservative Kreise. Gerade die als »konservativ« apostrophierten Kräfte, die ursprünglich für die Bewahrung tradierter gesellschaftlicher Strukturen standen, bekennen sich heute entschieden zur Wachstumsidee und der aus ihr folgenden grundlegenden Umgestaltung unseres Planeten. Wie kam es dazu? Die Wachstumsidee verdrängte die Frage nach der Verteilung des vorhandenen, äußerst ungleich verteilten Reichtums, indem das Glück der Gesellschaft an ein zukünftiges Wirtschaftswachstum gekoppelt wurde, für das selbstverständlich jede Hand gebraucht wurde. Der Reiche musste von seinem Reichtum – und das war das für ihn eigentlich Erfreuliche – nichts mehr abgeben und Sozialwissenschaftler aller Couleur lieferten die passgenauen Ideologien dazu. Es war die Geburtsstunde einer neuen sozial-religiösen Heilslehre, deren folgenreich fatales wie banales Credo die Abkehr von aller bisherigen Religion und Ethik bedeutete: »Vermehren statt teilen!« Die forcierte Kultivierung dieser Lehre gehört zu den geistigen Grundlegungen der modernen kapitalistischen Gesellschaft und ist, wenn man so will, die Wurzel im Stammbaum der Ideologie des Radikalegoismus.
Wenn man sich vor Augen führt, dass die Verteilungsfrage für die revolutionäre Arbeiterbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts von herausragender Bedeutung war, wird deutlich, dass sich die Wachstumsidee bestens dazu eignete, die Besitzlosen zu besänftigen: Wohlstand statt Revolution. Oder vielmehr: Lohnarbeit mit steigenden Einkommen statt Revolution. Das aber bedeutet, dass sich bei einem fünfprozentigen Wachstum der gesamten Volkswirtschaft idealerweise das Jahreseinkommen des Fabrikbesitzers und seines Pförtners jeweils um fünf Prozent steigern könnte. Damit blieben die grundsätzlichen Besitzverhältnisse erhalten, wobei sich die Reichtumsunterschiede absolut vervielfachen würden. Dieses Prinzip wurde zu einer der gesellschaftstragenden Formeln für die Zukunft. Ludwig Erhard hat es direkt mit dem Begriff »soziale Marktwirtschaft« verbunden, dies war ihre Essenz. Für jedes Mitglied der Gesellschaft lohnte es, sich in sie einzubringen. Dies war gesellschaftlich gut und sinnvoll vermittelbar. Wirtschaft und sozialer Fortschritt sollten sich nicht feindlich gegenüberstehen. Ludwig Erhard schreibt: »Das erfolgversprechendste Mittel zur Erreichung und Sicherung jeden Wohlstandes ist der Wettbewerb. Er allein führt dazu, den wirtschaftlichen Fortschritt allen Menschen, im Besonderen in ihrer Funktion als Verbraucher, zugutekommen zu lassen, und Vorteile, die nicht unmittelbar aus höherer Leistung resultieren, zur Auflösung zu bringen. Auf dem Wege über den Wettbewerb wird – im besten Sinne des Wortes – eine Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns bewirkt und dazu noch das persönliche Leistungsstreben wachgehalten. Immanenter Bestandteil der Überzeugung, auf solche Art den Wohlstand am besten mehren zu können, ist das Verlangen, allen arbeitenden Menschen nach Maßgabe der fortschreitenden Produktivität auch einen ständig wachsenden Lohn zukommen zu lassen.«10
Auf dieser Grundlage kam es zu einer ungekannten Entwicklung der Produktivität durch technischen Fortschritt – neue, größere Anlagen und Maschinen steigerten die Ausbringungsmenge je Zeiteinheit in bis dahin ungekannter Weise. Gesellschaftlich wurde der menschliche Eigennutz in dieser frühen Phase der sozialen Marktwirtschaft als wichtiger Motor der Produktivität erkannt und seine Entfaltung ideell unterstützt. Der Produktivitätsfortschritt entwickelte sich aber weitaus schneller als der Anstieg des Pro-Kopf-Verbrauches, also die Konsumintensität, und er führte rasch zur Befriedigung der essenziellen menschlichen Bedürfnisse und Wünsche. Aus dem sogenannten Verkäufermarkt wird, sobald das Angebot die Nachfrage übersteigt, ein sogenannter Käufermarkt – die Geburtsstunde des Marketings. Weiteres Konsumwachstum erforderte vielschichtige Bedarfsweckung durch intelligente Verführung. »Von der Bedarfsdeckung zur Bedarfsweckung« lautete denn auch der vielsagende Leitspruch für die Sanierung des angeschlagenen Karstadt-Quelle-Konzerns.11 Das ist den Konzernen heute zur grotesken Überlebenswirklichkeit geworden: »autonome« Autos, kommunizierende Kühlschränke, Nassrasierer mit vier Klingen oder Motorräder mit vier Rädern sind beredte Beispiele der an Absurdität kaum noch zu überbietenden künstlichen Bedürfniserzeugung in der Gegenwart. Die massenhafte Befriedigung dieser künstlichen Bedürfnisse gelingt allerdings nicht von heute auf morgen. Dazu bedurfte es subtiler ideologischer Vorarbeit mit wirksamen Feindbildern. Und lange bevor das »Gespenst des Kommunismus« untergegangen war, erschienen schon die Umrisse eines neuen Widersachers. Es war nicht zufällig eine Tugend vergangener Tage: die ökonomische Sparsamkeit. Aus diesem Grunde war es erforderlich, das uralte, in der antiken Philosophie genauso wie im Christentum verankerte Ideal von Maß und Mitte, Sparsamkeit und Genügsamkeit vollständig zu verwerfen. Der globale, hochproduktive Konzern erforderte den maßlosen Konsumenten, der, soweit er seinen gegenwärtigen Konsum nicht aus vorhandenem Vermögen bezahlen konnte, ihn durch Schulden finanzierte.
Das entscheidende Mittel zur Schaffung dieses maßlosen Konsumenten ist die Ideologie des Radikalegoismus. Nur durch sie ist das Übermaß an Güterproduktion effektiv überhaupt möglich – auch wenn das bedeutet, dass jegliche individuelle Verantwortung für Natur, den Nächsten, für Kinder und Kindeskinder verloren geht. Erst wenn der Mensch an nichts weiter als an sich selbst denkt, wird sein Kopf frei – »frei« für maximalen Konsum. Soziale Bindungen sind dabei nur hinderlich. In der Familie etwa erhalten sich zu viele konsumfreie Sphären mit Verhaltensweisen, Gesprächen, Träumen, die Konzernumsätzen innerhalb der Lebenszeit eines Menschen »verloren« gehen.
In der kapitalistischen Wachstumslogik wurde der Radikalegoismus gleichermaßen Voraussetzung und Triebkraft für Hyperproduktivität und Überkonsum, er ist daher ohne Alternative. Der Eigennutz spielt in ihm damit keine natürliche, das heißt latente Rolle mehr, wie etwa im Mittelalter, wo er sich eben bei einer Heirat oder im Erbfall exponierte, sondern wird als sich unentwegt ausbreitende, geradezu pandemische Kraft konditioniert. Es ist die besondere Wirkungsweise dieser Ideologie, dass sie alle gesellschaftlichen Bereiche in einem zerstörerisch wachsenden Maße erfasst, das eigentlich nur als totalitär begriffen werden kann. Gleichzeitig wird sie von den Unterhändlern des freien Marktkapitalismus wie dargestellt bevorzugt als Naturgesetzmäßigkeit gedeutet. Denn sie fußt auf einer anfangs durchaus positiven gesellschaftlichen Erfahrung, die besagt, dass durch die Eigennutzmaximierung jedes Einzelnen letztlich auch die Gesellschaft die meiste Wohlfahrt erfährt. Hier berufen sich Ökonomen stets auf Adam Smith, der im 18. Jahrhundert die Bedeutung des Eigennutzes von »Bäckern, Brauern, Wollkämmern und Haspelmachern« zur Bildung gesellschaftlichen Reichtums hervorhob. Nur zu verständlich, dass den vermeintlich hoch innovativen Konzernen es späten 20. Jahrhunderts der natürliche Eigennutz der Handwerker aus dem Jahre 1780 nicht mehr ausreichte. Die Heranbildung des maßlosen Konsumenten versetzte sie notwendig in die Lage, den Egoismus anzustacheln, zu forcieren und ihn schließlich zu radikalisieren. Heute sind gut lancierte Marketingmanipulationen, insbesondere Heranwachsender, durch die Pervertierung hergebrachter Werte (»Geiz ist geil«) wirkungsvolle Bausteine auf dem Weg zum radikalegoistischen kinder- und elternlosen Singlehaushalt, der im sozial abgedunkelten Bewusstsein der Betroffenen noch als selbstverständlich empfunden wird.
Auch angesichts der Migrationsbewegungen unserer Tage stellt sich die Frage, welche moralischen Werte unsere demografisch »deformierte« Gesellschaft, die infolge ihres hyberbolischen Eigennutzdenkens nicht einmal mehr bereit ist, mit den natürlichen Nächsten – den eigenen Kindern – zu teilen, überhaupt noch weiterzugeben hat. Deutschland sei ein großes »Neidkraftwerk«, bemerkte unlängst der Philosoph Peter Sloterdijk. Das ist genau beobachtet, hinzufügen sollte man allerdings, wer die Investoren und wer die Betreiber dieses Kraftwerks sind. Der ehemalige Porsche-Chef, »Querdenker« und vielfach ausgezeichnete Vorzeigeunternehmer Deutschlands, Wendelin Wiedeking, brachte es auf den Punkt: »Der Neid hat nun einmal seine Symbole – und Porsche ist eines davon. Natürlich empört man sich über den Neid. Aber das sind moralische Kategorien. Entscheidend ist der Neid oder vielmehr der Luxus als Triebfeder der fortschrittsorientierten Gesellschaft.«12 Der Neid als Hefe im Sauerteig des modernen Kapitalismus also! Wenn dann die horrenden Jahreseinkommen der Vorzeigeunternehmer öffentliche Kritik hervorrufen, prangern sie freilich gerne die schlimme Missgunst und die niederen Motive der Deutschen an …

Menschliche Monokulturen

»Das kann ich Ihnen leider wirklich nicht sagen, das ist nicht mein Spezialgebiet. Wissen Sie, was mein Spezialgebiet ist? Mein Spezialgebiet sind Walnüsse.«
Der Chefbotaniker eines großstädtischen Naturkundemuseums auf die Frage, wie eigentlich die unzähligen Platanen in die Stadt gekommen sind
Wie angedeutet, kommt es durch die gesellschaftlich alles erfassende Ideologie des Radikalegoismus zu einer vielschichtigen Erosion der sozialen Beziehungen. Embryonale soziale Kompetenzen sind daher allgegenwärtig. Gleichzeitig kommt es durch forcierte Wissensakkumulation und Kapitalkonzentration zu einer beschleunigten Spezialisierung der Arbeitswelt. Das Fachmenschentum boomt: Rentenexperten, Steuerpäpste, Parlamentarismusforscher, Experten für EDV-Fragmente, Fachjuristen für EU-Verordnungen haben Konjunktur. Parallel kommt es zu einer erschütternden Verkümmerung der Lebensvielfalt. Die Strauchtomaten in einem Supermarkt in Nordmazedonien liegen mittlerweile genau wie im »Discount-Paradies« von Markranstädt: halblinks neben den Hollandgurken. Die Dominanz einiger weniger Welthandelskombinate beschleunigt die planetarische Uniformierung. Diesen Prozess der »Nivellierung, den man mit Grauen erblickt«13, wie es Karl Jaspers schon 1932 formulierte, stellt selbst die Uniformierung im ehemaligen Kommunismus weit in den Schatten. Am Ende reduziert er menschliche Interessen und Gespräche auf Belanglosigkeiten: Auto, Einkommensteuererklärung, Ferienkolonie. Es hat kaum noch einen Sinn, mit Landsleuten über einen Vers ihrer großen Dichter sprechen zu wollen. Unterhalten muss man sich mit deutschen Abiturienten heute über Mobilfunktarife, Onlineshopping und den Verbrauch der neuen E-Klasse. Der Fall der Bildungsnation Deutschland vom Volk der Dichter und Denker zu einem Volk von unschuldigen Bonuskarten- und Krämerseelen, ist nicht zufällig eine beispiellose ökonomische Erfolgsgeschichte.
Das Unwort »Humankapital« gehört beinahe zwangsläufig zu einem der »zukunftsorientierten« Denkmodelle der Wirtschaftswissenschaften: Gegenwärtig entwickeln Ökonomen Computerprogramme, mit denen ein Unternehmer präzise ermitteln kann, was seine Belegschaft wert ist – in Euro und Cent. Der Humankapitalwert eines Menschen wird dabei betriebswirtschaftlich korrekt über die in Zukunft aus dem Arbeitnehmer »herausholbaren« Geldbeträge bestimmt. Was ein Mensch für ein Unternehmen geleistet hat, ist hier allenfalls noch Geschichte. Lebenserfahrungen werden bedeutungslos. Das ausschließlich auf zukünftige Geldströme konzentrierte radikalegoistische »Humankapital« ist demzufolge geschichtslos glücklich – in völliger Selbstüberschätzung und Unwissenheit. Die Geschichtslosigkeit führt notwendig zur Entwertung des Alters, der totalitäre Ichbezug zur Verdrängung des Alterns. Der Tod und das Sterben, seit jeher immanenter Bestandteil ganzheitlicher Lebensweisheit, sind heute weit weniger Thema geistiger Auseinandersetzung als früher. Die Folgen dieser Realitätsverweigerung sind so omnipräsent wie peinlich: Alterseitelkeit statt Altersweisheit.
Um solchen Entwicklungen entgegenzuwirken, käme dem Bildungssystem eine exponierte Funktion zu, insbesondere, um junge Menschen frühzeitig eine sinnvolle und nachhaltige Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen. Doch leider scheint auch in dieser Orientierungslosigkeit zu herrschen. Es kursiert das Schlagwort von der sogenannten Wissensgesellschaft und die zur Inkarnation der Ratlosigkeit gewordene Leerformel vom »lebenslangen Lernen«. Im rohstoffarmen Deutschland müsse in Bildung investiert werden, heißt es. Es geht hierbei allerdings nicht um eine einen Lebenssinn vermittelnde universale Bildung, sondern, wie das Vokabular zuständiger Politiker untrüglich verrät, um die Erfordernisse des Bildungsmarktes. Die »Ware« Bildung erfordert grundlegende und andauernde Reformen des Systems: »mehr Wirtschaft« an Schulen, Börsenspiele für Grundschulkinder oder Business-Englisch schon für die Kleinen. Das Leben wird nurmehr als technokratische Herausforderung verstanden. Im Mittelpunkt steht die wirtschaftliche Verwertbarkeit, da nimmt es nicht wunder, dass sich Konzerne als wohltätige Drittmittelgeber und kompetente »Hochschulräte« im zunehmend mittellosen deutschen Hochschulsystem etablieren. Nach großzügig unterstützter Renovierung heißt dann schon mal, wie jetzt in Würzburg, ein neu gestalteter Hörsaal »Aldi-Süd-Audimax«. Die herrschenden ökonomischen Interessen werden aber wohl am besten an Business-Schools nach amerikanischem Vorbild vermittelt, nach deren Vorbild Stück für Stück die deutsche Hochschullandschaft reformiert werden soll. Im zertifiziert ethikfreien Raum dieser Anstalten reift das junge Deutschland. Über Auslandserfahrung und technische Expertise verfügen junge Akademiker heute im Übermaß; dafür ist ihnen das Silicon Valley dann im Zweifelsfall auch näher als der Harz, das Innenleben eines Magnetventils vertrauter als die Sommerwiese vor ihrer Haustür.
Im Prozess der Heranbildung wirtschaftlicher Eliten ist der permanente Standortwechsel zu einem wichtigen Karrierefaktor geworden. Die Konzerne reden häufig von der »Kultur« ihres Hauses, wenn sie Führungskräfte alle zwei oder drei Jahre ihren Wohn- und Arbeitsort wechseln lassen. Das unausgesprochene Kalkül ist dabei freilich, »funktionierende« Führungseliten zu erzeugen, hochintelligent, aber entwurzelt, das soziale Umfeld auf Arbeitskontakte beschränkt, die Arbeit und das Spitzeneinkommen als zentraler Lebensinhalt. Daneben erfordert der Widersinn, auf höchstem Umsatzniveau weiterhin stetige Umsatzzuwächse zu erarbeiten, einen ständig veränderten Rahmen – so hält sich der Schein von vermeintlich neuen Aufgaben und Herausforderungen am längsten.