26,99 €
«Was für ein Roman war mein Leben», hat Napoleon einmal gesagt. Der Sohn aus einer armen Familie wird mit 26 Jahren General, kaum zehn Jahre später ist er Herr über Europa. Monarchen zittern vor ihm, die Völker bejubeln ihn als Herold einer Zeitenwende. Doch der korsische Komet verglüht so rasch, wie er aufgestiegen ist. Nach den gefeierten Bestsellern "1812" und "1815" legt Adam Zamoyski nun sein Meisterwerk vor - die Biographie des berühmtesten Feldherrn und Herrschers in der Geschichte Europas.
Mit der souveränen Sachkenntnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung entführt uns der geborene historische Erzähler Adam Zamoyski in eine Epoche, wie sie dramatischer nicht sein könnte. Er begreift Napoleon im Kontext der Aufklärung, schildert die Stationen dieses unglaublichen Lebens, illuminiert mit sicherer Hand Charaktere und Konstellationen. Aber zugleich versteht er es auf unnachahmliche Weise, den Leser zu unterhalten und die Geschichte mit Leben zu erfüllen. Sein «Napoleon» ist prallvoll mit Anekdoten und ein opulentes historisches Lesevergnügen voller Pointen und scharfsichtiger Beobachtungen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Adam Zamoyski
NAPOLEON
Ein Leben
Aus dem Englischenübersetzt von Ruth Keenund Erhard Stölting
C.H.Beck
«Napoleon ist ein Meisterwerk durch und durch und Lesevergnügen pur.»
Antony Beevor
«Was für ein Roman war mein Leben», soll Napoleon einmal gesagt haben. Der Sohn aus einer armen Familie wird mit 26 Jahren General, kaum zehn Jahre später ist er Herr über Europa. Monarchen zittern vor ihm, die Völker bejubeln ihn als Herold einer Zeitenwende. Doch der korsische Komet verglüht so rasch, wie er aufgestiegen ist. Nach den gefeierten Bestsellern «1812» und «1815» legt Adam Zamoyski nun sein Glanzstück vor – die Biographie des berühmtesten Feldherrn und Herrschers in der Geschichte Europas.
Mit der souveränen Sachkenntnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung entführt uns der geborene historische Erzähler Zamoyski in eine Epoche, wie sie dramatischer nicht sein könnte. Er begreift Napoleon im Kontext der Aufklärung, schildert die Stationen dieses unglaublichen Lebens, illuminiert mit sicherer Hand Charaktere und Konstellationen. Aber zugleich versteht er es auf unnachahmliche Weise, den Leser zu unterhalten und die Geschichte mit Leben zu erfüllen. Sein «Napoleon» ist prallvoll mit Anekdoten und ein opulentes historisches Lesevergnügen voller Pointen und scharfsichtiger Beobachtungen.
Adam Zamoyski lebt als freier Autor und Historiker in London. Seine Bücher «1812. Napoleons Feldzug in Russland» und «1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress» waren international erfolgreich und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien sein Buch «Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit 1789–1848».
Vorwort
1: Ein scheuer Messias
2: Inselträume
3: Der Kadett
4: Freiheit
5: Korsika
6: Frankreich oder Korsika
7: Der Jakobiner
8: Jugendlieben
9: General Vendémiaire
10: Italien
11: Lodi
12: Sieg und Legende
13: Herr über Italien
14: Lockendes Morgenland
15: Ägypten
16: Pest
17: Der Retter
18: Nebel
19: Der Konsul
20: Konsolidierung
21: Marengo
22: Caesar
23: Frieden
24: Der Befreier Europas
25: Seine konsularische Majestät
26: Der Weg zum Imperium
27: Napoleon I.
28: Austerlitz
29: Kaiser des Westens
30: Der Herr Europas
31: Der Sonnenkaiser
32: Kaiser des Ostens
33: Der Preis der Macht
34: Apotheose
35: Zenit
36: Blendende Macht
37: Der Rubikon
38: Nemesis
39: Schale Siege
40: Die letzte Chance
41: Der verwundete Löwe
42: Vereinsamung
43: Der Geächtete
44: Eine Dornenkrone
Anmerkungen
Vorwort
1. Ein scheuer Messias
2. Inselträume
3. Der Kadett
4. Freiheit
5. Korsika
6. Frankreich oder Korsika
7. Der Jakobiner
8. Jugendlieben
9. General Vendémiaire
10. Italien
11. Lodi
12. Sieg und Legende
13. Herr über Italien
14. Lockendes Morgenland
15. Ägypten
16. Pest
17. Der Retter
18. Nebel
19. Der Konsul
20. Konsolidierung
21. Marengo
22. Caesar
23. Frieden
24. Der Befreier Europas
25. Seine konsularische Majestät
26. Der Weg zum Imperium
27. Napoleon I.
28. Austerlitz
29. Kaiser des Westens
30. Der Herr Europas
31. Der Sonnenkaiser
32. Kaiser des Ostens
33. Der Preis der Macht
34. Apotheose
35. Zenit
36. Blendende Macht
37. Der Rubikon
38. Nemesis
39. Schale Siege
40. Die letzte Chance
41. Der verwundete Löwe
42. Vereinsamung
43. Der Geächtete
44. Eine Dornenkrone
Literatur
Archivalien
Gedruckte Quellen
Darstellungen
Bildnachweis
Liste der Karten
Personenregister
In memoriam
GILLON AITKEN
Ein polnisches Elternhaus, englische Schulen und Ferien mit französischen Cousins und Cousinen – all das setzte mich von klein auf verschiedenen Bildern von Napoleon aus, die einander heftig widersprachen: Mal war er ein gottähnliches Genie, mal eine romantische Kunstfigur, dann ein bösartiges Monstrum oder einfach ein widerwärtiger kleiner Diktator. In diesem Kreuzfeuer von Phantasie und Vorurteil entwickelte ich eine empathische Nähe zu jeder dieser Versionen, ohne mich einer von ihnen vollständig ausliefern zu können.
Napoleon war ein Mensch; und obwohl ich weiß, dass andere ihm übermenschliche Qualitäten zuschreiben, kann ich nichts Übermenschliches an ihm entdecken. Er ließ zwar einige außerordentliche Eigenschaften erkennen, aber in vielem war er sehr durchschnittlich. Es fällt mir schwer, jemandem Genialität zu attestieren, der trotz all seiner vielen Triumphe die schlimmste (und ganz und gar selbstverschuldete) Niederlage der Kriegsgeschichte verantwortete und aus eigenem Antrieb das große Unternehmen zerstörte, das er und andere unter großen Mühen auf den Weg gebracht hatten. Zweifellos war er ein brillanter Taktiker, wie man so etwas von einem gewieften Macher kleinstädtischer Herkunft erwarten würde. Aber er war kein Stratege, wie sein trauriges Ende bezeugt.
Ebensowenig war Napoleon ein bösartiges Monstrum. Er konnte selbstsüchtig und gewalttätig sein wie jeder andere, aber nichts bezeugt, dass er anderen mutwillig Leid zufügen wollte. Seine Motive waren im großen und ganzen lobenswert und seine Pläne nicht ehrgeiziger als die von Zeitgenossen wie Alexander I. von Russland, Wellington, Nelson, Metternich, Blücher, Bernadotte und anderen mehr. Was seinen Ehrgeiz so außergewöhnlich machte, war dessen Ausmaß, das die Umstände ihm möglich machten.
Als er von seinem Tod erfuhr, verfasste der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer ein Gedicht. Er war Student in Wien gewesen, als Napoleon die Stadt im Jahr 1809 beschoss; er hatte also keinen Grund, ihn zu mögen. In seinem Gedicht aber bekennt er, dass er ihn zwar nicht lieben, sich aber auch nicht durchringen könne, ihn zu hassen. Für Grillparzer war er nur das sichtbare Symptom der Krankheit seiner Zeit, und als solchem wurde ihm die Schuld an den Sünden aller angelastet. In dieser Beobachtung steckt viel Wahrheit.[1]
In dem halben Jahrhundert vor Napoleons Machtantritt führte ein gigantischer Kampf um globale Vorherrschaft dazu, dass die Briten Kanada, große Teile Indiens, einen Kranz von Kolonien erwarben und danach strebten, die Weltmeere zu kontrollieren; dass Österreich Provinzen in Italien und Polen an sich riss, Preußen sich um zwei Drittel vergrößerte und Russland seine Grenze 600 Kilometer nach Europa hineinschob, weite Gebiete in Zentralasien, Sibirien und Alaska besetzte und Ansprüche sogar auf das ferne Kalifornien erhob. Und doch werden Georg III., Maria Theresia, Friedrich II. und Katharina II. im allgemeinen nicht beschuldigt, größenwahnsinnige Monstren und zwanghafte Kriegstreiber gewesen zu sein.
Napoleon wird häufig wegen seiner Invasion Ägyptens verdammt, während die ihr folgende britische Besetzung, die das koloniale Monopol auf Indien absichern sollte, vergleichbaren Vorwürfen nicht ausgesetzt ist. Stets wird ihm die Wiedereinführung der Sklaverei auf Martinique angelastet, während Großbritannien sie in seinen Kolonien noch für weitere dreißig Jahre fortbestehen ließ, und jede andere Kolonialmacht noch für etliche Jahrzehnte mehr. Sein Einsatz von polizeilicher Überwachung und Zensur wird ebenfalls immer wieder getadelt, obgleich ihm dies jeder andere Staat in Europa nachtat, mit unterschiedlichen Graden der Diskretion und Heuchelei.
Der Tenor wurde von den Siegern von 1815 vorgegeben, die sich die Rolle von Verteidigern einer angeblich gerechten Sozialordnung gegen das Böse anmaßten; was seit dieser Zeit über Napoleon geschrieben wurde, atmete stets eine Moral, die zur Verleumdung oder zur Verherrlichung nötigte. Angefangen mit Stendhal, der behauptete, von Napoleon nur in einer religiösen Perspektive schreiben zu können, und Goethe, der sein Leben als das «eines Halbgotts» sah, hatten französische und andere europäische Historiker große Mühe, das Numinose aus ihren Werken herauszuhalten, und noch heute haben sie einen Beigeschmack von Ehrfurcht. Bis vor kurzem noch scheuten sich angelsächsische Historiker, sich mittels eines Verständnisses für den damaligen Zeitgeist zu einer Sichtweise durchzuringen, in der Napoleon etwas anderes war als ein fremdartiges Monstrum. Nationale Mythen haben darin gewetteifert, weitere Schichten von Vorurteilen hinzuzufügen, die zu überwinden vielen schwerfällt.[2]
Napoleon war in jeder Beziehung ein Kind seiner Zeit; er war in vielerlei Hinsicht der Inbegriff seiner Epoche. Will man verstehen, was für ein Mensch er war und was ihn bewegte, muss man ihn in seinen Kontexten sehen. Dies aber erfordert eine kühle Distanz gegenüber überlieferten Schemata und nationalistischen Vorurteilen, und eine unvoreingenommene Untersuchung dessen, was die Erschütterungen und Umbrüche jener Zeit an Bedrohungen und Chancen mit sich brachten.
In den 1790er Jahren betrat Napoleon eine Welt im Kriegszustand, eine, in der die fundamentalen Grundlagen von Gesellschaft überhaupt in Frage gestellt wurden. Es war ein Kampf um Vorherrschaft und Überleben, in dem sich jeder Staat auf dem Kontinent von seinem Eigeninteresse leiten ließ, Verträge brach und seine Verbündeten schamlos hinterging. Auf allen Seiten zeigten Monarchen, Staatslenker und Feldherren ein ähnliches Ausmaß von angstbesetzter Aggression, Gier, Abgebrühtheit und Brutalität. Irgendeinen der beteiligten Staaten als moralisch besser zu bezeichnen, ist ahistorischer Unsinn, und die Machtgier zu verdammen hieße, die Natur des Menschen und die politischen Notwendigkeiten zu leugnen.
Für Aristoteles war die Macht, neben Reichtum und Freundschaft, einer der wesentlichen Bestandteile individuellen Glücks. Für Hobbes war der Erwerbstrieb nicht nur angeboren, sondern auch wohltätig, denn er brachte die Menschen dazu, zu herrschen und zu diesem Zweck Gemeinwesen zu organisieren; seiner Auffassung nach könne keine wie auch immer aufgebaute soziale Ordnung bestehen, wenn in ihr die Macht nicht bei einer oder mehreren Personen, oder auch einer Institution, konzentriert wäre und alle beherrschte.
Es war nicht Napoleon, der den Krieg auslöste, der 1792 begann, als er ein einfacher Leutnant war, und der mit einer kurzen Unterbrechung bis 1814 andauerte. Eine Debatte darüber, welche Seite am Ausbruch und den anhaltenden Feindseligkeiten schuld war, ist müßig, denn die Verantwortung kann nicht eindeutig einer oder der anderen Seite zugeschrieben werden. Die Kämpfe forderten Menschenleben, wofür oft Napoleon allein verantwortlich gemacht wird; das aber ist absurd, denn die Schuld daran müssen alle kriegführenden Parteien tragen. Und er opferte das Leben seiner Soldaten nicht so verschwenderisch wie manch anderer.
Die französischen Verluste werden für die sieben Jahre revolutionärer Revolutionsregierung (1792–1799) auf vier bis fünfhunderttausend geschätzt, die in den fünfzehn Jahren von Napoleons Herrschaft auf knapp das doppelte, auf acht bis neunhunderttausend. Angesichts der Tatsache, dass die Zahlen nicht nur Tote, Verwundete und Kranke, sondern auch Vermisste umfassen, deren Anzahl exponentiell anstieg, als seine Kriegszüge in größere Entfernungen reichten, wird klar, dass die Verluste in den Schlachten unter Napoleon niedriger lagen als während der Revolutionszeit – und das, obwohl zunehmend schwere Artillerie zum Einsatz kam und die Armeen größer wurden. Die Mehrheit jener, die als Vermisste geführt wurden, waren Deserteure, die entweder zurück nach Hause strebten oder sich in anderen Ländern niederließen. Damit sollen weder das Leiden noch die Traumata des Krieges kleingeredet, sondern in einen angemessenen Kontext gestellt werden.[3]
Mein Ziel in diesem Buch besteht nicht darin, zu rechtfertigen oder zu verdammen, sondern vielmehr, in all seinen Facetten das Leben des Mannes zusammenzusetzen, der als Napoleone Buonaparte geboren wurde, und zu untersuchen, wie er «Napoleon» wurde und das erreichte, was er erreichte, und wie es dazu kam, dass er es zerstörte.
Dafür habe ich mich auf überprüfbare Primärquellen konzentriert und die Memoiren von Personen, die wie Bourrienne, Fouché, Barras und andere mit ihren Schriften vor allem sich selbst rechtfertigen oder ihr eigenes Profil schaffen wollten, mit der gebührenden Skepsis genutzt, und es vermieden, die Schriften der Herzogin von Abrantès als Belege zu verwenden, die Jahre nach den Ereignissen von ihrem Liebhaber, dem Romancier Balzac, verfasst wurden. Ich habe auch die vielen Anekdoten zu seiner Geburt und Kindheit beiseite gelassen, weil ich glaube, dass es ebenso gleichgültig wie unbeweisbar ist, ob er bei seiner Geburt schrie oder nicht, ob er als Kind gern mit Schwertern und Trommeln spielte, ob er als kleiner Bub für irgendein kleines Mädchen geschwärmt hat oder zum Zeitpunkt seiner Geburt und seines Todes ein Komet gesichtet wurde. Es stehen hinreichend solide Fakten zur Verfügung.
Ich habe Napoleons Lehrjahren im Vergleich zu der Zeit, als er an der Macht war, mehr Raum gewidmet, weil ich der Meinung bin, dass sich in ihnen der Schlüssel zum Verständnis seines außerordentlichen Lebensweges befindet. Da ich die militärischen Aspekte nur insofern behandele, als sie sich auf ihn und seine Karriere oder auf die internationale Lage auswirkten, wird der Leser meine Darstellung sehr ungleichmäßig finden. Ich habe den ersten italienischen Feldzug hervorgehoben, weil er zu zeigen vermag, worin Napoleon seinen Feinden und seinen Berufskollegen überlegen war, und weil genau dies ihn sowohl in seinen eigenen Augen als auch in denen anderer zu einer Ausnahmeerscheinung machte. Spätere Schlachten sind vor allem des Nutzens wegen interessant, den er aus ihnen zog, während der russische Feldzug entscheidend für seinen Abstieg war und er die gedankliche Verwirrung offenbart, die ihn in den politischen Selbstmord führte. Allen, die gern mehr über die Schlachten erfahren wollen, möchte ich die meisterhafte und spannende Studie Napoleon the Great (2014) von Andrew Roberts empfehlen.
Der Gegenstand ist so umfangreich, dass jeder, der sich an einer Biographie Napoleons versucht, notwendigerweise auf die Vorarbeiten vieler Gelehrter zurückgreifen muss, die Archive durchforstet und Quellen veröffentlicht haben. Ich fühle mich all jenen gegenüber, die an der neuen Ausgabe von Napoleons Korrespondenz seitens der Fondation Napoléon beteiligt waren, zutiefst verpflichtet. Ich verdanke viel auch den französischen Historikern, die während der letzten beiden Jahrzehnte mit ihren Arbeiten sehr zur Entlarvung jener Mythen beitrugen, die irgendwann zu Fakten erklärt wurden, und die die Geschwüre herausschnitten, die während der letzten beiden Jahrhunderte die überprüfbaren Fakten überwuchert hatten. Thierry Lentz und Jean Tulard sind herausragend, was das betrifft, aber auch Pierre Branda, Jean Defranceschi, Patrice Gueniffey, Annie Jourdan, Aurélien Lignereux und Michel Vergé-Franceschi haben zur Aufklärung beigetragen und manche Spinnweben beseitigt. Unter den angelsächsischen Historikern gilt mein Dank Philip Dwyer für sein brillantes Werk über Napoleon als Propagandisten und Munro Price für seine unschätzbar wertvolle Archivarbeit zur letzten Phase seiner Herrschaft. Erwähnenswert sind auch die Werke von Michael Broers, Steven Englund und das des bereits genannten Andrew Roberts.
Eine Dankesschuld habe ich gegenüber Olivier Varlan für bibliographische Unterstützung und vor allem dafür, dass er mich Caulaincourts Manuskript über die Feldzüge von 1806–1807 gegen Preußen und Russland einsehen ließ; gegenüber Vinzenz Hoppe, der Quellen in Deutschland ausfindig machte; gegenüber Hubert Czyżewski, der mir half, obskure Quellen in polnischen Bibliotheken auszugraben; gegenüber Laetitia Oppenheim, die für mich das gleiche in Frankreich tat; gegenüber Carlo De Luca, der mich auf die Existenz des Tagebuchs von Giuseppe Mallardi hinwies; und gegenüber Angelika von Hase, die mir bei den deutschen Quellen half. Dank schulde ich auch Shervie Price, die die Druckvorlage las, und dem unvergleichlichen Robert Lacey für sein einfühlsames Lektorat.
Obwohl ich ihn zuweilen gerne verflucht hätte, möchte ich Detlef Felken für sein unerschütterliches Vertrauen danken, als er mir vorschlug, dieses Buch zu schreiben, sowie Clare Alexander und Arabella Pike für ihre Unterstützung. Schließlich muss ich meiner Frau Emma danken, die es mit mir ausgehalten und mir bei dieser herausfordernden Aufgabe immer wieder Mut gemacht hat.
Adam Zamoyski
1
Zur Mittagsstunde des 10. Dezember 1797 ertönten in Paris die donnernden Salven einer Kanonenbatterie, die den Beginn noch eines jener grandiosen öffentlichen Feste ankündigten, für die die Französische Revolution so bekannt war.
Trotz des trübkalten Wetters hatte sich rund um den Palais du Luxembourg, den Sitz des Frankreichs Exekutive lenkenden Direktoriums, eine Menschenmenge zusammengefunden, und der preußische Gesandte Daniel Alfons von Sandoz-Rollin bekundete, dass «der Jubel noch nie so enthusiastisch geklungen» habe. Die Menschen säumten die zum Palast führenden Straßen, denn jeder wollte einen Blick auf den Helden der Stunde erhaschen. Aber seine Zurückhaltung machte ihre Hoffnung zunichte. Gegen zehn Uhr morgens hatte er mit einem der Direktoren, der ihn mit einer Kutsche abholte, sein bescheidenes Haus in der Rue Chantereine verlassen. Während der Wagen, dem mehrere berittene Offiziere folgten, durch die Straßen rollte, lehnte er sich weit in seinem Sitz zurück und schien, wie es eine englische Zeugin beschrieb, «vor diesem Beifall zurückzuschrecken, der damals noch freiwillig erfolgte und ehrlich gemeint war».[1]
Der Beifall kam tatsächlich von ganzem Herzen. Acht Jahre Revolution und politischen Streits, die sich in ständigen Machtwechseln nach rechts oder links äußerten, hatten das französische Volk zermürbt. Es war des Krieges überdrüssig, der seit mehr als fünf Jahren anhielt und den zu beenden das Direktorium anscheinend unfähig war. Der Mann, dem sie zujubelten, ein siebenundzwanzigjähriger General namens Bonaparte, hatte in Italien eine Reihe von Siegen gegen Frankreichs Hauptfeind Österreich errungen und den Kaiser an den Verhandlungstisch gezwungen. In die Erleichterung angesichts der Aussicht auf Frieden und politische Stabilität, die man sich davon versprach, mischte sich auch ein Gefühl der Erlösung.
Die Revolution, die 1789 ihren Anfang nahm, hatte grenzenlose Hoffnungen auf eine neue Ära der Menschheitsgeschichte freigesetzt. Sie waren durch immer neue politische Führer in einem sich ständig fortsetzenden Machtkampf aufgepeitscht und missbraucht worden, und die Menschen sehnten sich nach jemandem, der alldem ein Ende setzen würde. Sie hatten die Bulletins gelesen, die von den Taten dieses Generals berichteten, aber auch seine Proklamationen an das Volk Italiens, die sich von den Verlautbarungen der in Frankreich Regierenden deutlich unterschieden. Viele glaubten nun, oder hofften zumindest, dass der lang Herbeigesehnte gekommen sei. Das Hochgefühl, das die Revolution geweckt hatte, war in Form von bombastischen Festveranstaltungen wach gehalten worden, und dieses war, einem Zeugen zufolge, so «magnifique» wie alle anderen.[2]
Der große Hof des Palais du Luxembourg war für den Anlass hergerichtet worden. Gegenüber dem Eingang hatte man ein Podium errichtet, auf dem der unverzichtbare «Altar des Vaterlands» stand; dieser wurde von drei Statuen überragt, die für die Freiheit, die Gleichheit und den Frieden standen und ihrerseits von Reihen feindlicher Standarten umkränzt wurden, die während des jüngsten Feldzugs erbeutet worden waren. In ihrem Schatten hatte man Sessel für die fünf Mitglieder des Direktoriums aufgestellt, sowie einen für den Generalsekretär des Direktoriums, und darunter die der Minister. Unterhalb davon befanden sich die Plätze für das diplomatische Corps, und über beide Seiten erstreckte sich ein großes Amphitheater für die Mitglieder der beiden Kammern der Gesetzgebenden Versammlung sowie für den 1200 Personen umfassenden Chor des Konservatoriums. Der Hof war mit Trikoloren geschmückt und von einer Leinwand überspannt, die ihn in ein monumentales Zelt verwandelte.[3]
Als die letzten Töne des Böllers verhallt waren, tauchten, aus einem Raum in den Tiefen des Palais kommend, die Direktoren in ihrem grand costume auf. Diese von dem Maler Jacques-Louis David entworfene Tracht bestand aus einer üppig mit Goldfäden bestickten und von einer goldbefransten weißen Schärpe umgürteten blauen Samttunika, weißen Kniehosen und Strümpfen, und Schuhen mit blauen Schleifen. Ihr sollten ein bauschiger roter Umhang mit weißem Spitzenkragen, ein «römisches» Schwert an einem reich bestickten Bandelier und ein schwarzer, mit einer blau-weiß-roten Trikolore aus drei Straußenfedern geschmückter Filzhut einen klassischen Anstrich verleihen.
Die Direktoren nahmen ihre Plätze am Ende eines Zuges ein, der von den Polizeidirektoren angeführt wurde, gefolgt von den Magistraten, Beamten, den Vertretern der Justiz, Lehrern, den Mitgliedern des Instituts für Künste und Wissenschaften, Offizieren, Beamten, den diplomatischen Repräsentanten ausländischer Mächte und den Ministern des Direktoriums. Dem Ganzen voran schritt eine Musikkapelle und spielte «die geliebten Melodien der Republikaner».[4]
Der Zug schlängelte sich durch die Korridore des Palasts hinaus auf den Hof, und die verschiedenen Körperschaften verfügten sich an die ihnen zugewiesenen Orte. Die Mitglieder der legislativen Kammern hatten bereits Platz genommen. Sie waren ähnlich kostümiert wie die Direktoren, wobei sich in ihrem Fall der «römische» Stil schlecht mit ihren viereckigen Mützen vertrug, eine Huldigung Davids an die Helden der polnischen Revolution von 1794.
Nachdem sie sich gesetzt hatten, schickten die Direktoren einen Beamten, der die Hauptpersonen der Festveranstaltung hereingeleiten sollte. An die Stelle der Lieblingsmelodien der französischen Republik war eine vom Orchester des Konservatoriums gespielte Symphonie getreten, die aber wurde unsanft durch Rufe wie «Vive Bonaparte!», «Vive la Nation!», «Vive le libérateur de l’Italie!» und «Vive le pacificateur du continent!» unterbrochen, als eine Gruppe Männer den Hof betrat.
Als erste kamen der Kriegsminister und der Minister für Auswärtige Angelegenheiten in ihrer festlichen schwarzen Gewandung. Ihnen folgte eine winzige, magere Gestalt in Uniform, deren strähniges Haar nach Art der bereits aus der Mode gekommenen «Hundeohren» (oreilles de chien) auf beiden Seiten des Gesichts ungepflegt herabhing. Seine linkischen Bewegungen «entzückten jedes Herz», wie eine Beobachterin schrieb. Er wurde von drei Adjutanten begleitet, die «alle größer waren als er, aber von dem Respekt, den sie ihm bezeugten, fast geduckt schienen». Eine fromme Stille setzte ein, als die Gruppe den Hof betrat. Alles erhob sich und zog den Hut. Dann brach der Jubel erneut aus. «Die Elite Frankreichs, die zugegen war, überhäufte den siegreichen General mit Beifallsrufen. Er war die Hoffnung eines jeden; Republikaner, Royalisten, alle sahen die Gegenwart oder die Zukunft auf seine mächtige Hand gestützt.» Die überwältigenden militärischen Siege und seine diplomatische Großtat bildeten zu seiner kleinen Statur, dem zerzausten Äußeren und seinem bescheidenen Auftreten einen so auffälligen Kontrast, dass sich die Vorstellung aufdrängte, er werde von einer höheren Macht inspiriert und gelenkt. Der Philosoph Wilhelm von Humboldt war von seinem Anblick derart beeindruckt, dass er meinte, das Ideal modernen Menschentums vor sich zu haben.[5]
Als die Gruppe den Fuß des Vaterlandsaltars erreichte, stimmten Orchester und Chor eine «Hymne an die Freiheit» an, die François-Joseph Gossec in Anlehnung an den eucharistischen Choral «O Salutaris Hostia» komponiert hatte, und die Menge sang bei der gefühlvollen Aufführung dessen mit, was der offizielle Bericht als «dieses religiöse Couplet» beschrieb. Die Direktoren und versammelten Würdenträger setzten sich auf ihre Plätze, mit Ausnahme des Generals. «Ich sah, wie er es ablehnte, sich auf den für ihn vorgesehenen Ehrenstuhl zu setzen, und wie er anscheinend vor dem allseitig ausbrechenden Applaus die Flucht ergreifen wollte», erinnerte sich eine englische Dame, die angesichts der «Bescheidenheit seines Auftretens» voller Bewunderung war. Er hatte sogar darum gebeten, die Zeremonie abzusagen, als er erfuhr, was ihm bevorstand. Aber es gab kein Entrinnen.[6]
Der Minister für Auswärtige Beziehungen, Charles-Maurice de Talleyrand, kam in seinem orthopädischen Schuh herangehumpelt, wobei sein Zeremonialschwert und seine Hutfedern seltsam asynchrone Bewegungen vollführten. Der Präsident des Direktoriums hatte ihn und nicht den Kriegsminister mit der Aufgabe betraut, den widerstrebenden Helden zu präsentieren. «Nicht den General, sondern den Friedensstifter und vor allem den Bürger müssen Sie hervorheben und hier preisen», hatte er an Talleyrand geschrieben, «da meinen Kollegen vor militärischem Ruhm graust, und das nicht ohne Grund». Dies entsprach der Wahrheit.[7]
«Keine Regierung wurde je so allgemein verachtet», hatte ein Informant nur wenige Wochen zuvor seinen Wiener Auftraggebern gemeldet und ihnen versichert: «Der erste General, der den Mut hat, die Fahne der Rebellion zu hissen, hätte die halbe Nation hinter sich.» Auf beiden Seiten des politischen Spektrums erwarteten viele in Paris von General Bonaparte genau einen solchen Schritt, und «jeder schien jeden misstrauisch zu beäugen», wie ein Beobachter es ausdrückte. Einem anderen zufolge gab es unter den Anwesenden nicht wenige, die ihn mit Wonne erwürgt hätten.[8]
Dem siebenundvierzigjährigen Ex-Aristokraten und ehemaligen Bischof Talleyrand war all dies bekannt. Er war es gewohnt, seine Gefühle hinter einer gleichgültigen Miene zu verbergen, aber seine Stupsnase und die schmalen Lippen, die sich links nach oben kräuselten und auf eine ironische Amüsiertheit zu deuten schienen, passten gut zu der Rede, zu der er jetzt ansetzte.
«Bürger Direktoren», begann er, «ich habe die Ehre, dem Direktorium den Bürger Bonaparte vorzustellen, der den mit dem Kaiser geschlossenen Friedensvertrag überbringt.» Während er alle Anwesenden daran erinnerte, dass der Frieden lediglich die Krönung «unzähliger Wunder» auf dem Schlachtfeld war, versicherte er dem sich krümmenden General, er werde sich nicht bei seinen militärischen Errungenschaften aufhalten, sondern diese Aufgabe der Nachwelt überlassen, im sicheren Wissen, dass der Held selber sie nicht als seine eigenen, sondern als die Frankreichs und der Revolution betrachte. «Folglich haben alle Franzosen durch Bonaparte gesiegt; folglich gehört sein Ruhm allen; folglich gibt es keinen Republikaner, der nicht einen Teil davon beanspruchen darf.» Die außergewöhnlichen Talente des Generals, die Talleyrand kurz aufzählte, waren ihm, wie er zugab, angeboren, sie seien aber auch in hohem Maße Frucht seiner «unstillbaren Liebe zum Vaterland und zur Menschheit». Aber es seien seine Bescheidenheit, die Tatsache, dass er sich gleichsam «für seinen eigenen Ruhm entschuldige», sein außergewöhnlicher, der Helden des klassischen Altertums würdiger Hang zur Einfachheit, seine Liebe zu den abstrakten Wissenschaften, seine literarische Zuneigung für «den erhabenen Ossian» und «seine tiefe Abneigung gegenüber dem Glanz, dem Luxus, der Pracht, diesen elenden Ambitionen gewöhnlicher Seelen», die so verblüffend, ja sogar erschreckend seien: «Keine Angst vor dem, was man seinen Ehrgeiz nennen könnte! Ich fühle, daß wir ihn eines Tages vielleicht anflehen und aus der Stille seiner von Lernbegier erfüllten Zurückgezogenheit herausreißen müssen.» Die unzähligen politischen Tugenden des Generals stellten für ihn fast schon eine Bürde dar. «Ganz Frankreich wird frei sein, er wird es möglicherweise nie sein, dies ist sein Schicksal.»[9]
Als der Minister geendet hatte, überreichte das Opfer des Schicksals den Direktoren den ratifizierten Friedensvertrag und richtete dann das Wort an die Versammlung, «mit einer etwas gespielten Nonchalance, als wolle er andeuten, dass er das Regime wenig mochte, dem zu dienen er berufen war», so eine anwesende Person. Eine andere berichtete, er habe «gesprochen wie ein Mann, der weiß, was er wert ist».[10]
In wenigen knappen Sätzen, die er in einem entsetzlich fremdländischen Akzent vortrug, schrieb er seine Siege der französischen Nation zu; sie habe mit der Revolution achtzehn Jahrhunderte der religiösen Engstirnigkeit und Tyrannei beseitigt, eine repräsentative Regierung eingeführt und die beiden anderen großen Nationen Europas, die Deutschen und Italiener, aufgerüttelt und es ihnen ermöglicht, den «Geist der Freiheit» zu empfangen. Wie er etwas unverblümt schloss, werde ganz Europa wahrhaftig frei sein und im Frieden leben, «wenn das Glück des französischen Volkes auf den besten organischen Gesetzen beruhen wird».[11]
Die Antwort des Direktoriums auf diese zweideutige Aussage erteilte dessen Präsident, der zweiundvierzigjährige Provenzale Paul François Barras aus einfachem Adel, gut gebaut und mit dem forschen Auftreten eines Fechtmeisters, wie ein Zeitgenosse ihn beschrieb. Er begann seine Rede mit der üblichen blumigen Verherrlichung der «erhabenen Revolution des französischen Volkes», bevor er zum aufgeblasenen Lob des «Friedensstifters des Kontinents» überging, den er mit Sokrates verglich und als Befreier des Volkes von Italien pries. General Bonaparte habe mit Caesar gewetteifert, aber im Gegensatz zu anderen siegreichen Generälen sei er ein Mann des Friedens: «Als Euch das erste Wort eines Friedensangebots erreichte, habt Ihr Euren triumphalen Vormarsch eingestellt, habt Ihr das Schwert niedergelegt, mit dem das Vaterland Euch bewaffnete, und es vorgezogen, den Frieden anzunehmen!» Bonaparte sei der lebende Beweis dafür, «dass man aufhören kann zu siegen, ohne aufzuhören, groß zu seyn».[12]
Die Ansprache mäanderte in eine Tirade gegen diese «niederträchtigen Karthager» (die Briten), die das letzte Hindernis für einen allgemeinen Frieden darstellten, den das neue Rom (Frankreich) dem Kontinent übereignen wolle. Er schloss, indem er den General, «den Befreier, den eine empörte Menschheit mit klagendem Appell aufruft», bat, eine Armee über den Ärmelkanal zu führen, dessen Wasser stolz sein würden, ihn und seine Soldaten zu befördern. «Sobald die Trikolore auf seinen blutgetränkten Küsten entrollt ist, wird ein einstimmiger Dankesschrei Eure Anwesenheit begrüßen; und indem sie die Morgendämmerung des nahenden Glückes erfasst, wird jene großmütige Nation Euch als Befreier bejubeln, die Ihr gekommen seid, nicht um sie zu bekämpfen oder zu versklaven, sondern um ihrem Leiden ein Ende zu machen.»[13]
Barras trat daraufhin mit ausgebreiteten Armen vor und umarmte den General im Namen der französischen Nation mit einem «brüderlichen Ritterschlag». Die anderen Direktoren taten es ihm gleich, gefolgt von den Ministern und weiteren Würdenträgern, wonach es dem General erlaubt war, vom Vaterlandsaltar herabzutreten und seinen Platz einzunehmen. Der Chor stimmte eine Friedenshymne an, die der Revolutionsbarde Marie-Joseph Chénier für diesen Anlass verfasst und Étienne Méhul vertont hatte.
Der Kriegsminister, General Barthélemy Schérer, ein fünfzigjähriger Veteran mehrerer Feldzüge, stellte dem Direktorium anschließend zwei der Adjutanten Bonapartes vor, die eine riesige weiße Standarte trugen, auf der die Siege der Italienarmee mit Goldfäden eingestickt waren. Zu diesen gehörten: die Gefangennahme von 150.000 Feinden, die Eroberung von 170 Fahnen und mehr als tausend Feldgeschützen sowie neun Kriegsschiffen, zwölf Fregatten und achtzehn Galeeren; der Abschluss einer Reihe von Waffenstillständen und Verträgen mit verschiedenen italienischen Staaten, die Befreiung der Bevölkerung fast ganz Norditaliens und der Erwerb von Meisterwerken Michelangelos, Guercinos, Tizians, Veroneses, Correggios, Carraccis, Raffaels, Leonardos und anderer Kunstschätze für Frankreich. Schérer lobte die Soldaten der Italienarmee und insbesondere ihren Befehlshaber, der «die Kühnheit eines Achilles mit der Weisheit eines Nestors in sich vereint».[14]
Die Kanonen donnerten, als Barras aus den Händen der beiden Krieger die Standarte entgegennahm, und in einer weiteren endlosen Ansprache kehrte er zu seinem antibritischen Thema zurück. «Möge der St. James-Palast zu Staub zerfallen! Das Vaterland wünscht es, die Menschheit verlangt es, die Rache befiehlt es.» Nachdem die beiden Krieger den «brüderlichen Ritterschlag» seitens der Direktoren und Minister erhalten hatten, schloss die Zeremonie mit der Darbietung der mitreißenden revolutionären Kriegshymne Le Chant du départ, nach deren Ende die Direktoren das Geschehen in derselben Weise verließen, wie sie gekommen waren, und Bonaparte umjubelt von der draußen versammelten Menge fort eilte, überaus erleichtert, dass alles vorbei war.[15]
Bei aller vermeintlichen Nonchalance war er von Anfang bis Ende auf der Hut gewesen. Das Direktorium war über den kommenden Frieden keineswegs erfreut. Der Krieg hatte sich selbst finanziert und die Staatskasse gefüllt, die Siege zudem die Kritik von den Mißständen im Inneren abgelenkt. Wichtiger noch, der Krieg sorgte dafür, dass die Armee beschäftigt blieb und ehrgeizige Generäle von Paris ferngehalten wurden. Bonaparte hatte diesen Frieden unter völliger Missachtung der ihm gegebenen Anweisungen geschlossen, und es war kein Geheimnis, dass die Direktoren wütend wurden, als man ihnen den Vertragsentwurf vorlegte. Ein paar Tage später ernannten sie Bonaparte zum Kommandeur der Englandarmee, nicht, weil sie an die Möglichkeit einer erfolgreichen Invasion glaubten, sondern weil sie ihn weitab von Paris und in ein Unternehmen eingebunden sehen wollten, das seinem Ruf mit Sicherheit schaden würde. Ihr Sinnen und Trachten war jetzt vor allem, ihn aus Paris fortzuschaffen, wo er zwangsläufig die Aufmerksamkeit ihrer Gegner auf sich ziehen würde.[16]
Das Ereignis dieses Tages war ein politisch brisantes Schauspiel gewesen, bei dem «alle diese Szene aus einem Rührstück ausagierten, so gut sie konnten», wie Bonapartes Sekretär konstatierte. Aber es war auch ein gefährliches; ein gutinformierter Beobachter nannte es «einen jener Anlässe, bei denen ein unüberlegtes Wort, eine unangemessene Geste über die Zukunft eines großen Mannes entscheiden kann». Wie Sandoz-Rollin betonte, hätte Paris leicht des Generals «Grab» werden können.[17]
Dem General war dies nur zu bewusst. Nach der Zeremonie gab es Illuminationen, die der «Majestät des Volkes würdig» waren, danach zu seinen Ehren ein Bankett, das der Minister des Inneren ausgerichtet hatte und bei dem nicht weniger als zwölf Trinksprüche ausgebracht wurden, auf die hin jedesmal drei Salutschüsse abgefeuert wurden und der Chor des Konservatoriums ein Lied schmetterte. Von seinen Adjutanten aufmerksam bewacht, rührte er keinen Bissen der Speisen an, noch trank er einen einzigen Schluck, da er fürchtete, vergiftet zu werden.[18]
Es waren nicht nur die Direktoren, die ihm übelwollten. Die Royalisten, die sich nach einer Wiederkehr der Bourbonenherrschaft sehnten, hassten ihn als skrupellosen Verteidiger der Republik. Die Ultrarevolutionäre, die aus der Macht gedrängten Jakobiner, fürchteten, er könne Pläne zur Wiederherstellung der Monarchie schmieden. Sie prangerten den von ihm unterzeichneten Vertrag als «abscheulichen Verrat» an den Werten der Republik an und nannten ihn einen «kleinen Caesar», der sich anschickte, zu putschen und die Macht an sich zu reißen.[19]
Tatsächlich beschäftigten derartige Gedanken den General durchaus. Er behielt sie jedoch für sich, während er seine Möglichkeiten prüfte und sich zugleich perfekt in der Rolle eines modernen Cincinnatus inszenierte. Das Angebot des Direktoriums, eine Ehrengarde vor seiner Tür zu postieren, lehnte er ab; er mied öffentliche Veranstaltungen und hielt sich bedeckt, indem er beispielsweise das Haus in Zivil verließ. «Sein Verhalten widerlegt nach wie vor all die überzogenen Spekulationen und die tückische Verherrlichung durch gewisse Leute», berichtete anerkennend das Journal des Hommes Libres. Der preußische Diplomat versicherte seinen Vorgesetzten in Berlin, es gebe nichts, was den Verdacht nahelegte, dass Bonaparte die Macht übernehmen wolle. «Die Gesundheit dieses Generals schwächelt, seine Brust ist in sehr schlechtem Zustand», schrieb er, «seine Neigung zur Literatur und zur Philosophie und sein Ruhebedürfnis ebenso wie jenes, die Neider verstummen zu lassen, werden ihn dazu bringen, ein friedliches Leben unter Freunden zu führen …»[20]
Nur einer ließ sich nicht täuschen. Bei all seinem Zynismus war Talleyrand beeindruckt, und er witterte die Macht. «Was für ein Mann ist dieser Bonaparte», hatte er einige Wochen zuvor einem Freund in einem Brief geschrieben. «Er hat sein achtundzwanzigstes Jahr noch nicht vollendet: und er ist mit allem Ruhm bekrönt. Dem des Krieges und dem des Friedens, dem der Bescheidenheit, dem der Großzügigkeit. Er hat alles.»[21]
2
Der Mann, der alles hatte, entstammte einer unbedeutenden Familie in einer der ärmsten Ecken Europas, der Insel Korsika. Es war ein insofern besonderer Ort, als er nie eine unabhängige politische Einheit, aber auch nie ganz Provinz oder Kolonie eines anderen Staates gewesen war. Korsika war seit jeher eine Welt für sich.
Im späten Mittelalter hatte die Republik Genua Stützpunkte an den Ankerplätzen Bastia im Nordosten und Ajaccio im Südwesten angelegt, um ihre Schiffsrouten zu schützen und andere an ihrer Nutzung zu hindern. Genua stationierte dort Soldaten, zumeist verarmte Adlige vom italienischen Festland, und dehnte seine Herrschaft nach und nach in das schroffe Landesinnere aus. Aber dort gab es wenig von wirtschaftlichem Interesse, und obwohl die Genuesen vordrangen, um Aufstände niederzuschlagen und an Abgaben einzutreiben, was möglich war, stellten sie fest, dass es ihnen unmöglich war, die wilden Einheimischen zu beherrschen, daher überließen sie das Innere weitgehend sich selbst und machten sich nicht einmal die Mühe, es zu kartieren.
Die Bevölkerung der Insel bewahrte ihre traditionelle Lebensweise. Sie ernährte sich von Kastanien (aus denen sogar das heimische Brot gebacken wurde), von Käse, Zwiebeln, Früchten und hin und wieder einem Stück Ziegen- oder Schweinefleisch, das sie mit dem eigenen Wein herunterspülten. Die Menschen kleideten sich in selbstgewebtem braunen Tuch und sprachen einen eigenen italienischen Dialekt. Ständig stritten sie sich um verschiedene Belange mit den Bewohnern der Hafenstädte, zum Beispiel um Weiderechte. Diese hielten sich für etwas Besseres und heirateten untereinander oder fanden Ehepartner auf dem italienischen Festland; mit der Zeit aber mussten sie sich doch vom Landesinneren absorbieren lassen und dessen Sitten übernehmen.
Es war eine vorfeudale Gesellschaft. Die meisten besaßen mindestens ein kleines Stück Land, und wenn sich auch einige wenige Familien dem Adel zuordneten, waren die Besitzunterschiede gering. Selbst die ärmsten Familien sahen mit einem gewissen Stolz auf ihre persönliche Würde und auf den Wert ihres «Hauses». Es handelte sich um eine zutiefst heidnische Gesellschaft, bei der ein dünner aber beharrlicher christlicher Firnis ein Gemisch aus uralten Mythen und Atavismen überdeckte. Ein tiefer Schicksalsglaube herrschte stärker vor als die christliche Vorstellung einer Erlösung.
Da kaum Münzen in Umlauf waren, wurde mit den meisten Dingen des täglichen Bedarfs Tauschhandel getrieben. Daraus entstand ein kompliziertes Netz aus zugesagten und erwarteten Leistungen, aus alten oder wieder eingeforderten Rechten, aus – oft stillschweigenden – Abmachungen und einer unüberschaubaren Fülle von Rechtsstreitigkeiten. Jede gewalttätige Tat konnte eine vendetta auslösen, der zu entkommen fast unmöglich war, denn in einem so begrenzten Gebiet ließ sich nichts lange geheimhalten. Die Bodenknappheit bedeutete, dass das Eigentum immer wieder aufgeteilt, die Einzelparzellen getauscht und es mit komplizierten, Rückfallrechte regelnden Klauseln befrachtet war. Hier lagen auch die Hauptmotive für Eheschließungen. Nicht anders war es beim Vater General Bonapartes gewesen, Carlo Maria Buonaparte.
Als sein Sohn an die Macht kam, begannen Ahnenforscher, Schmeichler und Glücksjäger seinen Vorfahren nachzuforschen und mit diversen Stammbäumen aufzuwarten, die ihn mit römischen Kaisern, Welfenkönigen und sogar dem Mann mit der eisernen Maske in Beziehung brachten. Die einzigen unbestreitbaren Fakten seiner Abstammung besagen, dass er Nachfahre eines gewissen Gabriele Buonaparte war, dem im 16. Jahrhundert das prächtigste Herrenhaus in Ajaccio gehörte, bestehend aus zwei Zimmern und einer Küche über einem Laden und einem Lagerraum, nebst einem kleinen Garten mit einem Maulbeerbaum.
Gabrieles Herkunft ist ungewiss. Am überzeugendsten ist ein Zusammenhang mit kleinen Landadligen desselben Namens aus dem Städtchen Sarzana an der Grenze zwischen der Toskana und Ligurien, von denen sich einige in den Dienst der Genueser stellten und nach Korsika entsandt wurden. Jüngste DNA-Tests haben ergeben, dass die korsischen Buonaparte zur genetischen Haplogruppe E gehörten, die hauptsächlich in Nordafrika, Sizilien und besonders in der Levante anzutreffen ist. Dies schließt eine ligurische Verbindung nicht aus, da Menschen aus diesen Gegenden im Wandel der Zeiten sowohl an Italiens als auch an Korsikas Küsten angeschwemmt wurden.[1] Gabrieles Sohn Geronimo war immerhin so angesehen, dass er im Jahr 1572 als Ajaccios Deputierter nach Genua entsandt wurde; durch Heirat erwarb er ein Haus in der Hauptstraße von Ajaccio sowie eine Pacht über ein Stück Sumpfgebiet außerhalb, das man die Salinen nannte. Auch seine Nachkommen machten gute Partien im Kreis der Notabeln von Ajaccio, aber die Notwendigkeit, die Töchter mit einer Mitgift auszustatten, zersplitterte den Familienbesitz, und der 1683 geborene Sebastiano Buonaparte musste sich damit begnügen, ein Mädchen aus dem Dorf Bocognano im Hochland zu heiraten, offenbar für zwei kleine Grundstücke in den Bergen und die neunzig Schafe, die sie mit in die Ehe brachte. Sie gebar ihm fünf Kinder: ein Mädchen, Paola Maria, und vier Jungen: Giuseppe Maria, Napoleone, Sebastiano and Luciano.
Das Anwesen der Familie war wegen Mitgiftverpflichtungen aufgeteilt worden, so dass sie sich zu siebt auf den 40 Quadratmetern zusammendrängen mussten, die ihnen geblieben waren. Das Gebäude war so heruntergekommen, dass eine militärische Einquartierungskommission es als geeignet für allenfalls die untersten Ränge einstufte. So kam es, dass ihr Lebensstil, obwohl sie immer noch zu den anziani, den Ältesten oder Notablen von Ajaccio, zählten, alles andere als nobel war. Etwas Land versorgte sie mit Gemüse und ihre Rebflächen mit Wein für den Eigenbedarf; was darüber hinaus noch blieb, ließ sich verkaufen oder gegen Öl und Mehl eintauschen, während ihre Herden ihnen ab und an Fleisch zum Verzehr und ein kleines Einkommen lieferten.
Luciano war unter den Nachkommen der intelligenteste; er wurde Priester. Er kaufte anderen Familienmitgliedern ihren Anteil ab und ließ im Inneren des Hauses eine Treppe bauen. Sein Neffe, Giuseppes Sohn Carlo Maria, der 1746 geboren wurde, machte sich ebenfalls daran, das Familienvermögen wiederherzustellen; sein sozialer Ehrgeiz war es auch, der sich auf die europäische Geschichte so nachhaltig auswirken sollte.[2]
Die Geschichte hatte begonnen, sich für Korsika zu interessieren. Die korrupte Ineffizienz der Herrschaft Genuas hatte 1729 auf der Insel eine Rebellion ausgelöst. Sie wurde militärisch niedergeworfen, schwelte aber im Landesinneren weiter. 1735 beriefen drei «Generäle der korsischen Nation» in Corte im Hochland eine Versammlung ein, die consulta, und erklärten ihre Unabhängigkeit, was ihnen in ganz Europa viel Sympathie einbrachte. Eines der großen Themen in der Literatur der Aufklärung war das des edlen Wilden, und Korsika schien dem Ideal einer Gesellschaft zu entsprechen, die noch nicht von der vorgeblich verdorbenen christlichen Kultur Europas angesteckt war. Im Jahr 1736 landete der deutsche Baron Theodor von Neuhoff in Korsika und brachte den Rebellen Waffen und Hilfsgüter mit. Er rief sich zum König der Korsen aus und schickte sich an, die Insel im Sinne zeitgenössischer Ideale zu entwickeln. Genua ersuchte Frankreich um militärischen Beistand, die Rebellen mussten fliehen und Theodor ließ sich in London nieder, wo er, ein notorischer Pleitier, 1756 starb. Seine Vision jedoch überlebte ihn.[3]
Pasquale Paoli, der Sohn eines der drei «Generäle der korsischen Nation», war 1755 aus seinem Exil in Neapel zurückgekehrt und hatte eine korsische Republik proklamiert. Der 1725 geborene Paoli war elf, als Theodor ihm seine Vision für die Insel nahebrachte, und sie hatte ihn in all den Jahren des Exils nicht mehr losgelassen. Er gab sich als «General der Nation» aus und arbeitete während der nächsten dreizehn Jahre daran, einen idealen modernen Staat zu schaffen, mit einer Verfassung, Institutionen und einer Universität. Sein Charisma sicherte ihm die Liebe der meisten Korsen, die ihm treu dienten und ihn ihren Babbo, ihren Vater, nannten. Er hatte Bewunderer unter den europäischen Aufklärern gefunden, allen voran Voltaire und Rousseau. Der britische Reisende James Boswell besuchte ihn 1765 und schrieb seine Erfahrungen nieder, die ein Bestseller wurden und seinen Ruhm weiter mehrten.[4]
Während Paoli die korsische Nation von Corte aus regierte, dem Bergnest im Herzen der Insel, blieben die Küstenstädte unter der Botmäßigkeit der Genuesen, die zweimal das französische Militär herbeigerufen hatten, ihnen bei der Aufrechterhaltung ihres Zugriffs zu helfen. Die Franzosen beschränkten sich zunächst darauf, die Hafenstädte und deren Umland zu halten, aber es war unwahrscheinlich, dass Frankreich die Existenz einer utopischen Republik vor seiner Haustür lange dulden würde, und kluge Korsen begannen, sich nach allen Seiten abzusichern.
Am 2. Juni 1764, ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, heiratete der achtzehnjährige Carlo Buonaparte Letizia Ramolino, die noch nicht einmal vierzehn war. Es heißt allgemein, sie sei eine Schönheit gewesen, was jedoch nicht das Motiv dieser Verbindung war, die sein Onkel Luciano angebahnt hatte. Die Familie Ramolino stammte von einem lombardischen Edelmann ab, der einige Jahrhunderte zuvor nach Korsika gekommen war, und besaß damit einen höheren sozialen Status als die Buonaparte. Sie hatten auch bessere Beziehungen und waren reicher. Letizias Mitgift, die aus einem Haus in Ajaccio und einigen Zimmern in einem anderen bestand, sowie in einem Weinberg und etwa einem Dutzend Hektar Land, brachte Carlo eine Aufwertung seiner Position. Die Ehe wurde nicht in der Kirche geschlossen; es ging bei jedem Ehebund zuallererst um Besitz, weshalb der Vertrag am allerwichtigsten war, der traditionell im Haus einer der beiden Parteien unterzeichnet wurde. Danach konnten die Frischvermählten ihren Bund von einem Priester weihen lassen, oder auch nicht.[5]
Bald nach der Hochzeit zog das Paar nach Corte, wo sich Carlos Onkel Napoleone schon Paoli angeschlossen hatte. Ihr erstes Kind war eine Totgeburt, ihr zweites, eine Tochter, die 1767 auf die Welt kam, starb im Kleinkindalter. Am 7. Januar 1768 bekamen sie einen Sohn, der auf den Namen Joseph Nabullion getauft wurde. Carlo schrieb sich an der Universität ein und veröffentlichte später eine Dissertation über natürliche Rechte, was von seiner Vertrautheit mit dem politischen Denken seiner Zeit zeugt.[6]
Paoli residierte in einem massiven Gebäude, gebaut aus demselben dunkelgrauen Stein, der auch bei anderen Häusern und dem Straßenpflaster in Corte zur Verwendung kam. Er importierte Möbel und Textilien aus Italien, um in diesem düsteren Gemäuer einige Räume zu schaffen, die einem Regierungsoberhaupt als Empfangszimmer dienen konnten. Dem gutaussehenden und liebenswürdigen Carlo gelang es bald, die Freundschaft des Generals zu gewinnen. Nach den Maßstäben von Corte war Letizia eine gebildete und elegante Dame, und ihre Schönheit und Persönlichkeit bewirkten, dass sie, zusammen mit ihrer Schwester Geltruda Paravicini, ein willkommenes Mitglied im Gefolge des Generals wurde.
Wie Paoli gegenüber Boswell gestand, setzte er großes Vertrauen in die Vorsehung. Dies und die Hochachtung, die man ihm in Europa vielfach entgegenbrachte, hatten ihn selbstgefällig werden lassen. Er glaubte, dass die Briten, die schon früher ein Interesse daran gezeigt hatten, die korsische Sache zu unterstützen, und die jetzt von Boswells Beschreibung von Korsika hingerissen waren, ihm zur Hilfe eilen würden, falls man ihn bedrohte. Frankreich jedoch konnte nicht zulassen, dass die strategisch wichtige Insel in die Hände einer feindlichen Macht fiel. Noch schmerzten die Wunden der Gebietsverluste an Großbritannien in Übersee während des jüngst beendeten Siebenjährigen Krieges, daher wäre ein kolonialer Zuwachs Balsam für Frankreichs gekränkten Stolz. Genua hatte Korsika aufgegeben und schuldete Frankreich eine Menge Geld. Nach dem Vertrag von Versailles von 1768 hatte es die Insel bis zur Rückzahlung der überfälligen Schulden an Frankreich abgetreten. Französische Truppen rückten nun von ihren Stützpunkten an der Küste aus, um den Machtanspruch von König Ludwig XV. durchzusetzen.[7]
Paoli rief zu den Waffen, aber er stand auf verlorenem Posten, obgleich die Menschen des Hochlands erbittert Widerstand leisteten und den Franzosen schwere Verluste beibrachten. Carlo war bei dem entscheidenden Gefecht am 8. Mai 1769 bei Ponte-Novo auf Paolis Seite, nahm aber an den Kampfhandlungen nicht teil; etwa drei Kilometer entfernt wartete Paoli ab, während seine Männer von einer überlegenen französischen Streitmacht unter dem Herzog de Vaux vernichtend geschlagen wurden. Er floh über die Berge nach Porto Vecchio, von wo aus zwei britische Fregatten ihn und eine Handvoll seiner Anhänger nach England ins Exil brachten.[8]
Carlo Buonaparte war nicht unter ihnen. Der Familienlegende nach bestand Paoli darauf, dass er bleiben sollte, wahrscheinlicher ist aber, dass Carlo die Entscheidung selbst traf. Die Insel war im Lauf der Jahrhunderte von immer wieder anderen Mächten unterworfen worden, so dass bei ihren Bewohnern die Loyalität zur Familie weitaus wichtiger war als jedes beliebige Ziel. Während Carlo und sein Onkel Napoleone im Dienst von Paoli gestanden hatten, war sein anderer Onkel, Luciano, im von den Franzosen gehaltenen Ajaccio geblieben, wo er dem König von Frankreich Lehnstreue geschworen hatte, wie auch die meisten Notabeln der Küstenstädte. Vom Unabhängigkeitsbestreben unberührt, schrieb Letizia an ihren Großvater Giuseppe Maria Pietrasanta im französisch besetzten Bastia mit der Bitte, ihr Ballen Lyoner Seide und neue Kleider zu schicken, die einer Edelfrau geziemten.[9]
«Ich war ein guter Patriot und Paolist, solange die nationale Regierung dauerte», schrieb Carlo. «Aber diese Regierung ist nicht mehr, und wir sind Franzosen geworden, eviva il re e suo governo.» Nachdem er sich Vaux ergeben hatte, kehrte er nach Ajaccio zurück. Auf dem Heimweg über die Berge hätte Carlo fast seine Frau und das Kind verloren, das sie unter dem Herzen trug, als ihr Maulesel im reißenden Strom des Liamone strauchelte.[10]
Das Kind wurde in der Nacht des 15. August 1769 geboren und nach seinem Großonkel Napoleone benannt, der zwei Jahre zuvor gestorben war. Dieser Name stand nicht als der eines Heiligen im liturgischen Kalender, aber er war in Genua und Korsika nicht unbekannt, wo er manchmal Nabullione oder sogar Lapullione geschrieben wurde, und mehrere Familienmitglieder trugen ihn schon früher. Der Knabe wurde erst im darauffolgenden Juli getauft, nachdem sein Vater sich mit einigem Geschick wieder in die Gesellschaft eingefügt hatte.[11]
Da ein juristischer Abschluss unter allen Regierungen Schlüssel zu einer Position im öffentlichen Dienst war, begab sich Carlo nach Pisa, um dort die notwendige Qualifikation zu erwerben. «Man macht sich keine Vorstellung, wie leicht einem hier der Doktortitel zuerkannt wird», schrieb ein zeitgenössischer französischer Reisender über die Universität Pisa. «Jeder hat ihn hier, selbst die Schankwirte und Postmeister.» Carlo legte eine hastig verfasste Dissertation vor, wurde damit promoviert, und innerhalb von sechs Wochen war er wieder in Ajaccio, wo für ihn an Arbeit kein Mangel bestand.[12]
Nach der französischen Volkszählung von 1770 war Ajaccio mit einer Einwohnerzahl von 3907 die zweitgrößte Stadt in Korsika, in Wirklichkeit aber kaum mehr als ein verschlafenes, übelriechendes Dorf. Als Balzac es über ein Jahrhundert später besuchte, war er fassungslos angesichts der allgegenwärtigen «unglaublichen Lethargie» dieses Ortes, in dem die Männer den ganzen Tag rauchend umherschlenderten. Er bestand aus einer winzigen Zitadelle, die vorn auf der Landspitze saß und den Hafen schützte, dahinter zwängte sich eine von einer Mauer umfasste Stadt, die sich um drei strahlenförmig auseinanderstrebende Straßen drängte; diese erstreckten sich in keine Richtung weiter als 250 Meter und wurden von drei weiteren kleineren gekreuzt. Es gab eine hübsche Promenade und einen Platz, der nach der großen Ulme, die auf ihm wuchs, den Namen Olmo trug. Innerhalb der Mauern stand eine Kathedrale, deren Dach 1771 einstürzte und über die folgenden zwanzig Jahre nicht repariert wurde, und im Sommer war sie wegen des Gestanks, der von den unter ihrem Boden begrabenen Toten aufstieg, unbenutzbar. Außerdem klemmten sich ein Jesuitenkolleg und eine Gouverneursresidenz zwischen eine Ansammlung schäbig aussehender, sich auf engen Straßen aneinanderreihenden Stadthäusern, deren viele kleine Läden ihre Waren ins Freie entließen. Der Geruch der Fische, der vom Hafen herüberwehte, vermischte sich mit dem der Felle, die von den Metzgern zum Trocknen ausgelegt wurden, wenn sie die toten Tiere im Freien zerstückelten, und mit dem aus dem Zitadellengraben aufsteigenden Pesthauch. Außerhalb der Stadtmauern befanden sich ein Kloster, ein Krankenhaus, eine Kaserne und ein Priesterseminar sowie an der Straße, die vom Norden her zur Stadt führte, ein Gewirr von Behausungen, die man den Borgo nannte und wo die ärmeren Einwohner lebten.[13]
Tonangebend in der Stadt waren Familien wie die Ponte, die Pozzo di Borgo, die Bacciochi und Peraldi, dazu eine Schicht von Notaren, Advokaten und Klerikern mit «vornehmen» Verbindungen wie die Buonaparte. Diese Gesellschaft wurde angereichert durch Justizbeamte, Richter, Offiziere und andere Vertreter der französischen Verwaltung. Die Häuser innerhalb der Stadtmauern waren meistens unter mehreren Eigentümern aufgeteilt, so auch das der Buonaparte, und da alle Bewohner durch Blutsbande oder Vermählung miteinander verwandt waren, bestand die ganze Gegend aus einer Ansammlung von verschlungen miteinander verbandelten Familien. Ajaccios Anwälte, darunter Carlo, lebten gut von den Streitereien, die sich auf den beengten Räumen und um die kargen Ressourcen ergaben. Carlo selber sollte viele Jahre lang in einem Rechtsstreit über gebrauchte Gerätschaften zur Weinherstellung und ein paar undichte Fässer stehen. In einem Fall verteidigte er vor Gericht den Anspruch seines Mandanten auf ein Halstuch. Es gab reichlich Arbeit, aber sie war nicht lukrativ genug, um Carlos Ambitionen zu entsprechen. Dank seines Doktortitels bekam er 1771 eine kleine Stellung am Gerichtshof von Ajaccio, aber er strebte nach Höherem.[14]
Er hatte sich eiligst um die Gunst des französischen Militärgouverneurs im Südwesten der Insel beworben, des Comte de Narbonne. Nachdem der ihn abgewimmelt hatte, bot er seine Dienste Narbonnes Vorgesetzten in Bastia an. Charles Louis, Comte de Marbeuf, benötigte unter den Notabeln von Ajaccio eine Gruppe von Unterstützern, und die Buonaparte brachten dafür die besten Voraussetzungen mit. Ihre Zusammenarbeit entwickelte sich so gut, dass Carlo sich getraute, Marbeuf zu bitten, bei der Taufe seines Sohnes Napoleone am 21. Juli 1771 Pate zu stehen, und Marbeuf sagte zu. Es ergab sich dann, dass Marbeuf an diesem Tag verhindert war und er den Genueser Patrizier und späteren königlichen Vizegouverneur in Ajaccio, Lorenzo Giubega, schickte, für ihn einzuspringen. Marbeuf kam aber einen knappen Monat später zu den Feierlichkeiten zu Mariä Himmelfahrt am 15. August, das mit dem zweiten Geburtstag des kleinen Napoleone zusammenfiel. So angetan war er von der Schönheit der Kindsmutter, dass er darauf bestand, ihr bei der nachmittäglichen passeggiata auf dem Olmo seinen Arm zu bieten; und nachdem er sie nach Hause begleitet hatte, blieb er dort bis um ein Uhr morgens. Carlos Aufstiegschancen schnellten in die Höhe.[15]
Frankreich war an Korsika sowohl wegen seiner strategischen Bedeutung als auch wegen seines wirtschaftlichen Potentials interessiert. Man verlieh der Insel den Status einer halbautonomen Provinz innerhalb des Königreichs, und die französischen Behörden machten sich daran, sie entsprechend zu organisieren. Eine Untersuchung offenbarte ihnen den eigentümlichen Charakter der korsischen Gesellschaft, mit deren breiter Basis im Grundbesitz und einer Fülle von Rechten und Pflichten in den Bereichen der Jagd, des Sammelns und der Fischerei. All das würde einem vernunftgemäßen Umbau entgegenstehen, während das Gleichheitsprinzip, das Boswell und Rousseau so entzückt hatte, nicht nur den Fortschritt hemmte, sondern auch die Einführung einer Hierarchie, die Voraussetzung für eine erfolgreiche politische Kontrolle war. Eine der ersten Maßnahmen der neuen französischen Herrschaft bestand darin, dies zu korrigieren, indem sie die prominentesten Familien als adlig anerkannte. Vor allem Carlos Umtriebigkeit und dem Charme seiner Frau ist es zu verdanken, dass die Buonaparte einbezogen wurden. «Ajaccio ist wegen dieser Nachricht verblüfft und voller Neid», schrieb Carlo an den Großvater seiner Frau.[16]
Die Verbindung mit Marbeuf war von unschätzbarem Wert. 1772 konnte Carlo nur deshalb als Abgeordneter von Ajaccio in die neugeschaffene korsische Ständeversammlung gewählt werden, weil die Wahl seines erfolgreichen Rivalen auf Marbeufs Intervention hin annulliert wurde. Direktes Eingreifen des Gouverneurs half auch, einen längeren Rechtsstreit zwischen den Buonaparte und ihren Ornano-Vettern beizulegen, bei dem es um eine Mitgift ging, die einen bedeutenden Teil des Hauses betraf, in dem sie wohnten. Durch eine Reihe von Aufkäufen, Tauschgeschäften und Gerichtsverfahren konnte Carlo seinen Besitz über die Jahre vergrößern, und das vor dem Hintergrund ständiger Kleinkriege zwischen verschiedenen Familienmitgliedern über die Benutzung der Treppe und anderes, bei dem gegensätzliche Interessen aufeinanderprallten. Gelegentlich führten diese zu Gewaltausbrüchen und endeten unweigerlich vor Gericht, wo das Wissen, dass Carlo Marbeufs Unterstützung genoss, einiges Gewicht hatte.[17]
Carlos aufgehender Stern und das Interesse des Gouverneurs an Letizia weckten Neid und gaben Anlass zu Klatsch. Marbeuf war Witwer und hatte offiziell eine Geliebte in Bastia, eine Madame Varese, aber über welche Reize sie auch immer verfügen mochte, mit fünfzig hatte sie ihre besten Jahre hinter sich, während Letizia jung war. Es fällt schwer, sich dafür einen anderen Grund vorzustellen als einen amourösen, der ihn veranlasst haben könnte, mit einer ungebildeten, vierzig Jahre jüngeren Frau Zeit zu verbringen, und alles weist darauf hin, dass er in Letizia vernarrt war. Es gibt keine Belege dafür, dass ihre Beziehung sexueller Natur war, aber gerade das wurde allgemein unterstellt, ebenso, dass ihr nächstes Kind, Louis, das 1778 geboren wurde, von ihm war.[18]
Letizia sollte Carlo insgesamt dreizehn Kinder gebären, von denen zwei bei der Geburt starben und drei, als sie noch klein waren. Das erste Kind, das überlebte, war Joseph, der 1768 geboren wurde, das nächste Napoleone, der 1769 auf die Welt kam. Da seine Mutter ihn nicht stillen konnte, gab man ihm eine Amme, Camilla Carbon Ilari, die ihn so sehr ins Herz schloss, dass sie ihren eigenen Sohn vernachlässigte. Zudem wurden Napoleone und sein älterer Bruder, der zwar auf den Namen Joseph getauft, aber Guiseppe gerufen wurde, von ihrem Vater und ihrer Großmutter Saveria Paravicini verwöhnt, die in der Familie Minanna hieß. Aber sie standen unter der strengen Fuchtel Letizias, die stark, tapfer und charakterfest war und über gesunden Menschenverstand verfügte. Im Gegensatz zum Rest der Familie war sie fromm und verließ selten das Haus, außer um in die Kirche zu gehen. Überdies setzte sie eine strenge Disziplin durch und bedachte alle ihre Kinder mit Ohrfeigen; einmal verpasste sie Napoleone eine Tracht Prügel, die er sein Leben lang nicht vergaß. Sie übte einen starken Einfluss auf ihn aus, und später würde er sagen, dass er ihr alles verdanke.[19]
Napoleons Mutter Letizia Bonaparte im Jahr 1800, von Jean-Baptiste Greuze. Sie erzog ihn streng, und später würde er sagen, dass er ihr alles verdanke.
Es lässt sich nicht nachweisen, dass Napoleone je zur Schule ging, aber seiner Mutter zufolge besuchte er den Unterricht an einer Mädchenschule. Wahrscheinlich brachte ihm ein örtlicher Priester, der Abbé Recco, zu Hause Lesen und Schreiben bei – vermutlich eher auf Latein als im ortsüblichen Dialekt, den alle sprachen. Sein Großonkel Luciano, de facto das Oberhaupt der Familie, hatte offenbar noch andere Lehrer gefunden, da Napoleone schon in jungen Jahren von Mathematik geradezu besessen war.[20]
Er scheint eine glückliche Kindheit gehabt zu haben, die er großenteils auf der Straße beim Spiel mit seinen vielen Cousins verbrachte. Die Sommer hielt man sich oben in den Bergen in Bocognano auf. Die Familie bekam 1775 weiteren Zuwachs mit der Geburt eines Jungen, Luciano, und 1777 der eines Mädchens, dem vierten, das auf den Namen Maria-Anna getauft wurde und das als erstes überlebte. Obwohl die meisten Anekdoten, die frühe Biographen als «Erinnerungen» zusammentrugen und sich, da sie unter dem suggestiven Einfluss des späteren Lebenswegs des Jungen entstanden, entsprechend abtun lassen, kann ein Aspekt festgehalten werden: Seine Mutter entsann sich voller Bewunderung, dass von all ihren Kindern Napoleone «das furchtloseste» gewesen sei. Tatsächlich war er offenbar aggressiv und streitsüchtig, was oft zu Kämpfen mit seinem älteren Bruder führte.[21]
Überall umgab ihn Gewalt, da ein großer Teil der Bevölkerung weiterhin seine gesetzlosen Bräuche beibehielt, und um die Reste des Widerstands und das tief eingewurzelte Banditentum auszumerzen, griffen die Franzosen zu den härtesten Maßnahmen. Mobile Kolonnen durchkämmten die ländlichen Gebiete, brannten Häuser und Ernten nieder und metzelten vereinzelte Gruppen, die sie verdächtigten, Rebellen zu sein, flochten sie aufs Rad und hängten die Leichen als Warnung entlang der Landstraßen auf. Dem fünfjährigen Knaben kann dieser Anblick nicht entgangen sein.
Was immer seine wahren Gefühle gewesen sein mochten, Carlo hatte das Schicksal seiner Familie an die französische Besatzungsmacht und deren Vertreter in Korsika geknüpft. Dass man ihn für einen Hahnrei hielt, war angesichts der Vorteile, die Marbeufs Gunst mit sich brachte, die ihm bei jedem Schritt auf seinem Weg nach oben zugute kam, ein geringer Preis. Während Luciano jeden Pfennig sparte und buchstäblich auf seinen Geldsäcken schlief, war Carlo verschwenderisch, kleidete sich gut und achtete auf seine äußere Erscheinung, wenn er an der Versammlung in Bastia teilnahm oder anderen offiziellen Aufgaben oblag. Nachdem man ihm den Stand eines korsischen Edelmanns zuerkannt hatte, war er entschlossen, seinen Einstieg in die französische Aristokratie zu betreiben, da nur dies den Weg in eine Karriere im Königreich ebnete. Es war beschlossene Sache, dass sein ältester Sohn Joseph Geistlicher werden und Napoleone zur Armee gehen sollte. Der Bischof von Autun war Marbeufs Neffe, und Joseph erhielt ohne Schwierigkeiten einen Platz im Priesterseminar jener Stadt, was ihm die Aussicht auf eine Stellung als Subdiakon und entsprechende Einkünfte bot.
Napoleone unterzubringen würde nicht ganz so leicht sein. 1776 beantragte Carlo einen Platz an einer der königlichen Militärakademien, aber für die Kosten würde der Knabe ein königliches Stipendium benötigen. So etwas wurde Söhnen von Offizieren und von mittellosen Adligen gewährt, daher musste Carlo einen Adelsnachweis und den Beleg seiner finanziellen Bedürftigkeit erbringen. Seine Anerkennung als Adliger aus dem Jahr 1771 stützte sich auf Beweise, die lediglich zweihundert Jahre zurückreichten, was nicht ausreichte. 1777 wurde Carlo zu einem der Deputierten gewählt, die den korsischen Adel am Hof von Ludwig XVI. vertreten sollten, aber er würde nicht zum König vorgelassen werden, solange er keine weiter zurückreichende Abstammung belegen konnte.
Als er nach Pisa gefahren war, um dort seinen Doktortitel zu erwerben, hatte Carlo vom dortigen Erzbischof ein Dokument erhalten, dem zufolge ihn seine Geburt zum Tragen des Titels eines «edlen Patriziers der Toskana» berechtigte. Er kehrte nun in die Toskana zurück und fand einen Kanonikus namens Filippo Buonaparte, der ihn mit Unterlagen versah, denen zufolge er angeblich zu dessen eigener Familie gehörte, deren Adel sich bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen ließ. Mit ihnen in der Hand hoffte er, in Frankreich anerkannt zu werden und damit auch den Anspruch auf ein Stipendium für Napoleone zu erlangen.[22]
Am 12. Dezember 1778 verließ Carlo in Begleitung von Letizia und der Söhne Joseph und Napoleone Ajaccio. Zwei weitere junge Männer hatten sich der Gruppe angeschlossen. Einer war Letizias Halbbruder Guiseppe Fesch. Als ihr Vater kurz nach ihrer Geburt gestorben war, hatte ihre Mutter in zweiter Ehe einen schweizerischen Marineoffizier in genuesischen Diensten geheiratet und einen Sohn geboren. Guiseppe Fesch hatte ein Stipendium erhalten, um sich am Seminar in Aix-en-Provence zum Priester ausbilden zu lassen. Der andere war Abbé Varese, ein Cousin Letizias, dem man das Amt des Subdiakons an der Kathedrale von Autun übertragen hatte. Sie reisten mit einem Eselskarren über Bocognano nach Corte, wo eine von Marbeuf entsandte Kutsche darauf wartete, Letizia mit größerer Annehmlichkeit das letzte Stück Wegs bis Bastia zurücklegen zu lassen. Dort bestiegen Carlo und die Jungen das Schiff nach Marseille, während Letizia in Marbeufs Residenz einzog.[23]
Sie erreichten Autun am 30. Dezember, nachdem sie Fesch unterwegs in Aix zurückgelassen hatten. Am 1. Januar 1779 betraten Joseph und Napoleone das Kolleg von Autun, wo ersterer sich auf das Priesteramt vorbereiten und letzterer Französisch lernen sollte. Er würde drei Monate und zwanzig Tage im Kolleg verbringen, in dem dreißig interne Zöglinge durch Priester des Oratorianerordens unterrichtet wurden. In dieser Zeit sollte er so weit Französisch lernen, dass er eine Unterhaltung führen und einen einfachen Aufsatz schreiben konnte, aber weder damals noch später erlernte er die Sprache wirklich gut, und grammatisch wie in der Wortwahl blieb seine Sprachbeherrschung mangelhaft. Seine Handschrift kam über ein hässliches Gekrakel nie hinaus.[24]
Carlo reiste weiter nach Paris, wo er erfuhr, dass man Napoleone unter Voraussetzung des erforderlichen Adelsnachweises ein Stipendium gewähren könne. Diesen legte er nun vor und schloss sich dann den anderen korsischen Deputierten an, die in Versailles dem König vorgestellt werden sollten. Am 9. März durften die drei Korsen vor den König treten; sie verneigten sich tief und übergaben dem Monarchen ihre Petition, der sie an einen anwesenden Minister weiterreichte und gnädig zusah, wie sie sich, unter wiederholten Verbeugungen rückwärts schreitend, aus seiner Gegenwart entfernten. Danach wurden sie der Königin, dem Dauphin und verschiedenen Würdenträgern vorgestellt, sodann in einer Kutsche durch den Park gefahren und im Großen Kanal einmal hin und her gerudert, bevor man ihnen gestattete, sich zu verabschieden.[25]
Am 28. März wurde Carlo durch den Kriegsminister, den Fürsten von Montbarrey, offiziell davon in Kenntnis gesetzt, dass sein Sohn mit einem königlichen Stipendium in die Militärakademie von Brienne aufgenommen worden war. Da er Versailles nicht verlassen konnte, bat Carlo den Vater eines anderen Jungen, der ebenfalls von Autun nach Brienne wechseln sollte, Napoleone mitzunehmen. Am 21. April brach der neunjährige Napoleone, nach einem tränenreichen Abschied von Joseph, zu seiner militärischen Laufbahn auf.[26]
3
Napoleone traf am 15. Mai 1779 in der Militärakademie Brienne ein, drei Monate vor seinem zehnten Geburtstag. Die vorgeschriebene Grundausstattung, die jeder Junge mitzubringen hatte, bestand aus: drei Paar Bettlaken, einem Silberbesteck und einem goldenen Becher mit dem eingraviertem Wappen oder den Initialen seiner Familie, einem Dutzend Servietten, einem blauen Rock mit weißen Metallknöpfen, die das Wappen der Akademie trugen; zwei Paar schwarze Serge-Breeches; zwölf Hemden, zwölf Halstücher, zwölf weiße Kragen, sechs Baumwollmützen, zwei Morgenmäntel; ein Puderbeutel und ein Haarband. Puder und Haarband würden während der ersten drei Jahre überflüssig sein, da die Jungen ihr Haar noch kurzgeschoren trugen, bis sie zwölf waren.[1]