0,00 €
Gratis E-Book downloaden und überzeugen wie bequem das Lesen mit Legimi ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 145
Anmerkungen zur Transkription:
Folgende offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert:S. 75 Der . (Punkt) nach »Gefahr« wurde zu , (Komma) geändertS. 78 sondern anstatt sonderenS. 100 Leerzeichen vor Komma entfernt und nach Komma hinzugefügt (»zur Herrschaft gekommen ist ,wird«)S. 150 Einrichtungen anstatt Ein-Dichtungen Außerdem wurden die Fußnoten, der Lesbarkeit halber, ans Ende des zugehörigen Absatzes verschoben. Das Umschlagbild wurde im Zuge der Transkription erstellt und ist gemeinfrei.
RABINDRANATH TAGORE
MÜNCHEN KURT WOLFF VERLAG
Einzig autorisierte deutsche Ausgabe. Nach der von Rabindranath Tagore selbst veranstalteten englischen Ausgabe ins Deutsche übertragen von Helene Meyer-Franck
16.–25. Tausend Copyright 1918 by Neuer Geist-Verlag in Leipzig
Die Geschichte der Menschheit gestaltet sich nach den Schwierigkeiten, denen sie begegnet. Diese stellen uns Aufgaben, die wir lösen müssen, wenn wir nicht herabsinken oder zugrunde gehen wollen.
Diese Schwierigkeiten sind verschieden bei den verschiedenen Völkern der Erde, und die Art, wie sie sie überwinden, macht ihren besonderen Charakter aus.
Die Skythen des alten Asiens hatten mit der Kargheit ihrer natürlichen Hilfsquellen zu kämpfen. Als die bequemste Lösung erschien ihnen, daß sie ihre ganze Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder, zu Räuberbanden organisierten. Und so wurden sie denen unwiderstehlich, deren Hauptleistung die friedlich aufbauende Arbeit bürgerlicher Gemeinschaft war.
Aber zum Glück für den Menschen ist der bequemste Weg nicht der ihm gemäßeste Weg. Wenn er nur seinem Instinkt zu folgen hätte, wie eine Schar hungriger Wölfe, wenn er nicht zugleich sittliches Wesen wäre, so würden jene Räuberhorden schon inzwischen die ganze Erde verheert haben. Aber der Mensch muß, wenn er Schwierigkeiten gegenübersteht, die Gesetze seiner höheren Natur anerkennen, deren Nichtbeachtung ihm zwar augenblicklichen Erfolg bringen kann, aber ihn sicher zum Untergang führt. Denn das, was der niedern Natur nur Hindernis ist, ist der höhern Lebensform eine Möglichkeit zu höherer Entwicklung.
Indien hat vom Anfang seiner Geschichte an seine Aufgabe gehabt: das Rassenproblem. Ethnologisch verschiedene Rassen sind in diesem Lande in nahe Berührung miteinander gekommen. Die Tatsache war zu allen Zeiten und ist noch heute die wichtigste in unserer Geschichte. Es ist unsere Aufgabe, ihr ins Gesicht zu sehen und unsern Menschenwert dadurch zu erweisen, daß wir sie im tiefsten Sinne lösen. Solange wir nicht diese Aufgabe erfüllt haben, wird uns Glück und Gedeihen versagt sein.
Es gibt andere Völker in der Welt, die in der sie umgebenden Natur Hindernisse zu überwinden haben oder von mächtigen Nachbarn bedroht sind. Sie haben ihre Kräfte organisiert, nicht nur so weit, daß ihnen von der Natur und von menschlichen Nachbarn keine Gefahr mehr drohen kann, sondern daß sie selbst durch ihre überschüssige Kraft zu einer Gefahr für andere geworden sind. Aber die Geschichte unseres Landes, wo die Schwierigkeiten innerer Art sind, ist eine Geschichte beständiger sozialer Schlichtung und Anpassung, nicht eine Geschichte zu Verteidigung und Angriff organisierter Macht.
Weder die farblose Unbestimmtheit des Kosmopolitismus noch die leidenschaftliche Selbstvergötterung des Nationalitätskults ist das Ziel der menschlichen Geschichte. Und Indien hat versucht, seine Aufgabe zu erfüllen, indem es einerseits die Verschiedenheiten in eine soziale Ordnung gebracht und andererseits das Bewußtsein der Einheit im Geist entwickelt hat. Es hat schwere Fehler begangen, indem es zu starre Schranken zwischen den Rassen aufrichtete und durch das Kastenwesen gewisse Stände dauernd herabdrückte und zur Minderwertigkeit verurteilte; es hat oft den Geist seiner Kinder verkrüppelt und ihr Leben eingeengt, um sie den sozialen Formen anzupassen; aber Jahrhunderte hindurch hat es immer wieder neue Versuche gemacht und Ausgleichungen geschaffen.
Indiens Aufgabe war die einer Wirtin, die für zahlreiche Gäste zu sorgen hat, deren Gewohnheiten und Bedürfnisse alle voneinander verschieden sind. Dies bringt endlose Schwierigkeiten mit sich, deren Hebung nicht nur Takt erfordert, sondern wahre Teilnahme und das Bewußtsein der Einheit des Menschengeschlechts. Dieses Bewußtsein allgemein zu machen, haben schon seit der frühen Zeit der Upanishads bis in unsere Zeit große religiöse Lehrer geholfen, deren Ziel es war, alle menschlichen Unterschiede auszulöschen im überströmenden Gottesbewußtsein. Unsere Geschichte besteht fürwahr nicht in dem Aufblühen und Zerfallen von Königreichen, in Kämpfen um politische Übermacht. Bei uns sind die Berichte von solchen Ereignissen verachtet und vergessen, denn sie machen keineswegs die wahre Geschichte unseres Volkes aus. Unsere Geschichte berichtet von sozialem Leben und von der Verwirklichung religiöser Ideale.
Aber wir fühlen, daß unsere Arbeit noch nicht getan ist. Die Flut der Welt ist über unser Land hingefegt, neue Elemente sind uns zugeströmt, und Anpassungen größeren Stils sind nötig.
Wir fühlen dies um so mehr, als die Lehre und das Beispiel des Westens dem, was wir für unsere Aufgabe halten, gerade zuwiderläuft. Im Westen wird durch den nationalen Mechanismus von Handel und Politik die Menschheit schön ordentlich in Ballen zusammengepreßt, die ihren Nutzen und hohen Marktwert haben; sie sind mit eisernen Reifen umspannt, mit Aufschrift versehen und mit wissenschaftlicher Sorgfalt und Genauigkeit sortiert. Gott schuf doch wahrlich den Menschen, daß er menschlich sei; aber dieses moderne Produkt ist so wunderbar regelmäßig zugeschnitten und poliert, hat so sehr den Charakter der Fabrikware, daß der Schöpfer Mühe haben wird, es als ein geistiges Wesen zu erkennen, als das Geschöpf, das er nach seinem göttlichen Bilde schuf.
Aber ich greife schon vor. Was ich sagen wollte, ist dies. Nehmt es, wie ihr wollt: dieses Indien hat seit wenigstens fünf Jahrtausenden versucht, in Frieden zu leben, und dies Indien war ohne Politik, ohne Nationalismus; sein einziger Ehrgeiz war, diese Welt als beseelt zu erkennen und jeden Augenblick seines Lebens zu leben in demutsvoller Anbetung und im frohen Bewußtsein der ewigen und persönlichen Verwandtschaft mit ihr. Über diesen abgelegenen Teil der Menschheit, der die Harmlosigkeit des Kindes und die Weisheit des Alters hatte, brach die Nation des Westens herein.
Bei allen Kämpfen und Ränken und Betrügereien seiner früheren Geschichte war Indien selbst unbeteiligt geblieben. Denn seine Heimstätten, seine Felder, seine Tempel, seine Schulen, in denen Lehrer und Schüler in Einfachheit und Frömmigkeit und stiller Arbeit zusammenlebten, seine Dörfer mit ihrer friedlichen Selbstverwaltung und ihren einfachen Gesetzen – alles dies gehörte wirklich zu Indien. Aber nicht seine Throne. Sie berührten es so wenig wie die Wolken, die über sein Haupt hingingen, bald mit purpurner Pracht gefärbt, bald schwarz, gewitterdrohend. Oft hatten sie Verheerungen in ihrem Gefolge, aber sie waren wie Naturkatastrophen, deren Spuren bald verschwinden.
Aber diesmal war es anders. Diesmal war es kein bloßes Dahinjagen über die Oberfläche seines Lebens – ein Dahinjagen von Reitern und Fußsoldaten, von Elefanten mit reichen Schabracken, weißen Zelten und Sonnendächern, von Reihen geduldiger Kamele, die die Lasten des königlichen Hofes trugen, von Flötenbläsern und Paukenschlägern, Marmordomen und Moscheen, Palästen und Gräbern. Dies alles kam und ging sonst wie Perlen von schäumendem Wein, und mit ihm die Geschichten von Verrat und Treue, von plötzlichem Aufstieg und jähem Fall. Diesmal aber trieb die Nation des Westens die Fühlhörner ihres Mechanismus tief in den Boden hinein. Deshalb, sage ich euch, müssen wir selbst Zeugnis ablegen von dem, was unser Volk für die Menschheit bedeutete. Wir hatten die Horden der Mongolen und Afghanen kennengelernt, die in Indien einfielen, aber wir hatten sie kennengelernt als menschliche Rassen mit ihren besonderen Religionen und Sitten, Neigungen und Abneigungen – wir hatten sie nicht als Nation kennengelernt. Wir liebten und haßten sie, wie die Anlässe es ergaben, wir kämpften für oder gegen sie, sprachen mit ihnen in einer Sprache, die sowohl ihre als unsere war, und halfen so an unserm Teile mit, das Schicksal unseres Reiches zu lenken. Aber diesmal hatten wir es nicht mit Königen, nicht mit menschlichen Rassen zu tun, sondern mit einer Nation – wir, die wir selbst keine Nation sind.
Wir wollen jetzt einmal aus unserer eigenen Erfahrung heraus die Frage beantworten: Was ist eine Nation?
Eine Nation im Sinne politischer und wirtschaftlicher Vereinigung eines Volkes ist die Erscheinung, die eine ganze Bevölkerung bietet, wenn sie zu einem mechanischen Zweck organisiert wird. Die menschliche Gesellschaft als solche hat keinen über sie hinausreichenden Zweck. Sie ist Selbstzweck. Sie ist die Form, in der der Mensch als soziales Wesen sich von selbst ausdrückt. Sie ist die natürliche Ordnung menschlicher Beziehungen, die den Menschen die Möglichkeit gibt, in gemeinsamem Streben ihre Lebensideale zu entwickeln. Sie hat auch eine politische Seite, aber diese dient nur einem besonderen Zweck, dem der Selbsterhaltung. Es ist die Seite der Macht, nicht die des Lebensideals. Und so war in früheren Zeiten die Politik nur ein besonderes Gebiet, das Fachleuten vorbehalten war. Aber wenn mit Hilfe der Wissenschaft und der immer vollkommener werdenden Organisation dies Gebiet zu erstarken beginnt und reiche Ernten einbringt, dann wächst es mit erstaunlicher Schnelle über seine Grenzen hinaus. Denn dann spornt es alle seine Nachbargebiete zur Gier nach materiellem Gewinn und infolgedessen zu gegenseitiger Eifersucht an. Und weil jeder den andern fürchten muß, muß jeder nach Macht streben. Die Zeit kommt, wo es kein Halten mehr gibt, denn der Wettbewerb wird hitziger, die Organisation nimmt immer größern Umfang an, und die Selbstsucht wird übermächtig. Indem die Politik aus der Gewinnsucht und Furcht des Menschen Vorteil zieht, nimmt sie in der Gesellschaft einen immer größeren Raum ein und wird zuletzt ihre beherrschende Macht.
Es ist wohl möglich, daß ihr, durch die Gewohnheit abgestumpft, das Gefühl dafür verloren habt, daß heutzutage die natürlichen Bande der menschlichen Gesellschaft zerreißen und rein mechanischer Organisation Platz machen. Aber ihr könnt die Zeichen davon überall sehen. Ihr seht, wie Mann und Weib sich gegenseitig den Krieg erklären, weil das natürliche Band, das sie miteinander in Harmonie verbindet, gerissen ist. Der Mann ist nur noch Berufsmensch, der für sich und andere Reichtümer erzeugt, indem er beständig das große Rad der Macht dreht – sich selbst und der allgemeinen Bureaukratie zuliebe. Die Frau mag hinwelken und sterben oder ihren Lebenskampf allein ausfechten. Und so ist an die Stelle von natürlichem Zusammenwirken Wettbewerb getreten. So wandelt sich sogar die seelische Beschaffenheit von Mann und Weib hinsichtlich ihrer Beziehung zueinander, und ihr Verhältnis wird das roher, kämpfender Elemente, nicht das von Menschen, die in einer auf gegenseitige Hingabe gegründeten Vereinigung ihre Ergänzung suchen. Denn die Elemente, die sich nicht mehr natürlich verbinden können, haben den Sinn ihres Daseins verloren. Wie Gasmoleküle, die in einem zu engen Raum zusammengepreßt sind, sind sie miteinander in beständigem Kampf, bis sie das Gefäß selbst zersprengen, das sie einzwängt.
Und dann denkt an jene, die sich Anarchisten nennen, die den Druck der Macht auf das Individuum in keiner Form dulden wollen. Der Grund ihrer Auflehnung ist, daß die Macht etwas zu Abstraktes geworden ist; sie ist ein wissenschaftliches Produkt, das in dem politischen Laboratorium der Nation erzeugt wird durch Einschmelzung der menschlichen Persönlichkeit.
Und was bedeuten im wirtschaftlichen Leben diese Streiks, die wie Dornsträucher auf unfruchtbarem Boden jedesmal, wenn sie niedergeschlagen sind, mit erneuter Kraft wieder emporschießen? Was anders, als daß der Reichtum erzeugende Mechanismus immer mehr ins Ungeheure anwächst und in keinem Verhältnis mehr steht zu allen andern Bedürfnissen der Gesellschaft – und daß der wirkliche Mensch immer mehr und mehr unter seinem Gewicht erdrückt wird? Solch ein Zustand bringt unvermeidlich beständige Fehden mit sich zwischen den Elementen, die nicht mehr von dem Ideal des vollen Menschentums beherrscht werden, und Kapital und Arbeit sind in ewigem wirtschaftlichem Kampf miteinander. Denn Gier nach Reichtum und Macht kennt keine Grenze, und aus einem Vergleich aus Eigennutz kann nie endgültige Versöhnung werden. Sie müssen bis ans Ende Eifersucht und Mißtrauen brüten, und dies Ende kann nur ein plötzlich hereinbrechendes Verderben sein oder geistige Wiedergeburt.
Wenn diese Organisation von Politik und Handel, die man Nation nennt, allmächtig wird auf Kosten der Harmonie der höheren Lebensformen, dann steht es schlimm um die Menschheit. Wenn ein Familienvater sich dem Spiel ergibt und die Pflichten gegen die Seinen an zweite Stelle treten, dann ist er nicht mehr ein Mensch, sondern eine von der Gewinnsucht getriebene Maschine. Dann kann er Dinge tun, deren er sich im normalen Zustande schämen würde. Wie beim einzelnen, so ist es auch bei der menschlichen Gesellschaft. Wenn sie nichts mehr ist als organisierte Kraft, so gibt es wenig Verbrechen, deren sie nicht fähig ist. Denn Zweck einer Maschine und das, was ihr ihre Daseinsberechtigung gibt, ist der materielle Erfolg, während Ziel und Zweck des Menschen allein das Gute ist. Wenn diese Organisationsmaschine anfängt, großen Umfang anzunehmen, und die Maschinenarbeiter zu Teilen der Maschine werden, dann wird der persönliche Mensch zu einem Phantom verflüchtigt, alles was Mensch war, wird Maschine und dreht das große Rad der Politik ohne das leiseste Gefühl von Mitleid und sittlicher Verantwortung. Es mag wohl vorkommen, daß selbst in diesem seelenlosen Getriebe die sittliche Natur des Menschen noch versucht, sich zu behaupten, aber all die Seile und Rollen knarren und kreischen, die Fäden des menschlichen Herzens verstricken sich in dem Räderwerk der menschlichen Maschine, und nur mit Mühe kann der sittliche Wille ein blasses, verkümmertes Abbild dessen, was er erstrebte, zustande bringen.
Dies abstrakte Wesen, die Nation, regiert Indien. Es werden bei uns eine Art Konserven angezeigt, die hergestellt und verpackt sein sollen, ohne von Händen berührt zu sein. Diese Beschreibung paßt auf die Art, wie Indien regiert wird; auch hier ist fast nichts von einer menschlichen Hand zu spüren. Die Gouverneure brauchen unsere Sprache nicht zu kennen, brauchen nicht in persönliche Berührung mit uns zu kommen, außer in ihrer Eigenschaft als Beamte, sie können aus hochmütiger Entfernung unsere Bestrebungen fördern oder hindern, sie können uns auf einen bestimmten politischen Weg führen und dann am Draht ihrer Amtsmaschinerie wieder zurückziehen; die englischen Zeitungen, deren Spalten mit dem Pathos, das die Sache verlangt, ausführlich von Unfällen auf den Londoner Straßen erzählen, brauchen nur eine knappe Notiz zu bringen von dem Elend, das weite Strecken Indiens heimsucht, die zuweilen mehr Raum einnehmen als die britischen Inseln.
Aber wir, die wir regiert werden, sind keine bloße Abstraktion. Wir sind Individuen mit lebendigem Gefühl. Was in Form einer leblosen Politik zu uns kommt, kann uns ins innerste Lebensmark dringen, kann unser Volk vielleicht für immer schwächen und hilflos machen, ohne daß auf der andern Seite ein menschliches Rühren sich fühlbar macht, oder jedenfalls sich so fühlbar macht, daß es irgendwelche Wirkung hätte. So umfassende und summarische Handlungen von so furchtbarer Verantwortung wird der Mensch nie mit solchem Grad von systematischer Unbekümmertheit da begehen, wo er individueller Mensch ist. Solche Handlungen werden nur möglich, wo der Mensch ein Polyp von Abstraktionen ist, der seine sich schlängelnden Arme mit ihren unzähligen Saugscheiben weit nach allen Seiten ausstreckt, selbst in die ferne Zukunft hinein. Unter solcher Regierung der Nation werden die Regierten von Mißtrauen verfolgt, und dies Mißtrauen erfüllt eine gewaltige Masse von organisiertem Hirn und Muskeln. Strafen werden zuerkannt, die in unzähligen Menschenherzen blutige Spuren zurücklassen; aber diese Strafen werden von einer rein abstrakten Gewalt ausgeteilt, in der die menschliche Persönlichkeit der ganzen Bevölkerung eines fernen Landes untergegangen ist.
Ich will hier jedoch nicht die Frage erörtern, insofern sie mein eigenes Land angeht, sondern ich will über ihre Bedeutung für die Zukunft der ganzen Menschheit sprechen. Es handelt sich hier nicht um die englische Regierung, sondern um die Regierung durch die Nation – die Nation, die die organisierte Selbstsucht eines ganzen Volkes ist und alles das von ihm verkörpert, was am wenigsten menschlich und am wenigsten geistig ist. Wir haben intime Erfahrung nur mit der englischen Regierung gemacht, und man darf wohl annehmen, daß, soweit es sich um Regierung durch eine Nation handelt, die englische noch eine der besten ist. Wir müssen auch in Betracht ziehen, daß der Osten den Westen notwendig braucht. Wir ergänzen einander wegen unserer verschiedenen Art auf das Leben zu blicken, die uns zu verschiedenen Auffassungen von der Wahrheit geführt hat. Wenn es daher wahr ist, daß der Geist des Westens wie ein Sturmwind über unsere Felder hingefegt ist, so hat er doch auch lebendigen Samen mit sich gebracht, der unsterblich ist. Und wenn wir in Indien dahin kommen, das, was in der westlichen Kultur dauernd ist, in unser Leben aufzunehmen, so werden wir einst in der Lage sein, eine Versöhnung zwischen diesen beiden großen Welten zustande zu bringen. Dann wird der drückende und verletzende Zustand der einseitigen Herrschaft ein Ende haben. Und was mehr bedeutet, wir müssen bedenken, daß die Geschichte Indiens nicht einer bestimmten Rasse angehört, sondern daß in ihrem Verlauf verschiedene Rassen daran schöpferischen Anteil genommen haben – die Drawiden und Arier, die alten Griechen und die Perser, die Muhammedaner des Westens und die von Zentralasien. Jetzt ist die Reihe an den Engländern, dieser Geschichte ihr Recht zu geben und sie mit dem Einschlag ihres Lebens zu bereichern, und wir haben weder das Recht noch die Macht, dies Volk zu hindern, am Geschick Indiens mitzubauen. Daher geht das, was ich über die Nation sage, mehr die Geschichte der Menschheit an als die Indiens im besonderen.
Diese Geschichte ist in ein Stadium gekommen, wo der sittliche Mensch, der ganze Mensch, fast ohne es zu wissen immer mehr und mehr dem politischen Menschen und dem Geschäftsmenschen, dem Menschen des begrenzten