Nationalstaat und Föderalismus -  - E-Book

Nationalstaat und Föderalismus E-Book

0,0

Beschreibung

Der Föderalismus, dessen Wurzeln bis in das Mittelalter zurückreichen, gehört zu den Grundtatsachen der deutschen Geschichte. Dieses historische Erbe spiegelt sich in der heutigen deutschen Staatlichkeit wider, wie sie im Grundgesetz verankert ist und von Bund, Ländern und Kommunen mit Leben erfüllt wird. Renommierte Historiker, Politologen und Rechtswissenschaftler zeichnen in diesem Band die grundlegenden Entwicklungen der Föderalismusgeschichte in Deutschland seit der Gründung des deutschen Nationalstaats (1871) nach. Sie zeigen dabei die Kontinuitäten und Systembrüche deutscher Staatlichkeit auf – vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und den NS-Staat bis hin zur Gegenwart in der Bundesrepublik Deutschland.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 587

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Andreas Wirsching, Lars Lehmann (Hrsg.)

Nationalstaat und Föderalismus

Zum Wandel deutscher Staatlichkeit seit 1871

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Der Föderalismus, dessen Wurzeln bis in das Mittelalter zurückreichen, gehört zu den Grundtatsachen der deutschen Geschichte. Dieses historische Erbe spiegelt sich in der heutigen deutschen Staatlichkeit wider, wie sie im Grundgesetz verankert ist und von Bund, Ländern und Kommunen mit Leben erfüllt wird. Renommierte Historiker, Politologen und Rechtswissenschaftler zeichnen in diesem Band die grundlegenden Entwicklungen der Föderalismusgeschichte in Deutschland seit der Gründung des deutschen Nationalstaats (1871) nach. Sie zeigen dabei die Kontinuitäten und Systembrüche deutscher Staatlichkeit auf – vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und den NS-Staat bis hin zur Gegenwart in der Bundesrepublik Deutschland.

Vita

Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Ludwigs-Maximilians-Universität München.

Lars Lehmann ist Wissenschaftlicher Koordinator des Schelling-Forums der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Zum Geleit

Andreas Wirsching: Einleitung

Wolfgang Neugebauer: Die Fiktion des Einheitsstaates. Zur historischen Argumentation in der Reichsgründungszeit

Oliver F. R. Haardt: Bundesrat als föderale Klammer des Kaiserreiches

1.

Das Stiefkind der Kaiserreichsforschung

2.

Der Bundesrat als monarchische Schutzvorrichtung

3.

Die Nationalisierung der Länderkammer

3.1

Die Übernahme der preußischen Bundesratsbank

3.2

Der Rückzug der Kleinstaaten

4.

Das Schattendasein des Bundesrates und der Aufstieg des Reichstages

4.1

1867/71–1876: Die praktische Umsetzung der Idee vom Fürstenbund

4.2

1876–1879/80: Der Durchbruch der Reichsregierung

4.3

1879/80–1890: Die gescheiterte Restauration

4.4

1890–1907/08: Die Neujustierung der Reichsmonarchie

4.5

1909–1914: Das integrierte System zwischen Stabilität und Krise

4.6

1914–1918: Die Doppeldiktatur und der Durchbruch des Reichstages

5.

Fazit: Der Bundesrat als föderale Klammer

Detlef Lehnert: E pluribus unum – Unitas in diversitate? Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Republik

1.

Hugo Preuß und die Fragen der Länder(neu)gliederung 1918/19

2.

Vergleichsperspektiven und terminologische Kontexte

3.

Positionen und Debatten der Weimarer Staatsrechtslehre

4.

»Unitarismus« bzw. »Einheitsstaat« im »Vorwärts« und der »Vossischen Zeitung«

5.

»Föderalismus« im »Vorwärts« und in der »Vossischen Zeitung«

6.

Presseberichte zu Staatsrechtsrednern – und ein Fazit

Michael Kißener: Über Freiräume und Grenzen regionaler Herrschaftspraxis. Regionalismus im Nationalsozialismus

I.

II.

III.

IV.

Bernhard Gotto: Von »gegen das Reich« zu »für die Demokratie«. Föderalismus als Staatsdoktrin und Fahnenwort in Bayern von den 1920er bis 1950er Jahren

1.

Gegen das Reich: Aggressiver Finanzföderalismus der 1920er Jahre

2.

Finis Bavariae? Bayerische Staatlichkeit während der NS-Diktatur

3.

Wiedergeburt: Finanzföderalismus als demokratische Qualität

4.

Abschied von der Doktrin

5.

Fazit: Föderalismus als Demokratisierungsgeschichte

Hermann Wentker: Zwischen Föderalismus und Zentralismus. Die Länder in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR (1945–1952)

1.

Die Wieder- bzw. Neugründung von Ländern und Provinzen in der SBZ

2.

Der Handlungsspielraum der Länder und seine Grenzen

3.

Differenzierungen

4.

Der Weg in den »Zentralstaat«

5.

Epilog: Von der Entmachtung zur Abschaffung der Länder

6.

Fazit

Manfred Görtemaker: Föderalistische Weichenstellungen zwischen Bizone und Bundesrepublik

1.

Die Rolle der Alliierten

2.

Beratungen der Ministerpräsidenten

3.

Verfassungskonvent und Parlamentarischer Rat

4.

Der Föderalismus in der Praxis

Andreas Hedwig: Die Neugründung des Landes Hessen und sein Weg in die Bundesrepublik

1.

Die Gründung Hessens 1945/46

2.

Die verfassungspolitische Debatte 1947

3.

Die Weichenstellung der Ministerpräsidenten 1948

4.

Die Aushandlung des Grundgesetzes 1948/49

5.

Fazit und Ausblick

Ariane Leendertz: Die Ministerpräsidentenkonferenz als Selbstbehauptungsorgan der Länder und bundespolitischer Akteur

1.

Anfänge und Organisation

2.

Ausweitung der Aktivitäten und Vertiefung des Verbundföderalismus

3.

Konflikte und Reformdiskussionen vor und nach der Deutschen Einheit

4.

MPK und politische Kultur in Deutschland: Eine historische Einordnung

Siegfried Weichlein: Föderalismus und Parteien in der Bundesrepublik

1.

Parteien im Bundesstaat

2.

»Missbrauch des Bundesrates«?

3.

Parteien als Mehrebenengebilde

4.

Zentralisierung und Dezentralisierung: ein Fazit

Stefan Oeter: Föderalismusreformen in der Bundesrepublik Deutschland und die Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern

1.

Einleitung: Föderalismusreformen als Dauerthema der Bundesrepublik

2.

Geschichtliche Hintergründe: Unzufriedenheit mit der Finanzverfassung und der Drang nach Rahmenplanung

3.

Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a und 91b GG)

4.

Investitionshilfen (Art. 104a GG a. F. bzw. 104b GG n.F.)

5.

Epilog: Föderalismusreformen der vergangenen zwei Jahrzehnte

Jonas Becker und Guido Thiemeyer: Der deutsche Föderalismus unter dem Einfluss der europäischen Integration

I.

II.

III.

Andreas Malycha: Die Wiedergründung der ostdeutschen Länder 1990

1.

Die Diskussion um die Neu- oder Wiedergründung der Länder 1989/90

2.

Die Wiedereinführung der fünf Länder

3.

Resümee

Christian Walter: Die Corona-Krise und der deutsche Föderalismus

I.

Zwei grundlegende Weichenstellungen im Vorfeld der Reichsgründung 1871: Kompetenzverteilung und Rolle des Bundesrates

1.

Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgebung und Verwaltungsvollzug

2.

Der Bundesrat als Organ der Länderexekutive

II.

Die Kompetenzverteilung im Infektionsschutz als Ausgangspunkt der weiteren Analyse

III.

Formelle und informelle Zentralisierungstendenzen beim Vollzug

1.

Die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Trageweite durch den Deutschen Bundestag als formeller Lösungsversuch

2.

Die »Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten« als Instrument informeller Koordination

3.

Die »Bundesnotbremse« als Vollzugsmaßnahme im Gesetzesgewand?

4.

Zwischenfazit

IV.

Begrenzte Möglichkeiten der Parlamentarisierung auf Landesebene

1.

Verordnungsvertretende Gesetze nach Art. 80 Abs. 4 GG

2.

Parlamentsbeteiligungsregelungen

V.

Schlussbemerkung zu möglichen Folgewirkungen beim Rechtsschutz

Autorinnen und Autoren

Danksagung

Personenregister

Zum Geleit

Die vorliegende, auf das FULDAER FÖDERALISMUS FORUM zurückgehende Publikation dient der Pflege der Geschichte des Prinzips föderaler deutscher Staatlichkeit. Der Erfüllung dieser Aufgabe von nationalem Rang hat sich die Stadt Fulda – durch die Bürgerschaftliche INITIATIVE angestoßen – verschrieben. Denn in Hinsicht auf die politische Kultur Deutschlands handelt es sich bei Fulda um einen besonders bedeutsamen Erinnerungsort: Hier ruht seit mehr als 1.100 Jahren König Konrad I., der erste Wahlkönig des Ostfrankenreichs. Eine Gegebenheit, die Veranlassung gibt, sich stets zu vergegenwärtigen, welcher Wert der Wahl im deutschen Staatsverständnis zukommt – ermöglicht sie doch Teilhabe an der politischen Macht und damit die Rückführung politischer Herrschaft auf den Willen derjenigen, die ihr unterworfen sind.

Dieser Ordnungsvorstellung entsprach das Zustandekommen der konradinischen Regentschaft: Ihr ging der Zusammenbruch des fränkischen Großreichs im 9. Jahrhundert voraus, der das Entstehen eines westfränkischen sowie eines ostfränkischen Teilreichs zur Folge hatte. Der König des letzteren verstarb im Jahr 911 kinderlos. Nach dem geltenden Geblütsrecht hätte es nun zu einer Wiedervereinigung der beiden Teilreiche kommen müssen. In diesem Fall wäre der in Paris residierende karolingische König Alleinherrscher gewesen. Allerdings widersetzten sich die Großen des ostfränkischen Teilreichs der Herrschaftstradition der Karolinger. Sie bestimmten einen der ihren – nämlich den Frankenherzog Konrad – zum Herrscher, wodurch das deutsche Wahlkönigtum seine Grundlegung erfuhr.

Der Ablauf der Königswahl wurde später durch die Goldene Bulle Karls IV. kodifiziert, welche die föderale Struktur des Alten Reiches für einen Zeitraum von 450 Jahren sicherstellte. Zu dieser Gewährleistung haben auch die Landesherren des geistlichen Territoriums Fulda beigetragen, indem sie ihrer reichsrechtlichen Verpflichtung nachkamen, zwei Kurfürsten im Rahmen der Königswahlen zu Frankfurt am Main Geleit zu bieten. Auch hierin kam die Hochschätzung der Wahl zum Ausdruck, die zudem für das geordnete Zusammenleben im fuldischen Herrschaftsbereich von grundlegender Bedeutung war. Bei ihm handelte es sich nämlich um einen sogenannten Wahlstaat – und zwar insofern, als dieser keine durch Erbfolge etablierte Dynastie im Fürstenamt kannte. Ihn kennzeichnete das wiederkehrende Erfordernis, die Macht im Wege der Wahl neu zu vergeben, wobei ein herrschaftsbeschränkender Zwang zum gegenseitigen Einvernehmen gegeben war, der seinen Niederschlag auch in Wahlkapitulationen fand.

Solche regionalhistorischen Tatbestände ergänzen das nationalhistorische Alleinstellungsmerkmal Fuldas als »Bestattungsort des ersten Wahlkönigs«. Darauf beruht das föderalismusgeschichtliche Engagement der Stadt. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass sowohl die Binnen- als auch die Außenwahrnehmung von Orten erheblich durch deren Umgang mit ihrer Geschichte bestimmt wird. Deshalb wurden die bisher von der Bürgerschaftlichen INITIATIVE geleisteten Beiträge zu einer zukunftsorientierten, auf sorgsamen Erhalt sowie behutsame Veränderung bedachten Weiterentwicklung des Selbst- und Fremdbildes der Stadt Fulda von deren Repräsentanten wiederholt gewürdigt.

Somit zeigte sich der amtierende Oberbürgermeister, Herr Dr. Heiko Wingenfeld, erwartungsgemäß aufgeschlossen, als die Bürgerschaftliche INITIATIVE in jüngerer Zeit eine weitere, die Geschichte des deutschen Föderalismus betreffende Maßnahme ins Gespräch brachte. Anlass dazu gab das durch die Corona-Krise der Jahre 2020 und 2021 ausgelöste Tauziehen zwischen Bund und Ländern, welches an der Tauglichkeit der föderalen Struktur Deutschlands Zweifel aufkommen ließ.

Man beschloss daher, diese gemäß der Auffassung »Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten« aufzugreifen und ein FULDAER FÖDERALISMUS FORUM durchzuführen. Die Umsetzung dieser Absicht konnte gelingen, weil der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin, Herr Prof. Dr. Andreas Wirsching, dankenswerterweise die wissenschaftliche Regie übernahm. Aus didaktisch-methodischen Gründen entschied man sich für einen Blick auf die zurückliegenden 150 Jahre. Das Vorhaben erfuhr seine genauere Ausrichtung dann mit der Formulierung »Nationalstaat und Föderalismus«, wie sie sich auch in der Betitelung des vorliegenden Buches findet.

Dessen Lektüre verdeutlicht, dass die Tagungsergebnisse aufgrund ihrer herausragenden fachlichen Beschaffenheit die gegenwärtige und zukünftige Bewertung des Antagonismus von Partikularismus und Zentralismus beeinflussen dürften. Solcherart von der Bürgerschaftlichen INITIATIVE angezielten Wirkungen liegt eine bereits seit Längerem währende wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Verfassungstradition zugrunde, die im Jahr 2019 Veranlassung zu einem Tagungsband mit dem Titel »Föderalismus in Deutschland. Zu seiner wechselvollen Geschichte vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik« gab, als dessen Herausgeber Herr Prof. Dr. Dr. h. c. Dietmar Willoweit fungierte.

Eine derart ausgreifende Längsschnittbetrachtung war bis dahin noch nicht unternommen worden, so dass damit zugleich ein Forschungsdefizit offenbar wurde. Dieser Effekt entsprach dem Motto »BÜRGERSCHAFT inspiriert WISSENSCHAFT!«, auf dem bereits das von der Bürgerschaftlichen INITIATIVE bewirkte Symposium und der von Herrn Prof. Dr. Hans-Werner Goetz im Jahr 2006 herausgegebene Sammelband »Konrad I. – Auf dem Weg zum ›Deutschen Reich‹?« beruhte. Der Band avancierte in der Zwischenzeit zu einem Standardwerk der Mediävistik.

Diese Veröffentlichung unterstrich die Absicht der Bürgerschaftlichen INITIATIVE, weiterhin unter Verweis auf den in Fulda bestatteten ersten Wahlkönig daran erinnern zu wollen, dass in der vom föderalen Herrschaftskompromiss gekennzeichneten Gründungssituation des ostfränkischen Reiches mit seinen unterschiedlichen Regionen die Wurzeln der Bundesrepublik Deutschland zu suchen sind.

In ihr geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, das diese in Wahlen ausübt. Mithin möge sich das von der Stadt Fulda ideell und finanziell geförderte, in Tagung und Tagungsband verwirklichte FULDAER FÖDERALISMUS FORUM auch als ein Beitrag zur Sicherung der Wertschätzung der Wahl als der wichtigsten Form politischer Partizipation in Bund, Ländern und Kommunen erweisen.

Beauftragte der Bürgerschaftlichen INITIATIVE

Josef Hoppe

Dr. Thomas Heiler

Fulda, am 18. November 2023, dem 234. Jahrestag der letztmaligen Wahl eines Landesherrn für das geistliche Territorium Fulda, das im Rahmen der Säkularisation aufgelöst wurde

Einleitung

Andreas Wirsching

Wir leben in einer Zeit, in der Nationalismus und Demokratiefeindschaft, Machtmissbrauch und Alleinherrschaft mit geradezu brutaler Wucht in die Geschichte zurückgekehrt sind. Unverhofft gewinnen alte Probleme, die zumindest die westliche Welt für erledigt halten konnte, neue und fast bedrückende Aktualität. Hierzu gehört die Frage nach institutionellen Vorkehrungen, Gegengewichten und verfassungsrechtlichen Sicherungen gegen die möglichen Exzesse exekutiver Macht. Angesichts eines neuen Nationalismus, der umso gefährlicher werden kann, wenn ihm die Machtmittel einer zentralisierten Staatsgewalt zu Gebote stehen, sehen sich die demokratischen Verfassungsordnungen mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Ihre Stabilität und Funktionalität sind nicht mehr selbstverständlich, sondern müssen neu justiert werden.

Neben Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit gehört der Föderalismus zu den historisch gewachsenen und wirksamen Instrumenten zur Einhegung exekutiver Macht. Nicht zufällig hatte die »Gleichschaltung« der Länder eine der höchsten Prioritäten auf der nationalsozialistischen Agenda des Jahres 1933. Und man mag sich kaum vorstellen, welche Auswirkungen Donald Trumps Präsidentschaft in den USA hätte haben können ohne die Macht der Bundesstaaten. Umgekehrt gehört die systematische Zurückdrängung des russischen Föderativsystems zur unmittelbaren Vorgeschichte von Putins Diktatur. Historisch werfen diese Bemerkungen die in der Forschung schon seit Längerem diskutierte Frage danach auf, inwieweit das 19. Jahrhundert föderative Entwicklungspotenziale in sich trug, die alternative Wege in die Moderne aufzeigten: Wege abseits eines einseitigen nationalstaatlichen Telos, das den Nationalismus prämierte und entsprechende Kosten verursachte. Föderativ-übernationale Gebilde, die vor 1914 als »Völkergefängnisse« bezeichnet wurden, wie insbesondere das Habsburgerreich, das Osmanische Reich oder das zaristische Russland, erscheinen angesichts des Horrors von Ausgrenzung und Gewalt, den das 20. Jahrhundert bereithielt, in einem anderen Licht, als es eine einfache Fortschrittsgeschichte von Nation, Demokratie und Moderne glauben machen möchte.

Für die deutsche Geschichte ist dieser Forschungskomplex paradigmatisch. Der Föderalismus ist eine ihrer Grundtatsachen – und er blieb es auch nach dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.1 Über das ganze 19. und 20. Jahrhundert hinweg koexistierten die »modernen« Ideen der nationalen Einigung und des Nationalstaates mit dem Fortbestand der traditionellen föderalen Struktur deutscher Territorialität und Staatlichkeit. Über die Frage, wie eine Balance zwischen beiden Prinzipien verfassungsrechtlich, politisch und kulturell einzurichten sei, entstand ein Dauerthema der deutschen Politik, das uns bis heute begleitet. Das nationalstaatliche Prinzip ließ auf Einheit und Zusammengehörigkeit, Wirtschaftswachstum und Machtentfaltung hoffen. Das Prinzip einer föderativen Nation versprach, Einheit und Pluralität zu verbinden und damit die Koexistenz ethnischer, politisch-regionaler und kultureller Vielfalt unter einem nicht zu schwachen verfassungspolitischen Dach. Insbesondere Dieter Langewiesche und jüngst Jana Osterkamp am Beispiel der Habsburgermonarchie haben eindringlich gezeigt, dass die deutsche Geschichte in sehr viel stärkerem Maße von zukunftsfähigen föderativen Ideen durchzogen war, als es die lange Zeit dominante borussische Geschichtsschreibung wissen wollte.2 In der Paulskirche etwa war die amerikanische Verfassung das große Vorbild für die Verbindung von Föderation und nationaler Einheit. Erst das politische Scheitern der Revolution, der Aufstieg des »realpolitischen« Denkens im Stile August Ludwig von Rochaus und dann vor allem die Einigungskriege von 1864 bis 1871 erzeugten eine Umdeutung der deutschen Geschichte in Richtung kleindeutscher Einigung. Der Kritik an der »Märchenwelt des deutschen Particularismus«3 entsprach die Heroisierung Preußens, dessen frühneuzeitlicher Geschichte ein deutscher Sinn eingeschrieben wurde. Es gehört zu den langfristig höchst wirksamen Folgen dieser Wende, dass sich der Hauptstrom deutschen Geschichtsdenkens darauf fixierte, die nationale Geschichte bis zu Bismarcks Reichsgründung als historischen Irrweg zu zeichnen: als Geschichte einer großen Kulturnation, die aber aufgrund dynastischer Eigensucht, innerer Uneinigkeit und politisch-militärischer Ohnmacht regelmäßig zum Opfer gieriger Nachbarn – und hier natürlich vor allem Frankreichs – wurde. Föderalistisch orientierte Skeptiker und Gegner dieser Deutung wie Constantin Frantz4 fielen dem Vergessen anheim oder mussten, wie Heinrich von Treitschke mit Blick auf Georg Gottfried Gervinus schrieb, »durch eine tragische Demütigung gezüchtigt« werden.5 Zur Aufgabe der Geschichtswissenschaft gehört es demgegenüber, Aspekte und Ansätze alternativer, stärker föderativ orientierter Staatsbildungsideen aufzusuchen und zu diskutieren. Letztendlich geht es um den Ort der Reichsgründung von 1871 in dem komplexen Kontext von Einzelstaaten und Nationalbewegung, längerfristigen Bundesvorstellungen und preußischem Machtstaat. Zu diesem Zweck muss das Knäuel der borussischen Geschichtsschreibung entwirrt und dekonstruiert werden. In diesem Sinne zeigt zunächst Wolfgang Neugebauer, wie insbesondere Treitschke sich gegen den dynastischen Partikularismus wandte und Preußen zu einem Einheitsstaat erklärte, dem sich die deutschen Kleinstaaten anschließen sollten. Die kleindeutsche, auf Preußen fixierte »Homogenitätsfiktion« wird damit einer kritischen Prüfung unterzogen. Neugebauer führt vor Augen, wie Heinrich von Treitschke und Johann Gustav Droysen diese Fiktion entwarfen, um sie in den Dienst einer (scheinbar) zielstrebigen Reichgründungspolitik und der damit einhergehenden Machterweiterung des preußischen Staates zu stellen.

Das führt zum Thema der Staatlichkeit des im Jahr 1871 gegründeten Deutschen Reichs, in dem von Beginn an föderale und einheitsstaatliche Machtzentren und Tendenzen spannungsvoll koexistierten und miteinander konkurrierten. Vor allem der Reichstag mit seinem demokratischen Männerwahlrecht bildete im Kaiserreich zunehmend eine unitarische Klammer. Er war dies auch durch die in ihm vertretenen Parteien, die sich über die Einzelstaaten hinweg organisierten. Liberalismus und Sozialdemokratie vertraten ohnehin explizit unitarische Konzepte. Aber auch Konservatismus und politischer Katholizismus fanden ihren politischen Fluchtpunkt in Berlin, selbst wenn der föderale Gedanke Teil ihrer politischen Identität war.

Mit seinen Abgeordneten und Parteien baute der Reichstag seine Kompetenzen aus und erreichte eine immer weiter ausgreifende öffentliche Sichtbarkeit.6 Der Bundesrat hingegen blieb die föderale Klammer des Reichs. Er wahrte den Schein einer bündischen Ordnung, schützte das monarchische Prinzip und sicherte die Vormachtstellung Preußens.7 Jedoch verlor er im Gegensatz zum Reichstag an Bedeutung. Oliver F. R. Haardt zeigt auf, wie sich das Verfassungssystem zwischen 1871 und 1918/19 wandelte: Aus einem Fürstenbund wurde ein integrierter Bundesstaat, der als Reichsmonarchie unitarische Züge annahm. Die Entwicklung der »Verfassungsrealität drängte den Bundesrat in ein politisches Schattendasein«; er wurde zum »Satellitenorgan« und zum Spielball der Reichsleitung. Lässt sich mithin für das Kaiserreich von einer Art funktionalem Unitarismus im parlamentarisch-parteipolitischen Bereich sprechen, so gilt das ganz sicher auch für die Staatsfinanzen. Zwar blieb das Kaiserreich weitestgehend der Kostgänger der Länder. Die Reichsfinanzen lebten von deren Matrikularbeiträgen, also den regelmäßigen jährlichen Überweisungen der Länder an das Reich entsprechend ihrer Bevölkerungszahl. Zugleich aber ist es ein gutes Beispiel für die Stichhaltigkeit des von dem preußischen Finanzwissenschaftler und -politiker Johannes Popitz aufgestellten Gesetzes von der »Anziehungskraft« des höheren Etats.8 Da nur der Zentralstaat die Gleichheit der Lebensbedingungen gewährleisten bzw. darauf hinarbeiten kann, wächst die Relevanz seiner Aufgaben. Übernimmt aber die zentrale Ebene mehr Staatsaufgaben, so wachsen auch ihr Anteil an der Staatsquote und deren Relevanz. Das Kaiserreich mit dem allmählichen Ausbau seiner Reichsämter zu Quasi-Ministerien, seinem Militäretat und seiner Kolonial- und Außenpolitik war geradezu ein Musterbeispiel für dieses Gesetz – Popitz selbst hatte das natürlich vor Augen. Heute können wir fragen, ob dieses Gesetz nicht auch Anwendung auf die Europäische Union finden kann: Damals in der frühen Weimarer Republik führte die Erzberger’sche Reichsfinanzreform dazu, dass die Finanzverfassung unitarisiert und damit vom Kopf auf die Füße gestellt wurde.9 Auch wenn die unitarisierenden Tendenzen im Kaiserreich klar erkennbar waren, muss zugleich gefragt werden, welche Rolle das fortbestehende Übergewicht Preußens spielte. War Preußen mit seinem bis 1918 geltenden Dreiklassenwahlrecht ein retardierendes Element in der Geschichte des Kaiserreichs – retardierend in dem Sinne, dass es die unitarisierend-demokratischen Kräfte blockierte und eine reaktionäre Form des Föderalismus verkörperte?10 Während der Revolution von 1918/19 fanden nicht wenige, dass Preußen in einem neuen demokratischen Deutschland keinen organischen Platz mehr haben dürfe und deshalb aufgelöst werden müsse. Das avancierteste Konzept in dieser Richtung stammte von Hugo Preuß. Preuß verfolgte eine unitarische Verfassungslösung, die dem Reich in weitaus konsequenterer Weise als die Bismarckverfassung alle notwendigen Kompetenzen übertragen sollte. Aufzubauen war dieser Einheitsstaat von unten nach oben. Gestärkt werden sollten die kommunale Selbstverwaltung und die zentralstaatliche Ebene. Preußen dagegen wollte Preuß in mehrere mittelgroße Einzelstaaten aufteilen. Kleinere Staaten sollten zusammengefasst und die Kompetenzen der Länder deutlich reduziert werden. In einem solchen »dezentralisierten Einheitsstaat« wären die Länder ihrer Eigenstaatlichkeit beraubt worden und hätten nur noch die Funktion von Organen »höchstpotenzierter Selbstverwaltung« erfüllt.11 Solche Pläne blieben bekanntlich in ihren Anfängen stecken. Nicht zuletzt scheiterten sie am konkreten Verlauf der Novemberrevolution, die in der Provinz begann und damit die föderale Struktur des Deutschen Reichs bekräftigte. Damit setzten sich Preußens ambivalente Position und Wirkung im deutschen Föderalismus fort. Einerseits kann man mit gutem Recht sagen, dass Preußen zu der demokratischen Hochburg der Weimarer Republik wurde. Das gilt nicht nur für den bis zuletzt leidlich funktionierenden Parlamentarismus mit der Weimarer Koalition als demokratischem Parteienbündnis, sondern auch für die Demokratisierung der Verwaltung, die unter sozialdemokratischen Innenministern spürbar vorangetrieben wurde – auch wenn längst nicht jeder Oberpräsident und jeder Polizeibeamte zu entschiedenen Anhängern der Weimarer Republik wurden.12 Andererseits ist unstrittig, dass das unausgewogene Verhältnis zwischen Reich, Preußen und den übrigen Ländern durch die Neuordnung von 1918/19 nicht beseitigt wurde. Es bestand als ungelöstes Verfassungsproblem in der Weimarer Republik fort. Seinen Niederschlag fand dies in der nicht enden wollenden Diskussion um eine Reichsreform.13 In seinem Beitrag zeigt Detlef Lehnert, welche Bedeutung der Diskussion um den Föderalismus in der Staatsrechtslehre und in der politischen Öffentlichkeit zukam. Angestoßen von Preuß‹ Ideen, die von verschiedenen Staatsrechtslehrern wie etwa Gerhard Anschütz reflektiert und teilweise aufgegriffen wurden, entstand in der Weimarer Republik eine detailreiche Debatte über den Föderalismus und den Unitarismus, die auch immer wieder neue Querverbindungen zwischen den Auseinandersetzungen im Reichstag und in der Staatsrechtslehre sowie in der Presseberichterstattung erzeugte. Im Grunde beendete erst der Nationalsozialismus auf seine Weise die seit 1918/19 zumindest untergründig schwelende Reichsreformdebatte. Tatsächlich kann man sich fragen, ob nicht das Konzept des dezentralisierten Einheitsstaates zumindest teilweise und selbstverständlich in pervertierter und fragmentierter Form vom NS-Regime durchgeführt wurde. Das Konzept griff Johannes Popitz auf, der es vor allem in finanzpolitischer Hinsicht weiterentwickelte.14 Popitz, der später wegen seiner Beteiligung am 20. Juli 1944 hingerichtet wurde, stieg unter der Regierung Hitler zum preußischen Finanzminister auf und war als solcher an der Entstehung der Deutschen Gemeindeordnung (DGO) von 1935 beteiligt. In diesen Gesetzestext fand der von Hugo Preuß geprägte, von der Weimarer Staatsrechtslehre überwiegend abgelehnte Begriff der »öffentlichen Gebietskörperschaft« Eingang (§ 1 DGO).15 Bedeutsam im vorliegenden Zusammenhang ist die Tatsache, dass die DGO das kommunale Aufsichtsrecht auf das Reichsinnenministerium verlagerte und damit den Status der Länder weiter schwächte. Tatsächlich verschwanden die Länder ja während der nationalsozialistischen Diktatur nicht. Aber faktisch wurden sie ihrer eigenstaatlichen Funktionen beraubt. Und blieben sie nicht stattdessen, so lässt sich fragen, so etwas Ähnliches wie »höchstpotenzierte Selbstverwaltungskörperschaften«, auf welche Funktion Hugo Preuß sie gerne zurückgedrängt gesehen hätte? Wie auch immer man das beurteilt: Die Länderregierungen unterlagen seit 1933 einer weitreichenden Gleichschaltung auf Grundlage der NS-Ideologie mit einem auf den Führer ausgerichteten zentralistischen Staat. Michael Kißener, der in seinem Beitrag Freiräume und Grenzen regionaler Herrschaftspraxis auslotet, lässt ersichtlich werden, dass zumindest punktuell und in begrenzter Weise eine regional eigenständige Herrschaftspolitik erhalten blieb. Diese sei durch die polykratischen Machtstrukturen im NS-Regime und aufgrund regionalspezifischer Beharrungskräfte möglich geworden. Regionale Handlungsspielräume seien jedoch meist nur dann nachweisbar, wenn sie systemstützend gewirkt hätten.

Am Beispiel Bayerns weist Bernhard Gotto nach, wie sehr das Föderalismusverständnis zwischen den 1920er Jahren und den 1950er Jahren einem fundamentalen Wandel unterlag. An der bayerischen Finanzverwaltung wird deutlich, dass der Föderalismusbegriff von einem Fahnenwort gegen das Reich zu einem demokratiestützenden Leitbegriff aufstieg. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit unter den Mitarbeitern der Finanzverwaltung dazu, den Föderalismus retrospektiv in einen Gegensatz zur zentralistischen NS-Diktatur zu stellen. Auf diese Weise etablierte sich nach 1945 ein neugeartetes, prodemokratisches Föderalismusverständnis.

Welche Rolle Föderalismus und deutsche Einzelstaaten in der Diktatur spielen können, war nach dem Ende des NS-Regimes auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) eine neu zu beantwortende Frage. Hermann Wentker zeichnet die Geschichte der fünf ostdeutschen Länder in der Phase von 1945 bis 1952 nach. Er macht deutlich, dass sie vor allem aus pragmatischen und deutschlandpolitischen Gründen eingerichtet wurden. Zudem sollten sie die weitreichende Macht der sowjetischen Militäradministration verschleiern. Trotzdem traten einzelne Landesakteure selbstbewusst auf und spielten zumindest teilweise eine eigenständige Rolle. In der Frühphase der SBZ gab es demzufolge mehr als einen bloßen »Scheinföderalismus«. Seit 1948 wurden jedoch die Landtage und Landesregierungen entmachtet, und die Länder verkamen zur bloßen Fassade der zentralistischen Diktatur. Im Jahr 1952 konnten die Länder daher ohne größeren Widerstand durch 14 Bezirke (plus Ost-Berlin) abgelöst werden.

Insofern war es die DDR, die am systematischsten mit dem traditionellen deutschen Länderföderalismus Schluss machte und ein auf die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) gegründetes einheitsstaatliches System installierte. Die Bezirke der DDR besaßen weder staatlichen Charakter noch Selbstverwaltungsrechte, sondern waren reine Mittelinstanzen der zentralisierten Verwaltungsstruktur.

Kennzeichnend ist es aber, dass auch dieser radikalste Versuch, die deutsche föderalistische Pfadabhängigkeit zu durchbrechen, gleichsam eingerahmt war von Länderneugründungen. Jedenfalls gründeten sich sowohl am Beginn der SED-Herrschaft wie auch nach deren Ende fast selbstverständlich die ostdeutschen Länder. In seinem Beitrag widmet sich Andreas Malycha der Wiedergründung der ostdeutschen Länder im Jahr 1990 und zeigt dabei auf, wie sich in einer intensiven und vielstimmigen Diskussion in Politik und Gesellschaft eine Neubelebung der alten, 1952 abgebrochenen föderalen Struktur durchsetzte. »Die im Herbst 1989 entstandenen politischen Oppositionsgruppen und Bürgerbewegungen«, so hebt Malycha hervor, »betrachteten die Wiedergründung der Länder als Schritt hin zur Zerschlagung des staatlichen Zentralismus und der Machtkonzentration der SED.«

Dies führt zum bundesdeutschen Föderalismus, der unsere verfassungspolitische, kulturelle und verwaltungspraktische Gegenwart sehr viel mehr prägt, als uns meistens bewusst sein dürfte. Historisch geht er auf eine doppelte Wurzel zurück: Erstens ließ sich nach dem Ende aller Staatlichkeit im Jahre 1945 gar nichts anderes neu begründen als die Staatlichkeit einzelner Länder. Hier wirkte sich die jahrhundertealte Tradition des deutschen Föderalismus positiv aus. Und das gilt nicht nur für Bayern, das als einziges Land in seiner Territorialität unbeschadet blieb (sieht man von der linksrheinischen Pfalz ab), sondern auch für die verschiedenen westdeutschen Neugründungen. Andreas Hedwig zeichnet in seinem Beitrag den Weg des Landes Hessen in die Bundesrepublik nach und arbeitet Leistungen hessischer Persönlichkeiten bei der westdeutschen Staatsgründung heraus. Am Beispiel Hessens zeigt sich, dass schon bei der Konstituierung der Länder deren Einbettung in einen späteren deutschen Bundesstaat antizipiert wurde. Zudem akkumulierten die beteiligten Akteure im Zuge des Aufbaus der Länder ein Erfahrungswissen, das sie bei der Gründung der Bundesrepublik einbringen konnten.

So trug die lange etablierte administrativ-politische Professionalität, die in den Ländern, aber auch in den preußischen Provinzen bestand, zum erfolgreichen Neuaufbau Westdeutschlands entscheidend bei. Allerdings – und das ist die zweite Wurzel des bundesdeutschen Föderalismus – war völlig klar, dass die Westalliierten nur einen strikt föderalen Aufbau des zu errichtenden Weststaates dulden würden. Wie genau er aussehen würde, war 1948/49 der teils strittige Gegenstand der Aushandlungsprozesse zwischen den Westalliierten, den westdeutschen Ministerpräsidenten und den Parteiführern. Wegmarken waren die Londoner Konferenz und die Frankfurter Dokumente, der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und der Parlamentarische Rat.

Manfred Görtemaker widmet sich in seinem Beitrag den föderalistischen Weichenstellungen in Westdeutschland und betont dabei beide historischen Wurzeln. Keineswegs sei der föderalistische Charakter der Bundesrepublik »nur auf Druck der Siegermächte« zustande gekommen. Denn die deutschen Ministerpräsidenten und die im Parlamentarischen Rat vertretenen Parteien waren sich ganz überwiegend in ihrer »Ablehnung zentralstaatlicher Vorstellungen« einig. Etabliert wurde stattdessen ein kooperativer Föderalismus, der die Zusammenarbeit von Bund und Ländern erzwang und sich gegenseitig stützende Aufgaben vorsah.

In Westdeutschland entstand somit ein insgesamt weniger stark zentralisierter Bundesstaat als in der Weimarer Republik. Allerdings offenbart schon die Geschichte der »alten« Bundesrepublik ein kompliziertes und häufig neu verhandeltes Gleichgewicht zwischen zentraler und föderaler Ebene. Das zentralisierend wirkende Parteiensystem, die konkurrierende Gesetzgebung, die Ausgestaltung der Gemeinschaftsaufgaben und das damit zusammenhängende Dauerthema der Föderalismusreform sind wesentliche Stichworte für komplexe Verhältnisse. In den 1970er Jahren bildeten sie denn auch den Stoff für skeptische Diagnosen zwischen »Politikverflechtungsfalle« und »Unregierbarkeit«.16 Insofern ist die Ausgestaltung des Föderalismus zwischen Gemeinschaftsaufgaben und Eigenständigkeit der Länder ein Schlüsselthema der deutschen Verfassungsgeschichte und des bundesrepublikanischen Verfassungsrechts seit 1949. Wie Stefan Oeter ausführt, ist denn auch die Frage nach einer effizienzsteigernden Reform des Föderalismus ein Dauergast auf der politischen Agenda der Bundesrepublik.

Zwei zentrale Akteursebenen des bundesdeutschen Föderalismus werden ebenfalls näher beleuchtet, nämlich die Parteien und die Ministerpräsidenten der Länder. Siegfried Weichlein arbeitet heraus, wie sich die Parteien nicht nur mit dem Föderalismus arrangierten, sondern diesen selbst von Beginn an als Resonanzraum für den Aufbau ihrer Strukturen nutzten. So entwickelten sich die etablierten Parteien in Deutschland zu Mehrebenengebilden. Allein die Rekrutierung des Führungspersonals auf Bundesebene war und ist häufig das Ergebnis eines erfolgreichen Durchlaufens verschiedener Parteiebenen. Umgekehrt übernahmen die dezentralisierten Parteien, so Weichleins Resümee, gleichsam »die Ausfallbürgschaft für das territoriale Moment. In ihren dezentralen Strukturen hielt sich der regionale Eigensinn mehr als im west- und später gesamtdeutschen Föderalismus.«

Ariane Leendertz widmet sich der Geschichte der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) von ihrer Herausbildung in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Zeit nach der Wiedervereinigung. Damit verfolgt sie den Aufstieg dieses Gremiums »von einem freiwilligen Koordinationsorgan der Länder zu einem bundespolitischen Akteur mit nationaler Reichweite«. So wirkten die Regierungschefs der Bundesländer seit den 1950er Jahren im Rahmen der MPK an zahlreichen Entscheidungen und Prozessen mit und prägten damit die wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung der Bundesrepublik maßgeblich.

Über solche politischen Strukturen hinaus lassen sich auch zahlreiche praktische Problembereiche aufzeigen, die dem bundesdeutschen Föderalismus entspringen. So ist zum Beispiel die Hoheit über die Schulpolitik zweifellos die heiligste Kuh des deutschen Föderalismus. Sie führt aber zu der höchst problematischen Situation, dass zum Beispiel eine hessische Lehrerin in aller Regel nicht einfach nach Bayern kommen kann, um dort eine neue Stelle anzutreten – und wenn, dann nur unter massiven Statusabstrichen. Umgekehrt mag es leichter gehen, aber das macht die Sache auch nicht besser. Insofern muss die Frage erlaubt sein, ob hier nicht eine Art föderaler De-facto-Barriere gegen das Prinzip der Freizügigkeit und freien Berufswahl aufgerichtet wurde, die zum Beispiel mit europäischem Recht kaum vereinbar zu sein scheint.17 Das führt zu der essentiellen Frage, wie sich Bundesländer und deutscher Föderalismus mit der europäischen Integration auseinandersetzen bzw. in diesen Prozess rechtlich und politisch eingebunden wurden und werden. Jonas Becker und Guido Thiemeyer widmen sich den deutschen Bundesländern im europäischen Einigungsprozess und machen dabei deutlich, dass der deutsche Föderalismus von Anfang an in das sich herausbildende europäische Mehrebenensystem eingebunden war und föderale Akteure auf die neue europäische Handlungsebene reagierten. So bauten die Bundesländer inoffizielle Strukturen auf und entsandten eigene Beobachter nach Straßburg und Brüssel. Sie suchten zudem persönliche Kontakte in die Gemeinschaftsorgane und führten staatsbesuchsähnliche Reisen durch. Ab den 1980er Jahren richteten sie zudem eigene Ländervertretungen in Brüssel ein. Im Rahmen eines Trial-and-Error-Verfahrens hat sich ein europäisches System mit einer regionalen, nationalen und europäischen Ebene herausgebildet. Alle drei Ebenen blieben eng miteinander verflochten und lassen untereinander keine klare Hierarchie erkennen. Die konkrete Ausgestaltung des Mehrebenensystems variiert je nach Politikfeld. »Langsam entwickelte sich so ein Netz informeller Strukturen zwischen den einzelnen Bundesländern und der EWG, welches von beiden Seiten gepflegt wurde.«

Wie lebendig und machtvoll mithin auch heute der deutsche Föderalismus ist, weiß jeder, der in seiner Berufspraxis entsprechende Erfahrungen macht. Die Corona-Krise hat jedoch seine Realität noch einmal mit geradezu voller Wucht ins breite Bewusstsein gebracht. Wie fungibel sich das System mit seinen 16 Bundesländern angesichts der Corona-Krise tatsächlich erwiesen hat, bleibt gegenwärtig noch strittig. Aber die Krise hat den Föderalismus als schiere und unhintergehbare Grundtatsache der deutschen Geschichte und Gegenwart eindrucksvoll demonstriert. Christian Walter blickt aus verfassungsrechtlicher Perspektive auf den Föderalismus im politischen Management der Corona-Pandemie. Die Einschätzung, die Pandemiemaßnahmen hätten zu einem Flickenteppich und zu einer Entinstitutionalisierung der Entscheidungsfindungen geführt, beurteilt er als zu negativ. Viele Prozesse seien vor allem Ausdruck historischer Pfadabhängigkeiten. Entscheidend sei gewesen, »dass die parlamentarische Legitimation für den Grundrechtseingriff eben nicht aus dem Landesrecht, sondern aus dem Infektionsschutzgesetz des Bundes kam«. Zwischen Gesetzgebungs- und exekutiver Verwaltungsebene klaffte somit eine tiefe Lücke, die künftige verfassungsrechtliche Diskussionen provozieren könnte.

Am Ende ist zu konstatieren: Es ist nicht möglich, aus der Geschichte herauszuspringen; der Föderalismus ist eine historisch gewachsene Pfadabhängigkeit der deutschen Geschichte, die immer wieder neue Realitäten schafft. Sie setzt auch Grenzen für seine Reformfähigkeit, insbesondere für eine grundlegende Reform durch Neugliederung. Alle Leserinnen und Leser erinnern sich gewiss an das 2006 gescheiterte Plebiszit zur Vereinigung von Berlin und Brandenburg zu einem neuen Bundesland. Andere Volksabstimmungen über eigentlich sinnvolle Konsolidierungen des deutschen Föderalismus, zum Beispiel mittels der Gründung eines leistungsfähigeren »Nordstaates« oder der Eingliederung des Saarlandes in das Land Rheinland-Pfalz, werden gar nicht erst zustande kommen, weil die deutschen Bundesländer inzwischen nicht nur eigene Regierungen und Parlamente, eine eigene Verwaltung und Justiz geschaffen haben, sondern eben auch eine regionale Identität. Die zahlreichen Neugliederungsmodelle, die vorgelegt wurden, bleiben folglich eine eher akademische Übung. Mit diesem Umstand muss jede deutsche Politik, aber auch die Geschichtswissenschaft stets rechnen.

Die Fiktion des Einheitsstaates. Zur historischen Argumentation in der Reichsgründungszeit

Wolfgang Neugebauer

Zur Jahreswende 1873/74 wurde Heinrich von Treitschke, geboren 1834 in Dresden, von Heidelberg auf einen Lehrstuhl für Geschichte an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen. Seine wissenschaftlichen Leistungen, die er bis dahin erbracht hatte, waren nicht über alle Zweifel erhaben. Leopold von Ranke traf den wunden Punkt, als er ihm zu verstehen gab, dass die nun über ein Jahrzehnt sein Schaffen bestimmende Aufsatzproduktion18 jetzt nicht mehr genüge. »Ihr Entschluß, nicht bloß Artikel, sondern einmal auch ein zusammenhängendes Buch zu schreiben, hat meinen ganzen Beifall.«19

Gerade waren Treitschkes gesammelte Aufsätze schon in vierter Auflage in drei Bänden erschienen, und der zweite, der zu den »Einheitsbestrebungen zertheilter Völker«,20 besaß ganz besonderen Aktualitätsbezug. Dieser Präsentismus hatte im preußischen Kultusministerium der frühen 1870er Jahre, als es um die Besetzung gleich mehrerer Lehrstühle ging,21 die Aufmerksamkeit auf den Heidelberger Ordinarius gelenkt, und der seinerseits hatte den liberalen Kultusminister Adalbert Falk wissen lassen, es würde im Falle seiner Berufung in die preußisch-deutsche Hauptstadt »mein ernstes Bestreben sein[,] an der Pflege des wissenschaftlichen und patriotischen Sinnes in der Jugend zu arbeiten«.22 Ganz in diesem Sinne wies der Immediatbericht des preußischen Kultusministers vom 1. November 1873 darauf hin, dass es sich im Falle Treitschkes um die Berufung eines Mannes handele, der »mehr Politiker als eigentlicher Historiker« sei, mehr Darsteller als methodischer Erforscher. Von ihm sei also eine »Förderung namentlich der politischen Interessen der Nation in der unmittelbaren Gegenwart zu erhoffen«.23 »Erst in der letzten Zeit hat er sich der eigentlichen historischen Forschung zuzuwenden angefangen«,24 so wusste der Kultusminister ferner zu berichten; er wies damit auf die schon seit Jahren betriebenen Archivforschungen des südwestdeutschen Gelehrten hin, die dann seit 1879 in seine fünfbändige »Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert« mündeten.

Treitschke diente aber noch als Professor der Staatswissenschaften im badischen Freiburg, als er denjenigen, fast buchstarken Essay schrieb, der im zweiten Band der »Historischen und Politischen Aufsätze«25 erschien: der Beitrag über »Bundesstaat und Einheitsstaat« aus dem Jahre 1864.26 Diese Abhandlung »über den Einheitsstaat ist meines Wissens der erste Versuch in Deutschland, das Glaubensbekenntniß der Unitarier in gebildeter Form auszusprechen und zu begründen«, so hat er im November 1864 formuliert,27 und er kündigte zugleich an, dass »der Aufsatz ›Bundesstaat und Einheitsstaat‹ […] vielleicht viel Geschrei erregen« werde.28

Es war gewiss pikant, dass gerade aus dem deutschen Südwesten der Kampfruf erscholl, dass »Preußen […] unsere Zukunft«29 bringen werde und eine Einigung Deutschlands nur durch Preußen möglich sei.30 Die Dichotomie, die Treitschke entwarf, war agitatorisch-schlicht: hier Preußen, auf der anderen Seite die »Märchenwelt des Partikularismus«,31 umfassend die »achtzehn Millionen Deutschen in Kleinstaaten«, worunter Bayern ebenso subsumiert wurde wie die Untertanen von Schaumburg-Lippe und Reuß ältere Linie. Die Kritik an diesen staatlichen Traditionen besaß eine starke liberal-antifeudale Note: »Nein, die Zersplitterung Deutschlands wird aufrechterhalten nicht durch den Stammeshaß der Deutschen, sondern allein durch das Interesse der Höfe und ihres Anhanges und durch die Trägheit und Unentschlossenheit der Nation.« Es ging nicht zuletzt gegen den »dynastischen Partikularismus« im Allgemeinen32 und denjenigen des Hauses Österreich im Besonderen. »Der unversöhnliche Gegner unseres Volkes«, so Treitschke 1864/65, »ist das Haus Habsburg-Lothringen und der diesem Hause fröhnende vaterlandslose Adel.«33 Nur gegen die Dynastien in Deutschland sei der künftige Einheitsstaat zu begründen.

Dafür böte Preußen den einzigen Weg, jener Staat also, der – so interpretierte der südwestdeutsche Staatswissenschaftler – zentralisiert, ja nach dem Vorwurf seiner Feinde »unnatürlich centralisiert« sei.34 Mit dem Übergang Preußens zum Konstitutionalismus, mit der Januar-Verfassung des Jahres 1850, sei »die Staatseinheit Preußens […] jetzt erst ganz zur Wahrheit geworden«.35 Die Argumentation wurde untergründig getragen von einem zeittypischen Fortschrittstopos. »Mit der Beseitigung der kleinen Kronen vollzieht sich nur ein Akt der historischen Notwendigkeit«, so hat Treitschke dann 1866 argumentiert.36

Es ist an dieser Stelle wohl nicht erforderlich, darauf im Einzelnen hinzuweisen, wie sehr Treitschkes Bild von Preußen an der historischen Realität vorbeikonstruiert worden ist, wie mit der Sehnsucht nach dem »Einheitsstaat«37 die Wirklichkeit eines jahrhundertealten politischen Regionalismus in Preußen schlechterdings ausgeblendet wurde.38 Treitschkes Preußen war ein aktualitätsorientiertes Konstrukt. Dies gilt umso mehr, wenn er die – mit Klaus Zernack gesprochen39 – »halbdeutsche Großmacht« Preußen zum schlechthin »deutsche[n] Staat« stilisierte, und das ausgerechnet für die Zeit Friedrichs des Großen, unter dem ja der Anteil slawisch bewohnter Gebiete dieses Staates bekanntlich drastisch vermehrt worden war. Gleichwohl war für Treitschke Preußen »der am reinsten ausgebildete deutsche Staat«.40

Es ist an dieser Stelle nicht nötig, im Detail die Erkenntnisse zu Sprachenstruktur und Sprachstatistik Preußens zu referieren, wie sie seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit erstaunlicher Präzision vorlagen.41 Es war eine Homogenitätsfiktion, die Treitschke für Preußen benötigte, um für diesen Staat die spezifisch deutsche Aufgabe in der Politik der Gegenwart zu reklamieren: »Unter allen reindeutschen Staaten hat allein Preußen in unvergeßlichen Zeiten die Kraft bewiesen, die eine Gesellschaft zum Staate macht, die Kraft sich durch sich selbst allein zu erhalten.« Es sei eine »Erfahrung, daß das Wesen des Staats zum Ersten Macht, zum Zweiten Macht und zum Dritten nochmals Macht ist«.42

Aber erst »sehr langsam hat der Staat selber klar begriffen, was diese große Fügung bedeute, die ihn also stätig hineinwachsen ließ in das deutsche Land. Während Oesterreich seine rein-deutschen Lande im Westen nicht behaupten konnte, ist dem preußischen Staate, gleich jenem Riesensohne der Erde, immer neue Kraft erwachsen aus dem deutschen Boden, der ihn erzeugte. Ein mäßig bevölkertes Land von junger Cultur und bescheidenem Wohlstande, konnte und kann er der geistigen Kräfte des Vaterlandes nicht entrathen; in allen Kreisen seiner neueren Geschichte hat er Gelehrte, Feldherren, Staatsmänner aus dem nichtpreußischen Deutschland herangerufen und durch seine Zucht gebildet.«43 Langsam sei Preußen »fortgeschritten […] zu hellerem Verständniß seiner nationalen Pflichten«,44 nunmehr sei »Preußen also ein deutscher Staat«, einer mit »geschlossene[r] Staatseinheit« und »moderner Verwaltung«45, und dies führte zur »Forderung« an die »Kleinstaaten«: »Anschluß an Preußen«.46 An Preußen aber erging aus dem südwestdeutschen Freiburg der Appell zu Annexionen: »Preußens Machterweiterung wird allmählich zu einer Forderung der Gerechtigkeit«, und »so wird der Staat durch die schwersten Gründe der Selbsterhaltung fort und fort auf die Erweiterung seines Gebietes hingewiesen«. Seit den Tagen Friedrichs II. habe Preußen geradezu »die Pflicht, die Macht des Staates in Deutschland fortschreitend zu erweitern«.47

So hingen Einheitsstaat und deutsche Einheit in der Reichsgründungszeit zusammen in Treitschkes wichtigster programmatischer Abhandlung; damit war zugleich ausgesprochen, dass eine bündische Lösung der Einheitsfrage unmöglich sei.48 Noch nach Jahrzehnten, und ungeachtet massiver politischer Differenzen, hat sich der sozialdemokratische preußische Ministerpräsident Otto Braun eben auf Treitschkes Zukunftsvision des nationalen Einheitsstaates positiv bezogen.49 In der Reichsgründungszeit selbst war dies eine markante Stimme unter vielen,50 charakteristisch aber gerade dadurch, dass hier politische Forderungen an Preußen von außerhalb Preußens erhoben wurden. Dies hatte damals schon eine längere Tradition. Der Württemberger Paul Achatius Pfizer, Jurist, Abgeordneter und Publizist aus Tübingen, veröffentlichte 1831 in Stuttgart und Tübingen im Cottaschen Verlag seinen »Briefwechsel zweier Deutscher«, in dem er »in Preußen das, wozu es durch seine Anstrengungen im Befreiungskriege geworden ist, nämlich den Repräsentanten und den Wortführer der deutschen Nation«, sehen wollte.51 In Preußen sei schlechterdings »der Repräsentant der Nation anzuerkennen«.52 Schon bei Pfizer hatte »Preußen den Charakter eines allgemein europäischen Staats mit dem eines deutscheuropäischen vertauscht«, ein junger Staat mit »musterhaft geordnete[r] Verwaltung«53 und starker Regierung, »eine Art von militärischer aber wohlwollender Diktatur«.54 Dies war der Staat, dem der schwäbische Jurist in der weiteren Entwicklung das »Protectorat über Deutschland« zusprach.

Aber gerade preußische Beobachter, und zwar solche der streng konservativen Observanz, vernahmen solche Stimmen ohne Freude, ja mit Sorge; sie hatten nur »Hohn und Spott für Männer, welche wie Paul Pfizer den Gedanken der deutschen Einheit unter preußischer Führung als logische und historische Folgerichtigkeit erfaßten und vertraten«.55 Schwerlich hätte Pfizers Schrift im Jahr seines Erscheinens 1831 in Preußen gedruckt werden können. Wenn da ein Autor auch nur den Anschein erweckte, er würde »andere Mächte ersten Ranges« in Mitteleuropa »herabsetzen« und Preußens Bedeutung in den jüngst verflossenen antinapoleonischen Kriegsjahren allzu sehr herausstreichen, wurde gerade dies zum Anlass für harte, zensierende Eingriffe. Denn – so liest man es in den Akten des Auswärtigen Amtes in Berlin um 1825 – dies könne außerhalb Preußens »leicht zu compromittirenden Misdeutungen« führen, so als ob eine »angeblich[e] […] Ueberlegenheit des preußischen« Staats behauptet werde. Auch wenn eine solche Argumentation in einer Abhandlung ganz außeramtlicher, privater Art erscheinen sollte, griff das Amt mit harter Hand ein, damit auch nicht der Anschein erweckt werde, dies sei etwa Ausdruck preußischer Politik.56 Das war sie eben nicht, und Friedrich Wilhelm III. hat noch auf dem Sterbebett seinen »letzten Willen« dahingehend formuliert, dass Preußen auch künftig mit Österreich und Russland gehen solle und diese »sich nie voneinander trennen« dürften. »Ihr Zusammenhalten ist als der Schlußstein der großen Europäischen Allianz zu betrachten.«57 Das war das Gegenteil von kleindeutschen Träumen preußischer Dominanz in Mitteleuropa unter Verdrängung der Habsburger aus Deutschland.

Die politischen Appelle dagegen kamen zunächst ganz wesentlich von außen, vor allem von geborenen Nichtpreußen. Johann Gustav Droysen, Pfarrerssohn aus Pommern, hat seinen historisch-politischen Impuls gesetzt, als er von den von ihm eingenommenen Professuren im (dänisch regierten) Kiel und aus dem thüringischen Jena schrieb und agitierte. Es war aber alles andere als eine Zustimmungsfanfare des liberalen Historikers auf das real existierende Preußen, was der Professor aus dem Großherzogtum Weimar mit seiner seit 1855 erscheinenden »Geschichte der Preußischen Politik« ertönen ließ.58 Auch ihm ging es um die »Einigung« Deutschlands, und das im Verlauf einer »vierhundertjährigen Geschichte«, als eine »geschichtliche Notwendigkeit« des »nationalen Lebens«, in dem der »Beruf« Preußens sich offenbare, im weitesten Sinne seit dem hohen Mittelalter, dem Zeitalter der Staufer, im engeren seit dem Eintreffen der Hohenzollern in der Mark Brandenburg, d. h. seit dem 15. Jahrhundert.59 Das zielte auf Geschichte im Sinne nationaler Teleologie und zugleich auf das Entstehen einheitsstaatlicher, modern verstandener politischer Strukturen. Das uns schon bekannte Argument, Preußen sei durch ein besonderes Maß politischer Geschlossenheit gekennzeichnet, eben die Homogenitätsfiktion, spielte in darstellender Wertung und programmatischer Forschung eine entscheidende Rolle. Das historische Recht lag (auch) bei Droysen ganz auf der Seite des »monarchischen Gedankens«, und alles, was dagegen stand, war – wir begegneten dem Topos schon bei Treitschke – »Particularismus«60. Preußen aber war Droysen schlechterdings Einheitsstaat: »Kein Staat hat vielleicht mehr Anlaß und besseren Grund, seine Vergangenheit(en) fest und energisch aus dem Gesichtspunkt der gewordenen Einheit, aus der lebendigen Energie des Staatsgefühls, aus dem stetigen Gedanken der diese vielerlei Territorien und Particularitäten zu Einem politischen Körper zusammengearbeitet hat, aufzufassen und sich und seinem Volk gegenwärtig zu halten.«61 Die Hohenzollern hätten (spätestens) im 17. Jahrhundert den »egoistischen, trotzigen und unbotmäßigen« landschaftlichen Widerständen ein Ende bereitet.62

Ganz im Sinne dieses Programms haben Droysens Mitarbeiter begonnen, die Akten einzelner Landschaften Brandenburg-Preußens und der Organisation der regionalen Eliten, also der Landstände, aus dem 17. Jahrhundert zu erschließen. Und sie taten dies, wie die Arbeitsberichte zu ihren Editionen zeigen, ganz in der Spur von Droysens Teleologie, die nicht nur eine nationale deutsche war, sondern eben zugleich eine des preußischen Einheitsstaates.63 Da waren die »Partikular-Existenzen« dann gefährliche Quellen für »Anarchie« im Staat, die das »Durchgreifen des Staats-Gedankens« provozierten. Das »Particularistische«, das war das an sich Illegitime, ja eine – im 17. Jahrhundert – »staatsgefährliche Hinzögerung notwendiger Reformen«, ein »mißbrauchtes« politisches Recht. Die Legitimität des Handelns lag da ganz bei dem, der den Weg zum starken, geschlossenen, zum modernen Staat und seinem »Staats-Beamtentum« zu vertreten schien, also beim Monarchen und seinen Organen.64 Freilich darf nicht übersehen werden, dass nicht nur diejenigen Mitarbeiter Droysens, die in den eben geöffneten Archivbeständen forschten, selbst sehr bald die Fragwürdigkeit von Droysens Interpretation erkannten.65 Droysens konservativer Berliner Antipode Leopold (von) Ranke hat, wenn es um die preußische Produktion des liberalen Kollegen ging, schon mal das Wort »Fälschung« ausgesprochen66 oder in Gutachten über den Jenenser Kollegen gehöhnt: »An Droysens Geschichte der preußischen Politik fällt es auf, daß es eine preußische Politik gegeben haben soll, ehe es einen preußischen Staat gab.« Das zielte auf die ersten Bände des Werks bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, eine Epoche, »die doch nur sehr uneigentlich als eine preußische bezeichnet werden kann […]. Der ghibellinische Gedanke«, d. h. der Bezug auf die Stauferzeit, »der eine so große Rolle in dem Buch spielt, existiert bei weitem mehr im Kopfe des Autors als in den einfachen und mit der Erledigung der ihnen vorliegenden Schwierigkeiten beschäftigten Persönlichkeiten jener Zeit.«67 Die Fachkritik hat auch in Droysens besten Jahren massive Bedenken formuliert und nicht geschwiegen.68

Gerade konservative Organe, voran die »Kreuzzeitung«, die damals das Organ einer altpreußischen Tradition in Distanz zum modern-nationalen Programm war, haben Droysens Konzeption als »Partei-Anschauung«69 bekämpft. Aber die Parteianschauung war – und darauf kommt es hier an – nicht identisch mit der preußischen Politik der Entstehungszeit von Droysens Preußensicht. Bis zum Ende der 1850er Jahre war die preußische Staatspolitik ja noch von der Programmatik Friedrich Wilhelms IV. bestimmt, die aus seinem Verständnis historisch begründeter Politik mit Blick auf das Alte Reich schon deshalb einer preußischen Hegemonie in Deutschland Hemmungen entgegenstellte, weil solche Bestrebungen – in einer jahrhundertetiefen Betrachtung – eigentlich »undeutsch« seien. Deshalb müssten, so lange als nur irgend möglich, Preußen und Österreich zusammengehen, und erst, wenn dies endgültig scheitere, müsse die preußische Machtposition ausgeweitet werden, freilich immer mit der Grenze der durch Gott gegebenen Rechte anderer deutscher Fürsten70 – die ein Treitschke ja so rücksichtslos verachtete. Gegen diese Politik des real existierenden Preußen stand auch Droysens Argumentation. Sie war kein affirmatives Konstrukt, sondern um 1860 ein kritischer Appell an Preußen, endlich Preußen zu sein, das Preußen des Einheitsstaates im Inneren und der Reichseinigungspolitik nach außen: ein kritisches Konstrukt. »Da die Hohenzollern-Monarchie unter Friedrich Wilhelm IV. […] gerade diese Führungsrolle nicht wahrnahm, war Droysens Monumentalwerk […] gerade keine ›Sieger-Historiographie‹«,71 aber verbunden mit der Illusion eines schon lange existierenden »starken Staates«72, der freilich umso mehr ein Staat moderner Reformen sein müsse.73

Deshalb war es für Droysen eine nicht einfache Konstellation, in der er in den Jahren der »Neuen Ära« unter einem altliberalen Ministerium an die Berliner Universität berufen wurde und dort seine preußische Geschichtsschreibung fortsetzte.74 Die preußischen Konservativen begegneten der deutschen Politik Bismarcks nicht ohne Skepsis und versuchten, »die geschichtliche Eigenart der Monarchie Friedrichs des Großen behaupten zu helfen gegen die gefährlichen Ansprüche der nationalen Einheitsbewegung«.75 Sie sprachen wie die Gerlachs, die Vordenker der konservativen Preußenpolitik, vom »Laster des Patriotismus«.76 Die »Kreuzzeitung« redete angesichts der nationalen und liberalen Vereinsbewegung in Deutschland vom »Einheitsgeschwätz«.77

Der Kampf ging um die doppelte Erinnerung: um die behauptete deutsche Mission preußischer Politik, und zwar seit Jahrhunderten, und um die immer umkämpfte innere Einheit Preußens selbst, um die Vorgeschichte des Einheitsstaates.78 Auch diese Stilisierung besaß eine offensive, eine Appellfunktion: Schon die konstitutionelle Gesamtstaatsverfassung stand, in der Sicht mancher altadliger Beobachter, gegen das alte Recht und die Einrichtung von Staatsregionen, und diese machten eigentlich eine weitere Zentralisation des Staats unmöglich.79 Das gleichsam antifeudale Argument, nach dem die Hohenzollern seit langem für die »Staatseinheit« gekämpft hätten, um die »locale und ständische Selbstsucht zu brechen«, hat der gerade von München nach Bonn berufene, in diesen Jahren strikt oppositionelle Heinrich von Sybel vorgetragen.80 Das war der Kern dessen, was Sybel – mit einem damals noch recht modernen Begriff – »Absolutismus« nannte, als er von der Epoche des Großen Kurfürsten sprach. Das alles machte Preußen schon an sich modern, so wie auch Treitschke schon für das 18. Jahrhundert »straffe Centralisation« und »moderne Institutionen« in Preußen sehen wollte.81 Das Ziel, die »Beschränkung oder Vernichtung von dreißig Souveränitäten« in Deutschland, förderte auch in Preußen selbst den Kampf gegen die »adelige Herrlichkeit«.82 Das war anschlussfähig an konfessionelle Argumente, wenn der Heidelberger Professor Ludwig Häusser um 1860 Preußens Geschichte im 18. Jahrhundert durch »festere Staatsbildungen«, »getragen von dem Landesfürstenthum« und dem Protestantismus gekennzeichnet sah.83 Dieser Einheitsstaat Preußen, entstanden im Kampf gegen die »Herrschaft unbändiger Junker«, ein »früh zu einer gewissen Einheit verschmolzener Staat von ganz überwiegend deutschem Wesen«,84 war auch »am ehesten dann berufen […], die Führung jenes engeren Bundes« in Deutschland »zu übernehmen«,85 den er erhoffte.

Eben diese Interpretation war aber einer schroff negativen Wendung zugänglich, ähnlich wie dem seit Görres‹ Vormärz-Zeiten in Umlauf gesetzten Topos vom »Preußentum«86, dem zunächst all das zugeordnet wurde, was nach 1815 bei der territorialen Neuordnung im rheinischen Westen als bürokratisch-fremd und zugleich als spezifisch protestantisch erfahren und gefühlt wurde. Nach 1848 wurde dies zum positiven Programmbegriff, etwa beim jungen Bismarck.

Zunächst war es die spezifische preußische »Einheit der Staatskräfte in dem Oberhaupte des Staates«, also die »Einheit des Absolutismus«, die kritisch ins Auge stach.87 Der aus dem Pariser Exil schreibende, radikal-demokratisch-republikanische Jakob Venedey konnte dem eine gleichsam volkspsychologische (und antinationale) Wendung geben: Es sei der starke Anteil der slawischen »Race«, der zur Förderung politischer Zentralisation durch Untertänigkeit in Preußen beitrage.88

Diejenigen, die den »Einheitsstaat« in Preußen und in Deutschland wollten,89 waren die Liberalen und unter den agitierenden Historikern ganz wesentlich solche von außerhalb Preußens und durchaus nicht beamtete Propagandisten der aktuellen Politik dieses Staats in den beiden ersten Dritteln des 19. Jahrhunderts. Dies verdeckt der zeitgenössische Hohn über die »kleindeutschen Geschichtsbaumeister«, wie ihn der ostfriesisch-hannoversche Historiker Onno Klopp gekonnt und durchaus kenntnisreich verbreitete.90 Seine Kritik an den kleindeutsch inspirierten Historikern, an Droysen, an Häusser und an Sybel richtete sich nicht zuletzt gegen ihre Tendenz, die Politik und das Streben nach dem »centralisirten nationalen Einheitsstaat« schon in das 15. Jahrhundert und die beginnende Neuzeit vorzuverlegen,91 ein Einwand, der aus grundsätzlicheren Erwägungen für die moderne Frühneuzeithistoriographie mit ihrer Distanz zu allzu modernen Begriffen in ihrer Anwendung auf vormoderne Zeiten plausibel erscheint. Aber auch der erobernde Militärstaat Preußen, der darin »von Anfang an« seine Charakteristika bewiesen habe, gekennzeichnet von seinem »Preußentum«, besaß in den Augen von Onno Klopp seine Wurzeln tief in der Geschichte.92

Unter nationalem Aspekt ließ sich das alles auch gegen Preußen wenden, das Nicht-allein-Deutsche93 oder, wie Venedey es charakterisiert hatte, das Halbslawische und also Sklavische an und in Preußen. Unbemerkt scheint von denen, die im politischen Kampf seit dem Vormärz standen, geblieben zu sein, dass es auch in Preußen eine subdominante historiographische Strömung gegeben hatte, die diese spezifisch ostmitteleuropäische Dimension und Verankerung Preußens zu einem programmatischen Fundament einer Gesamtinterpretation dieses Phänomens gemacht hatte.94 Preußen und das Konstrukt des »Preußentums« als der behaupteten und essentialisierten Kombination gleichsam überepochaler Tendenzen und Qualitäten ließen sich jedenfalls sehr leicht als Gegensatz zur »Idee der Nationalität«95 deuten. So stand zur Mitte der 1860er Jahre Konstrukt gegen Konstrukt, Preußentumsvision und sein Gegenbild, und die Vorstellung von einem »preußischen Einheitsstaat«, der zum Anschluss dränge und zwänge – wir erinnern uns an die Forderungen aus Südwestdeutschland der 1830er bis zu den frühen 1860er Jahren –, wurde um 1866/67 zum notwendigen Fundament eines neuartigen »Preußenhasses«.96

Begrifflich gebündelt wurde dies durch die Kampfschrift des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler über »Deutschland nach dem Kriege von 1866«; das Vorwort datiert vom Januar 1867.97 Droysens These von einer »geschichtlichen Notwendigkeit«, die die preußische Politik seit jeher bestimmt habe, galt ihm schlechterdings als »doktrinärer Schwindel«98 – ganz so, wie Ranke diese Lehre abgelehnt hatte. Ketteler nannte es »Borussianismus«, ein politisches »System, das sich erst nach und nach ausgebildet und allmählig zu seiner vollen Klarheit entwickelt hat«; es »hat eigentlich den Höhepunkt seiner Entwicklung erst in unsern Tagen gefunden. Unter Borussianismus verstehen wir nämlich die fixe Idee über den Beruf Preußens, eine unklare Vorstellung einer Preußen gestellten Weltaufgabe, verbunden mit der Ueberzeugung, daß dieser Beruf und diese Aufgabe eine absolut nothwendige sei, die sich mit derselben Nothwendigkeit erfüllen müsse, wie der losgelöste Fels herabrollt und daß es unstatthaft sei, diesem Weltberufe sich im Namen des Rechtes oder der Geschichte entgegenzustellen. Bei den Anhängern des Borussianismus steht dieser Beruf Preußens obenan, höher als alle Rechte, und Alles, was sich ihm entgegenstellt, ist deshalb Unrecht. Er vollzieht sich mit absoluter innerer Nothwendigkeit.«99

Damit war das Krankheitsbild des Borussianismus, gekennzeichnet von historisch-pathologischen Zügen, umrissen. Es trat in Varianten auf. Zum einen in politikgeschichtlicher Ausprägung. »Der Inhalt dieses Berufes Preußens ist nach der Stellung der Anhänger dieser Richtung sehr verschieden.« Und eine dieser Richtungen zielte auf den starken, geschlossenen Staat, der Preußen seit langem gewesen sein soll: »Ist der Mann dieser Richtung ein begeisterter Diener seines Königs, so denkt er dabei an die Oberherrschaft eines absoluten preußischen Königthums.« Dazu gehörte dann auch die »Glorificirung des preußischen Bürokratismus«, kombinierbar in konfessioneller Hinsicht mit protestantischen Elementen.100 Der »Absolutismus« und der »Militärstaat«, wenn positiv konnotiert, waren dann Indizien für »Borussianismus«101, und dagegen wurde bei Ketteler die Forderung nach »deutsche[r] Freiheit« gestellt, eine Freiheit, die eine christliche Freiheit sei. Jede »Glorifizierung des preußischen Bürokratismus« konnte mithin »Borussianismus« sein, so jene »festen Staatsbildungen«, von denen Ludwig Häusser in Heidelberg gesprochen habe.102 Derart definiert, musste borussisches oder borussianisches Argumentieren nicht unbedingt mit dem nationalen Telos preußischer Politik zusammengehen, wie sie Droysen ja schon im Mittelalter gesucht hatte. Dadurch gewann der Begriff freilich an Beliebigkeit, nicht an analytischer Schärfe.103

Die Behauptung einer geschichtlich notwendigen Entwicklung, die – wir erinnern uns an Treitschkes Legitimierung preußischer Annexionen – immer wieder zur »Angliederung weiterer Teile«104 geführt habe, war freilich durchaus nicht auf die deutschsprachige Historiographie der Reichsgründungszeit beschränkt. Soll man es borussianisch nennen, wenn auch im Westen Europas bei der Suche nach den historischen Wurzeln aktueller Kräftelagen weit in die Vergangenheit zurückgegriffen und mutig konstruiert wurde? Ernest Lavisse, bedeutender französischer Historiker und nach 1870 auch Wissenschaftspolitiker von hohen Graden,105 dessen Rolle auch im preußischen Kultusministerium beobachtet wurde,106 hat dazu Beiträge geleistet. Lavisse wollte die Wurzeln der »preußischen« Monarchie im hohen und späten Mittelalter, und zwar in der Mark Brandenburg jener Zeit, erkennen. Dabei setzte er schon in vordeutscher, in der Zeit der Elbslawen an. Als die Dynastie der Askanier 1319 in diesen Landschaften ausstarb, stand nach Lavisse der preußische Staat in allen wesentlichen Zügen schon fertig da, wohlgemerkt: lange bevor die ersten Hohenzollern den Boden zwischen Elbe und Oder betraten.107 Der künstliche Charakter Preußens, auch schon seine Staatsauffassung, die bereits im hohen Mittelalter ausgeprägte Expansionstendenz, alles das zeigte dem französischen Geschichtsschreiber die eigentlichen Wurzeln aktueller Erscheinungen an. Schon um 1300 war die eigentliche »industrie nationale de la Prusse«, das Kriegführen, voll ausgeprägt.108 Bis in diese Epochen reiche also jene notwendige Entwicklung zurück, die in jüngeren Zeiten, auch nach 1813, fortgewirkt habe.

Eine solche, um weitere Jahrhunderte zurückgreifende, nun freilich negativ konnotierte Teleologie hatte selbst ein Johann Gustav Droysen nicht gewagt. Ihre Konstruktion kam ursprünglich nicht aus Preußen, und sie blieb nicht auf Preußen-Deutschland beschränkt. Es würde verlocken, ihre Auswirkungen im 20. Jahrhundert, 1919 und 1947, aufzusuchen. Und immer wirkte neben der nationalen eine zweite Fiktion mit, die des in Preußen früh entstandenen Einheitsstaates.

Bundesrat als föderale Klammer des Kaiserreiches

Oliver F. R. Haardt

»Die Tätigkeit des Bundesrates [ist] eine Farce, an der sich zu beteiligen die Mühe nicht lohnt«, beschwerte sich der badische Ministerpräsident Julius Jolly 1872.109 Diese Klage kam nicht von ungefähr. Bereits ein Jahr nach Gründung des Deutschen Reiches war die von Bismarck in den Verfassungsverhandlungen geschürte Erwartung verpufft, der Bundesrat würde als Verkörperung des Fürstenbundes der Regierungsmotor des neuen Nationalstaates sein. Je mehr Zeit verging, desto deutlicher wurde, wie weit die Länderkammer von dieser Rolle entfernt war. Alle Sitzungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und wurden daher kaum beachtet. Der routinemäßige Austausch zwischen den Landesregierungen fand über ihre diplomatischen Gesandtschaften und nicht im Bundesrat statt. Das dortige Plenum, in dem über Gesetze und andere Maßnahmen abgestimmt wurde, war kein Ort für Verhandlungen, da die Bevollmächtigten an die Weisung ihrer jeweiligen Regierung gebunden waren. Langwierige Vorträge waren unerwünscht. Als ein neuer Bevollmächtigter diese ungeschriebene Regel einmal missachtete, wies ihn ein altgedienter Kollege zurecht, indem er kurz, aber laut schnarchte. Darüber hinaus war der Bundesrat alles andere als selbständig. Er hatte keine eigenen Sekretäre, Bücher oder Akten. Der Betrieb konnte überhaupt nur am Laufen gehalten werden, weil das Reichskanzleramt bzw. ab 1879 das Reichsamt des Innern alle nötigen Büromitarbeiter und Sachmittel stellte. Es existierte noch nicht einmal ein eigenes Gebäude. Das formell höchste Organ der Verfassung war zunächst Untermieter im Reichskanzler- und dann im Reichsinnenamt. Nach der Einweihung des neuen Reichstagsgebäudes 1894 fanden die Sitzungen immer öfter in einem extra dafür dort eingerichteten Prunksaal statt.

1.Das Stiefkind der Kaiserreichsforschung

In Anbetracht dieser Umstände entsteht schnell der Eindruck, dass der Bundesrat ein verstaubtes Gremium aus unbedeutenden Gesandten war, die nichts weiter taten, als ihren Anweisungen gemäß die Hand zu heben. Dementsprechend gering ist das Interesse, mit dem Historikerinnen und Historiker den Bundesrat seit jeher bedacht haben. Die Länderkammer ist gewissermaßen das »Stiefkind« der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich, wie Hans Fenske schon 1974 in einem Literaturbericht feststellte.110 Diese Einschätzung trifft in unseren Tagen noch genauso zu. Während Studien zum Reichstag, den Reichskanzlern und den Kaisern ganze Regalreihen füllen, passen die wenigen Arbeiten zum Bundesrat bequem auf einen kleinen Schreibtisch. Darunter sind vor allem staatsrechtliche Untersuchungen, die teilweise noch aus dem späten Kaiserreich oder der Weimarer Republik stammen.111 Dazu kommen die fünf zwischen 1897 und 1901 veröffentlichten Bände Heinrich von Poschingers, die allerdings mehr eine begeisterte Apotheose Bismarcks als eine nüchterne Analyse der Vorgänge in der Länderkammer sind.112 Die relevanten geschichtswissenschaftlichen Studien erschöpfen sich in zwei kurzen Aufsätzen aus den 1980er Jahren und einer Monographie Hans-Otto Binders, die sich ganz auf die Beziehungen des Bundesrates zu Bismarck konzentriert und daher auch mit dessen Entlassung endet. Selbst in Heiko Holstes ansonsten sehr gründlichen rechtshistorischen Studie zum Wandel des deutschen Bundesstaates zwischen 1867 und 1933 spielt der Bundesrat nur eine Nebenrolle.113 Mehr Aufmerksamkeit hat der Bundesrat im Zusammenhang mit jenen größeren historiographischen Debatten erfahren, die sich mit der Entwicklung des Regierungssystems insgesamt und den dafür verantwortlichen strukturellen Wandlungsprozessen auseinandergesetzt haben. Besonders die Diskussion um die vermeintliche Parlamentarisierung der Reichsleitung hat den Bundesrat immer wieder in den Blick genommen. Dabei haben die verschiedenen Seiten der Debatte gezeigt, dass die Länderkammer im Laufe der Jahre in ihrer Bedeutung hinter den Reichstag zurücktrat und immer mehr zu einem Spielball der Reichsleitung wurde.114 Auch wenn die allermeisten Historikerinnen und Historiker in diesem Kontext Manfred Rauhs Parlamentarisierungsthese abgelehnt haben, prägt die Debatte darüber unseren Blick auf den Bundesrat bis heute.115 Der Rahmen, den Rauh für die Betrachtung des Bundesrates abgesteckt hat, ist nämlich nie gesprengt worden. Nach wie vor konzentrieren sich große Gesamtdarstellungen zum politischen System des Kaiserreiches in der Regel auf das Verhältnis zwischen Reichsleitung und Reichstag. Den Bundesrat begreifen sie als einen Nebenschauplatz, der zwar einer Parlamentarisierung im Wege stand und die preußische Hegemonie absicherte, aber »faktisch keine so prominente Rolle spielte«, wie es in einem aktuellen Seminarbuch zum Bismarckreich heißt.116 Dadurch wird das komplexe Dreiecksverhältnis, das die Verfassung zwischen Reichstag, Bundesrat und Kanzler bezw. Kaiser definierte, auf eine einfache Zweierbeziehung zwischen Regierung und Parlament reduziert. Anders gesagt: Statt als Zentrum wird der Bundesrat als bloße Randerscheinung eines »hegemonialen Föderalismus« begriffen, innerhalb dessen die preußisch geprägte Reichsleitung die Politik in Auseinandersetzung mit dem Reichstag bestimmte und die Regierungen der Mittel- und Kleinstaaten außen vor standen, wie schon Christian Henrich-Franke bemerkte.117 Dadurch spricht man dem Bundesrat von vornherein jede größere Bedeutung ab und verzichtet darauf, seine innere Dynamik und seine verfassungspolitische Bremsfunktion näher zu untersuchen. Das größte Problem an dieser Sichtweise ist ihr verengtes Blickfeld. Sie betrachtet den Bundesrat als einen vom Rest des Verfassungssystems weitgehend isolierten Teil und übersieht so die vielen Formen föderaler Entscheidungsfindung, die außerhalb seines institutionellen Rahmens existierten, aber eng mit ihm verflochten waren. Der Bundesrat bildete als föderale Klammer des Kaiserreiches gewissermaßen das Zentrum eines Netzes einzelstaatlicher Einflussmechanismen, durch das »jeder irgendwie wichtige Akt der Gesetzgebung erst nach umständlichem Verhandeln und Feilschen mit den Landesregierungen, namentlich den Mittelstaaten, durchgesetzt werden« konnte, wie der Staatsrechtler Heinrich Triepel 1907 in seiner Untersuchung von »Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche« bemängelte.118 Eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projektgruppe an der Universität Siegen hat die Strukturen und Prozesse dieses informellen Systems föderalen Regierens zwischen 2012 und 2016 in mehreren Studien zu ausgewählten Gesetzgebungsprozessen akribisch herausgearbeitet.119 Dank dieser Arbeiten haben wir zwar ein viel klareres Bild davon gewonnen, wie sich die Rolle des Bundesrates im Laufe der Jahre in dem immer komplexer werdenden institutionellen Gefüge der föderalen Regierungsordnung wandelte. Darüber, wie sich seine innere Dynamik entwickelte und wie diese mit seiner sich verändernden Position im Verfassungssystem zusammenhing, wussten wir bis vor kurzem aber weiterhin ausgesprochen wenig. Das hat erst die verfassungsgeschichtliche Gesamtschau des Kaiserreiches geändert, die ich Ende 2020 veröffentlicht habe. Darin habe ich die innere Zusammensetzung und die äußere Funktion des Bundesrates im politischen System des Reiches in allen Einzelheiten für die gesamte Zeitspanne zwischen der Reichsgründung und der Revolution untersucht.120