Navigationsinstrumente für gelingende Beratung - Uwe Michalak - E-Book

Navigationsinstrumente für gelingende Beratung E-Book

Uwe Michalak

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Beschreibung

Je stärker das Beratungshandeln auf eine Prozesskompetenz aufbaut, desto mehr tauchen Verunsicherungen auf. Was tun, um Kurs zu halten, wenn in Beratungen Ambivalenzen auftauchen? Uwe Michalak stellt in diesem Buch sieben nützliche Navigationsinstrumente vor, die sich mit Improvisation, Interventionen, Schlüsselwörtern, Hypothesen, Körpersignalen, Zeitdimensionen und Differenzverträglichkeit beschäftigen. Jedes dieser Instrumente vereint Gegensätze in sich und wird als Spannungsbogen vorgestellt. Mit diesen Reflexions- und Orientierungshilfen im Gepäck driften Sie in Beratungsprozessen souverän und gehen kompetent mit erwartbaren Kurswechseln um. Die Impulse lassen Sie Spannungsverhältnisse in Ihrer Praxis produktiv nutzen und eröffnen Ihnen und Ihren Klient:innen Möglichkeitsräume.

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Uwe Michalak

Navigationsinstrumente für gelingende Beratung

Sieben Impulse für die Praxis

Mit Illustrationen von Patrick Schoden

VANDENHOECK & RUPRECHT

Mit 7 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Patrick Schoden, http://www.patrickschoden.gallery

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99308-9

Inhalt

Über dieses Buch

1Über den Nutzen von Differenzen und Spannungsbögen

Unterschiedsbildungen sind Konstruktionsleistungen

Ein Blick auf die Verträglichkeit von Differenzen

2Beratungsjazz

Was macht Jazz aus?

Was macht Gespräche aus?

Die Anliegenentwicklung

Prozesskompetenz

Der Umgang mit dem Unerwarteten

Der Spannungsbogen

3Hypothesen (des-)orientieren

Einführende Überlegungen zum Thema »Hypothesen«

Beratung ohne Hypothesen

Beratung mit Hypothesen

Der Spannungsbogen

4Welche Bedeutung haben Interventionen?

Beratung mit beraterzentrierter Intervention

Beratung mit beratungssystemzentrierten Anregungen

Der Spannungsbogen

5Das Hier und Jetzt zwischen dem Gestern und Morgen

Der Blick zurück

Der Blick nach vorn

Das Hier und Jetzt

Der Spannungsbogen

6Körperreaktionen (über-)sehen

Einführende Überlegungen zum Thema »Körperreaktionen«

Körpersignale indirekt ansprechen

Körpersignale direkt ansprechen

Der Spannungsbogen

7Schlüsselwörter in der Beratung

Wörter, die wie ein Dietrich Schlösser öffnen

Schlüsselwörter wecken Erinnerungen

Schlüsselwörter sind einflussreich

Schlüsselwörter und Sprache

Schlüsselwörter im lösungsfokussierten Ansatz

Schlüsselwörter in der Idiolektik

Schlüsselwörter verändern sich

Nachklänge

Danksagung

Literatur

Über dieses Buch

Die konkrete Idee zu diesem Buch entstand im Mai 2022 auf einer Wanderung zur Sommerresidenz von Napoleon Bonaparte auf der Insel Elba. Beim Aufstieg nahmen die Gedanken schrittweise Gestalt an, dass das Denken in Differenzen eine Beratung vielfältig bereichert. Differenzen erzeugen Spannungen, die sich in Form von Spannungsbögen abbilden lassen. Der Blick auf Spannungsbögen begleitet mich schon eine längere Zeit (vgl. Lüschen-Heimer u. Michalak, 2019). Ausschlaggebend für die ausführlichere Beschäftigung mit dem Thema »Spannungsbögen« war die Lektüre der Zeitschrift Supervision (2021) zum Thema »Differenzverträglichkeit«.

Eine Denkweise, die Differenzen zulässt und sogar explizit beachtet, stellt Navigationshilfen bereit, um die Kooperation im Beratungsprozess zu fördern. Diese Hilfen sind stets als vorläufige zu verstehen. Denn sie orientieren sich konsequent an den Anliegen des Klient:innensystems. Die Erfahrung, dass sich Anliegen im Verlauf einer Beratung wandeln, erfordert ein Überprüfen der eingesetzten Navigationshilfe. Man könnte auch sagen, es geht um ein phasenweises Navigieren beim Driften (vgl. Simon u. Weber, 2012).

Navigationsinstrumente liefern eine Orientierung beim Segeln in den Gewässern sozialer Systeme. Sie helfen den Kurs zu bestimmen. Die Navigation in systemischen Beratungskontexten eignet sich optimal für die kurze Sicht, weil mit Blick auf eine Weitsicht Kursänderungen zu erwarten und gewünscht sind. Kurzfristig braucht es Richtungen, in die gemeinsam geschaut werden kann, um den augenblicklichen Anliegen nachzukommen. Die vorgestellten Navigationshilfen geben Hinweise dazu, was als nächster Schritt ansteht. Sie erlauben eine Wahl zwischen mehreren Perspektiven, die eine Beratung konstruktiv und fokussiert voranbringen.

Unterschiede aus einer Vogelperspektive zu betrachten, gestattet, thematische Spannungsbögen auszumachen. Ein Spannungsbogen entsteht, wenn jede Seite einer Unterscheidung gleich gewichtet und gegenübergestellt wird. Im Spannungsbogen zu einem Thema tauchen Erkenntnisse für das Beratungshandeln auf. In diesem Buch werden sieben Navigationsinstrumente vorgestellt, die jeweils auf einem eigenen Spannungsbogen basieren.

Jedes Kapitel ist so geschrieben, dass es für sich gelesen werden kann. Kurze inhaltliche Wiederholungen sind deshalb beabsichtigt. Sie können sich also von Ihrem Interesse leiten lassen!

Das erste Kapitel untersucht die Verträglichkeit von Differenzen für die Beratung. Dabei stellt es den Begriff der Differenz in den Mittelpunkt. Dieses Kapitel fungiert zugleich als Einführung und als Navigationsinstrument.

»Beratungsjazz« stellt ein Kunstwort dar. Es weist darauf hin, wie das Beratungshandeln von der Kunst des Improvisierens profitiert. Eine Beratung beschreibt einen Prozess der Kooperation, in dessen Verlauf Unerwartetes auftaucht. Das Unerwartete zeugt davon, dass die Beratung produktiv vorankommt; es dementsprechend zu beachten und aufzugreifen, fordert die beratende Person und fördert die Kooperation in der Beratung. Das zweite Kapitel widmet sich der Improvisation in der Beratung.

Welche Rolle Hypothesen in einer Beratung übernehmen, bedenkt das dritte Kapitel. Eine Hypothese kann wie ein Geländer in der Beratungskommunikation wirken. Sie kann aber auch den Blick auf andere Hypothesen verstellen. Und: Was spricht für eine Jonglage mit mehreren Hypothesen?

Die Rede von Interventionen ist in der Beratung allgegenwärtig. Interventionen beschreiben, wie der Berater handelt und möglicherweise was ihn bewegt, so zu handeln, wie er handelt. Dahinter steht die Frage, wer für die Veränderungen im Zuge der Beratung verantwortlich ist. Die Beratende, der oder die Klient:in oder die Kooperation zwischen den Beteiligten einer Beratung? Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit genau dieser Frage.

Ein ungewöhnliches Spannungsfeld bildet das Dreieck aus dem Hier und Jetzt, dem Dort und Damals sowie dem Dann und Demnächst. Welche Rolle die Zeitdimensionen in einer Beratung spielen, damit setzt sich das fünfte Kapitel auseinander. Entsprechend werden die Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihren Möglichkeiten beleuchtet.

Der Körper eines Menschen spricht unablässig. Wie können seine Signale in der Beratung genutzt werden? Wann erscheint es sinnvoll, sie aktiv und prompt anzusprechen? Was spricht dafür, sie lediglich wahrzunehmen? Diesen Fragen widmet sich das sechste Kapitel.

Die Frage, wie mit Schlüsselwörtern umgegangen werden kann, thematisiert das siebte Kapitel. Gefragt wird: Was bedeutet es, wenn Schlüsselwörter direkt zitiert werden? Und was geschieht, wenn sie sinngemäß, aber in den Worten der oder des Beratenden aufgegriffen werden?

Das Buch richtet sich an Praktiker:innen und zugleich an Berufsanfänger:innen, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, dass sie sich gern mit ihrem Beratungshandeln aktiv auseinandersetzen. Es regt an, verschiedene Perspektiven einzunehmen, um den Prozess einer Beratung kooperativ zu gestalten. Die Auswahl der sieben Navigationsinstrumente ist mit meinen Erfahrungen der vergangenen zwei Jahrzehnte verbunden, die von einer Beschäftigung mit verschiedenen Ansätzen geprägt sind. Dazu zählen der klientenzentrierte Ansatz nach Rogers, die kognitive Verhaltenstherapie, die lösungsorientierte Kurztherapie, das systemische Denken und Handeln, die Idiolektik, die Hypnotherapie, die Pesso-Therapie, die Themenzentrierte Interaktion und die Gruppendynamik. Die Erfahrungen und Reflexionen über die Denk- und Vorgehensweise der jeweiligen Ansätze waren aufschlussreich und sind direkt oder indirekt in die Kapitel eingeflossen.

Vier der Kapitel sind in der männlichen und drei in der weiblichen Schreibweise verfasst. Dieses Vorgehen dient der Lesbarkeit. Prinzipiell gilt, dass mit beiden Formen wertschätzend immer Menschen aller Geschlechter angesprochen werden.

Den interessierten Leser:innen wünsche ich anregende Gedanken und Sichtweisen. Ich freue mich, wenn die eine oder andere Überlegung zu einer Reflexion über die eigene Praxis einlädt. Vielleicht eröffnen sie den Raum dafür, Beratungsprozesse anders zu gestalten und bewusster das eingeschliffene Vorgehen liebevoll infrage zu stellen.

Die vorgestellten Instrumente wollen eine Navigation auf Sicht offerieren – stets dabei berücksichtigend, dass die Klient:innen als Expert:innen für ihr Leben, ihre Probleme, Anliegen und Ziele ihre Themen eigenverantwortlich modifizieren, spezifizieren bzw. neu konfigurieren.

Widmen möchte ich dieses Buch all denjenigen, die in den letzten Jahrzehnten das systemische Denken zu einer Größe gemacht haben. Ihre Überlegungen haben dazu beigetragen, neue theoretische wie praktische Perspektiven für die abwechslungsreiche Beratungslandschaft zu eröffnen und gleichzeitig einen lebendigen Heimathafen zu erzeugen.

1Über den Nutzen von Differenzen und Spannungsbögen

»Wenn es gelingt, mit theoretischen Konzepten eine neue Sicht auf die bekannte Praxis zu erzeugen, dann erzeugt diese Andersheit eine Differenz, eine produktive Spannung und damit eine Anleitung zum ganz praktischen, situationsangemessenen Handeln.« (Groth, 2017, S.16)

Einen interessanten Blick auf Differenzen ermöglicht das Schema der System-Umwelt-Differenz (Luhmann, 1984). Voneinander abgegrenzt werden darin System und Umwelt. Damit wird eine Differenz erzeugt. Diese Differenz wird als Einheit verstanden. Beide Aspekte gehören zueinander. Man könnte sagen, sie sind die zwei Seiten einer Medaille. Die Zweiseitigkeit stellt ein bedeutsames Kriterium dar. Das System gewinnt an Kontur durch das, was es nicht ist, nämlich die Umwelt – vergleichbar mit einem Fußabdruck im Schnee. Durch den Rand des Abdrucks wird erkennbar, was der Fußabdruck ist und welcher Schnee den Abdruck umgibt. Als Umwelt wird alles mit Ausnahme des Systems selbst betrachtet; jenseits des Systems ist alles Umwelt. Die Umwelt wird nicht als handlungsfähige Größe betrachtet. Die Handlungsfähigkeit schreibt das System sich selbst zu. In der Umwelt des Systems befinden sich zahlreiche andere Systeme, für die das System wiederum zu deren Umwelt zählt. Die Systeme können einander stören. Je nach Systemblick entstehen andere Umwelten mit jeweils anderen Systemen. Die Beobachtung der Welt mit dem Schema System-Umwelt-Differenz erfordert, kenntlich zu machen, von welchem System aus eine Beobachterin was als Umwelt etikettiert (vgl. hierzu Fuchs, 1993).

Gerade der Gedanke, eine Differenz wie die System-Umwelt-Differenz als Einheit zu betrachten, ist ein zentraler Beweggrund dafür, um sich die Gestaltung von Beratungsprozessen mithilfe von Spannungsbögen zu erschließen. Ein Spannungsbogen kennt für gewöhnlich zwei gegensätzliche Pole. Widersteht man der Tendenz, eine solche Spannung möglichst bald aufzulösen, führt die Idee, Spannungsbögen als Einheit zu verstehen, zu aufschlussreichen Ansatzpunkten für das Beratungshandeln.

Differenzen, Unterschiede und Unterscheidungen prägen den Alltag und das Leben eines Menschen. Sie sind beispielsweise mit neuen Wörtern, vielfältigen Sichtweisen, Kontroversen und/oder Konflikten verbunden. Bewusst wie unbewusst begleiten sie ständig die Beratungskommunikation.

Mal angenommen, eine Klientin verfolgt das Anliegen, nebenberuflich eine Selbstständigkeit aufzubauen. Ihre derzeitige Situation ist: Zu ihrer Familie gehören zwei Kleinkinder und ein berufstätiger Partner. Sie selbst ist im Gesundheitsbereich tätig, ihre Arbeit ist fordernd. Der Umzug in eine neue Großstadt liegt erst einige Wochen zurück. Eine zentrale Selbstaussage lautet: »Als ehemalige Leistungssportlerin weiß ich mit solchen Belastungen umzugehen.« Eine Beraterin, die diese Situation für überfordernd hält, könnte äußern: »An Ihrer Stelle wäre ich gestresst. Was sind Ihre Überlegungen, Erfahrungen und Überzeugungen, dass Sie die Selbstständigkeit trotz der beruflichen und familiären Situation meistern können und werden?«

In einem solchen Moment wird eine Differenz erzeugt, die ein Nachdenken anregen will, ohne dabei Lösungen vorzugeben oder kritische Urteile zu fällen.

Der bewusste Blick auf Differenzen und den Umgang damit stehen im Folgenden im Mittelpunkt; er bildet den roten Faden für Impulse im Hinblick auf eine gelingende Beratung. Dafür wird die Frage, wie kontroverse Standpunkte konstruktiv für die eigene Beratungspraxis genutzt werden können, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Im Wesentlichen geht es um die Reflexion, welche Differenzen auszumachen sind und wie sie für die Beraterin und ihre Handlungsoptionen genutzt werden können.

Spannungsbögen entstehen unter anderem, wenn Vorstellungen aus unterschiedlichen Beratungsschulen über ein sinnvolles Beraterinnenverhalten bzw. charakteristische Hinweise für eine Gesprächsgestaltung gegenübergestellt werden. Die sich daraus ergebenden Differenzen zeigen in der Regel einen Weg auf, das eigene Kompetenzprofil auszubauen. Sich mit Techniken aus verschiedenen Beratungsansätzen zu beschäftigen, erlaubt, über den Tellerrand eines Beratungsansatzes zu schauen und dabei auf interessante Konzepte zu stoßen. Die Beschäftigung zeigt Schritte auf, den persönlichen Beratungsstil zu verbessern, ihn neu auszuloten bzw. zu fundieren, um eine Entwicklung von einer konfessionellen (beratungsschulenspezifischen) zu einer professionellen Haltung anzustoßen (vgl. Grawe, Donati u. Bernauer, 1994).

Bei der Denk- und Vorgehensweise des klientenzentrierten Ansatzes nach Rogers (1991) wurde ein Konzept vermittelt, dass a) die Basisvariablen Akzeptanz, Empathie und Kongruenz als eine auf die Weltsicht der Klientin hin ausgerichtete Haltung darstellte und b) das Vorgehen der Beraterin stark auf das Verbalisieren und Paraphrasieren der Klientinnenäußerungen fokussierte. Das Stellen von Fragen wurde dabei als Reaktion ausgeschlossen. Wohl wurde eine fragende Modulation der Stimme beim Verbalisieren empfohlen. Auch wurden mit dem Satz »Ratschläge sind Schläge« Anregungen ausgeklammert. Werden solche Annahmen bzw. Erfahrungen zur Norm oder zum Verbotsschild erhoben, schränken sie die Profilierung der Beraterin ein. An dieser Stelle sei an Lilly Kemmler, eine Lehrstuhlinhaberin für klinische Psychologie, erinnert, die in ihren Vorlesungen hervorhob, dass erfahrene Beraterinnen aus unterschiedlichen Ansätzen sich in ihrem Vorgehen ähnelten, wohingegen Anfängerinnen sich stark voneinander unterschieden.

Unterschiede sind alltäglich. Dazu ein kleines und einfaches Beispiel: In einer Erziehungsberatungsstelle wollen sich bei Arbeitsbeginn zwei Mitarbeiterinnen zu einer Intervision verabreden und tauschen sich deshalb kurz darüber aus, welche Aufgaben für sie jeweils an diesem Arbeitstag anstehen, um eine Zeit für ein Treffen zu vereinbaren. Eine der Kolleginnen resümiert anhand ihres Kalenders laut: »Gleich habe ich zwei Einzelgespräche und einen längeren Diagnostiktermin. Im Nachmittagsbereich steht eine Familien- und eine Paarberatung an. Dazwischen habe ich Zeit für eine Intervision.« Die andere Kollegin schaut daraufhin in ihren Kalender und äußert: »Heute Nachmittag stehen für mich zwei Beratungen an, eine davon telefonisch. Bei mir passt eine Intervision gegen 15:30 Uhr.«

In dieser kurzen Szene werden mehrere Unterschiede benannt. Das ist zunächst die Unterscheidung von Tageszeiten und im nächsten Schritt die zwischen Aufgaben und Settings. Eine Person spricht allgemein von Beratungen und bezeichnet in diesem Zusammenhang eine davon als telefonische Beratung; unausgesprochen wird mitgedacht, dass die andere Beratung in Präsenz stattfindet – denkbar wäre ebenfalls ein Videogespräch. Die andere Person differenziert zwischen Einzelgesprächen, Paar- und Familienberatung und Diagnostik. Hiervon kann wiederum die Intervision abgegrenzt werden – verstanden als fachliches Gespräch unter Kolleginnen über einen Fall.

Das kleine Gedankenspiel zeigt auf, dass mit jedem Wort und seinem Kontext ständig Unterschiede erzeugt werden – auch darüber, worüber explizit und worüber nicht geredet wird. Je nach Beobachtungsstandpunkt sind die aufgelisteten Differenzierungen nicht oder nur teilweise relevant. Im Hinblick auf das gemeinsame Anliegen, einen Termin zu finden, spielen sie eine untergeordnete Rolle. Bezogen auf das fachliche Selbstverständnis der Beraterinnen könnten sie hingegen interessant sein.

Unterschiedsbildungen sind allgegenwärtig, aber nicht immer bewusst. Sie erlauben, Gegenstände voneinander abzugrenzen. Ein Alltagsbeispiel dazu: Wie lange wird ein Gegenstand als Tasse betrachtet, wann als Becher oder Pott und wann als Krug? Welche Feinheiten tragen dazu bei, den Gegenstand mit genau der Bezeichnung A und wann aber mit einer Bezeichnung B zu versehen? Im Kontakt mit Klientinnen und bei der Beschreibung ihrer Lebenssituationen laufen ähnliche Phänomene ab. Was führt dazu, dass eine Klientin als traurig, trauernd, melancholisch, resigniert oder depressiv beschrieben wird? Was geschieht in den Köpfen der Kolleginnen, die in einer Fallbesprechung hören, dass die Klientin depressiv erscheint? Fragen sie sich, ob es sich um eine Diagnose handelt und wer sie vorgenommen hat? Wollen sie wissen, welche Symptome des Störungsbildes »Depression« die Klientin zeigt? Sind sie geneigt zu fragen, ob die Klientin eine Neigung zu suizidalen Absichten zeigt? Oder interessiert sie, wer diese Beschreibung verfasst hat? Hat die fallzuständige Kollegin sie übernommen oder ist sie selbst zu dieser Einschätzung gekommen? Wie würde die Klientin sich selbst beschreiben? Wie würde ihre Umgebung über sie berichten?

Fallskizze. Eine Mutter, die in einer psychotherapeutischen Praxis für Kinder und Jugendliche tätig ist, stellt ihre 17-jährige Tochter in einer Beratungsstelle mit der Beschreibung vor, dass sie depressiv sei. Dass Jugendliche während ihrer Pubertät depressive Phasen erleben, ist nicht ungewöhnlich. Die Tochter als Klientin berichtet davon, dass sie wenig Kontakte zu Gleichaltrigen habe. Mit einer Mitschülerin stehe sie freundschaftlich in Kontakt, beide seien sie eher Außenseiterinnen im Klassenverband. Sie sei oft allein, da ihre Mutter berufstätig sei. Man könnte von einem sozialen Rückzug sprechen, der mit dem Label »depressiv« in Zusammenhang stehen kann. Kritisch zu beäugen ist, dass diese Beobachtung dazu führen kann, nach weiteren korrespondierenden Informationen zu suchen. Der Blick auf die Jugendliche verändert sich, wenn die Information in den Vordergrund gestellt wird, dass sich ihre Eltern vor Kurzem als Paar getrennt haben. Verbunden mit der Trennung war ein Umzug der Mutter in ihren Heimatort. Die Tochter wohnte zunächst weiterhin mit ihrem Vater zusammen. Da die Mutter sich an ihrem Heimatort einsam fühlte, bat sie ihre Tochter eindringlich, zu ihr zu ziehen, was diese schließlich im gegenseitigen Einvernehmen tat. Die Konsequenz war, dass sie ihre Jugendgruppe, in der sie sich wohlfühlte, und ihren Schuljahrgang, in dem sie mehrere gute Beziehungen unterhielt, dafür verließ, ohne auf etwas Adäquates am Wohnort ihrer Mutter zu treffen. Sie bedauerte, nicht mehr regelmäßig mit der Jugendgruppe in Kontakt zu sein, und war zugleich unglücklich über die mangelnde soziale Vernetzung am neuen Wohnort. Als deutliche Ressource zeigte sich, dass sie den Kontakt zu der Jugendgruppe aufrechterhielt. Bezeichnet man sie als trauernd um die zahlreichen Abschiede, verändert sich der Blick auf die Jugendliche und ihre Bedarfe und sicherlich auch auf die diagnostische Hypothese.

Mithilfe von Unterscheidungen erschließen sich Menschen ihre verschiedenen Erfahrungswelten. Die Unterschiede bieten Orientierung. Der dreidimensionale Raum beispielsweise erschließt sich über die Unterscheidungen zwischen vorn versus hinten, links versus rechts und oben versus unten. Diese Bezeichnungen bilden ein Koordinatensystem, das Bewegungen im Raum erfahr- und beschreibbar macht. Bestimmbar sind sie durch Größen wie Länge, Höhe und Tiefe. Dasselbe gilt für das Erleben von Zeit. Mit den Worten »jetzt«, »zukünftig« und »damals« werden Zeitdimensionen markiert. Uhren und Zeitzonen helfen, Sekunden, Minuten, Stunden sowie Tage zu bestimmen. Im sozialen Miteinander wird von Kontakten, Begegnungen, Beziehungen und Partnerschaften gesprochen. Differenzierungen werden über Kategorien wie nah und fern, oben und unten, drinnen und draußen oder fest und locker hergestellt.

Unterscheidungen zeigen sich zudem in Vergleichen. Das wird deutlich in einem Blickwechsel: Im Vergleich mit der Welt der Elementarteilchen erscheinen Menschen riesig, im Vergleich mit dem Universum winzig. Solche Vergleiche erzeugen eindrückliche Bilder, die erlauben, Relativierungen vorzunehmen. Auf der Erde erleben wir Raum und Zeit als stabile Größen. Das ändert sich, wenn Weltraumreisen stattfinden. Raum und Zeit wandeln sich zu relativen Größen, wenn sich ein Raumschiff mit großer Geschwindigkeit durch den Weltraum bewegt. Entfernungen, die von der Erde aus betrachtet als gigantisch empfunden werden, sind für eine sich schnell bewegende Weltraumreisende weniger riesig. Das gilt zudem für die Zeit. Wäre es möglich, einen Moment auf die Uhr desselben Raumschiffs zu blicken, fiele auf, dass sich die Zeiger der Uhr im Raumschiff langsamer bewegen als auf meiner Armbanduhr. Beide Phänomene werden als Längenkontraktion und Zeitdilatation bezeichnet. Der Grund hierfür ist, dass die Lichtgeschwindigkeit eine immer konstante Größe ist (vgl. hierzu Galfard, 2022). »Wir können uns nicht auf unsere Intuition verlassen, wenn wir Raum, Zeit, Entfernungen und Zeitintervalle beschreiben wollen. Was für die einen die Länge von einem Meter hat oder eine Sekunde dauert, muss für die anderen nicht dasselbe sein, und auch die Wahrnehmung einer Abfolge von Ereignissen kann sich unterscheiden« (Galfard, 2022, S. 59). Das Wissen um die Relativität inspiriert dazu, Standpunkte in Relation zu setzen und Wissen miteinander zu vernetzen (S. 59).

Der Gedanke der Relativität kann ebenfalls auf Spannungsbögen übertragen werden. Betrachtet werden können ab diesem Moment zwei ungleiche Standpunkte und ein Spannungsverhältnis. An einer der Positionen der Differenz innerhalb des Spannungsbogens zu stehen, erzeugt ein anderes Wissen, andere Bilder, die sich von denen unterscheiden, die entstehen, wenn jemand in der Spannung steht oder wenn jemand auf dem Spannungsbogen surft. Drei Konzepte aus dem systemischen Denken laden zum Surfen auf den Spannungsbögen ein. Das ist zunächst Maturanas und Varelas (1984) Hinweis: »Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.« Dann geht es um die Aussage »Eine Information macht einen Unterschied, der einen Unterschied macht« – sie geht auf Gregory Bateson (1985) zurück – und schließlich um das Schema der System-Umwelt-Differenz, das zur Systemtheorie nach Niklas Luhmann (1997) gehört.

Unterschiedsbildungen sind Konstruktionsleistungen

Im Hinblick auf Differenzen ist maßgeblich, wer was von welchem Ort aus wie beobachtet. Zur Erinnerung: Eine Beobachtung wird gefasst als ein Vorgang, in dem eine Unterscheidung und Bezeichnung vorgenommen werden. Im Hinblick auf eine Beobachtung kann im nächsten Schritt die Beobachterin von der Beobachteten und von der Beobachtung unterschieden werden. Dazu ein Beispiel:

Mal angenommen, eine Patchworkfamilie hat ein Beratungsanliegen. Gekommen sind zwei Erwachsene und zwei von drei Kindern. Der Sohn des Mannes hält sich gerade bei der Kindesmutter auf. Er kommt zweiwöchentlich zu Besuch. Das ältere Mädchen, das mit zur Beratung gekommen ist, stammt aus einer früheren Beziehung der Frau. Das jüngere, anwesende Kind ist ein gemeinsames Kind des Paares. Je nachdem, wer gefragt wird, entstehen andere Beobachtungen und Beschreibungen der familiären Wirklichkeit. Wird der Mann gefragt, wer heute mit zur Beratung gekommen ist, dann könnte seine Antwort lauten: »Mein Sohn aus meiner ersten Beziehung fehlt heute leider, er lebt zurzeit bei seiner Mutter. Meine neue Partnerin ist mit ihrer Tochter hier. Und Lea ist die Jüngste hier im Raum, sie ist unsere gemeinsame Tochter.« Wird das jüngste Kind interviewt, könnte es auf die Frage, wer heute mit in die Beratung gekommen ist, antworten: »Mama, Papa und meine Schwester sind heute hier, mein Bruder ist bei seiner Mama.« Das ältere Mädchen könnte sagen: »Meine Mama, ihr Partner und meine Halbschwester sind heute hier, mein Stiefbruder fehlt, er ist gerade bei seiner Mama.« Die Frau könnte auf die Frage hin äußern, dass ihre beiden Töchter heute dabei sind, ihr Stiefsohn fehle, und ihr Mann sei auch mitgekommen.

Jede Beschreibung weckt andere Bilder bei der Zuhörerin. Und sie deuten an, wie unterschiedlich sich eine Familie je nach Beobachtungsperspektive verstehen kann. Manchmal braucht es eine Außenstehende, eine Beraterin, die hilft, andere Unterscheidungen vorzunehmen, so- dass neue Sichtweisen und Möglichkeiten entstehen. Wenn Unterscheidungen getroffen und diese bezeichnet werden, werden Informationen mit bedeutsamen Unterschieden geschaffen. Mal angenommen, auf einem quadratischen weißen Blatt Papier wird ein Strich gezogen. Ab diesem Zeitpunkt wird die weiße Fläche in zwei Bereiche unterteilt. Es wird ein Unterschied zwischen der linken und rechten Seite oder zwischen einem Oben und Unten erzeugt. Wird nun in einem der Bereiche ein Kreis gemalt, wird der Unterschied verstärkt – beschreibbar als Bereich mit und ohne Kreis. Wird eine Unterscheidung eingefügt, dann werden mit der Unterscheidung andere Unterschiede abgeschattet. Ein Kind wird als passiv-aggressiv beschrieben, indem es sich weigert zu sprechen. Ausgeschlossen wird damit, das Kind als ruhig oder als unaufgeregt oder als unsicher zu beschreiben. Jeder Unterschied, der hergestellt wird, führt zu anderen Anschlüssen in der Kommunikation über das Thema und mit dem Kind.

Nicht jeder Unterschied, der formuliert wird, wird als ein relevanter Unterschied erlebt. Was relevante Unterschiede sind, lässt sich über die Unterschiedsfragen der Beraterin herauskristallisieren. Klientinnen zu anderen Sichtweisen oder Handlungen einzuladen, gelingt über für sie bedeutsame Unterschiede, die sie erkennen.

Ein Mann und eine Frau, die als Paar zusammenleben, klagen darüber, dass sie beim abendlichen Gespräch im Wohnzimmer beide den Eindruck hätten, sie würden sich nicht verstehen. Auf die Frage der Beraterin, was passieren müsste, damit sie erleben könnten, sie würden sich besser verstehen, antwortet die Frau, dass ihr Mann sie anschauen würde, wenn er mit ihr im Gespräch sei. Während er über seinen Tag und seine Erlebnisse spreche, liege er für gewöhnlich auf dem Sofa, verschränke seine Arme hinter dem Kopf und schaue zur Decke. Bei ihr entstehe der Eindruck, dass er einen Monolog führe, bei dem sie nur zuhören solle, und er seinerseits kein Interesse an ihr zeige. Der relevante Unterschied beim gemeinsamen Gespräch ist ein kontinuierlicher Augenkontakt, über den die Frau Interesse und Wertschätzung erlebt. Dem Mann war die Wirkung seines Verhaltens nicht bewusst.

Ein anschauliches Instrument, Unterschiede herzustellen und zugleich sichtbar und erfahrbar zu machen, sind Skalen, die auf dem Boden des Raums etabliert werden – abgekürzt Skalenfrage im Raum. Dafür gilt es zunächst das Anliegen der Klientin zu erfragen. Mal angenommen, die Klientin äußert als Anliegen, dass sie zufriedener mit ihrer Arbeitsweise beim Erstellen von Tischvorlagen sein möchte. Mit diesem Wissen ist es möglich, eine Skala auf dem Boden des Raumes zu markieren. Es wird ein Punkt festgelegt, der die 10 darstellt. Die 10 beschreibt eine optimale Zufriedenheit mit ihrer Arbeitsweise im Hinblick auf Tischvorlagen. Gegenüberliegend – auf einer Linie gedacht – wird die 1 auf dem Boden als Punkt bestimmt. Die 1 steht für den Zeitpunkt der Entstehung des Wunsches, zufriedener zu sein.

Ist die Skala als imaginäre Linie zwischen Karteikarten, die für die 1 und die 10 stehen, markiert, wird die Klientin im nächsten Schritt gebeten, sich auf der Skala zu positionieren, wo sie sich gerade im Hinblick auf ihre Zufriedenheit befindet. Vorstellbar ist nun, dass die Klientin sich auf einen Punkt stellt, den sie als 3 definiert. Hier wird ein erster bedeutsamer Unterschied erzeugt, den die Klientin definiert. Dieser Punkt wird mit einer Karteikarte auf dem Boden angezeigt. Mit Blick auf die 1 – die 10 liegt im Rücken der Klientin – kann die Beraterin jetzt erkunden, was die Klientin bereits alles unternimmt, dass sie bei der 3 stehen kann. Dieses Interview bietet die Möglichkeit, Ressourcen der Klientin herauszufinden. Die genannten Ressourcen werden dann auf Karteikarten notiert und auf die Wegstrecke zwischen der 1 und der 3 gelegt. Lohnenswert ist es, sich für diese Form der Ressourcenaktivierung Zeit zu nehmen. Wenn die Klientin mitteilt, dass ihr keine weiteren Ressourcen bewusst werden, steht der Schritt an, einen relevanten Unterschied in Richtung auf die 10 zu visualisieren. Die Beraterin könnte einleitend fragen: »Was ist für Sie ein nächster kleiner Schritt in Richtung auf Ihr Anliegen? Könnte es eine 4 oder ein Wert zwischen 3 und 4 sein?« Wählt die Klientin von sich aus die 3,8 als relevanten nächsten kleinen Schritt, dann bittet die Beraterin sie, diesen Punkt auf der Skala mit einer weiteren Karte festzulegen. Beide begeben sich dann auf die 3,8. Da es nicht um die Wegstrecke von 3 nach 3,8 geht – dann nämlich würden die Schritte dahin in den Fokus gestellt –, kann es sinnvoll sein, einen übertrieben großen Schritt auf