Nebel über Oxford - Veronica Stallwood - E-Book

Nebel über Oxford E-Book

Veronica Stallwood

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Beschreibung

Wer hat es bloß auf uns abgesehen? Der Medizinstudent Sam ist verzweifelt. Irgendjemand terrorisiert ihn und die anderen Mitglieder seiner Forschungsgruppe mit Drohbriefen, Brandsätzen und Briefbomben. Stecken Tierschützer hinter den feigen Attacken? Die Polizei tappt im Dunkeln. Bald gibt es den ersten Toten - und Sam weiß, dass ihm nur eine Wahl bleibt, um dem Spuk ein Ende zu setzen: seine Freundin Kate Ivory um Hilfe bitten.

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Seitenzahl: 423

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Veronica Stallwood

Nebel überOxford

Ein Kate-Ivory-Krimi

Aus dem Englischen von Ulrike Werner-Richter

Lübbe Digital

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes

Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2008 by Veronica Stallwood

Titel der englischen Originalausgabe: »Oxford Menace«

Originalverlag: Headline Book Publishing, A division of Hodder Headline

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln

Textredaktion: Anke Pregler

Titelillustration: © David Hopkins/Phosphor Art

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-0487-6

Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.deBitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Für Michèle Nayman

Meinen herzlichen Dank an Doris Taylor für die Hintergrundinformationen und an Keith Blount für die tolle Software.

Kapitel 1

Kate Ivory schloss die Haustür und ging in den wundervollen Frühherbstmorgen hinaus. Der Himmel wölbte sich dunkelblau über der Stadt, die warme Luft war nicht mehr so schwül wie im August. Kate erfreute sich an den Terracottatöpfen des Nachbarn, in denen die letzten dunkelroten Geranien ihre Pracht entfalteten. Sie blickte in den blauen Himmel hinauf. Ja, der vom Wetterbericht angekündigte Wetterwechsel würde sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen.

In das ferne, vertraute Rauschen des Verkehrs mischte sich ein seltsames Murmeln.

Die Blumentöpfe vor Kates Haustür enthielten nur welke Blätter und schwarze Stängel, aus denen man nicht mehr auf die ursprüngliche Pflanze schließen konnte. Weil sie inzwischen auch eine andere Grünpflanze in ihrem Arbeitszimmer zu Tode gepflegt hatte, war sie nun auf dem Weg in die Stadt, um eine Grünlilie zu erwerben, eine Pflanze, die – hoffentlich – widerstandsfähig genug war, Kates Pflege und Aufmerksamkeit zu überleben. Beim Anblick der nachbarlichen Geranien nahm sie sich vor, außerdem noch ein paar Blumenzwiebeln zu kaufen. Wie wäre es mit buschig blühenden, rosa und grünen Zwergtulpen, weißen Narzissen und vielleicht ein wenig schlankem Zierlauch?

Kate ging die Straße entlang, überquerte die Walton Street und bog in die Little Clarendon Street ab, wo die Schaufenster der Boutiquen ihren raschen Schritt in Richtung der St. Giles Street ein wenig bremsten.

Während sie noch darüber nachdachte, ob ein eng geschnittenes Shirt mit halsfernem Rollkragen zu ihrem neuen, anthrazitfarbenen Blazer passen könnte, fiel ihr auf, dass das undeutliche Murmeln stärker geworden war. Es kam aus Richtung der St. Giles und bestand jetzt aus verschiedenen, einzeln erkennbaren Geräuschen: dem Schlurfen von vielen Hundert Füßen, skandierenden Stimmen und Gesängen. Am Ende der Little Clarendon Street stand eine vierschrötige Gestalt in einer leuchtend gelben Jacke mitten auf der Fahrbahn und wandte Kate den Rücken zu.

Aha, wieder einmal ein Demonstrationszug, der sich durch Oxford schlängelte.

Noch konnte Kate die Demonstranten nicht sehen, doch ihre Stimmen wurden lauter. Kate ging auf den teilnahmslos wartenden Polizisten zu.

»Was ist da los?«, erkundigte sie sich.

»Die St. Giles ist wegen der Demo gesperrt«, entgegnete er, ohne die Augen von der Straße zu wenden.

Von der Straßenecke aus spähte Kate die St. Giles hinunter in Richtung Innenstadt und Cornmarket. Die Platanen rechts von ihr streckten ihre Zweige mit den herbstgelben, langsam braun werdenden Blättern in den klaren, blauen Himmel. Eine schier unübersehbare Menge von Demonstranten näherte sich langsam. Die Leute hielten Spruchbänder und Plakate hoch. Kate konnte das Ende des Zuges, der die gesamte Straße einnahm, nicht erkennen.

»Ich muss zum Cornmarket«, erklärte sie dem Polizisten. Sie wollte sich dort nach Blumenzwiebeln umsehen und eine Kleinigkeit zum Mittagessen im Feinkostgeschäft kaufen, ehe sie sich um die Grünpflanze kümmerte.

»Zum Cornmarket? Da gehen Sie am besten hintenherum«, antwortete der Polizist.

»Na, so viele Demonstranten werden es ja wohl nicht sein, oder?«

»Ein paar Hundert sicher. Sie werden sich am Universitätsgelände versammeln, wo eine Kundgebung vorgesehen ist.« Er drehte sich kurz um und blickte sie an. »Wir fürchten, dass es Krawalle geben könnte; die Gruppierung hier zählt nicht gerade zu den friedlichsten. Gehen Sie lieber wieder nach Hause.«

Kate gefiel es absolut nicht, für ein Weichei gehalten zu werden. Was konnte ihr ein bisschen Krawall schon schaden? Sie blieb, wo sie war.

Die Spitze des Demonstrationszuges näherte sich. Kate hörte, wie der Anführer rief:

»Was wollen wir?«

»Stoppt die Folter!«, grölte der Pulk, der ihm folgte.

Die Stimme des Anführers überschlug sich fast. Die Demonstranten hinter ihm schwenkten ihre Spruchbänder und skandierten immer wieder die gleichen Worte, bis sie von den Gebäuden rechts und links der Straße widerhallten.

»Stoppt die Folter!«

Sofort dachte Kate an die Gefangenenlager in Guantanamo Bay. Ging es vielleicht um menschenunwürdige Verhörmethoden? Doch dann las sie die Worte auf den Spruchbändern. »Tierversuche – Nein danke!«

Kate ertappte sich bei dem Gedanken, dass die Demonstranten möglicherweise gut daran täten, ihre Prioritäten noch einmal zu überdenken.

An der Kirche St. Giles bog der Zug nach rechts in die Banbury Road ab. Kate konnte sehen, dass auf allen Plakaten in etwa die gleiche Botschaft zu lesen war. Die Menge sammelte sich vor den Universitätsgebäuden.

Kate drehte um und ging in Richtung Walton Street. Nach Hause wollte sie nicht zurückkehren, sondern versuchen, über Nebenstraßen die High Street zu erreichen und sich von dort zum Cornmarket durchzuschlagen. Als sie an der Boutique mit dem hübschen Rollkragenshirt vorüberkam, hörte sie von Ferne noch immer das Stampfen Hunderter Füße und raue, skandierende Gesänge.

Kapitel 2

An schönen, warmen Sommersonnentagen pflegten sich die jüngeren Mitglieder der Forschungsgruppe von Blake Parker auf dem Flachdach des Laborgebäudes zu treffen und gemeinsam Mittagspause zu machen. Jetzt war es September geworden, und sie genossen die vielleicht letzte Möglichkeit, sich in der Sonne zu aalen.

Auf dem Flachdach stand ein kleiner Bretterverschlag mit einem fleckigen Holztisch, einem halben Dutzend Klappstühlen und einem verblichenen Schild, auf dem »Kantine« stand, obwohl diese seit gut zwanzig Jahren nicht mehr in Betrieb war. Hartgesottene Mitglieder des Grüppchens suchten sogar an kühlen Regentagen die Hütte auf, um dort ihren Kaffee zu trinken und ihre Brote zu essen, doch an diesem Tag bestand keine Notwendigkeit, Schutz vor der Witterung zu suchen.

Die drei jüngsten der Gruppe, Sam, Kerri und Conor, hatten ihre Stühle in die pralle Sonne gezogen und genossen ihre Sandwichs. Ein wenig später gesellten sich auch Greg und Lucy zu ihnen.

In aller Regel achtete Sam nicht darauf, wie seine Kolleginnen gekleidet waren. Ihm fiel lediglich auf, dass Kerri in ihren Hüftjeans und einem kurzen, weißen T-Shirt, das einen hübschen Kontrast zu ihrer sonnengebräunten Haut bildete, ausgesprochen gut aussah. Die knallige Farbenpracht von Lucys Outfit stach jedoch selbst dem Unaufmerksamsten ins Auge.

»Hat einer von euch Candra gesehen?«, unterbrach Lucy Sams Tagträumerei.

»Ist sie nicht mit uns nach oben gekommen?«, fragte Sam und ertappte sich bei dem Gedanken, dass Lucys Klamotten nicht nur bunt, sondern geradezu schreiend waren. Sie trug ein Oberteil in Enzianblau, das die Sommersprossen auf ihrer blassen Haut unvorteilhaft betonte und ihre hellgrünen Augen wie Stachelbeeren wirken ließ. Mit ihrem blassroten Haar sollte sie sich wirklich mehr Gedanken um die Farben ihrer Kleidung machen, dachte Sam, und den schwarzroten Rock am besten gleich wegwerfen. Kerri hingegen konnte tragen, was sie wollte – sie sah immer umwerfend aus.

»Also, ich bin zwar kein Kontrollfreak, was euch angeht«, sagte Greg und legte eine kurze Pause ein, als erwarte er, dass die anderen das als Witz empfanden, »aber ich glaube, ich habe sie vor ungefähr zehn Minuten mit ihrem Lunchpaket und einer Flasche Wasser in Richtung des Universitätsparks gehen sehen.« Er nahm seine neue Brille ab und polierte sie mit einem kleinen Tuch. Sam dachte, dass Greg sich besser nicht für das schmale, schwarze Gestell hätte entscheiden sollen, denn es rückte seine ohnehin schon eng stehenden Augen noch näher zusammen. Die Brille mochte cool aussehen, aber sie stand ihm nicht.

»Dumm, dass sie das Wasser mitgenommen hat«, meinte Lucy. »Sie hätte mir etwas abgeben können.«

»Du willst doch nicht etwa behaupten, dass du zu faul bist, ein paar Stockwerke tiefer zum Wasserspender zu gehen?«, stichelte Greg.

Lucy überhörte den Seitenhieb. »Bestimmt lechzt sie den Typen vom Ruderachter hinterher.«

»Glaubst du wirklich, dass sich eine Frau, die nichts als Statistiken im Kopf hat, für Kerle in Lycra-Anzügen begeistert?«

»Ganz zu schweigen von muskulösen, schweißglänzenden Körpern.« Lucy nickte weise.

»Ich glaube nicht, dass sie wüsste, was sie mit einem muskulösen Männerkörper anfangen sollte – selbst wenn man sie mit der Nase darauf stieße.« Greg grinste.

»Es sei denn, es handelt sich um Blakes Körper«, gab Lucy zu bedenken.

»Ich dachte, du hättest ihr längst klargemacht, dass sie in deinen Jagdgründen wildert«, meinte Conor.

»Candra sitzt gern gemütlich auf einer Bank und füttert Enten«, erklärte Sam, dem es nicht gefiel, wie die anderen hinter ihrem Rücken über die Kollegin tratschten.

Bei der Vorstellung an derart kindische Vergnügen verzog Conor das schmale Gesicht zu einem durchtriebenen Feixen. »Blake ist übrigens auch noch nicht aufgetaucht«, bemerkte er listig, ohne Lucy aus den Augen zu lassen. »Ob er etwa mit Candra zu den Enten gegangen ist?«

»Blake? Der sitzt bestimmt in irgendeinem holzgetäfelten Saal herum, knabbert Fasanenschenkel und unterhält sich mit den anderen Professoren über Philosophie«, entgegnete Lucy betont locker, obwohl Sam erkennen konnte, dass Conors Bemerkung sie getroffen hatte.

»Professoren unterhalten sich nie über Philosophie«, widersprach Greg. »Bei denen geht es immer nur um Gelder für Forschungsprojekte und wie man am besten daran kommt. Ich glaube, das ist für diese Leute das Wichtigste in ihrem Leben. Ohne Geld keine Forschung.«

»Na ja, so krass kann man das sicher nicht sehen«, protestierte Lucy.

»Krass ist genau das richtige Wort für das, was hier abläuft«, stellte Conor fest.

»Halt den Mund, Conor«, mischte sich Sam freundlich ein. »Ich bin sicher, dass die Arbeit hier auch dann weiterginge, wenn die Pharmaindustrie uns die Zuwendungen kappen würde. Immerhin stehen wir ziemlich im Fokus der Öffentlichkeit.«

»Darauf würde ich mich nicht unbedingt verlassen«, sagte Greg. »Vielleicht gibt es keine finanzielle Alternative.«

»Hat einer von euch vielleicht einen Schluck Wasser für mich?«, fragte Lucy hoffnungsvoll.

»Negativ. Warum trinkst du nicht deinen Saft?«

»Weil ich zum Essen lieber Wasser trinke. Den Saft hebe ich mir als Nachtisch auf.«

»Die spinnt doch«, murmelte Conor. Er hatte eine Zigarettenschachtel aus der Tasche gezogen und drehte und wendete sie, weil er nicht glauben mochte, dass sie schon wieder leer war.

»Ach übrigens, Lucy«, begann Greg von Neuem, »du weißt hoffentlich, dass Blake in festen Händen ist. Er lebt mit einer Frau zusammen.«

»Ach wirklich? Und wieso bekommen wir die Dame dann nie zu Gesicht?«

»Vielleicht will er sein Privatleben nicht an die große Glocke hängen.«

Die Unterhaltung schleppte sich weiter. Sam dachte darüber nach, dass schon seit vielen Jahren Menschen auf dieses Dach hinaufstiegen, um in der schäbigen Hütte ihr Mittagessen zu verzehren, und dass er dadurch, dass er es ihnen gleichtat, eine lange Tradition fortsetzte. Er sprach den Gedanken allerdings nicht aus, weil er – übrigens sehr richtig – vermutete, dass die anderen seinen Respekt vor Traditionen nicht teilten.

»Was ist denn das?«, fragte Greg schläfrig und rieb einen Apfel an seinem Sweatshirt ab.

»Linsensalat«, sagte Lucy.

»Nein! Ich meine den Lärm da unten. Hört ihr das auch?«

Die anderen schwiegen und lauschten. Es hörte sich an wie ein ferner, Hochwasser führender Fluss.

»Irgendwelche Leute, die herumschreien«, stellte Kerri nervös fest.

»Scheint wieder mal eine Demo zu sein«, sagte Greg, der länger als die anderen im Labor arbeitete und an derartige Unterbrechungen gewöhnt war.

»Meinst du etwa, die schreien unseretwegen?«, fragte Kerri.

»Keine Sorge, Kerri. Demos sind hier an der Tagesordnung«, versuchte Lucy sie zu beruhigen und öffnete ihre Dose mit Cranberry-Saft. »Die meinen uns nicht persönlich.«

»Hört sich an, als wäre es ihnen bitterernst«, meinte Greg. »Aber ich glaube, hier oben können sie uns nichts anhaben«, fügte er an Kerri gewandt hastig hinzu.

Als der Lärm näher kam und lauter wurde, standen alle auf und spähten über die niedrige Brüstung nach unten.

»Ich habe Höhenangst«, sagte Kerri so leise, dass nur Sam sie hören konnte.

»Halt dich an mir fest. Ich lasse dich ganz bestimmt nicht fallen«, antwortete er fröhlich und legte einen Arm um ihre Schulter.

Conor lehnte sich weit über die Brüstung hinaus und drehte den Kopf in Richtung des Lärms. Schwindelgefühle schien er nicht zu kennen.

Als die Demonstranten um die Ecke bogen und sich den hohen, aus Glas und Beton bestehenden Universitätsgebäuden näherten, wurden die Geräusche lauter. Die auf dem Dach versammelte Gruppe konnte sogar einige Parolen deutlich verstehen.

»Was wollen sie dieses Mal?«, fragte Lucy gelangweilt.

»Das Übliche«, sagte Greg. »Tod den Wissenschaftlern und solches Zeug.« Seine Worte klangen flapsig, doch Sam konnte sehen, dass ihm die emporbrandende Aggression ebenso wenig gefiel wie Kerri oder Lucy.

Kerri zitterte ein wenig. Sam nahm sie fester in den Arm.

»Greg hat recht«, flüsterte er ihr zu, »hier oben sind wir sicher.«

»Mag sein«, mischte sich Greg, der Sams tröstende Worte gehört hatte, mit verbitterter Stimme ein. »Immerhin versuchen sie unsere Arbeit zu stören. Die Investoren sind davon sicherlich nicht gerade erbaut.« Unten auf der Straße wehte kein Windhauch. Die Demonstranten trugen T-Shirts und hatten ihre Jacken aufgeknöpft. Oben auf dem Dach blies eine leichte Brise Gregs lange, blonde Strähnen über seine Augen und behinderte so seine Sicht.

»Du denkst wirklich immer nur an Geld«, murrte Conor. »Was gehen uns die verdammten Investoren an?«

»Sie zahlen unser verdammtes Gehalt«, fuhr Greg ihn an.

»Nun übertreib mal nicht«, wandte Lucy ein. »Wir sind ein Teil der Universität und damit unabhängig.«

Greg lachte laut auf. Die Sonne spiegelte sich in seinen schmalen Brillengläsern. »Wer’s glaubt!«, höhnte er.

»Willst du etwa behaupten, dass Blake uns verkauft hat?«, forschte Conor nach. »Glaubst du, wir sind nur ein Rädchen im Getriebe einer kapitalistischen Verschwörung?«

»Stoppt die Folter!« Irgendeine akustische Besonderheit führte dazu, dass die Worte plötzlich so deutlich zu hören waren, als stünde der Rufer unmittelbar neben ihnen.

Es war der Anführer des Zuges, ein schlanker Mann mit hagerem Gesicht. Sam erkannte, dass er den Kopf hob, als wende er sich unmittelbar an das Grüppchen auf dem Dach, obwohl Sam nicht ganz sicher war, ob der Demonstrant sie überhaupt sehen konnte. Rechts und links des eher schmalen Anführers standen zwei Männer, deren Gesichter unter Wollmasken verborgen waren und die wie Preisboxer gebaut waren. Der Wortführer drehte sich zu einem seiner Begleiter um und sagte etwas, ehe er erneut schrie: »Was wollen wir?«

»Stoppt die Folter!«, johlte die Menge.

Zumindest sorgt der Lärm dafür, das Gerede von Conor und Greg zu beenden, dachte Sam.

»Mein Gott, wie langweilig«, nölte Lucy. »Das kennen wir doch alles schon!« Und sie trank den Rest ihres Saftes, als wolle sie beweisen, wie wenig sie sich aus alledem machte.

»Vielleicht sollten wir zusehen, dass wir allmählich von diesem Dach runterkommen«, schlug Conor vor. Er fühlte sich sichtlich unwohl. »Dieser Pöbel gefällt mir nicht.«

»Ach was«, wandte Sam ein. »Wir sind hier sicher. Und außerdem ist das da unten kein Pöbel, sondern eine Menschenmenge. Vielleicht hat der Typ etwas Neues zu sagen. Seht mal!«

Der Anführer hatte jetzt ein Megafon in der Hand und hob es an die Lippen.

»Jetzt hören wir ihn jedenfalls besser«, meinte Sam.

»Na toll! Willst du dir diesen Mist tatsächlich anhören? Oder sympathisierst du sogar mit den Kerlen?«, schimpfte Greg.

»Mörder!«, kam von unten eine verstärkte, blechern klingende Stimme. Kerri fuhr zusammen.

»Und so etwas unterstützt du?«, fragte Greg mit wütendem Gesicht. Sam stellte fest, dass Greg gern den kleinen Tyrannen gab, wenn er glaubte, dass er damit durchkam. Seine Sympathie für den Kollegen schrumpfte deutlich.

»Warum sollte Sam nicht auf Seiten der Tiere stehen?«, mischte sich nun auch Lucy ein. Ihr gefiel, dass Sam sich nicht unterkriegen ließ. »Wir alle lieben doch Tiere, oder etwa nicht?«

»Klar doch«, trumpfte Sam auf. Greg runzelte die Stirn. »Wir haben alle Biologie und Umwelttechnik studiert, weil wir uns für die Natur und ihre Abläufe interessieren. Es ist völlig logisch, dass uns die Tierwelt am Herzen liegt. Außerdem würde ich gern die Argumente des Typen da unten hören, ehe ich ihn in Grund und Boden verdamme.«

»Genau«, pflichtete Kerri ihm bei. Sie wurde ein wenig mutiger. »In gewisser Weise haben sie sicher auch recht. Denk doch nur mal an die Art und Weise, wie man auf manchen Bauernhöfen mit den Tieren umgeht.«

»Was hat denn das damit zu tun?«, knurrte Greg. »Schließlich werden wir hier nicht von machtbesessenen Veganern bedroht.« Er verlor sichtlich die Geduld. »Und wenn ihr beiden noch so viel Wert auf einen vernünftigen Dialog legt – die Spinner da unten warten sicher nicht darauf, mit euch zu reden oder eure Abschlusszeugnisse zu sehen. Und sie werden euch auch nicht glauben, wie innig ihr die Ratten da unten im Keller in ihren Käfigen liebt.«

Kerri verzog das Gesicht wie ein weinerliches Kind. »Jetzt hack doch nicht immer auf ihr herum«, schimpfte Sam, doch seine Stimme ging in den durch das Megafon verstärkten Stimmen unter.

Der Anführer unten hatte ihnen jetzt den Rücken zugewandt. Bis seine Worte von den Wänden der umliegenden Institute zurückgeworfen wurden, konnte man sie nicht mehr verstehen. Man erkannte nur noch die Wut, die in ihnen lag. Selbst Sam gab es auf, den Sinn herauszuhören.

»Tötet sie!«, schrie eine einzelne Stimme, die sich erschreckend scharf von dem allgemeinen Lärm abhob. Ein Spruchband mit einer nachlässig hingekritzelten Botschaft wurde vor den Fenstern des Labors geschwenkt. Conor lehnte sich wieder über die Brüstung und las laut vor: »In Erinnerung an Henry: gefoltert, geblendet, getötet.«

»Wer zum Teufel ist Henry?«, fragte Greg. Sein kanadischer Akzent klang deutlicher durch als sonst.

»Ein Makakenäffchen«, antwortete Lucy. »Ein Wildtier, das man für Experimente benutzte. Erinnert ihr euch nicht an den Aufruhr, als die Geschichte in allen Skandalblättern veröffentlicht wurde?«

»Vergiss den blöden Affen«, platzte Greg heraus. »Diese Leute da unten sollte man umgehend hinter Schloss und Riegel bringen. Mit welchem Recht dürfen die uns bedrohen? Wieso gestattet man ihnen, unsere Arbeit zu stören?«

»Schon mal was von Demonstrationsfreiheit gehört?«, wagte Kerri sich vor. Als die anderen sie anblickten, errötete sie bis über beide Ohren. »Die Leute da unten haben das Recht, sich frei zu äußern – auch wenn dir nicht passt, was sie sagen. Redefreiheit ist gesetzlich …« Ihre Stimme erstarb.

»Für dich als Praktikantin spielt es schließlich auch keine Rolle. Du bist nur noch ein paar Wochen bei uns, ehe du wieder zur Uni zurückkehrst. Für uns aber steht unser Job und damit unsere Zukunft auf dem Spiel«, erwiderte Greg mit finsterem Gesicht.

Die fünf auf dem Dach steckten die Köpfe eng zusammen, um sich trotz des Lärms im Hintergrund verständigen zu können, doch die erzwungene Nähe verstärkte ihre gegenseitigen Ressentiments.

»Kerri hat das Recht, ihre Ansichten frei zu äußern«, begann Sam und wollte gerade Noam Chomsky zitieren, als Greg ihm das Wort abschnitt.

»Klar, jeder von uns darf eine eigene Ansicht haben. Ich glaube, keiner von uns hier ist gegen das Wohlergehen der Tiere. Lucy ist Vegetarierin, ich esse nur Fleisch von Bio-Höfen, und Blakes Lebensgefährtin Marianne ist Veganerin. Aber dafür interessieren sich die Leute da unten nicht. Sie wollen nur Krawall. Sie sind Psychopathen, die sich zufällig dieses Jahr den Tierschutz auserkoren haben, um Terror zu machen. Meiner Ansicht nach gehören sie eingesperrt. Und wenn es das nächste Mal eine Demo gibt, die Tierversuche befürwortet, laufe ich mit und schwenke ein Fähnchen, okay?«

»Ob nun für oder gegen Tierversuche: Ich halte jede Demo für reine Zeitverschwendung«, schimpfte Conor und fuhr sich mit seinen nikotingelben Fingern nervös durch das fettige Haar. Kerri sah es und zuckte zusammen.

»Was hast du?«, fuhr er sie angriffslustig an.

»Nichts«, sagte sie.

Conor trat ein paar Schritte beiseite.

»Ihr könnt ja gerne weiterdebattieren und eure Zeit verschwenden. Mir ist es gleich, ob die da unten nur Spinner sind oder Terroristen. Und wenn sie anfangen, irgendwas hier heraufzuwerfen, werde ich mich schon zu wehren wissen.« Er begann auf dem Dach nach geeigneten Wurfgeschossen zu suchen.

»Mach bloß keinen Mist!«, rief Greg hinter ihm her. »Wenn du das tust, wirst du in null Komma nichts verhaftet. Und wenn du jemanden triffst, blüht dir eine Anklage wegen Körperverletzung.«

»Dazu müssten sie mich erst einmal kriegen«, murrte Conor, gab aber seine Suche widerwillig auf. »Jedenfalls bleibe ich nicht hier oben, und wenn ihr ein bisschen Grips im Kopf hättet, würdet ihr mitkommen. Kerri?«

»Ich bleibe bei Sam«, erklärte das Mädchen.

Conor zuckte die Schultern und verschwand durch die weiße Tür, von der die Farbe abblätterte, ins Treppenhaus. Die Zurückbleibenden hörten, wie seine Schritte auf der Treppe verhallten, und wandten sich wieder dem Geschehen auf der Straße zu.

Wortfetzen drangen megafonverstärkt zu ihnen nach oben.

»Alle … schuldig!«

»Mörder!«

»Strafe!«

Plötzlich sagte Greg: »Hey, ist das da drüben nicht Conor?« Er zeigte auf eine schmale Gestalt, die sich am Rand des Demonstrationszuges vorbei in Richtung des Parks drängte und nur langsam vorwärtskam. »Ist der Kerl noch ganz dicht? Wo will er hin?«

»Das könnte tatsächlich Con sein«, meinte Lucy mit zusammengekniffenen Augen. »Fettiges Haar hat er jedenfalls. Aber von hinten ist es schwer zu sagen.«

In diesem Augenblick drehte sich die Gestalt um, und sie konnten das Gesicht erkennen.

»Ja, das ist Conor.« Sam nickte.

»Sieht fast so aus, als würde er sich mit einem der Demonstranten unterhalten«, sagte Lucy. »Vielleicht ist es einer seiner Kumpel.«

»Na ja, sehr freundschaftlich scheint es bei denen aber nicht zuzugehen«, wandte Sam ein und lehnte sich weiter nach vorn, um besser sehen zu können. »Ich würde fast sagen, die beiden da unten streiten sich.«

»Hoffentlich erklärt er seinem Kumpel, was für ein Volltrottel er ist«, meinte Greg.

»Der Kerl ist ein gutes Stück größer als Con«, sagte Kerri.

Die Menge geriet in Aufruhr, und sie verloren die beiden Streithähne kurz aus den Augen. Irgendwann streckte Lucy den Arm aus und rief: »Da ist er!«

»Ist alles in Ordnung mit ihm?«, erkundigte sich Kerri.

»Zumindest sehe ich kein Blut«, flachste Lucy. »Allerdings sieht er stinksauer aus.«

»Das ist doch nichts Neues«, höhnte Greg.

Conor entfernte sich mit gesenktem Kopf und sichtlich verärgert vom Labor.

»Warum haben die beiden sich wohl gestritten?«, überlegte Kerri.

Sie bekam keine Antwort. Die Menge auf der Straße skandierte jetzt wieder lautstark ihre Parolen und schwenkte die Spruchbänder im Takt dazu. Der Anführer ließ sie einige Zeit gewähren, ehe er wieder das Megafon an die Lippen hob und sich laut, deutlich und langsam an die Fenster des Labors zu wenden schien. »Wir gehen jetzt. Niemals aber vergessen wir die Verbrechen, die hier begangen werden. Ihr werdet wieder von uns hören!«

Mit einem Lächeln auf dem hageren Gesicht wandte er sich um und führte die Demonstranten die Parks Road hinunter in Richtung High Street. Die Kundgebung löste sich nun offenbar auf, denn ihm folgte nur noch eine Handvoll Unermüdlicher. Binnen kürzester Zeit war es auf dem Platz vor dem Labor still und friedlich wie zuvor.

»Das war’s mit dem Unterhaltungsprogramm«, sagte Greg. Ihm schien eingefallen zu sein, dass er der Senior der Gruppe war. »Zurück an die Arbeit.«

In diesem Augenblick jedoch hob sich das Dach, auf dem sie standen, wie ein Schiffsdeck und sackte sofort wieder zurück. Die vier jungen Leute hatten Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Sie waren starr vor Schreck. Fast im gleichen Moment fuhr ein Donnerschlag durch das ganze Haus. Man hörte das Prasseln kleiner Steine.

Dann war es still.

»War das ein Erdbeben?«, flüsterte Lucy.

Zumindest glaubte Sam, so etwas verstanden zu haben. Lucys Lippen bewegten sich, aber ihre Stimme konnte er kaum hören, obwohl er unmittelbar neben ihr stand. Ein hoher, unangenehmer Pfeifton schrillte in seinen Ohren.

Greg zu seiner Linken beugte sich hustend und spuckend über die Brüstung, um nachzusehen, was passiert war. Er deutete nach unten. Sam lehnte sich ebenfalls über das Mäuerchen.

»Himmel!«, murmelte er.

»Was ist los?« Auch Kerris Frage musste Sam ihr von den Lippen ablesen. Sie schüttelte Sams Arm, traute sich aber nicht, selbst nach unten zu schauen. Tränen der Angst liefen ihr über das staubige Gesicht.

Greg schüttelte den Kopf. Hinter ihm sah Sam eine dicke, mit Papierfetzen durchsetzte Staubwolke aufsteigen.

Lucy kam mit unsicheren Schritten ebenfalls auf Sam zu und beugte sich über die Brüstung.

Nein, kein Erdbeben – eher eine Explosion, dachte Sam. Tief in seinem Kopf summte es noch immer.

»War das eine Bombe?«, schrie Kerri, doch ihre Stimme klang für Sam wie das Piepsen eines kleinen Vogels.

Sam streckte die Hand aus, um sie zu trösten. Er spürte, wie ihr Arm unter seinem Griff zitterte, zog sie von der Brüstung fort, wies auf die Tür und winkte den anderen, ihm zu folgen. Falls eine weitere Explosion folgen sollte und das Gebäude zusammenbrach, wäre das Dach nicht gerade der sicherste Aufenthaltsort.

Greg jedoch schüttelte den Kopf und bedeutete dem Grüppchen, an Ort und Stelle zu bleiben, bis er das Treppenhaus untersucht hätte. Wenig später kehrte er zurück, nickte und ging ihnen mit erhobener, zu Vorsicht mahnender Hand voran nach unten.

Kerris Mund stand offen. Möglicherweise stöhnte sie oder schrie sogar, doch keiner von ihnen konnte sie hören.

Lucy griff nach Kerris freier Hand, um ihr ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Sie und Sam hielten sich auf der Treppe dicht neben dem Mädchen. Die Beleuchtung war ausgefallen, und natürlich hatte keiner von ihnen eine Taschenlampe dabei. Unsicher und zögernd tasteten sie sich die Stufen hinunter. Jetzt erst wurde ihnen klar, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste.

Die ersten Sirenen von Feuerwehr und Polizei waren zu hören, doch die vier jungen Leute vernahmen nichts als das schrille Pfeifen in ihrem Kopf.

Kapitel 3

Blake Parker hatte sich auf dem Institutsparkplatz eine ruhige Ecke gesucht und sprach eifrig in sein Mobiltelefon. Mit der grauen Staubschicht auf Gesicht und Haaren wirkte er viel älter als die siebenunddreißig Jahre, die er tatsächlich zählte. Wenn er beim Sprechen die Stirn runzelte, gruben sich tiefe, dunkle Falten in seine Haut.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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