Oxfords Tote ruhen nie - Veronica Stallwood - E-Book

Oxfords Tote ruhen nie E-Book

Veronica Stallwood

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Beschreibung

Kate Ivory ist überglücklich, als ein großer Verlag auf sie aufmerksam wird. Endlich scheinen ihre Tage als erfolglose Autorin von Liebesromanen gezählt zu sein. Ihr Glück ist jedoch nur von kurzer Dauer. Als ihr Verleger beschuldigt wird, ein Betrüger zu sein, und kurz darauf sogar unter Mordverdacht steht, bleibt Kate keine Wahl: Sie muss den wahren Mörder finden - sonst zerplatzt ihr Traum!

Ein neuer Fall für die ermittelnde Schriftstellerin Kate Ivory. Eine atmosphärische Kriminalserie mit einer besonderen Heldin, deren scharfe Beobachtungsgabe und ungewöhnliche Methoden die gemütliche britische Stadt Oxford ordentlich durchwirbeln. Perfekt für Liebhaber von intelligenter und charmanter Cosy Crime, für Leser von Martha Grimes und Ann Granger.

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Seitenzahl: 397

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25

Über das Buch

Kate Ivory ist überglücklich, als ein großer Verlag auf sie aufmerksam wird. Endlich scheinen ihre Tage als erfolglose Autorin von Liebesromanen gezählt zu sein. Ihr Glück ist jedoch nur von kurzer Dauer. Als ihr Verleger beschuldigt wird, ein Betrüger zu sein, und kurz darauf sogar unter Mordverdacht steht, bleibt Kate keine Wahl: Sie muss den wahren Mörder finden – sonst zerplatzt ihr Traum!

Über die Autorin

Veronica Stallwood kam in London zur Welt, wurde im Ausland erzogen und lebte anschließend viele Jahre lang in Oxford. Sie kennt die schönen alten Colleges in Oxford mit ihren mittelalterlichen Bauten und malerischen Kapellen gut. Doch weiß sie auch um die akademischen Rivalitäten und den steten Kampf der Hochschulleitung um neue Finanzmittel. Jedes Jahr besuchen tausende von Touristen Oxford und bewundern die alten berankten Gebäude mit den malerischen Zinnen und Türmen und dem idyllischen Fluss mit seinen Booten ? doch Veronica Stallwood zeigt dem Leser, welche Abgründe hinter der friedlichen Fassade lauern.

Veronica Stallwood

Oxfords Toteruhen nie

Ein Kate-Ivory-Krimi

Ins Deutsche übertragen vonUlrike Werner-Richter

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2002 by Veronica Stallwood

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Oxford Proof«

Originalverlag: Headline Book Publishing, A division of Hodder Headline

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Gerhard Arth/Stefan Bauer

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von © shutterstock: Megin

Illustration: © phosphorart/David Hopkins

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3446-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Sarah und Simon

1

Ich heiße Viola.«

»Na, wenigstens mal was anderes als Micky Maus«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang sarkastisch. Sie hatte sich in ihrem schwarzen Kaschmirmantel mit Schalkragen vor mir aufgebaut und schwankte leicht auf ihren beinahe zehn Zentimeter hohen Pfennigabsätzen. Irgendwie gab sie sich, als gehöre ihr der ganze Laden. Na ja, vielleicht besaß sie eine der Wohnungen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihr die ganze Wohnanlage gehörte. Sie sah aus, als hätte sie eine Menge Geld in sich selbst investiert – möglicherweise hatte auch irgendein Mann dafür gelöhnt –, aber sie sprach reinsten Essex-Akzent. Früher am Abend musste sie sich mit zentnerweise Make-up zugekleistert haben, doch jetzt war es verwischt, und ihr Gesicht sah aus, als wäre es nicht ganz scharfgestellt.

Aber sie legte ein Selbstbewusstsein an den Tag, wie es oft drei schnell gekippten, doppelten Wodkas zu verdanken ist, obwohl außer ihren geröteten Augen nichts darauf schließen ließ. Sie sprach klar, und auch sonst merkte man nichts.

»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte ich mich. Ich war kleiner als sie; außerdem trug ich meine Lieblingssneaker. Sie hatten flache Absätze, weil sie zum Laufen gedacht waren und nicht dazu, herumzustolzieren und wie ein Flittchen auszusehen. Trotzdem blieb ich hoch aufgerichtet vor ihr stehen und schaute ihr gerade in die Augen. Ihre waren blass, unbestimmbar grünlich-braun und wirkten sehr englisch. Meine habe ich von meiner spanischen Großmutter geerbt; sie sind tiefdunkelbraun. Ich bin sicher, sie wünschte sich in diesem Augenblick, noch einmal so jung zu sein wie ich, und zwar trotz ihres schicken Designermantels. In coolen Klamotten – eigentlich in allen Klamotten – sieht man einfach besser aus, wenn man dünn ist. Und das war sie nicht, im Gegensatz zu mir. Mir gefällt es, dass mein Körper dem von manchen Schauspielerinnen in amerikanischen Seifenopern ähnelt, deren Knochen sich unter der Haut abzeichnen. Sie aber würde nie wie eine dieser Frauen aussehen.

»Ich wohne hier«, erklärte sie kühl und ladylike. »Ich habe ein Recht, hier zu sein. Im Gegensatz zu Ihnen. Was haben Sie so früh am Morgen in dieser Wohnanlage zu suchen? Und wieso wühlen Sie in den Mülltonnen herum? Ist Ihnen klar, dass Sie stinken – Viola, oder wie Sie auch immer heißen mögen?«

Das tat weh. Ich sehe grundsätzlich zu, dass ich trotz meines schmuddeligen Jobs immer sauber bin und gewaschene Kleider trage.

»Viola«, wiederholte sie ungläubig.

Ich habe keine Ahnung, warum meine Mutter mich so genannt hat. In unserer Familie gibt es nämlich garantiert keine reiche Erbtante namens Viola, die mir eines schönen Tages ihr Vermögen vermachen könnte. Mich Viola zu taufen war vermutlich der einzige romantische Impuls, dem meine Mutter je nachgegeben hat. Sie ist eine ernsthafte, praktische Person mit festen Regeln, und in diesem Sinne wurde auch ich erzogen – zu einem ernsthaften und praktischen Menschen. Meine Mutter glaubt fest daran, dass alles im Leben seinen Platz hat und an diesen auch gehört. Mein Platz war mein immer sauberes, ordentliches und ruhiges Zimmer. Auch meinen Vater hat sie dazu gebracht, sich entsprechend zu verhalten. Sein Platz war der Ohrensessel rechts vom Kamin, und da blieb er.

Wie mochte sie auf den Namen Viola gekommen sein? Dachte sie dabei an das Instrument? Oder an die Blume? War vielleicht die Erinnerung an den in der Schule gelesenen Shakespeare wiedererwacht? Wie dem auch sei – ich hasste meinen Namen. Als ich alt genug war, mit sechs oder sieben, suchte ich mir einen kürzeren und einfacheren aus: Ich nannte mich Phil. Leute, die mich Viola nannten – meist waren es Lehrer –, bedachte ich mit einem leeren, verständnislosen Blick, den ich bald bis zur Perfektion beherrschte. Selbst mit sechs Jahren kann man Menschen seinen Willen aufzwingen, wenn man nur entschlossen genug ist. Unseren Namen haben wir weg, ob er uns passt oder nicht. Ihn zu verändern ist der erste Schritt in die Rebellion – ein Aufbegehren gegen diesen Namen und all das, wofür er steht.

Genau genommen handelt es sich um einen Identitätswechsel.

Bis zu diesem Zeitpunkt werden wir mit Etiketten versehen. Man bezeichnet uns als hübsch oder hässlich, laut oder leise, schlau oder dumm, und mit diesen Bezeichnungen haben wir klarzukommen, ob sie uns gefallen oder nicht. »Ach, Kind, warum bist du nicht so schlau wie deine Schwester?« Wer kann eine solche Frage schon beantworten? »Du wirst nie so gut Klavier spielen wie ich«, pflegte meine Mutter zu seufzen. Mag sein, aber wollte ich es denn? »Viola«, säuselte sie oft. »Ist das nicht ein wundervoller Name?«, fragte sie gern selbstgefällig, wenn Leute dabei waren. Ich stand daneben und machte ein böses Gesicht. Viola.

Ich trennte mich von dem Namen. Verschmähte ihn. Und gleichzeitig verschmähte ich meine Mutter. Viola – das hört sich an wie ein scheues, sehr zurückhaltendes Mädchen, finden Sie nicht? Ein Mädchen mit sehr heller Haut, das Unterhosen aus Baumwolle trägt. Ihre Blusen sind bis zum Kragen zugeknöpft, und sie bindet ihr langes Haar mit einem dunkelblauen Band zum Pferdeschwanz. Sie blinzelt hinter dicken Brillengläsern, und wenn sie mit ihrer bleichen Haut einmal in die Sonne geht, bekommt sie sofort einen Sonnenbrand. So wollte ich keinesfalls werden. Hätte ich den Namen Viola aber behalten, wäre ich bestimmt so geworden, ob ich nun wollte oder nicht. Eine Viola ist einfach ganz anders als ich.

Vielleicht fragen Sie sich, was aus meinem Vater geworden ist. Nun, er sitzt wohl noch immer stumm und schweigsam in seinem Ohrensessel rechts vom Kamin. Warum hat er nie aufbegehrt? Und warum hat er nie ein gutes Wort für mich eingelegt?

Ich sehe, wie skeptisch Sie dreinschauen. Diese Frau, diese Viola, so denken Sie, versucht wohl, mich von der Frage abzulenken, was sie an den Müllcontainern zu suchen hat. Sie legt es darauf an, mein Mitleid zu wecken, um dann ihr Verhalten zu beschönigen. Wie wird sie wohl die schwarze Hose und das ebensolche Sweatshirt erklären, die schwarze, tief in die Stirn gezogene Wollmütze, die schwarzen Sneaker und die gelben Gummihandschuhe? Und was treibt sie zu dieser frühen Morgenstunde in einer fremden Wohnanlage?

Die Wohnanlage war wirklich recht hübsch. Der Raum für die Mülltonnen war blassgrün gestrichen, auf dem Boden lag Laminat, das fast wie echtes Holz aussah, und alles wirkte sauber und frisch. Auf den Containern standen Zahlen, damit man immer wusste, welche Tonne zu welcher Wohnung gehörte. Außerdem gab es eigene Container für den Recycling-Müll: Papier und Pappe, Weißblechdosen und Plastik. Sehr hübsch. Gut organisiert.

Sicher denken Sie, dass ich ein schräger Vogel oder vielleicht sogar eine Kriminelle bin. Aber ich finde, dass die Typen nur das bekommen, was sie verdienen. Sie betteln ja geradezu darum! Im Grunde genommen sind sie die Kriminellen. Sehen Sie sich nur an, wie nachlässig sie mit ihrem Müll umgehen. Liederlich, hätte meine Mutter gesagt. Nicht, dass ich sie nach solchen Dingen gefragt hätte. Ich habe den Kontakt schon vor vielen Jahren abgebrochen – Sie erinnern sich. Aber in dieser Hinsicht hatte sie recht.

Was mich angeht, so respektiere ich harte Arbeit und Erfolg. Alles, was ich besitze, habe ich mir selbst verdient. Niemand hat mir je etwas geschenkt – weder meine Eltern, noch die Schule und auch niemand während meiner Ausbildung. Doch darüber bin ich nicht böse. Ich habe eben auf die harte Tour gelernt, mich selbst über Wasser zu halten. Es gab niemanden, der das für mich übernommen hätte.

Entschuldigung, jetzt habe ich mich hinreißen lassen. Sie haben es sicher bemerkt. Sie sind der Meinung, dass ich mir Dinge aneigne, die mir nicht gehören.

»Wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereingekommen?« Ihre Stimme drängte, als interessiere es sie wirklich. Dabei berührte sie ihren Mundwinkel, als wollte sie testen, ob ihr Lippenstift noch hält.

Ich antwortete nicht sofort. Dieses »Wer sind Sie?« ist eine sehr schwierig zu beantwortende Frage, finden Sie nicht auch? Bin ich denn schon fertig damit, mich neu zu erfinden? Wer bin ich? Viola habe ich abgelegt, aber ist meine Umwandlung schon vollständig? Und überhaupt: die Umwandlung in wen? Wenn man sich einmal von den Stempeln befreit hat, die andere Leute einem aufgedrückt haben, braucht die eigene Identität nie mehr endgültig festzustehen. Man kann flexibel bleiben. Ich denke, man sollte sich alle Möglichkeiten offenhalten.

»Wenn Sie nicht sofort auf meine Fragen antworten, rufe ich die Polizei.« Sie zog ein flaches, silberfarbenes Handy aus der Handtasche, klappte es auf und hob ihren Zeigefinger, dessen Nagel blutrot lackiert war. Wo nahm sie nur die Zeit her, ihre Nägel so aussehen zu lassen? Wahrscheinlich kam jeden Morgen eine Nagelpflegerin zu ihr nach Hause und kümmerte sich darum.

Der rote Fingernagel tippte auf die Neun und hielt dann inne. »Nun?«

Es wurde Zeit, dass ich etwas sagte. »Wie ich reingekommen bin? Ganz einfach: Die Tür war offen. Mag sein, dass sie eigentlich geschlossen sein müsste, aber die Leute sind oft nachlässig und ziehen sie nicht richtig hinter sich zu, oder sie denken, ihr Kumpel kommt gleich nach und hat sicher wieder mal den Schlüssel vergessen. Jedenfalls bin ich nicht eingebrochen. Sie können ruhig nachsehen. Sieht das Schloss etwa aus, als wäre es gewaltsam geöffnet worden?«

Sicher haben Sie bemerkt, dass ich zwar redete, aber nicht viel preisgab. Darin hatte ich auf jeden Fall mehr Übung als sie, obwohl sie die mit dem Handy war und zwischen mir und der Tür stand. »Ich begreife nicht ganz, wo das Problem liegt. Ich nehme doch nur Dinge, die andere Leute weggeworfen haben.« Ich sprach mit einer leicht weinerlichen Stimme, nach dem Motto: Tu mir nichts, ich liege doch sowieso schon am Boden. Sie war zwar irritiert, aber so konnte ich sie dazu bringen, netter zu mir zu sein. Sie war so erzogen wie alle Leute ihrer Schicht. Rücksichtsvoll. Freundlich. Und dämlich. Klar, dass ihr Finger sofort aufhörte, über der Neun zu kreisen. Sie klappte das Handy zu, steckte es aber noch nicht wieder in die Handtasche.

Wie ich schon sagte: Diese Leute sind verlotterte, liederliche Zeitgenossen, im Gegensatz zu mir. Und wenn Sie sich unbedingt über jemanden aufregen wollen, dann über sie. Lassen Sie mich in Frieden. Das, was ich mache, können Sie meinetwegen Recycling nennen, nur, dass ich nicht für die Stadt arbeite, sondern selbstständig bin. Und bestimmt wäre es kein Job für Sie, das kann ich Ihnen sagen! Denn obwohl ich Gummihandschuhe trage, macht es nicht wirklich Freude, im Unrat fremder Leute herumzuwühlen. Selbst wenn ich die schlimmsten Fundstücke einmal außer Acht lassen, sind auch die schmierigen Reste von Haferbrei, verschimmeltes Gemüse und verschmähtes Katzenfutter nicht gerade angenehm. Das Zeug fühlt sich ekelhaft an, und obendrein stinkt es. Unfassbar, dass manche Leute sogar Hundehaufen in den Müll entsorgen. Ich könnte kotzen, wenn ich nur daran denke.

Allerdings hat sich meine Lage deutlich verbessert, seit nette Menschen wie Sie angefangen haben, ihren Papiermüll in hübsche blaue Container zu entsorgen. Mein Job ist dadurch schneller, sauberer und effektiver geworden. Aber Sie würden sich wundern, was die Leute so alles an bedrucktem Papier wegwerfen. Vermutlich sind sie der Meinung, Müllmänner könnten nicht lesen. Aber darüber sollten sie vielleicht besser noch einmal nachdenken.

Jetzt kam sie näher und streckte ihre Hand nach meiner Tasche aus. Eine Haarsträhne war ihr ins Gesicht gefallen. Sie hatte sündhaft teuer aussehende Strähnchen, aber während sie auf mich zukam, konnte ich einen Zentimeter langweiliges Mausbraun am nachgewachsenen Haaransatz erkennen.

»Viola? Und wie weiter? Haben Sie auch einen Nachnamen?« Damit wollte sie mir wohl unterstellen, keinen Vater zu haben, doch ich wusste, dass er neben dem Kamin sitzt und die Nörgeleien meiner Mutter an seinem kahlen Kopf abgleiten lässt. Aber so wie er will ich auf keinen Fall enden. Ich stieß die Hand der Frau beiseite.

»Lassen Sie mich zufrieden. Sie dürfen nicht in meine Tasche schauen, dazu haben Sie kein Recht. Und wenn Sie mich oder mein Eigentum auch nur berühren, zeige ich Sie wegen tätlichen Angriffs an. Ich gehe jetzt. Mein Nachname und meine Adresse gehen Sie übrigens absolut nichts an.« Und wenn Sie mich weiter so anschreien, wecken Sie die gesamte Nachbarschaft auf. Ich gehe nicht davon aus, dass die Leute darüber sehr erfreut wären.

Verschwinden Sie einfach!

Ich dachte, alles wäre noch einmal gut gegangen. Ich hätte keine zwei Minuten gebraucht, um samt meinem Krempel zu verschwinden, doch dann hielt plötzlich der Aufzug im Untergeschoss, die Türen öffneten sich, und der Mann kam auf uns zu. Bei dem Lärm, den wir veranstaltet hatten, musste er uns schon eine Weile gehört haben. Er war tadellos gekleidet. Ich erinnere mich, dass er die Art Kleidung trug, die so weich aussieht, dass man sie am liebsten ständig streicheln möchte. Wenn man dann allerdings sein Gesicht betrachtete, schlug man sich diesen Gedanken besser gleich aus dem Kopf. Er wirkte deutlich entschlossener als die Frau, obwohl er sehr viel leiser sprach. Ich versuchte, ihm in die Augen zu starren, wie ich es auch bei ihr getan hatte, doch obwohl seine Augen mit ihrem hellen Kornblumenblau an eine Figur aus einem Kinderbuch erinnerten, waren sie alles andere als freundlich.

»Was ist denn hier los?«, fragte er mit gefährlich leiser Stimme. »Du könntest schon einmal hochgehen und in der Wohnung auf mich warten«, fügte er an die Frau gewandt hinzu.

Die Frau im schwarzen Donna-Karan-Mantel wollte nicht gehen. Sie stand weiter da und sah mich an. Dabei schürzte sie die Lippen und runzelte die Stirn, bis sich zwischen ihren Augenbrauen zwei steile Falten bildeten. Sie sollten lieber auf sich achtgeben, dachte ich, sonst bleiben die Runzeln irgendwann. Andererseits werden Sie in ein paar Jahren ohnehin total verknittert aussehen, Sie schlecht gelaunte alte Schachtel.

»Beverly«, mahnte der Mann, und schon wandte sie sich ohne weitere Einwände zum Gehen. Sie klapperte auf ihren lächerlichen Absätzen davon und zog ihren Mantel eng um sich, als hätte sie Angst, ich könnte sie anstecken.

Nun widmete der Mann seine gesamte Aufmerksamkeit mir allein. »Und jetzt sagst du mir, was du hier machst.« Sein Mund lächelte, doch seine Augen blieben so kalt wie zuvor.

Mir war sofort klar, dass es keinen Sinn hatte, ein Theater zu machen oder zu versuchen, wegzulaufen. Er stand jetzt genau zwischen mir und der Tür, und ich hätte keine Chance gehabt, an ihm vorbeizukommen.

»Ich stöbere im Müll herum«, erklärte ich so cool wie eben möglich. »Ich stehle keine Wertgegenstände, sondern nehme nur Sachen, die andere Leute weggeworfen haben.«

Sein Lächeln wurde höhnisch. »Mit solchen Geschichten brauchst du mir gar nicht erst zu kommen«, winkte er ab. »Sag einfach, was du gefunden hast. Ist etwas Interessantes dabei?«

Ich wollte ihm gerade den Inhalt meiner Tasche präsentieren, als wieder jemand kam. In diesem Müllkeller war ja wirklich fast mehr los als auf dem Piccadilly Circus! Wieder war es ein Mann. Er war nicht besonders groß, dafür kräftig gebaut, und sein dunkles Haar zeigte die ersten Geheimratsecken, obwohl er noch nicht besonders alt zu sein schien. Er erinnerte mich an einen Grizzlybär. Nicht an ein großes, gefährliches Tier, sondern eher an einen Knuddelteddy. Er hatte eine niedrige Stirn und ein breites, von dunklen Stoppeln überschattetes Kinn, wie es viele dunkelhaarige Männer nach einigen Stunden ohne Rasur bekommen. Er trug ein recht hübsches Jackett über einem schwarzen Poloshirt und eine verwaschene 501.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich. Er klang ein wenig nervös, aber entschlossen, als wüsste er, dass er jetzt eine richtige Entscheidung treffen musste.

»Alles bestens«, erklärte der erste Mann.

»Und was machen Sie hier? Sie wohnen doch nicht in dieser Anlage, oder?«, wandte sich Grizzlybär an mich. Seine Stimme klang scharf, doch ich ließ mich nicht ins Bockshorn jagen. Im schlimmsten Fall würde er vielleicht die Polizei rufen, aber er würde mich sicher nicht schlagen oder mit einer Rasierklinge zerstückeln.

»Ich schaue mich nur um«, murmelte ich. Dabei versuchte ich, Grizzlybär mit einem Trick sanfter zu stimmen: Man muss die Augen erst zu Boden und dann seitwärts wenden, ehe man seinem Gegenüber einen treuherzigen Aufwärtsblick durch den Stirnpony schenkt. Gleichzeitig verstärkte ich den Effekt mit einem scheuen, erwartungsvollen Lächeln. Er räusperte sich und wirkte gleich weniger selbstsicher.

»Eigentlich könnten Sie sie laufen lassen«, sagte er zum ersten Mann.

Nummer eins starrte ihn nur an. Ich blickte weiter naiv und verletzlich drein. Meine Mutter konnte ich damit nie beeindrucken, und auch Nummer eins zeigte sich resistent, doch Grizzlybär könnte ich möglicherweise damit um den Finger wickeln.

»Wie heißen Sie?«, fragte Grizzlybär.

»Viola«, antwortete ich. Zum ersten Mal war ich meiner Mutter dankbar. Viola klingt außergewöhnlich, aber dennoch respektabel, nicht wahr? Gleich würde er mich auf einen Drink einladen und meine Lebensgeschichte hören wollen. Ich sah, wie Grizzlybär den Mund öffnete, um mir zu sagen, dass ich ein gutes Mädchen sein und nach Hause gehen solle, doch das ging Nummer eins wohl gegen den Strich.

»Warum gehen Sie nicht einfach heim, alter Knabe?«, fragte er. Ich fand, dass er es mit der Kumpelei ein wenig übertrieb. »Viola und ich kommen schon zurecht.« Sein Haar war ebenso kunstvoll aufgehellt wie das von Beverly; vielleicht hatten sie den gleichen Friseur.

»Geht das wirklich in Ordnung?«, wandte sich Grizzlybär mit einer fast besorgt klingenden Stimme an mich.

Ich warf Nummer eins einen Seitenblick zu und schaute verängstigt drein. »Ich möchte gern nach Hause«, klagte ich, »aber er hält mich für eine Diebin.«

»Vermutlich ist sie das auch, allerdings hat sie bisher noch nichts angerichtet«, erklärte Nummer eins. »Aber keine Sorge, sie ist gewarnt. Sie wird sicher nicht so bald hierher zurückkommen.«

Er stand da und wartete darauf, dass der andere Mann die Treppe hinaufstieg. Grizzlybär wandte sich noch einmal um, als wollte er ganz sichergehen, dass es mir wirklich gut ging. Er sah aus, als wollte er lieber noch einmal über alles diskutieren, doch Nummer Eins war kein Mensch für Diskussionen. Grizzlybär betrachtete mich lange und sehr ausgiebig, als wollte er sich mein Aussehen einprägen; dann lächelte er mich aufmunternd an. Ich wollte eigentlich nicht, dass er sich an mich erinnerte; nicht erkannt zu werden und anonym zu bleiben bedeutet nämlich eine gewisse Sicherheit. Allerdings gab es nichts, dessen er mich beschuldigen konnte, denn ich hatte nichts Unrechtes getan. Zumindest an diesem Tag nicht. Und wahrscheinlich hätte er längst vergessen, wie ich aussah, ehe ihm gewisse Unstimmigkeiten auffielen – falls das überhaupt je der Fall sein sollte. Der andere Mann bereitete mir erheblich mehr Sorgen. Er sah aus, als kenne er sich im Leben aus.

»Wo hatten wir noch unser Gespräch unterbrochen?«, sagte er, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war und man das Summen des nach oben fahrenden Aufzugs hören konnte. »Stimmt, du wolltest mir zeigen, was du gesammelt hast.«

Ich öffnete meine Mülltüte und ließ ihn einen Blick hineinwerfen. »Zehn Minuten mehr wären nicht schlecht gewesen«, erklärte ich. »Da sind noch ein paar Papiercontainer, die ich nicht durchgesehen habe.«

Er lächelte. »Nicht übel. Einiges davon sieht sogar ziemlich vielversprechend aus.«

Er berührte nichts, sondern ließ nur den Lichtkegel seiner Taschenlampe über den Inhalt gleiten. Jetzt erst betrachtete ich ihn genauer, und mir wurde klar, dass er mir trotz seines schicken äußeren Erscheinungsbildes durchaus ähnlich war. »Sie sind im gleichen Geschäft«, stellte ich fest. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, es wie eine Frage klingen zu lassen.

»Aber auf einem ganz anderen Niveau«, antwortete er und lachte. »Du bist noch blutige Anfängerin.«

»Ich mache den Job schon ein ganzes Jahr«, verteidigte ich mich. Ich hatte nicht die Absicht, mich von ihm in meiner Berufsehre kränken zu lassen. Schließlich war er der Amateur – zumindest ging ich davon aus.

»Arbeitest du etwa selbstständig?«, fragte er und betrachtete mich genauer. Seine kornblumenblauen Augen wirkten zwar inzwischen etwas freundlicher, doch er schien mir noch immer nicht zu trauen.

»Genau.«

»Hast du je an eine ordentliche Anstellung gedacht?«

»Nie.« Dann könnte ich schließlich ebenso gut nach Hause gehen und mich neben meinen Vater an den Kamin setzen.

»Schade«, erwiderte er. »Ich brauche nämlich gerade Leute. Für die unterschiedlichsten Aufgaben«, fügte er hinzu. »Vielseitigkeit ist wichtig in unserem Job.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wie du willst.« Und dann bewahrheiteten sich meine Befürchtungen. »Die Sachen hier nehme ich aber mit«, erklärte er, stopfte die Papiere zurück in die Mülltüte und griff danach, als wollte er damit verschwinden. Ich aber hielt sie ganz fest. Er drehte sie mir aus den Händen. Ich öffnete den Mund und wollte schreien. Kampflos würde ich ihm die Ausbeute meiner nächtlichen Arbeit bestimmt nicht überlassen.

»Okay, ich bezahle für den Inhalt«, sagte er schnell. Sicher wollte er nicht, dass noch mehr Nachbarn aufmerksam würden. Ich vermutete, dass er auch nicht in der Anlage wohnte und unangenehmen Fragen lieber aus dem Weg ging.

Er griff in eine Innentasche, zog einen goldenen Clip mit Banknoten hervor und drückte mir fünfzig Pfund in die Hand. So viel hatte ich nicht erwartet. Sein Jackett war hübsch mit Seide gefüttert, damit jeder sehen konnte, dass es nicht aus dem Kaufhaus stammte. Ich dachte, er würde nun gehen, doch statt mir den Beutel wegzunehmen, blieb er stehen und sagte: »Jetzt zeig mir mal, was das Geld wert sein könnte, das ich dir gegeben habe.«

Mir war klar, dass er so etwas wie einen Test mit mir machte. Eine Art Aufnahmeprüfung. Gut. Ich würde ihm schon zeigen, dass ich keine blutige Anfängerin mehr war und durchaus wusste, worum es ging. Ich blätterte im Inhalt des Müllsacks herum und zog sechs Blätter heraus.

»Das hier zum Beispiel.«

Kopie für meine Akten

Weißt Du, Phoebe, mir ist klar, dass es nicht leicht

zurzeit, aber auch ich bin nicht auf Rosen ge

übereingekommen, was ich für Chloe zahlen

verlassen, Du brauchst Dir wirklich keine Sor

mich an unsere Vereinbarungen halten, aber Du kannst ni

Voraussetzungen ändern, wenn es Dir in den Sinn

nie darüber gesprochen, sie auf eine Priva

Weißt Du, was solche Schulen kosten? Andere Kinder kön

staatlichen Schulen sind besser als ihr R

sie? Mir geht es ganz gut, wie Du Dir sicher schon ge

besser als manch anderer. Aber nachdem ich den neuen Jo

angenommen habe, werde ich mich wohl verändern müssen,

wie viel so etwas kostet. Jedenfalls kann ich mich no

gut erinnern, wie viel ich bezahlen musste, als Du umgezo

bist. Entschuldige, wenn es so klingt, als gönne ich

Geld, und ich bin wirklich froh, dass Du und Chloe eine hü

Wohnung gefunden habt. Aber ich muss im Moment sehr hohe finanzielle Belastungen verkraften und bin nicht in der Lage

Seite 1/2

Kontoinhaber:Mr Neil Orson

Saldenmitteilung

Belegdatum:15. März

Umsätze SollUmsätzeHaben

Alter Saldo:£ 3.560,13

Ausgleich: £ 3.560,13

Eingang:£ 738,98

Neuer Saldo:£ 738,98

Mindestzahlung: £ 71,00

Fälligkeit:11. April

Kreditrahmen:£ 12.000,00

Verfügbar:£ 11.261,02

London, im März 2001

Sehr geehrter Mr Orson,

besuchen Sie unseren

Um den

Offizi

Sald

Fal

Thames Water

Mr Neil Orson

Wohnung 2

Appleton Court

London SE 1

Rechnungsdatum: 5. November 2001

Kundennummer: 317799A-8982178

Verbrauchsrechnung vom 08. Mai bis 01. November 2001

Gesamtsumme £ 63,24

Einzelheiten siehe unten

Gebühren

für den Zeitraum vom 08. Mai 2001 bis 01. November 2001

Wasser£ 30,05

Abwasser£ 33,19

Gesamt£ 63,24

Wohnung 2A3

Normandy Terrace

London SE 23

Lieber Neil,

zunächst möchte ich Dir sagen, wie froh ich bin, dass Du das Geld für Chloe jeden Monat pünktlich überweist. Ich weiß, dass Du mir das versprochen hattest, und obwohl die Überweisung manchmal ein wenig spät kommt oder der Betrag geringer ist als vereinbart, warst Du bisher wirklich großzügig. Nicht alle Menschen halten ihre Versprechen auf diese Weise, das kannst Du mir glauben. Gleichzeitig schäme ich mich fast, Dich um noch mehr zu bitten. Weil es aber für Chloe ist, muss ich es wohl tun. Es geht um ihre Schule. Du kennst Chloes Probleme; ich habe Dir oft genug davon erzählt. Natürlich ist unser Wohnviertel nicht das, was wir uns hätten leisten können, wenn wir zusammengeblieben wären. Doch dafür will ich Dich nicht verantwortlich machen. Aber Chloe verdient etwas Besseres, und ich habe mich schon nach Alternativen umgesehen. Für sie ist wichtig, dass man ihre Eigenart respektiert. Leider gibt es hier in der Gegend

London & Counties Bank

Zweigstelle Stadtmitte

London EC 1

Konto: 53-21-65-23 440765310

Sehr geehrter Mr Orson,

mit dem vorliegenden Schreiben erhöhen wir den Überziehungskredit für Ihr Konto auf 4.000,00 Pfund. Gleichzeitig möchten wir Sie darauf hinweisen, dass wir im Gegenzug erwarten, dass Ihr Konto nicht konstant um diesen Betrag überzogen wird. Bitte gleichen Sie nach Möglichkeit den geschuldeten Betrag monatlich aus. Für längerfristige Verbindlichkeiten steht Ihnen jederzeit ein Bankkredit zur Verfügung. Sollten Sie eine solche Möglichkeit in Erwägung ziehen, beraten wir Sie selbstverständlich gern.

Foreword Publishing

Hiermit laden wir Sie und Ihren Partner / Ihre Partnerin herzlich ein zu unserer diesjährigen Mitarbeiterfeier. Sie findet statt am

Freitag, 7. Dezember 2001, ab 19.30 Uhr

Randolph Hotel, Beaumont Street, Oxford.

»Nicht schlecht«, sagte er. »Trotzdem hast du deine Zeit mit unnützen Dingen vergeudet. Warum zum Beispiel hast du diesen weinerlichen Brief seiner Ex und seine fragmentarische Antwort an dich genommen?«

»Weil sie beweisen, dass er aus der Mittelschicht stammt und gut betucht ist«, trumpfte ich auf. »Außerdem geht daraus hervor, dass er in Gelddingen eher nachlässig ist. Sie schreibt, dass manchmal zu spät und manchmal zu wenig Geld kommt. Ich bin ganz sicher, dass er weder seine Kontoauszüge noch seine Kreditkartenabrechnungen genau prüft. Vermutlich würden ihm Unstimmigkeiten erst nach Monaten auffallen – wenn überhaupt.«

»Gut. Aber auch ohne diese Dinge kann man jetzt schon sagen, dass es sich lohnen wird, Zeit und Mühe in unseren Mann zu investieren. Die Schreiben von der Bank und der Kreditkartengesellschaft geben uns alle Informationen, die wir brauchen, genau wie die Wasserabrechnung. Gut, dass er sie nicht zerrissen hat. Aus der Einladung erfahren wir den Namen seines Arbeitgebers; die Einzelheiten finden wir noch heraus. Zwar brauchst du noch etwas mehr Disziplin und den richtigen Blickwinkel, aber dein Ansatz ist wirklich beachtlich.«

Ich deutete auf die Wasserrechnung. »Kaum jemand ist sich darüber im Klaren, dass man so etwas als Identitätsnachweis benutzen kann. Er schreibt, er will umziehen«, fuhr ich fort. »Oder sich verändern, wie er sich ausdrückt. Vielleicht zieht ja auch nur seine Freundin zu ihm.«

»Zunächst einmal sollten wir seine Post zu einer anderen Adresse umdirigieren, findest du nicht?« Er war kühner als ich. So etwas hatte ich noch nie gemacht. »Außerdem kümmern wir uns darum, dass er mit der neuen Adresse im Wahlregister auftaucht. Schließlich wollen wir doch überlegt handeln, nicht wahr?«

Ich erinnere mich, dass wir beide lachen mussten.

»Wohin lassen wir ihn denn umziehen?« Ich brannte darauf, zu erfahren, wie man solche Dinge in die Wege leitet. Ich lerne gern und freue mich, wenn ich mich verbessere.

»In die Wohnung einer alten Dame.« Ich muss sehr verblüfft dreingeschaut haben, denn er fügte hinzu: »Eine junge Bekannte wird öfter einmal ihre Großmutter besuchen und bei dieser Gelegenheit seine Post mitnehmen. Und falls irgendwer auf die Idee kommen sollte, bei der alten Dame nachzufragen, dürfte er nicht allzu viel Glück haben. Sie ist nämlich nicht mehr ganz beieinander und außerdem so dickköpfig wie ein Holzklotz.«

Er schien ziemlich stolz auf seine verdammte Cleverness zu sein. Er wollte damit angeben und mir unbedingt beweisen, dass er besser war als ich. Aber ich hatte keine Lust mehr, herumzustehen und zu quatschen. Schließlich war es gut möglich, dass die Polizei längst auf dem Weg war. Zu viel Selbstvertrauen kann einen schnell in Schwierigkeiten bringen. Ich wandte mich zur Tür.

»Ich geh dann mal«, sagte ich.

»Mein Jobangebot ist durchaus ernst gemeint«, erwiderte er.

Ich muss zugeben, es klang verführerisch. Schon seit einiger Zeit machte es mir keinen richtigen Spaß mehr, jede Nacht auf Tour zu gehen und durch den Müll fremder Leute zu stöbern. Vielleicht konnte er mir etwas anderes anbieten. Immerhin hatte er so viel Geld in der Tasche, dass ich ihn ernst nahm. »Was haben Sie mit ›Vielseitigkeit‹ gemeint? Und was für eine Art von Job bieten Sie mir eigentlich an?« Zwar würde ich auf keinen Fall für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen, aber seinen Andeutungen nach zu schließen war er ziemlich dick im Geschäft. Für einen ehrgeizigen Menschen ergaben sich da vielleicht Möglichkeiten.

»Zunächst einmal das, was du hier auch machst. Allerdings würde ich dich in einem anderen Bezirk einsetzen.«

»Ich bin daran gewöhnt, umzuziehen. Es bringt nichts, wenn man irgendwo erkannt wird.«

»Genau. Ich freue mich über dein Verständnis. Nun, nach einer Probezeit an einem anderen Ort werden wir sehen, wie viel Talent du hast. Wenn du so gut bist, wie ich annehme, kannst du dich ganz nach oben hocharbeiten. Wie, sagtest du noch, war dein Name?«

Er glaubte mir nicht, dass ich tatsächlich Viola hieß, aber sollte man ihm daraus wirklich einen Vorwurf machen? Ich sagte also: »Phil«, und er nickte, als hätte er es längst gewusst, obwohl das natürlich unmöglich war. Es gehörte einfach zu seiner Rolle, wurde mir später klar, als ich genauer darüber nachdachte.

»Wie alt bist du?«, wollte er als Nächstes wissen.

»Dreiundzwanzig.«

»Ich hätte dich für jünger gehalten.«

»Wenn es sein muss, kann ich so alt aussehen, wie ich wirklich bin«, erklärte ich. Ich hatte meine Arbeitsklamotten an. Kein Mensch kann erwarten, dass man darin irgendwie schick aussieht.

»Du hast eine ganz gute Stimme. Wenn du deinen Akzent ein bisschen unter Kontrolle bekommst, kannst du für alles Mögliche durchgehen. Woher kommst du?«

»Aus London.«

»London ist groß. Aber du scheinst aus einem guten Stall zu stammen. Wieso bist du überhaupt hier?«

Ich spreche nicht gern über mich. Wenn man zu viel von sich preisgibt, glauben manche Leute, sie könnten Macht über einen ausüben. Aber der Mann sah mich weiter auffordernd an, bis ich die Stille nicht mehr ertrug. »Ich bin aus Bromley.«

»Eltern?«

»Ich nehme an, meine Eltern wohnen noch dort. Zum Umziehen fehlt es ihnen an Fantasie. Wahrscheinlich sitzen sie an der gleichen Stelle wie immer und starren die Tapete an.«

»Und dir war das zu langweilig?« Seine Stimme klang freundlich und aufmunternd.

»Meine Mutter wollte, dass ich aufs College gehe und eine kaufmännische Ausbildung mache, also Tippen und Buchhaltung und solchen Scheiß lerne. Ihr gefiel die Vorstellung, mich jeden Morgen mit dunkelblauem Kostüm und Aktentasche das Haus verlassen zu sehen. Ich wäre viel lieber zur Kunstakademie gegangen. Ich habe immer schon gern Dinge entworfen und selbst gemacht; dafür hatte ich echt Talent. Aber davon wollte meine Mutter nichts wissen. ›Damit vertrödelst du deine Zeit, Viola‹, sagte sie immer. ›Es wird Zeit, dass du ernsthaft an die Zukunft denkst.‹ Mir war klar, wohin eine solche Lebensweise führte; ich hatte ja das Musterbeispiel ernsthafter Zukunftsplanung jeden Tag vor Augen. Mutter hat meinen Vater seit dem Tag ihrer Verlobung dazu gezwungen, ernsthaft zu sein. Meine Schwester hat sie in eine ernsthafte Ehe getrieben. Seither sieht man die Ärmste nie mehr lächeln. Ich habe versucht, meinem Vater zu erklären, was ich gern tun wollte, aber er meinte nur, ich solle die Träumerei lassen und mich der Realität fügen. Er hätte das auch getan. Den Dingen ins Gesicht sehen, nannte er es. Für mich klang es mehr nach: Finde dich damit ab, dein Leben lang unglücklich zu sein.« Ich war der Meinung gewesen, ich hätte den ganzen Mist vergessen, aber ich konnte die Bitterkeit in meiner Stimme selbst hören und spürte, dass ich die Worte geradezu erbrach.

»Und da bist du abgehauen«, lieferte er mir das Stichwort.

»Wir haben uns ständig gestritten. Ich ging mit meinen Kumpels auf die Rolle, während Mutter mich im College glaubte. Ich hätte alles getan, um dieser starren Atmosphäre zu entkommen. Sie sperrte mich in mein Zimmer ein, aber ich kletterte aus dem Fenster auf das Garagendach und sprang von dort auf die Straße. Daraufhin strich sie mir den Unterhalt, aber ich suchte mir einen Teilzeitjob.«

»Und weiter?«

»Na, das Übliche. Sie nahm mir meine Kleider weg, und als mich das nicht zu Hause hielt, begann sie, mich zu schlagen. Sie ist nicht sehr groß, aber sie prügelte mich mit der ganzen Kraft ihrer eigenen Enttäuschung. Ich glaube, es ärgerte sie, dass ich etwas tun wollte, was sie nie gewagt hatte – nämlich Spaß am Leben zu haben. Sie dachte wohl, ich müsste die ganze Zeit dasitzen und darauf warten, dass sie mir sagt, was ich zu tun hätte. Irgendwie war sie nicht über die Vorstellungen des vorigen Jahrhunderts hinausgekommen und glaubte, ich müsste ihr gehorchen, bloß weil sie zufällig meine Mutter war. Aber da hatte sie sich geschnitten! Eines schönen Tages hatte ich genug und lief mit meinem Freund Dean davon. Dean hatte ständig Ärger mit seinem Stiefvater, und wir dachten, dass es uns auf eigenen Füßen besser gehen würde. Er kannte ein paar Leute, die sich in Shepherd’s Bush eine Wohnung teilten. Zu denen zogen wir. Seither bin ich nie wieder zu Hause gewesen und glaube auch nicht, dass ich es je tun werde.«

»Möchtest du immer noch Künstlerin werden?«

»Sie machen wohl Witze!«

»In meinem Geschäft brauche ich kreative Leute«, sagte er, aber ich merkte, dass er es sarkastisch meinte. »Und was ist mit deinem Freund Dean?«

»Wir haben uns nach kurzer Zeit getrennt. Er nahm Kontakt zu seiner Mutter auf und einigte sich mit ihr, doch noch aufs College zu gehen. Mir dagegen gefiel meine Art zu leben.«

»Und jetzt willst du dich an Leuten rächen, die dich an deine Eltern erinnern«, sagte er.

»Quatsch! Ich denke niemals an sie. Die Zeiten sind vorbei. Ich bin selbst wer.«

»Na, wenn du meinst.« Aus der Innentasche holte er eine flache Silberdose hervor und nahm eine Visitenkarte heraus. Dann förderte er einen Stift zutage und schrieb etwas auf die Rückseite der Karte. »Das ist meine Handynummer«, erklärte er. »Nimm morgen früh den Bus nach Bristol und ruf mich an, wenn du angekommen bist.«

Er war ein ziemliches Schlitzohr und auch noch stolz darauf. Obendrein schien er sich absolut sicher zu sein, dass ich seinem Vorschlag folgen würde. Allerdings hatte er recht, was den Ortswechsel betraf. Es war Zeit, dass ich weiterzog.

»Ich werde dir einiges zu tun geben und dir meine Methoden beibringen. Bestimmt begreifst du schnell.« Und er lächelte mir zu. Zwar war er für meinen Geschmack zu alt, aber wenn er lächelte, sah er ganz gut aus.

»Ich lerne sogar sehr schnell«, gab ich zurück.

Er legte eine Hand auf meinen Arm wie ein guter Freund. »Gut«, nickte er. »Morgen kommst du nach Bristol, und abends gehen wir richtig schön essen. Wir suchen uns ein tolles Restaurant aus und feiern bis in die Puppen. Wenn du willst, schlagen wir auch mal richtig über die Stränge.«

So lernte ich Baz kennen und begann mein neues Berufsleben.

2

Kate? Ich habe tolle Neuigkeiten für Sie!«

Kate Ivory, die gerade einen Schluck Kaffee trinken wollte, stellte vorsichtshalber den Becher ab. Ihre Agentin Estelle Livingstone war am Apparat und klang außergewöhnlich begeistert.

»Tolle Neuigkeiten?« Von ihrem Wohnzimmerfenster im Erdgeschoss überblickte Kate die Agatha Street, deren Bäume sich in der Märzsonne mit dem ersten grünen Schimmer schmückten. Trotz dieses hübschen Anblicks, des fröhlichen Vogelgezwitschers und der Teppiche aus gelben Narzissen in den gegenüberliegenden Gärten schmiedete Kate Umzugspläne. Sie spielte mit dem Gedanken, Fridesley zu verlassen, und zwar so intensiv, dass sie zunächst kaum wahrnahm, worüber Estelle redete. »Geht es um mein Buch?« Sie hatte gehofft, jeglichen Gedanken an Arbeit für ein paar Wochen beiseiteschieben zu können.

»Also, Ihr letzter Roman …«

»Spitfire Sweethearts«, soufflierte Kate zuvorkommend.

»Genau der«, sagte Estelle.

»Der im Zweiten Weltkrieg spielt«, fügte Kate als kleinen Anhaltspunkt sowohl für sich selbst als auch für Estelle hinzu. Es war wirklich beeindruckend, wie schnell der Plot für ein Buch ihrem Gedächtnis entschwand, sobald sie es ausgedruckt, in einem Umschlag verstaut und an ihre Agentin abgeschickt hatte.

»Nun unterbrechen Sie mich doch nicht ständig«, fauchte Estelle scharfzüngig wie eh und je. »Vielleicht erinnern Sie sich an unser letztes Gespräch. Sie wissen, dass Sie Ihren über zwei Titel laufenden Vertrag mit Fergusson’s erfüllt haben, nachdem der Verlag Spitfire Sweethearts angenommen hat, nicht wahr? Damals habe ich Ihnen gesagt, dass wir bei Ihrem nächsten Buch ein wenig offensiver ans Werk gehen würden.«

Sie redete, als spräche sie mit einem eher schwerfällig denkenden Kind. Jetzt, wo Estelle es sagte, erinnerte Kate sich, dass sie über bestimmte Pläne für ihr nächstes Buch nachgedacht hatten. Leider war es nur so, dass ihre Umzugspläne sie im Augenblick sehr viel intensiver beschäftigten. Sie rückte den Kaffeebecher ein Stück nach links, um die Einzelheiten eines zum Verkauf stehenden Hauses in der Fridesley Lane lesen zu können. Wie viel mag es wohl kosten?, überlegte sie. Sie musste wirklich unbedingt umziehen. Seit den Tragödien, die sich in ihrer Nachbarschaft abgespielt hatten, fühlte sie sich nicht mehr wohl in ihren vier Wänden. Es begann, nachdem Edward und Laura Foster auf der einen Seite ermordet worden waren und Jeremy Wells, ihr Nachbar auf der anderen Seite, kurze Zeit später bei einem Unfall ums Leben kam. Nun standen die Häuser rechts und links von ihr leer. Obwohl Kate alles andere als abergläubisch war, erschien es ihr wie ein Omen. Außerdem veränderte die Straße in zunehmendem Maße ihr Gesicht. Der vertraute, abbröckelnde Putz und die verrosteten Gartenzäune waren ersetzt worden, statt wild wuchernder Vorgärten sah man jetzt immer öfter pflegeleichten, farbigen Kies und winzige japanische Ahornbäume. Junge, berufstätige Paare, die keine Zeit für Ehe und Familie hatten, übernahmen die Häuser von großen, lärmenden Familien wie den Venns, deren fröhliches Durcheinander sich häufig auf der Straße abspielte und durch die Hintertür bis in Kates Küche schwappte.

»Ich brauche eine Atempause«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Estelle. »Ich bringe es noch nicht fertig, schon wieder ein erstes Kapitel zu entwerfen. Jetzt noch nicht.«

»Jetzt ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für Befindlichkeiten«, entgegnete Estelle. »Eine so fantastische Gelegenheit ergibt sich nicht jeden Tag, und ich werde nicht zulassen, dass Sie sie ungenutzt verstreichen lassen. Reißen Sie sich zusammen, Schätzchen.«

Schätzchen? Hatte Estelle sie je so genannt? Vielleicht war es ja wirklich an der Zeit, sich einen Ruck zu geben, dachte Kate. »Keine Sorge«, erklärte sie hastig, »in meinem Kopf schwirren jede Menge Ideen herum. Nicht nur das Konzept, das ich Ihnen schon zugeschickt habe, sondern eine Geschichte im gleichen Ambiente wie Spitfire Sweethearts. Sie spielt ebenfalls in den vierziger und fünfziger Jahren, weil ich mir für diese Zeit schon das Hintergrundwissen angelesen habe.« Das war zwar eine geringfügige Übertreibung, weil sie genau genommen für Spitfire Sweethearts höchstens zwei oder drei Bücher gelesen hatte, doch Estelle gegenüber durfte man sich nicht zu bescheiden geben – sie war imstande, die eigene Einschätzung als Fakt hinzunehmen und einen demgemäß zu behandeln. »Haben Sie Fergusson’s mein Konzept schon zugeschickt? Besteht Interesse?«

»Durchaus, aber …«

Kate blätterte im Immobilienmagazin eine Seite weiter und suchte nach einem Haus, das mit ihrem Reihenhaus in der Agatha Street vergleichbar war. Sie hätte nämlich gern gewusst, wie viel sie dafür verlangen konnte. »Hat Fergusson’s sich auf einen höheren Vorschuss eingelassen?« Ehe sie das Haus zum Verkauf inserierte, würde sie noch renovieren müssen und vor allem etwas gegen das vergilbte Gras im Garten tun, das den Namen Rasen längst nicht mehr verdiente. Rosa Kies vielleicht? Sie könnte große Terracotta-Töpfe kaufen und sie mit …

»Sie hören mir überhaupt nicht zu!«, schimpfte Estelle.

»Aber sicher, ganz bestimmt.« Kate lenkte ihre Aufmerksamkeit von japanischen Kirschbäumen auf den Vertrag für ihr nächstes Buch. »Sie haben mir aber immer noch nicht gesagt, ob Fergusson’s dieses Mal einen vernünftigen Vorschuss zahlt.«

»Ich versuche Ihnen die ganze Zeit klarzumachen, dass Fergusson’s gar nicht zur Debatte steht. Wir haben ein viel besseres Angebot. Ich hatte Ihnen doch angedeutet, dass ich das Konzept drei oder vier wirklich großen Verlagen vorgelegt habe, und einer hat uns ein Angebot gemacht. Sie machen Karriere – endlich!«

»Ach ja?« Kate blickte an sich hinunter. Sie trug ein verwaschenes T-Shirt und eine Jeans, die sie eigentlich längst in die Kleidersammlung hatte geben wollen. Schnell malte sie sich ein schickes schwarzes Kostüm und ein knallrotes Seidentop aus, um ihrer Agentin zumindest in Gedanken ein standesgemäßes Bild von sich zu übermitteln.

»Wir haben ein Angebot von Foreword auf dem Tisch«, fuhr Estelle fort.

Kate fügte dem Bild eine echte Perlenkette und ein Paar schwarze Pumps von Charles Jourdain hinzu. »Und das auf der Grundlage von nicht einmal zehn DIN-A4-Seiten?« Nach reiflicher Überlegung entfernte sie die Perlen und ersetzte sie durch einen Seidenschal.

»Sie fanden den Entwurf gut und können sich eine Zusammenarbeit vorstellen.«

Kate unterdrückte das Bedürfnis, wie ein Gummiball zu hüpfen, und gab sich stattdessen Mühe, kühl und kultiviert zu klingen. Ein Verlag wie Foreword würde Kultiviertheit erwarten. »Das sind doch die, die ihre Autoren so ausgezeichnet vermarkten, oder? Soviel ich weiß, verkaufen sie Millionen von Büchern.«

»Sie haben ein ganz gutes Marketing, sind aber nicht der bedeutendste Literaturverlag. Allerdings wollen sie ihr Sortiment erweitern, und deshalb habe ich ihnen ein paar von Ihren bereits veröffentlichten Romanen sowie den Entwurf geschickt. Ich glaube ernsthaft, dass Sie bei diesem Verlag gut aufgehoben sind.«

»Qualität und hoher Standard eben«, suggerierte Kate.

»Foreword hat natürlich schon immer einen guten Ruf gehabt, aber jetzt wollen sie Verträge mit jungen Talenten abschließen und ihr Programm erweitern.«

»Hat die Verwaltung nicht sogar ihren Sitz hier in Oxford?«

»Ja, soviel ich weiß, liegt sie ganz in der Nähe des Bahnhofs. Es ist wirklich eine Schande. Wenn sie wirklich so expandieren wollen, wie sie es vorhaben, werden sie eines Tages wohl oder übel nach London übersiedeln müssen, um sich mit den ganz Großen messen zu können.«

»Also, für mich ist es natürlich ganz bequem, dass sie in Oxford sind. Aber erzählen Sie mir noch ein bisschen von dem Deal.«

»Sie haben uns einen Vertrag über drei Bücher vorgeschlagen!« Estelle war nicht in der Lage, ihren eigenen Jubel ganz zu unterdrücken.

»Wie viel?«, erkundigte sich Kate und brachte damit das wichtigste Interesse einer seriösen Autorin zur Sprache.

Estelle nannte eine Summe, die Kates Erwartungen um mehr als das Doppelte übertraf. »Für jeden einzelnen Titel«, fügte sie hinzu.

»Hört sich ganz akzeptabel an«, erklärte Kate so ruhig es ihr eben möglich war.

»Heißt das, dass ich das Angebot von Foreword akzeptieren kann?«

»Ja, Estelle. Definitiv ja!«

»Wunderbar.« Kate konnte geradezu hören, wie Estelle ins Telefon lächelte. »Ich werde veranlassen, dass der Vertrag aufgesetzt wird. In der Zwischenzeit können Sie sich schon einmal Ihrem nächsten Buch widmen. Ihr neuer Lektor wird Sie bestimmt kennenlernen wollen, um mit Ihnen Ihre Zukunft beim Verlag zu besprechen. Der Mann heißt übrigens Neil.«

Zukunft beim Verlag? Das hörte sich ja fantastisch an! Noch vielversprechender war die Aussicht, endlich nicht mehr von der Hand in den Mund leben zu müssen. »Wir werden uns ja wohl hier in Oxford treffen. Kommen Sie mit dazu?«

»Aber selbstverständlich. Oxford ist schließlich nur eine Stunde von London entfernt. Ich kümmere mich um einen Termin möglichst schon in den nächsten Tagen. Wann hätten Sie Zeit?«

»Lassen Sie mich kurz in den Kalender schauen«, sagte Kate, obwohl sie genau wusste, dass außer einem Zahnarzttermin nichts anlag.

Estelle schlug einige Termine innerhalb der kommenden vierzehn Tage vor, und Kate erklärte jedes Mal, dass sie sich vermutlich freimachen könne. Natürlich war Estelle bewusst, dass jeder Autor grundsätzlich Zeit für eine Einladung zu einem kostenlosen Mittagessen mit seinem Verleger hatte. Aber die zweiwöchige Frist gab Kate die Möglichkeit, ein paar teure Kleidungsstücke anzuprobieren und etwas von Forewords großzügigem Vorschuss auszugeben. Wenn sie ihre Kreditkarte benutzte, müsste sie höchstens ein bis zwei Monate Zinsen zahlen, ehe der Scheck gutgeschrieben würde. Auf keinen Fall durfte sie vergessen, einen Friseurtermin auszumachen. Sie brauchte dringend einen neuen Schnitt und ein paar frische Farbsträhnchen.

»Der neue Lektor wird Ihnen gefallen«, klang Estelles Stimme durch Kates Tagtraum. »Er ist ein entzückender junger Mann.«

Entzückend und jung? Kate horchte auf. Alle Alarmglocken in ihrem Kopf schrillten. Sie konnte nur inständig hoffen, dass Estelle nicht wieder dabei war, sich auf eine ihrer unpassenden Beziehungskisten einzulassen. Die Agentin hatte eine Schwäche für entzückende junge Männer, und wenn die Beziehung dann zerbrach – das taten Estelles Beziehungen grundsätzlich –, fand Kate sich schlimmstenfalls mit einem aufgelösten Vertrag wieder und musste sich nach einem neuen Verleger umsehen.

»Er gehört einer neuen Generation an«, fuhr Estelle fort, »und ist erst seit kurzer Zeit bei Foreword. Vorher stand er bei einem renommierten Londoner Verlag unter Vertrag und ist daher gewohnt, mit Bestsellerautoren zusammenzuarbeiten. Einen vielversprechenden Autor hat er bereits gefunden, aber er hält nicht nur Ausschau nach Krachern, sondern ist auch sehr sensibel, was die wahre Liebe zum Buch und wirklich gute Literatur angeht.«

»Heißt das, ich muss auf meine Rechtschreibung achten?«

»Ich denke, er interessiert sich mehr für Ihren Schreibstil und Ihre originelle Sprachverwendung als für Ihre Orthografie.« Orthografie? Anscheinend übte auch Estelle schon für den hohen Standard. »Außerdem gefällt ihm Ihre natürliche Erzählbegabung. Sie werden in Zukunft endlich die Möglichkeit haben, näher auf Psychologie und Motivation Ihrer Charaktere einzugehen. Neil und ich sind der Ansicht, dass Fergusson’s Nachfrage nach historischen Romanen Sie ein wenig ausgebremst hat. Bei Foreword können Sie endlich Ihr wahres Talent entfalten.«

Kate lehnte sich in ihren Sessel zurück und bemühte sich, ihre Stimme nicht allzu selbstgefällig klingen zu lassen. »Der Mann scheint ja wirklich Ahnung zu haben. Wie lautet sein Nachname?«

»Orson. Neil Orson.«

Kate notierte den Namen in ihrem Kalender. »Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen.«

»Sie werden sich sicher blendend mit ihm verstehen. Ach ja, noch eine Kleinigkeit …«

»Ja?«

»Wie wäre es, wenn Sie rasch noch eine erste Version des ersten Kapitels schreiben würden? Nur, um ihm zu zeigen, wozu Sie fähig sind, wenn Sie sich auf eine Aufgabe konzentrieren? Sie könnten mir ein paar Tage vor unserem Treffen eine Kopie zuschicken, und ich drücke sie Neil in die Hand, sobald er uns das erste Glas Wein eingeschenkt hat.«

»Ich werde es versuchen.«