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Christopher Townsend, der Haushaltsbeauftragte des Bartlemas College, ist nachweislich betrunken, als er von der Spitze des Gnaden-Turms fällt. Seinem tragischen Tod verdankt die Schriftstellerin Kate Ivory das Angebot, die bereits begonnenen Vorbereitungen für ein vierzehntägiges Kolloquium unter dem Motto "Genus und Genre" zu übernehmen.
Doch Kates neue Kollegen scheinen sich ihr gegenüber feindlich zu verhalten, obwohl sie dem College mit ihrem Einsatz einen Gefallen erweist. Und wer hinterließ den Satz "Neugier ist der Katze Tod" auf einem von Christophers Aktenordnern? Als Kate schließlich selbst Drohungen erhält, beginnt sie sich zu fragen, ob Christophers Tod tatsächlich ein Unfall war. Möglicherweise hatte er etwas entdeckt, das nicht für seine Augen bestimmt war. Und möglicherweise setzt sich Kate, indem sie seine Arbeit fortführt, ebenfalls einer schrecklichen Gefahr aus ...
Ein neuer Fall für die ermittelnde Schriftstellerin Kate Ivory. Eine atmosphärische Kriminalserie mit einer besonderen Heldin, deren scharfe Beobachtungsgabe und ungewöhnliche Methoden die gemütliche britische Stadt Oxford ordentlich durchwirbeln. Perfekt für Liebhaber von intelligenter und charmanter Cosy Crime, für Leser von Martha Grimes und Ann Granger.
"Stallwood gehört zur ersten Riege der Krimiautoren." Daily Telegraph
"Unterhaltung pur!" Daily Mail (über "Ruhe sanft in Oxford")
"Atmosphärisch und fesselnd!" The Sunday Times (über "Der Tod kommt rasch in Oxford")
"Stallwoods Heldin sprüht vor Intelligenz und Witz." The Times
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Seitenzahl: 370
Christopher Townsend, der Haushaltsbeauftragte des Bartlemas College, ist nachweislich betrunken, als er von der Spitze des Gnaden-Turms fällt. Seinem tragischen Tod verdankt die Schriftstellerin Kate Ivory das Angebot, die bereits begonnenen Vorbereitungen für ein vierzehntägiges Kolloquium unter dem Motto »Genus und Genre« zu übernehmen. Doch Kates neue Kollegen scheinen sich ihr gegenüber feindlich zu verhalten, obwohl sie dem College mit ihrem Einsatz einen Gefallen erweist. Und wer hinterließ den Satz »Neugier ist der Katze Tod« auf einem von Christophers Aktenordnern? Als Kate schließlich selbst Drohungen erhält, beginnt sie sich zu fragen, ob Christophers Tod tatsächlich ein Unfall war. Möglicherweise hatte er etwas entdeckt, das nicht für seine Augen bestimmt war. Und möglicherweise setzt sich Kate, indem sie seine Arbeit fortführt, ebenfalls einer schrecklichen Gefahr aus …
Veronica Stallwood kam in London zur Welt, wurde im Ausland erzogen und lebte anschließend viele Jahre lang in Oxford. Sie kennt die schönen alten Colleges in Oxford mit ihren mittelalterlichen Bauten und malerischen Kapellen gut. Doch weiß sie auch um die akademischen Rivalitäten und den steten Kampf der Hochschulleitung um neue Finanzmittel. Jedes Jahr besuchen tausende von Touristen Oxford und bewundern die alten berankten Gebäude mit den malerischen Zinnen und Türmen und dem idyllischen Fluss mit seinen Booten – doch Veronica Stallwood zeigt dem Leser, welche Abgründe hinter der friedlichen Fassade lauern.
Veronica Stallwood
Unheil über Oxford
Ein Kate-Ivory-Krimi
Ins Deutsche übertragen von Ulrike Werner-Richter
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der englischen Originalausgabe: Oxford Fall
© 1996 by Veronica Stallwood
© für die deutschsprachige Ausgabe 2006 by
Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Gerhard Arth/Stefan Bauer
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von © shutterstock: Megin
Illustration: © phosphorart/David Hopkins
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-3460-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Carlo, in LiebeFür die Jahre der Freundschaft
Mein herzlicher Dank für Ermutigung und Hilfe geht an Kate Charles, Bill Clennell, Glenys Davies, Hugh Griffith, Robert McNeil, Susan Moody, Annabel Stogdon, Cathy und Peter Wilcox und Jeremy Wilson.
Gebrochen ist der Zweig,
Der stark noch hätte werden können,
Ein Raub der Flammen wurd’ Apollos Lorbeerkranz,
Der einst in diesem weisen Mann geblüht.
Christopher Marlowe, Doctor Faustus
Theologie!«
»Hallo, ist dort die theologische Abteilung der Bodleian Library?«
»Sicher. Habe ich doch auch gesagt: Theologie.« Die Stimme klang hallend, als käme sie aus den Tiefen eines großen Saales mit einer hohen, bemalten Decke und einem Boden, der vor Bohnerwachs glänzte. Beinahe erwartete man einen Chor von Mönchen, die im Hintergrund das Veni Creator sangen. Allerdings hätte der Bibliothekar wahrscheinlich sofort jeden weltlichen oder geistlichen Sänger angewiesen, entweder aufzuhören oder zu gehen.
»Könnte ich bitte mit Andrew Grove sprechen?«
»Tut mir Leid. Mr Grove hält sich für zehn Tage in Kalifornien auf.«
»Mist!« Angesichts einer Stimme, die sich selbst als Theologie vorstellte, hatte Kate Ivory Hemmungen, sich mit ihrer üblichen Geradlinigkeit auszudrücken.
»Darf ich Ihren Namen erfahren?«, fuhr Theologie fort.
»Kate Ivory. Ich bin mit Mr Grove befreundet. Ich bin die Frau, die Romane schreibt.«
»Ach ja, ich glaube, ich habe von Ihnen gehört. Sie sind auch die Frau, die in Bars immer Pinot blanc ordert, nicht wahr? Könnte ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«
Im Hintergrund klapperten Absätze über das Parkett. Eine Glocke läutete.
»Wohl kaum«, sagte Kate. »Es sei denn, Sie hätten zufällig gerade einen nicht allzu schwierigen, gutbezahlten Job für mich. Einen netten, sicheren und vor allem ungefährlichen Job.«
»Ich fürchte, die Abteilung Theologie hat derzeit nichts Passendes für Autorinnen historischer Romane zu bieten. Aber vielleicht kann Ihnen unsere Sekretärin mehr dazu sagen. Übrigens bin ich der festen Überzeugung, dass die meisten Arbeitsplätze in der Bibliothek so sicher sind, wie sie dank zahlreicher Gesundheits- und Sicherheitsverordnungen nur sein können.«
»Das glauben Sie!«, entgegnete Kate Ivory. Ihre Erfahrungen mit der Bibliotheksarbeit hatten sie das Gegenteil gelehrt; unerwartete und teilweise lebensbedrohliche Vorfälle waren an der Tagesordnung gewesen. Allerdings verspürte sie keinerlei Lust, einem wichtigtuerischen Theologie-Bibliothekar die Einzelheiten zu erläutern.
»Wissen Sie was? Ich gebe Ihnen einfach die Nummer unserer Sekretärin.« So geschah es, und dann legte die Stimme der Theologie auf – vermutlich, um ihre Aufmerksamkeit einem verdienstvolleren Objekt zuzuwenden.
Kate schrieb die Nummer pflichtschuldigst mit, betrachtete sie stirnrunzelnd, weil ihr ihre früheren Tätigkeiten in Oxfords Bibliotheken in den Sinn kamen, knüllte dann das Papier zusammen und beförderte es schwungvoll in den Papierkorb.
Wie gedankenlos von ihrem Bibliothekars-Freund Andrew, ausgerechnet dann auf Reisen zu gehen, wenn sie ihn brauchte. Genau genommen hätte sie wissen müssen, dass er wegfahren wollte. Doch irgendwie hatte sie immer, wenn er das Thema Konferenz zur Sprache brachte, nur genickt und »Ja, Andrew« gesagt, sich noch ein Glas Pinot blanc eingeschenkt und im Geiste den Beginn des nächsten Kapitels neu formuliert, während er über kooperatives Katalogisieren schwadronierte. Gerüchten zufolge traf man bei solchen Konferenzen nach Mitternacht häufig auf Zehenspitzen durch Hotelflure schleichende Teilnehmer, doch Kate glaubte nicht recht, dass so respektable Menschen wie Bibliothekare sich derart aufführten.
Und jetzt saß sie mit leeren Händen da. In einem Monat würde zwar ihr nächstes Buch erscheinen, doch jeder Penny Vorschuss war bereits verplant. Ihr neuestes Manuskript lag zur Beurteilung auf dem Schreibtisch ihres Agenten. Bis zum nächsten Honorarscheck würde sie noch vier lange Monate überbrücken müssen. Sie brauchte Geld. Nicht unbedingt viel. Es musste nur für Essen reichen und dafür, ihr Auto zu unterhalten und ab und zu mit Benzin zu füttern. Zwar hätte ihr Arbeitszimmer durchaus einen neuen Anstrich brauchen können, und oben stand ein Sessel, der neu bezogen werden müsste, doch das konnte warten – im Gegensatz zum Essen. Kate konsultierte ihr Adressbuch. Zwei Mal wählte sie ohne Erfolg. Bei der dritten Nummer meldete sich jemand.
»Hallo?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung schien eigene Sorgen zu haben.
»Emma? Hier ist Kate.« Da keine Antwort erfolgte, fügte sie hinzu: »Kate Ivory. Die Schriftstellerin. Ich habe letztes Jahr deinen Kurs ›Kreatives Schreiben‹ als Schwangerschaftsvertretung übernommen.«
»Ich weiß durchaus, wer du bist. Wie könnte ich es auch je vergessen! Du brauchst dir bloß anzusehen, was mit meinem Kurs passiert ist, während du ihn geleitet hast. Danach war es nie mehr wie vorher. Der freundliche Zusammenhalt, die Vertrautheit – alles weg!«
»Aber dafür kann ich doch nichts!«
»Na ja, ich weiß nicht. Ganz gleich, wohin du gehst, das Unheil scheint dir auf dem Fuß zu folgen. Was willst du überhaupt von mir?«
»Du bist doch im Komitee für diese Fortbildungs-Sache.«
»Sehr richtig. Allerdings handelt es sich nicht um eine Fortbildung, sondern um einen vierzehntägigen Workshop mit dem Titel: ›Die Auswirkung des Geschlechts auf die Gattung‹, das im Bartlemas College abgehalten wird und für das sich massenhaft höchst gebildete Amerikaner interessieren. Sie zahlen astronomische Summen dafür, elegant, aber unbequem zu leben, und wollen erfahren, was meine Kollegen und ich ihnen über Krimis, Liebesromane, SF und so weiter zu erzählen haben.«
Kate musste diesen Satz erst einmal verdauen und schwieg. Dann versuchte sie einen anderen Weg. »Wie geht es den Kindern, Emma? Der Kleine – äh –, nun, er muss wohl inzwischen ordentlich gewachsen sein. Die anderen sicher auch.« Ihr wurde klar, dass sie besser hätte aufpassen müssen, wenn Emma die Namen der Kinder erwähnte; vor allem den der neuesten Errungenschaft. Wie viele Kinder hatte sie eigentlich inzwischen? Vier? Fünf? Jedenfalls ziemlich viele. Kate bemühte sich, ihre Stimme mitfühlend klingen zu lassen. »Es muss ganz schön anstrengend sein, einen Haushalt zu führen, die Kinder zu erziehen, Bücher zu schreiben und obendrein auch noch diesen Workshop zu organisieren.« Dabei schob sie den Gedanken beiseite, dass Emmas Haushalt mehr an eine Schutthalde erinnerte; ihre Ablage war ein Stapel eselsohriger Blätter, und die Kinderschar tollte zwar fröhlich herum, wurde aber ziemlich vernachlässigt.
»Mit anderen Worten: Du suchst Arbeit.«
»Nun ja …«
»Wenn du bei diesem Workshop hättest mitmachen wollen, hättest du dich bewerben müssen, als ich dir zum ersten Mal davon erzählt habe. Die Referenten sind längst engagiert, und mehr werden nicht gebraucht. Das College kümmert sich um die gesamte administrative Seite; dem Komitee werden nur die direkten Ausgaben ersetzt. Ich kann dir nicht einmal einen Job als Tippse anbieten. Tut mir aufrichtig Leid, Kate, aber wenn du Geld brauchst, kann ich dir dieses Mal nicht weiterhelfen.«
»Okay, ich denke, ich finde sicher bald etwas.« Allerdings musste es wirklich bald sein, wenn sie Wert auf regelmäßige Mahlzeiten legte.
»Warum versuchst du es nicht bei deinem Freund bei der Bodleian? Er hat dir doch schon öfter ausgeholfen.«
»Er ist im Augenblick verreist. Aber ich werde ihn fragen, wenn er zurückkommt.«
»Viel Glück«, sagte Emma. Und dann, als täte es ihr Leid, Kate nicht helfen zu können, fügte sie hinzu: »Warum kommst du nicht einfach nächste Woche mal zum Abendessen vorbei? Tom und die Kinder würden sich sicher riesig freuen!«
Almosen, dachte Kate. Jetzt bietet man mir schon eine warme Mahlzeit statt eines lukrativen Jobs an. »Danke, aber leider bin ich im Moment ziemlich ausgebucht«, erwiderte sie.
»Verstehe. Aber wenn du doch irgendwann Zeit haben solltest, brauchst du nur anzurufen.«
Der größte Teil des Bartlemas Colleges, das zur Universität Oxford gehört, stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert. Damals verfügte eine fortschrittliche Stadtverwaltung, dass die unhygienischen, mittelalterlichen Gebäude größtenteils abgerissen und durch luftige, schön proportionierte, an drei Seiten umbaute Höfe ersetzt werden sollten; die vierte Seite blieb offen. Lediglich der Speisesaal, der Küchenbereich, eine recht nüchterne Kapelle aus dem siebzehnten Jahrhundert und ein aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammender Turm blieben erhalten. Gemessen an den Maßstäben der Leute, die zu Emmas Workshop anreisen würden, war das College hinsichtlich des sanitären Angebots und der Schlafmöglichkeiten sicherlich unbequem. Doch es gilt als eines der schönsten neueren Universitätsgebäude von Oxford und besitzt einen weithin gerühmten, von einem Schüler Gertrude Jekylls angelegten Garten. Für die Belange der Besucher war allerdings noch interessanter, dass man den Küchenchef des Bartlemas einem der besten Londoner Hotels abgeluchst hatte; seine Desserts erweckten den Neid aller anderen Mensen der Universität.
An einem Nachmittag im Frühjahr, einige Monate vor Kates Telefonat mit Emma, unterhielten sich zwei Personen in einem Raum, dessen hohe Fenster auf den Pesant-Hof gingen.
»Wie viel nehmen Sie an einem durchschnittlichen Morgen so ein?« Die Frage klang beiläufig, doch der Angesprochene ließ sich nicht täuschen.
»Weniger als etwa dreißig bis vierzig würden wir als nicht zufrieden stellend ansehen.«
»Pfund?« Der Fragesteller schien enttäuscht.
»Tausend. Dreißig- bis vierzigtausend Pfund.«
»Ach.«
Der Frager wandte sich zum Fenster und blickte hinaus, als wäre ihm die Sache nicht weiter wichtig. Das Glas war alt und hatte sich im Lauf der Jahrhunderte verzogen. Man hatte den Eindruck, alles wie durch das grüne Wasser eines Baches zu sehen. Eine Gruppe Studenten schlenderte über den Rasen des Innenhofs. Auf der gegenüberliegenden Seite endeten zwei Gebäudekomplexe in einem alten Turm, den der Architekt des achtzehnten Jahrhunderts (man vermutete, dass es James Gibbs gewesen war, doch Beweise gab es dafür nicht) in die Gebäude integriert hatte; der hohe, viereckige, zinnenbewehrte Turm bestand aus sanft goldfarbenem Stein, der das nachmittägliche Sonnenlicht aufzusaugen schien. Auf seiner Plattform hielten sich einige Personen auf, die sich gegenseitig auf landschaftliche Besonderheiten hinwiesen. Aus der Entfernung klangen ihre Stimmen wie Vogelgezwitscher.
»Das ist der Tower of Grace«, erklärte der zweite Mann, der zu dem anderen getreten war und ihm über die Schulter blickte. »Er stört die Symmetrie des Pesant-Hofs und war dem klassizistischen Empfinden des Erbauers sicher ein Dorn im Auge. Trotzdem bin ich froh, dass man ihn erhalten hat. Ich persönlich finde ihn schön.«
»Warum ›Grace‹? Wurde er nach einer Frau benannt? Vermutlich nicht!«
»Wir Leute von heute bilden uns ein, dass die Menschen vergangener Zeiten weniger für ihre Frauen und Kinder empfanden, als wir es heutzutage tun. Tod und Dämonen lauerten an jeder Ecke – warum also sollten sie einem Menschenleben Wert beimessen? Warum sollte man sein Herz an ein Baby oder dessen Mutter hängen, wenn sie einem doch jeden Augenblick von einer Krankheit, einem Unfall oder einem unfähigen Quacksalber entrissen werden konnten?«
»Ich vermute, Sie werden mir gleich erklären, dass diese Auffassung nicht stimmt.«
»Wir haben Beweise in Form von Briefen, die wir im Archiv des Colleges in einer langweiligen, grauen Kiste verwahren.«
Der erste Mann seufzte. Er hätte lieber über moderne Dinge gesprochen. »Und?«
»Die Briefe berichten von einem reichen Händler, dessen Söhne hier im Bartlemas College studierten – oder besser gesagt: in der St. Anselm’s Hall, die damals an dieser Stelle stand. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete der Händler ein zweites Mal. Die Frau war deutlich jünger als er, zart gebaut und von zerbrechlicher Gesundheit. Als sie schwanger wurde, fürchteten die Ärzte um ihr Leben. Auch um das ihres Kindes.«
»Dann war der Turmbau also sozusagen ein Versprechen?«
»Nicht ganz. Der Mann bat die Mönche, für seine Frau und das ungeborene Kind zu beten. Aus den Aufzeichnungen wissen wir, dass dies auch geschah. Doch die junge Frau starb trotzdem, und das Baby mit ihr. Die Trauer des Mannes war so tief, dass er sein gesamtes Vermögen ausgab, um diesen Turm zu bauen, den er nach seiner verstorbenen Frau benannte.«
»Grace?«
»Eigentlich hieß sie Gráinne, doch ihr Name wurde mit Grace übersetzt.«
»Und kaum war der letzte Stein verbaut, da starb unser Held an gebrochenem Herzen?«
»Durchaus nicht. Es gibt Beweise, dass er noch ein weiteres Mal heiratete – anscheinend eine wesentlich robustere Frau –, weitere vier Kinder zeugte und sein Vermögen zurückgewann.«
»Ehrlich gesagt verstehe ich die Moral Ihrer Geschichte nicht ganz.«
»Hatten wir von Moral gesprochen?« Der Sprecher lächelte. »Ich dachte, hier ginge es um Geld.«
»Was uns zurück zu den ehemaligen Mitgliedern und Wohltätern des Colleges bringt, die uns die beträchtlichen Summen zur Verfügung stellen, die wir heute benötigen.«
»Wieso? Haben Sie ein bestimmtes Projekt im Auge, das aus Fördergeldern finanziert werden soll?«
»Schon möglich. Ich habe da eine Idee, die ich gern mit Ihnen besprechen möchte.«
»So etwas brauche ich in schriftlicher Form, und zwar in fünffacher Ausfertigung, damit das Komitee sich ein Bild machen kann.«
»Ich dachte zunächst eher an ein zwangloses Gespräch. Nur Sie und ich.«
»Das klingt ja schon fast konspirativ.«
»Oh, ich glaube, in einen Plan müssen mehr als zwei Leute verwickelt sein, damit er konspirativ wird.«
»Möchten Sie noch Kaffee?«
»Danke, gern.«
»Diese Fenster haben Gibbs’sche Umrandungen.«
»Die allerdings vermutlich nicht von Gibbs stammen. Man täuscht sich schnell. Es ist wie mit vielen Dingen: Der Name trifft nicht unbedingt auf das zu, was sie in Wirklichkeit sind. Sie werden sicher bemerkt haben, dass es auch hier im College einen Unterschied zwischen Schein und Sein gibt.«
Die Studenten hatten den Hof verlassen, und die Besucher stiegen von der Plattform des Turms. Es war so still, dass die beiden Männer sich durchaus allein im College wähnen konnten.
»Vielleicht sollten Sie mir jetzt sagen, um was es geht.«
Es war einer jener in England seltenen Sommer gewesen, in denen die Sonne Tag für Tag mitleidlos von einem blauen Himmel brannte. Abends wurde es so schwül, dass die Menschen sich nach einem lufterfrischenden Gewitter sehnten. Wegen der Wasserknappheit durften keine Grünflächen mehr gesprengt werden. Gepflegter englischer Rasen verwandelte sich in braune Stoppeln. Die Blumen in den vertrockneten Gärten blühten, welkten und bildeten Samen in Rekordzeit, und die Ernte begann vierzehn Tage früher. Jetzt, in der zweiten Augusthälfte, sah die Landschaft golden und fast schon herbstlich aus. Unter solchen Umständen kann es leicht passieren, dass selbst die heitersten Naturen zeitweise knurrig und grantig werden und sich mit Partnern oder Herzallerliebsten streiten, wie das folgende Telefongespräch beweist:
»Wie meinst du das – du willst nicht mehr?«
»Genau wie ich es gesagt habe, Chris. Ich bin es leid!«
»Unmöglich. Ich lasse dich nicht!« Eine Faust donnert auf einen Tisch.
»Ich streite mich nicht mit dir am Telefon.«
»Wo denn sonst?«, kommt die lautstarke Antwort.
»Wir sehen uns zum Mittagessen, wie verabredet. Dann können wir reden.«
»Wiedersehen!« Der Hörer knallt auf die Gabel.
»Wiedersehen, Chris.«
Nach ihrem Gespräch mit Emma beschloss Kate, ihrer Enttäuschung dadurch Herr zu werden, dass sie in die Innenstadt von Oxford spazierte und sich nach einem neuen Notizbuch umsah. Sie fand es besänftigend, Geld für nicht unmittelbar nötige Dinge auszugeben. Außerdem war sie schon seit ihrer Kindheit verrückt nach Schreibwaren. Während andere Kinder ihre Mütter um Lutscher anbettelten, hatte sie sich immer nach Buntstiften und Notizbüchern gesehnt.
Es war noch immer brütend heiß. Sie zog ein kurzes, ärmelloses Kleid mit weitem Ausschnitt an, das in allerlei Blautönen prunkte. Nachdem sie das kürzlich erst frisch blondierte Haar durchgebürstet hatte, entschied sie sich für glänzende Ohrringe aus Titan und schlüpfte in italienische Ledersandalen.
Wenn sie keinen Job fand, würde sie sich mit dem Sammeln von Material für ihr nächstes Buch beschäftigen – und dafür brauchte sie natürlich ein Notizbuch. Es würde ihr Glücksbringer, ihr Maskottchen sein. Vor allem durfte es nicht irgendein Notizbuch aus der Schreibwarenabteilung eines Billiganbieters sein; nein, sie würde die einschlägigen Geschäfte durchforsten müssen, die dekorative Artikel an Touristen verkauften, bis sie etwas fand, das ihre Fantasie beflügelte. Dann erst konnte sie mit dem Schreiben beginnen, und zwar mit der Hand und einem richtigen Füllfederhalter. Sie würde Material zu dem geplanten Thema sammeln, bis sich der erste Schimmer eines Romans bemerkbar machte. Je nachdem, wie sie sich fühlte, würde sie sich vielleicht auch einen neuen Füller kaufen. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass ihre Sammlung von fünf schwarzen Füllern mit Goldfeder vermutlich auch dem produktivsten Schriftsteller ausreichend erscheinen dürfte. Andererseits, so rechtfertigte sie sich, gab es Frauen, die ihr ganzes Leben damit verbrachten, nach dem einen, farblich perfekten Lippenstift zu suchen. Warum sollte sie also nicht ihre Suche nach dem ultimativen Schreibgerät fortsetzen? Dem Füller, der sich in ihre Hand schmiegte und ganz von allein tausende gut verkäuflicher Wörter produzierte?
Vor dem Haus saß Harley auf der niedrigen Mauer von Nummer 12. Harley hatte einen Strubbelkopf und war der Älteste der Nachbarskinder. Ohne Rücksicht auf den Zustand seiner teuren Turnschuhe ließ er die Füße gegen die Steine baumeln. Kate verstand sich einigermaßen gut mit den Nachbarn, obwohl sie häufig ziemlich laut waren, und trotz des unsympathischen Kleinkindes, das sie insgeheim immer nur Krötengesicht nannte.
»Was ist los, Harley?«, fragte sie. Im vergangenen Jahr hatte Harley ihr geholfen, ihre miserablen Fahrkünste zu verbessern. Er hatte ihr ein paar von seinen Kumpeln abgeschaute Tricks beigebracht; die Jungs machten gern ab und zu Spritztouren mit gestohlenen Autos.
»Nichts«, antwortete er. Vielleicht lag es nur am nahenden Ende der Ferien. Kate konnte sich nicht vorstellen, dass Harley viel für geistige Arbeit übrig hatte.
Doch ehe sie sich endgültig Richtung Innenstadt wandte, fragte sie ihn: »Ach, übrigens, Harley, wie heißt ihr eigentlich mit Nachnamen?«
»Was war das? Sie wohnen seit vier Jahren hier. Kennen Sie echt unseren Nachnamen nicht?«
Sie konnte ihm wohl kaum erklären, dass sie ihre Nachbarn bei sich immer nur Familie Krötengesicht genannt hatte. Daher schüttelte sie nur den Kopf.
»Wir heißen Venn«, sagte er. »Wie das Diagramm.«
Also doch nicht Krötengesicht. Jedenfalls hatte sie den Eindruck, in den nachbarschaftlichen Beziehungen einen Schritt weitergekommen zu sein.
»Tschüss dann«, verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg. Dabei fragte sie sich kurz, was Harley mit Diagramm gemeint hatte. Harley hatte den Kopf wieder auf die Brust sinken lassen und bearbeitete das Mäuerchen mit seinen Absätzen.
In der August-Schwüle herrscht immer noch gereizte Stimmung. Die Telefondrähte in Oxford glühen, weil hohe Temperaturen und übermäßige Luftfeuchtigkeit unterdrückte Gefühle zu entfesseln vermögen.
»Hör mir doch wenigstens zu, Chris! Verstehst du nicht, dass ich mich wie in einer Falle fühle? Du musst das doch begreifen. Mir ist, als liefe ich einen schmalen, auf beiden Seiten eingezäunten Pfad entlang, der geradenwegs auf eine steile Felsenkante zuführt.«
»Nein. Das ist einfach lächerlich!«
»Könnten wir nicht wenigstens darüber reden? Uns etwas einfallen lassen?«
»Hast du den Eindruck, dass ich schuld daran bin?«
»Ich mache dir keinerlei Vorwürfe, Chris.«
»Das finde ich schon!«
»Sprich nicht so mit mir. Ich weiß, am liebsten würdest du jetzt auflegen. Aber du musst mir zuhören! Wir müssen etwas tun! Wir müssen etwas verändern. So geht es nicht mehr weiter!«
»Ach ja? Warum musst du nur immer so übertreiben? Ich finde, du benimmst dich hysterisch.«
»Ich will dich nur warnen. Ich kann einfach nicht mehr.«
»Immer mit der Ruhe. Vielleicht solltest du dir erst einmal einen Kaffee machen.«
»Sei nicht so herablassend. Wir treffen uns zum Mittagessen, und dann reden wir.«
»Tut mir Leid, aber Mittagessen schaffe ich nicht. Ich habe eine Verabredung.«
»Mit wem? Könnte ich nicht dazukommen?«
»Ich treffe mich mit dem Verwalter. Es wird sicher schrecklich langweilig und würde dir bestimmt nicht gefallen. Außerdem geht es um dienstliche Angelegenheiten; für persönliche Dinge bleibt da keine Zeit, das kannst du mir glauben.«
»Dann heute Abend?«
»Ja, sicher. Natürlich!«
»Bis dann.«
»Bis heute Abend. Tschüss.«
Er findet, dass er die Sache ganz gut über die Bühne gebracht hat. Noch ein auf später vertagtes Problem, denkt er.
Doch unglücklicherweise täuscht er sich. Für ihn wird es kein ›Später‹ mehr geben.
Kate schlenderte durch den Covered Market, kaufte an einem Obststand ein Pfund Äpfel und ging dann weiter die Turl Street hinunter. Viele Blicke folgten ihr. Sie begutachtete jedes gebundene Notizbuch in der Stadt. Eines war zwar wirklich hübsch, hatte aber nicht die richtigen Maße. Eines war groß genug, und das Papier war dick und glänzend, doch leider fehlten die Linien. Kate ging die High Street entlang in Richtung Magdalen Bridge. Immer noch hatte sie nichts Passendes gefunden. Du vergeudest einen geradezu perfekten Arbeitstag, schalt sie sich. Doch der Himmel war blau, die Sonne schien warm, und es tat ihr gut, ausnahmsweise einmal einen Tag zu vertrödeln.
Unmittelbar vor der Magdalen Bridge wechselte sie die Straßenseite und blieb vor einem weiteren Schreibwarengeschäft stehen. Der Bürgersteig war an dieser Stelle sehr eng. Ständig wurde Kate von Passanten angerempelt, die entweder darauf warteten, die Straße überqueren zu können, oder in Richtung Innenstadt hasteten.
Mit Kameras behängte Touristen, die nur Augen für das schönste Oxford-Motiv hatten, traten ihr auf die Füße. Kate achtete nicht auf sie, denn sie hatte ein blaues Notizbuch mit goldenen Sonnen und Monden auf dem Einband entdeckt. Teenager lärmten herum und stießen mit ihren Rucksäcken gegen sie. Hinter ihr hupte ein entnervter Motorradfahrer eine Gruppe Radler an. Eine aggressive junge Frau in Springerstiefeln drängte sich zwischen Kate und dem Schaufenster hindurch. »Entschuldigung«, sagte Kate laut. Ihre Ohrringe klirrten bei jeder Bewegung. Sie überlegte, ob sie nicht doch das Notizbuch mit den feuerroten Mohnblumen und der schwarzen Katze schöner fand. Zwei Männer mittleren Alters in Tweedjacken und schwarzen Roben schlängelten sich gekonnt vorbei, ohne ihr angeregtes Gespräch zu unterbrechen, obwohl sie einer ziemlich lauten italienischen Jugendgruppe ausweichen mussten. Dieseldunst waberte in bläulichen Wolken über die Straße.
»Entschuldigung!«, wiederholte Kate, als ihr erneut ein Passant auf die Füße trat.
»Mein Fehler.« Die Antwort hatte sie nicht erwartet.
Kate blickte vom Schaufenster auf, wo sie einen ungewöhnlich schönen, schwarzen Füller mit vergoldeter Feder entdeckt hatte. Neben ihr war ein Mann stehen geblieben und schien sich über den Zustand ihres Fußes Sorgen zu machen. »Griechische Gottheit«, war alles, was ihr bei seinem Anblick einfiel. Er sah wirklich außergewöhnlich gut aus. Ein langes, schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und schwarzen Augenbrauen. Intelligent, aber kein Intellektueller, dachte sie. Schieferblaues Hemd, dunkelgrüne Krawatte, grauer Leinensakko. Er würde sich hervorragend auf ihrem Samtsofa machen, doch auf die Schnelle fiel ihr keine Möglichkeit ein, ihn dorthin zu bekommen.
»Schon gut«, sagte sie und blickte tief in seine dunkelblauen Augen. Am liebsten hätte sie ihm eine lange Geschichte aufgetischt, dass sie vor Schmerzen fast von Sinnen wäre und unbedingt eines Whiskys bedurfte, die Pein zu betäuben. »Ist nichts passiert.« Sie rieb den linken Knöchel am rechten Fuß und begutachtete sein dichtes braunes Haar, die feste Kinnlinie und die gesunde Sonnenbräune. »Wird sicher nicht lang wehtun.« Bedauernd sah sie seinen breiten Schultern und dem geraden Rücken nach. Er ging noch ein Stück die High Street in Richtung Carfax entlang, bog in eine kopfsteingepflasterte Gasse ein und verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Bartlemas Row, dachte Kate. Ob er zum College gehört? Vielleicht kennt Emma ihn ja. Wenn er zufällig solo ist, könnte sie uns miteinander bekannt machen. Doch dann seufzte sie. Sie wusste sehr wohl, dass das Leben selten so gütig war. Und so betrat sie den Laden und bat darum, den Füller im Schaufenster ausprobieren zu dürfen. »Ja, den mattschwarzen mit der feinen Spitze bitte.«
»Hallo? Emma Dolby am Apparat.«
»Hallo Emma. Hier ist Senta Norris.«
»Was kann ich für dich tun, Senta?« Emma bemüht sich, warm und herzlich zu klingen, doch es klappt nicht ganz. Senta Norris ist ein aufstrebendes Talent auf dem Gebiet historischer Sagas und kämpft sich gerade an die Spitze der Bestsellerlisten. Doch auf ihrem Weg nach oben hat sie Emma ordentlich ihre Absätze spüren lassen.
»Weißt du noch, bei einem unserer Treffen mit dem Komitee haben wir über eine Anthologie gesprochen. Jeder der Teilnehmer könnte eine Kurzgeschichte beitragen.«
»Richtig«, bestätigte Emma. »Aber ich glaube, wir waren uns über den Herausgeber nicht einig. Hast du etwa eine Idee?«
»Ehrlich gesagt habe ich daran gedacht, die Sache selbst in die Hand zu nehmen«, säuselt Senta. »Natürlich ohne Kosten für das Komitee.«
»Und du glaubst, du könntest diese Anthologie einem Verlag verkaufen?«, fragt Emma, die den Charakter ihrer Gesprächspartnerin durchaus durchschaut.
»Nun, ehrlich gesagt …« Senta hält inne, weil ihr auffällt, dass sie sich wiederholt, und sie sich fragt, ob Emma tatsächlich so naiv ist, wie sie sich gibt. »Ich glaube, ich könnte meinen Verlag dafür interessieren, wenn wir eine gute Prise Sex hineinbringen.«
»›Geschlecht und Genre‹ – ist das nicht Sex genug?«, fragt Emma.
»Na ja, vielleicht fällt uns noch ein besserer Titel ein«, sagt Senta. Ihre Augen ruhen auf einem Brief von ihrem Verlag, in dem steht, dass das Buch mit dem Titel »Sex – Eine literarische Chronik«, herausgegeben von Senta Norris, innerhalb der nächsten zwölf Monate erscheinen wird, und dass Senta als Herausgeberin fünftausend Pfund Honorar sowie zehn Prozent vom Reingewinn erhält. Die Rechte an den Beiträgen werden jedem Autor einmalig mit fünfzig Pfund abgegolten.
»Was meinst du mit Verrat?«
»Du weißt sehr genau, wovon ich spreche, Chris.«
»Ich glaube, du hast da etwas falsch verstanden. Das Ganze ist nichts als ein dummes Missverständnis.«
»Oh, ich denke, ich habe sehr gut verstanden. Und jetzt begreife ich auch.«
»Nun beruhige dich erst einmal.«
Doch sein Gegenüber beruhigt sich keineswegs. Wütend, mit ausgestreckten Händen, gefletschten Zähnen und weit geöffneten Augen stürmt die Gestalt auf Chris los. »Warum hast du das getan? Was hast du dafür bekommen?«
»Nein, ehrlich! Lass mich dir alles erklären.«
»Bekommst du es jetzt endlich auch mit der Angst zu tun? Weißt du, wie sich das anfühlt? Furcht? Verzweiflung?«
»Gut, okay. Gib mir eine Minute. Ich kann dir alles erklären. Versprochen.«
Ich glaube es nicht. Was machst du da? Hör auf! Was geschieht hier?
»Du bist ein niederträchtiger und boshafter Junge. Du hast gelogen. Mit dir wird es ein böses Ende nehmen.«
»Und was ist mit mir? Hast du mich nach all den Jahren einfach vergessen?«
»Geh weg! Lass mich los!«
Ein lauter Schrei. Himmel und Wolken sausen vorbei, der Schatten von Bäumen und Steinen. Dann ist plötzlich der Boden da. Ein splitterndes Krachen, gefolgt von einer langen Stille.
Schmerzen. Überall Schmerzen.
Was ist passiert? Wo bin ich?
Hallo, ist da jemand?
Er kann die Schritte nicht hören, die von der Brüstung weglaufen, die enge Wendeltreppe hinunterpoltern und aus dem Turm fliehen. Auf dieser Welt wird er nie wieder etwas hören.
Hallo?
Als Kate Ivory wenig später mit ihren neuesten Errungenschaften das Schreibwarengeschäft verließ (sie hatte eine Flasche mit brauner Tinte, das ideale Notizbuch im Format DIN A5 mit Blättern und Blüten auf dem Einband sowie einen neuen Füllfederhalter erstanden), hörte sie die Sirene eines Krankenwagens, der die Magdalen Bridge überquerte und die High Street hinunterjagte. Ohne bestimmten Grund registrierte sie, dass die Ambulanz nach links in die Bartlemas Row einbog; sie vergaß es jedoch auf dem Heimweg sofort wieder.
Auch fiel ihr die Gestalt nicht auf, die an ihr vorüberging und sie so intensiv anstarrte, als wolle sie jedes Detail – angefangen beim kurzgeschnittenen Blondschopf über die glänzenden Ohrringe und den pfauenblauen Saum ihres Kleides bis hin zu ihren nackten, braunen Beinen – in sich aufsaugen.
Kate sah und hörte nichts mehr, denn soeben war ihr eine Idee für ihr neues Buch gekommen. Jetzt brauchte sie nur noch eine gute Handlung und ein paar interessante Charaktere.
Denn die Schlange war schlauer als irgendein anderes Tier im Paradies. Doch der Schöpfer verfluchte die Schlange und nannte sie Teufel.
The Testimony of Truth
Hallo?
Wo bin ich?
Gerne hätte er gefragt, wer er selbst ist, doch diese Frage erscheint ihm zu wichtig, um leichtfertig gestellt zu werden; sie würde weitere, beunruhigende Fragen nach sich ziehen. Und außerdem: Wer würde sie hören? Wer würde, wenn überhaupt, antworten?
Er sitzt in der endlosen Dunkelheit und wagt kaum, sich zu wundern.
Kate sah die Zeitung drei Tage später, als sie im Kiosk von Mrs Clack Briefmarken kaufte. Zunächst sprang ihr die Schlagzeile ins Auge, dann erkannte sie den Mann auf dem Foto daneben. Kein Zweifel – es handelte sich um den griechischen Gott, jenen Mann, der ihr auf den Fuß getreten und sich dafür entschuldigt hatte.
»Haben Sie das gelesen? Schrecklich, nicht wahr?«, sagte Mrs Clack.
Kate reichte ihr die vierzig Pence, bestätigte, dass sie es ebenfalls schrecklich fand und verließ den Laden, um den Bericht draußen weiterzulesen, ohne dass ihr Mrs Clack beständig über die Schultern spähte.
Haushaltsexperte stürzt von historischem Turm in Oxford in den Tod
Am Montag stürzte der im Bartlemas College für die Beschaffung von Haushaltsmitteln zuständige Christopher Townsend von der Plattform des historischen Tower of Grace auf das Pflaster des darunter liegenden Hofes. Möglicherweise glitt er auf der Balustrade aus. Wie Kollegen berichten, hatte der Mann zuvor vermutlich Alkohol getrunken.
Der Chefportier des Bartlemas Colleges fand den bewegungslosen Körper des 37-jährigen Townsend gegen 15 Uhr. »Ich rief sofort einen Krankenwagen«, berichtete er, »und blieb bei Mr Townsend, bis die Sanitäter kamen.« Sofort eingeleitete Wiederbelebungsmaßnahmen zeigten keinen Erfolg. Christopher Townsend verstarb noch an der Unfallstelle.
Zwar hat die Polizei Ermittlungen aufgenommen, man geht jedoch davon aus, dass kein Fremdverschulden vorliegt.
Christopher Mark Townsend, wohnhaft in Eynsham Close, Botley, kümmerte sich am Bartlemas College um Zuwendungen wohlhabender ehemaliger Studenten, die Projekten wie dem Bau von Studentenwohnheimen zugute kommen. »Er war ein äußerst angesehenes Mitglied unserer Belegschaft. Wir alle werden ihn sehr vermissen«, äußerte sich Aidan Flint, Rektor des Bartlemas. Der Quästor des Colleges, Robert Grailing, erläuterte gegenüber unseren Reportern: »Der Tower of Grace ist eine der beliebtesten Touristenattraktionen Oxfords. Von der Plattform aus hat man einen Panoramablick über die gesamte Stadt. Trotz vieler tausend Besucher jährlich hat es bislang noch keinen tödlichen Unfall gegeben, jedoch werden wir selbstverständlich die Sicherheit des Daches einer genauen Überprüfung unterziehen. Chris Townsend war ein ausgesprochen beliebter Mann«, fügte er hinzu. »Wahrscheinlich hat er im Kreis von Freunden oder Kollegen in einem der benachbarten Pubs ein geselliges Mittagessen eingenommen.«
Mr Townsends Witwe Briony befand sich während unserer Recherchen noch in der Obhut von Freunden und sah sich nicht in der Lage, uns ein Interview zu geben. Eine Nachbarin des Paares, Mrs Lisa Batten, erklärte: »Ein schönes Paar! Beide sahen ausgesprochen gut aus, und sie waren glücklich miteinander. Briony hatte diesen herrlichen Garten angelegt, und auch das Haus ist sehr hübsch. Alles schien perfekt zu harmonieren. Ich kann noch gar nicht fassen, dass es zu Ende sein soll. Noch heute Morgen habe ich ihn wie gewöhnlich zur Arbeit gehen sehen. Es ist ein komisches Gefühl, sich vorzustellen, dass er nie mehr nach Hause kommen wird.«
Montagnachmittag. An dem Tag, als Kate ihren neuen Füller und das Notizbuch kaufte. Es musste kurz nach ihrem Zusammentreffen passiert sein. Wenn sie ihn doch nur vor dem Schreibwarengeschäft ein wenig länger aufgehalten hätte! Vielleicht hätte sie die Kette von Ereignissen unterbrechen können, die zu diesem Sturz geführt hatten. Warum hatte sie nicht mehr Theater um ihren geschrammten Fuß gemacht? Ihm einen ihrer Äpfel angeboten? Andererseits: Er war mit dieser Briony verheiratet und hätte Kate vermutlich nicht weiter beachtet; wahrscheinlich wäre er seiner Wege zu diesem Treffen – oder was sonst er auf dem Tower of Grace vorhatte – gegangen.
Aber warum? Was war in der Zeit zwischen ihrem Zusammenstoß auf der High Street und seinem Absturz geschehen? Sie erinnerte sich an sein lebensfrohes Gesicht und sein ansteckendes Lächeln. Vielleicht glorifizierte sie ihn im Rückblick ein wenig, doch er schien ein so gutaussehender, lebensbejahender Mann zu sein, dass es ihr Schwierigkeiten bereitete, sich das plötzliche Verlöschen dieser Energie und Fröhlichkeit vorzustellen.
»Geht es Ihnen gut, meine Liebe?«, rief Mrs Clack ihr aus dem Kiosk zu. »War es einer Ihrer Freunde? Sie haben nicht viel Glück mit Männern, nicht wahr?«
Kate drehte sich um und sah Mrs Clack durch die offene Tür an.
»Nein, ich kannte ihn nicht. Möglicherweise bin ich ihm einmal kurz begegnet. Aber sein Name war mir unbekannt, und er zählte auch nicht zu meinem Freundeskreis.«
Ob sie dem Klatschmaul so Einhalt gebieten konnte? Wahrscheinlich nicht. Es bedurfte mehr als ein paar Fakten, um Mrs Clack davon abzuhalten, pikante Gerüchte in die Welt zu setzen.
»In Ordnung, Sadie«, sagte Emma Dolby und hangelte nach einem blauen Aktenordner auf dem Tisch neben dem Telefon. »Ich habe die Stundenpläne hier. Unter den gegebenen Umständen werden wir die Arbeit mit den Gruppen wohl umdisponieren müssen.« Mit den Fingerspitzen erreichte sie den Ordner und versuchte, ihn am Deckel zu sich heranzuziehen. Der darunter liegende Aktenberg geriet ins Wanken. Eine Lawine loser Blätter ergoss sich auf den Boden. »Warte mal«, sagte Emma, legte den Hörer ab und begann, Papiere und Hefter einzusammeln.
»Bist du noch dran?«, quäkte die Stimme aus dem Hörer. »Emma? Alles in Ordnung?«
»Bestens«, erklärte Emma ein wenig außer Atem. »Alles unter Kontrolle, Sadie. Trotzdem wäre es vielleicht besser, wenn wir uns nach zusätzlicher Unterstützung umsähen. Es müsste jemand sein, der sich um den Verwaltungskram kümmert, die Studenten hätschelt, wenn ihnen danach ist, und sich möglicherweise sogar einen Workshop zutraut.«
»Wüsstest du jemanden?«
»Ich denke mal drüber nach. Vielleicht fällt mir jemand ein.«
Emma legte auf und fuhr fort, Papiere in zugehörige Hefter einzuordnen. Nach fünf Minuten gab sie es auf und machte sich eine Tasse zuckersüßen Kaffee, zu dem sie ein halbes Päckchen Schokoladenplätzchen verspeiste. Das Baby wachte auf. Sie teilte den letzten Keks mit ihm, dann packte sie eine Ladung Wäsche in die Waschmaschine. In einer Viertelstunde musste sie die älteren Kinder aus dem Hort abholen.
Faith Beeton saß auf dem altmodisch grün und weiß gestreiften Sofa in ihrem Wohnzimmer und sah sich um. Sechs Monate nach ihrem Einzug hatte sie endlich die Grundausstattung an Möbeln beisammen; an den Fenstern hingen Gardinen, auf dem Boden lagen Teppiche, und die Wohnung begann, behaglich auszusehen. Noch waren zwei Kisten Bücher auszupacken, doch in ihren Bücherregalen fand sich kein freier Platz mehr. Wahrscheinlich würde sie nie ausreichend Bücherregale haben, ganz gleich, wie viele sie noch kaufen mochte. Obwohl Faith absolut nicht singen konnte – ihre falschen Töne ließen jedem musikalischen Menschen die Haare zu Berge stehen – sang sie in ihren eigenen vier Wänden mit Begeisterung. »Home, sweet home.« Endlich war sie daheim. Es war das erste Heim, das ihr selbst gehörte, und sehr, sehr verschieden von dem Ort, an dem sie ihre Kindheit verbracht hatte.
Sie sah sich nach dem Buch um, in dem sie zuletzt gelesen hatte. Sidneys Arcadia. Sie wollte sich noch einige Notizen zu dem Werk machen, dessen interessantes Gemisch aus unterschiedlichen Gattungen Shakespeares Tragödien beeinflusst hatte; danach würde sie sich wieder ihren Farbmustern widmen. Faith ging die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, das sie in den Farben eines stürmischen Sonnenuntergangs gestaltet hatte: warmes Grau, kombiniert mit einem dunklen, rauchigen Blau, aufgehellt von korallenroten und feurigen Akzenten. Vor allem die Beleuchtung gefiel ihr. Sie war ausreichend hell, ohne allzu viel zu enthüllen; genau wie sie es mochte. Sie legte einen zinnoberroten Seidenschal um ihren Hals, verknotete ihn locker und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Haut wirkte noch fahler als gewöhnlich. Sie nahm Arcadia vom Nachttisch und zupfte die Tagesdecke sehr ordentlich zurecht. Jetzt war alles wieder so, wie es sein sollte. Beinahe hätte sie einen schweren Fehler gemacht. Aber sie hatte ihn gerade noch rechtzeitig wieder ausbügeln können.
Faith suchte das nächste Zimmer auf. Der Makler hatte es als zweites Schlafzimmer bezeichnet, doch sie hatte sofort gewusst, dass sie es als Arbeitszimmer einrichten würde. Der Schreibtisch mit Computer und Drucker stand am Fenster, das Telefon auf dem Fensterbrett; es gab einen kleinen Aktenschrank, ansonsten wurden sämtliche Wände von überquellenden Bücherregalen eingenommen. Sie hatte es geschafft. Ein wenig später als andere Leute vielleicht, aber schließlich hatte sie auch erst spät mit dem Studium begonnen. Zunächst hatte sie Mühe gehabt, mit den Achtzehnjährigen Schritt zu halten, doch bald schon genoss sie das Vergnügen, sie aus dem Feld zu schlagen. Und jetzt hatte sie einen dreijährigen Lehrauftrag an einem Oxforder College in der Tasche.
An den Wänden fehlten noch Bilder, doch die würde sie nach und nach erwerben – sobald sie wusste, was von ihr erwartet wurde. Vielleicht würde sie nach und nach auch ihren eigenen Geschmack kennen lernen. Nachdem ihre Persönlichkeit so viele Jahre hindurch unterdrückt worden war, würde sie ihm Raum für einen Schössling oder gar eine bescheidene Blüte gestatten. Reproduktionen oder Originale?, überlegte sie.
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihre Tagträume.
»Hallo?«
»Hier spricht Emma Dolby. Dr. Beeton, ich brauche Ihre Hilfe.«
Ihr Tonfall war zu süßlich, um ihr zu glauben. »Tatsächlich? Wieso?«, erkundigte sich Faith und widerstand der Versuchung, sich von Emma beim Vornamen nennen zu lassen.
»Sie sind doch sicher über den vierzehntägigen Workshop ›Geschlecht und Gattung‹ informiert«, begann Emma vorsichtig.
»Ich habe davon gehört. Der Name ist ausgesprochen intelligent gewählt«, sagte Faith.
»Danke. Jetzt hat mir leider einer unserer Tutoren, Dr. Happle, ein Fax geschickt, dass er unvorhergesehenerweise in die Türkei reisen muss und sich nicht in der Lage sieht, seine Seminare abzuhalten.«
»Der gute Timothy«, säuselte Faith. »Wie schlau von ihm, unerwartete Ereignisse während seiner Abwesenheit vorauszusehen. Fragen Sie sich nicht auch, wie der unvermeidliche Aufschub in diesem Jahr aussieht? Wahrscheinlich ist es ein ungezogener junger Mann, dunkel, gut gebaut und mit Rehaugen, nicht wahr?«
»Tja«, sagte Emma. »Hm. Was ich Sie fragen wollte, Dr. Beeton: Könnten Sie seine Seminare übernehmen?«
»Ich glaube kaum«, erklärte Faith.
»Sind Sie nicht im Haus? Ist es das?«
»Nein.« Sie überlegte, ob sie hinzufügen sollte, dass sie ihr Bad streichen wollte, und zwar in einem sanften Apricot. Der Vorbesitzer hatte kühles Grau bevorzugt. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie auch ein grelles, mit Dunkelblau und Weiß abgesetztes Grün nehmen könnte. Toll! Ihr Vater hätte sich geschüttelt! Doch das würde sie Emma Dolby bestimmt nicht mitteilen.
»Es wäre wirklich wichtig für das College.« Emmas Stimme wurde zuversichtlicher. »Der Workshop bringt eine Menge Geld ein.«
»Nein«, sagte Faith. Sie wusste, was es für das Leben einer Frau bedeutete, in Situationen wie dieser ja zu sagen, und übte sich daher fleißig im Ablehnen.
»Oh!« Emma gab sich offensichtlich geschlagen. »Nun gut, Dr. Beeton. Lassen wir es für heute dabei.«
»Sie dürfen es endgültig dabei belassen«, versicherte Faith und hängte ein. Sie fand es herrlich, nach all den Jahren schrecklicher Fügsamkeit endlich einmal unhöflich sein zu dürfen.
Während der nächsten zehn Minuten stöberte sie in Farbproben herum, bis sie endlich das grelle Grün fand, nach dem sie suchte. Das Telefon klingelte erneut.
»Faith? Hier ist Timothy Happle.«
»Ich dachte, du hast unabkömmlich in der Türkei zu tun!«
»Ich reise morgen in aller Herrgottsfrühe ab.«
»Dann wünsche ich dir einen netten Urlaub.« Sie hoffte, dass ihre Stimme so ungezwungen klang, wie sie beabsichtigt hatte.
»Hör mal, Faith, ich weiß, es kommt ein bisschen plötzlich, aber du müsstest ein paar Seminare für den Workshop ›Geschlecht und Gattung‹ übernehmen.«
»Ich habe bereits abgelehnt.«
»Hast du einmal darüber nachgedacht, was das bedeutet? Für das College, meine ich. Aber auch für dich und deine Karriere.«
Faith hatte Übung im Erkennen unterschwelliger Drohungen. Ihr Vater war ein wahrer Meister darin gewesen, und ihre Mutter hatte jedes Mal klein beigegeben. In diesem Moment verstand sie ihre Mutter. Timothy Happle war durchaus in der Lage, ihre Karriere positiv oder negativ zu beeinflussen. Sie hatte eine auf drei Jahre befristete Dozentenstelle im Bartlemas und keine Lust, das College in zwei Jahren mit weniger als mittelmäßigen Referenzen verlassen zu müssen. Genau genommen hatte sie überhaupt keine Lust, das College zu verlassen.
»Welche Gattung soll ich denn übernehmen? Ich warne dich! Auf keinen Fall werde ich ein Buch auch nur aufklappen, das man als romantisch beschreiben könnte!«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. Sie hörte Papier rascheln. »Wie wäre es mit Kriminalromanen?«, fragte er. »Ich glaube, einige Werke aus der Literaturliste sind wirklich gut. Na ja, schließlich stammen die Autoren häufig aus Oxford und schreiben neben ihrem Hauptberuf.«
Faith seufzte. In ein paar Wochen würde das Semester beginnen, und sie würde Studenten lehren. Darauf freute sie sich. Das letzte Jahr – ihr erstes an der Universität – war schwere Arbeit gewesen. Doch inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt und kannte sich auch mit den Materialien besser aus. Das Letzte, was sie sich wünschte, war eine Lehrtätigkeit bei den Sommer-Workshops.
»Na gut«, gab sie sich geschlagen. »Am besten gibst du mir die Literaturliste und die zu behandelnden Themen gleich jetzt am Telefon durch, damit ich sofort mit den Vorbereitungen anfangen kann. Wann kommst du übrigens aus der Türkei zurück?«
»In zweieinhalb Wochen. Ich werde noch ausreichend Zeit haben, deine Vorlesungen und Seminare zu überfliegen und dir zu helfen, falls du irgendwelche Probleme haben solltest.«
»Wie nett von dir«, sagte Faith. Sie wusste sehr gut, dass sich auch hinter diesem Angebot der Hinweis verbarg, möglichst keine Probleme aufkommen zu lassen.
»Dann kann ich also Emma Dolby sagen, dass du übernimmst«, resümierte er, und es klang so, als ob er nun endlich den letzten Koffer schließen und das Taxi zum Flughafen rufen könne. »Sie wird dich über alle Details informieren.«
»Gerne«, log Faith. Wart’s nur ab, Timothy Happle, dachte sie. Eines Tages werde ich auf dem Weg zur Spitze über dich hinwegtrampeln, und es wird mir ein großes Vergnügen sein!
Kurz darauf ging sie wieder nach unten, um ihre Bücherkisten zu durchforsten. Sie gestattete sich eine Stunde für Arcadia, dann wollte sie sich mit Notizen über Dorothy L. Sayers beschäftigen. Wenigstens hatte Emma sie nicht gefragt, wie es mit ihrem Kochbuch voranging. Das war nämlich ein Scherz, dessen sie allmählich wirklich müde wurde.
Kate Ivory lag in der Sonne. Mit nackten Beinen räkelte sie sich auf der kleinen Rasenfläche hinter ihrem Haus und gab vor, sich mit der Handlung ihres nächsten Buchs zu beschäftigen. Ihre Augen waren geschlossen. Susannah, ihre rote Katze, hatte es sich auf ihrem Bauch bequem gemacht. Drinnen im Haus klingelte das Telefon. Kate dachte darüber nach, ob sie den Anruf entgegennehmen sollte. Dazu müsste sie die Augen öffnen, Susannah stören, aufstehen und ins Haus gehen. Wenn sie schon arm sein musste, wollte sie wenigstens auch verantwortungslos und glücklich sein. Das unsichere Leben als Berufsautorin hatte nur wenige Vorteile, doch sich an einem Sommertag in der Sonne zu aalen, wenn alle anderen arbeiten mussten, war auf jeden Fall einer davon.
Andererseits ist alten Gewohnheiten schwer beizukommen, und so nahm Kate beim siebten Läuten schließlich ab.
»Kate? Emma hier.«
Nach einer unbeweglich in der Sonne verbrachten Stunde und einem Glas Weißwein fühlte Kate sich ein wenig betäubt.
»Hallo Emma.« Ja, richtig, das musste Emma Dolby sein, die dutzendweise Nachkommenschaft produzierte und Geschichten schrieb, die anderer Leute Kinder ruhig halten sollten. Sie hörte sich erheblich freundlicher an als damals, als Kate sie nach Arbeit gefragt hatte.
»Bist du okay, Kate? Du klingst so komisch.«
»Mir geht es gut. Ich habe an meinem neuen Buch gearbeitet.«
»Ich dachte, du liegst in der Sonne und trinkst Weißwein.«
»Ich beschäftige mich gerade mit einer ziemlich kniffligen Stelle im Handlungsablauf. Und wie du dich erinnern wirst, kann ich mir im Augenblick keinen Weißwein leisten.«
»Gut, dann leg dein Buch mal beiseite. Ich hätte da einen Vorschlag, wie du für dich selbst Reklame machen könntest.«
»Du willst mir doch nicht etwa wieder deinen Lehrgang für Möchtegern-Schriftsteller aufs Auge drücken?«
»Ganz bestimmt nicht. Nie wieder! Nicht nach dem letzten Mal.«