Flucht aus Oxford - Veronica Stallwood - E-Book

Flucht aus Oxford E-Book

Veronica Stallwood

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Beschreibung

Um mit dem Tod eines engen Freundes ins Reine zu kommen, ist Kate Ivory aus Oxford entflohen und hat im Cottage einer Bekannten ein paar Meilen entfernt Zuflucht gefunden. In der Ruhe und Abgeschiedenheit des Landlebens hofft sie, Inspiration für ihren nächsten Roman zu finden. Doch kurz nach Kates Ankunft im Cottage wird ihre Gärtnerin Donna unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden, und Kate gerät widerstrebend in den Sog der Ermittlungen. Wenig überzeugt vom offiziellen Verdikt der Polizei beschließt sie, die Fehden und illegalen Geschehnisse hinter den vornehmen Fassaden des Dorflebens aufzudecken. Das erweist sich als schwierig, denn es gibt reichlich Gerüchte und jeder hat eine Theorie bezüglich Donnas Tod ...

Ein neuer Fall für die ermittelnde Schriftstellerin Kate Ivory. Eine atmosphärische Kriminalserie mit einer besonderen Heldin, deren scharfe Beobachtungsgabe und ungewöhnliche Methoden die gemütliche britische Stadt Oxford ordentlich durchwirbeln. Perfekt für Liebhaber von intelligenter und charmanter Cosy Crime, für Leser von Martha Grimes und Ann Granger.

"Stallwood gehört zur ersten Riege der Krimiautoren." Daily Telegraph

"Stallwoods Heldin sprüht vor Intelligenz und Witz." The Times

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Seitenzahl: 348

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung1234567891011121314151617181920212223242526

Über dieses Buch

Um mit dem Tod eines engen Freundes ins Reine zu kommen, ist Kate Ivory aus Oxford entflohen und hat im Cottage einer Bekannten ein paar Meilen entfernt Zuflucht gefunden. In der Ruhe und Abgeschiedenheit des Landlebens hofft sie, Inspiration für ihren nächsten Roman zu finden. Doch kurz nach Kates Ankunft im Cottage wird ihre Gärtnerin Donna unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden, und Kate gerät widerstrebend in den Sog der Ermittlungen. Wenig überzeugt vom offiziellen Verdikt der Polizei beschließt sie, die Fehden und illegalen Geschehnisse hinter den vornehmen Fassaden des Dorflebens aufzudecken. Das erweist sich als schwierig, denn es gibt reichlich Gerüchte, und jeder hat eine Theorie bezüglich Donnas Tod …

Über die Autorin

Veronica Stallwood kam in London zur Welt, wurde im Ausland erzogen und lebte anschließend viele Jahre lang in Oxford. Sie kennt die schönen alten Colleges in Oxford mit ihren mittelalterlichen Bauten und malerischen Kapellen gut. Doch weiß sie auch um die akademischen Rivalitäten und den steten Kampf der Hochschulleitung um neue Finanzmittel. Jedes Jahr besuchen tausende von Touristen Oxford und bewundern die alten berankten Gebäude mit den malerischen Zinnen und Türmen und dem idyllischen Fluss mit seinen Booten – doch Veronica Stallwood zeigt dem Leser, welche Abgründe hinter der friedlichen Fassade lauern.

VERONICA STALLWOOD

Flucht aus Oxford

Ein Kate-Ivory-Krimi

Ins Deutsche übertragen von Ulrike Werner-Richter

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1998 by Veronica Stallwood

Titel der englischen Originalausgabe: Oxford Blue

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2007/2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Anke Stockdreher

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung eines Motives © shutterstock: Megin

Illustration: © phosphorart: David Hopkins

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3463-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Allen meinen ehemaligen und gegenwärtigen Lieblingsbewohnern von Vine Cottages in Zuneigung gewidmet:Leopold und PapagenosowieAlan und RobertJeremy und StéphanieSimon und Sarah

1

Das Dorf Gatt’s Hill schmiegt sich an einen Hügelrücken oberhalb des Thame-Tals. Beim Flüsschen Thame handelt es sich um einen eher bescheidenen Vertreter seiner Gattung. Selbst im Februar, wenn die Flutungswiesen unter Wasser stehen und die Autos an der alten Steinbrücke durch tiefe Pfützen fahren, macht es einen recht friedlichen Eindruck. Murmelnd windet es sich durch sein steiniges Bett; ein plätschernder Zeuge der unspektakulären Tragödien und Triumphe in den Dörfern und Weilern an seinem Weg.

Manchmal spaziert Kate Ivory zur Brücke hinunter, lehnt sich über die bemooste Steinmauer und starrt in das gluckernde braune Wasser hinunter. Wenn sie nur lange genug schaut – wer weiß, vielleicht wäre das Flüsschen in der Lage, ihren Kummer mitzunehmen, ihn weit fort hinaus ins Meer zu schwemmen und ihn auf Nimmerwiedersehen versinken zu lassen. Doch an diesem Tag wagt sie sich nicht einmal so weit vor die Tür. Das Wetter ist grau und der Himmel wolkenverhangen. Sie bleibt am Gartentor von Crossways Cottage stehen und betrachtet die Aussicht.

Ein älterer Dorfbewohner, dem ein griesgrämig dreinblickender Hund mit grauer Schnauze folgt, schlurft vorüber.

»Hallo«, grüßt Kate freundlich. »Heute sieht es nach Regen aus, nicht wahr?«

Der Mann wirft ihr einen flüchtigen Blick zu und wendet den Kopf sofort wieder ab. Dabei brummt er etwas, was sich wie »Mnerf« anhört und möglicherweise Kates Intelligenz infrage stellen soll.

Der Hügelrücken, auf dem sich Gatt’s Hill ausbreitet, ist nicht sehr hoch; mehr als hundertfünfzig Meter über dem Meeresspiegel hat er nicht zu bieten. Dennoch ist er hoch genug, um einigen besonders glücklichen Dorfbewohnern einen unverstellten Blick auf die knapp fünfzig Kilometer entfernten Chilterns zu gewähren. An diesem Septembertag liegen die fernen Berge hinter einem Schleier aus bläulichem Dunst. Links vom Dorfzentrum erkennt Kate den behäbigen normannischen Kirchturm, der gerade jetzt von einem zwischen dunklen Wolken hervordringenden Sonnenstrahl kunstvoll illuminiert wird. Mehr zur Rechten, hinter einer Gruppe zerfledderter Pappeln, erheben sich einige kleine Hügel; jeder wird von einem Dickicht aus Bäumen gekrönt, das aus der Entfernung an Brokkoliröschen erinnert. Über die Landschaft ziehen sich Hochleitungsdrähte, die sich an einem Punkt zu treffen scheinen; der Punkt markiert den Standort des Kraftwerks von Didcot, über dem eine weiße Wasserdampfwolke hängt.

Kate Ivory atmete die frische Landluft ein, deren unverkennbarer Güllegeruch sie in der Nase kitzelte, und lauschte der friedlich bäuerlichen Ruhe von Gatt’s Hill. Irgendwo in der Ferne fuhr ein Mähdrescher durch ein Weizenfeld. Über ihren Kopf brummte ein kleines Flugzeug hinweg, gefolgt vom lauteren Knattern eines Hubschraubers. Ein paar Kinder stürmten auf den Spielplatz gegenüber von Kates Cottage und begannen, sich an den Schaukeln lautstark zu streiten. Ein gelber Möbelwagen zuckelte den Hügel hinunter auf den Nachbarweiler zu. In Gegenrichtung erklomm ein Moped denselben Hügel und verschwand lärmend in der einzigen Straße des Dorfs. Niemand schenkte Kate auch nur die geringste Beachtung.

Genau was ich jetzt brauche, dachte sie: Frieden, Ruhe und die Möglichkeit, mich von den Schrecken der vergangenen Monate zu erholen. Oxford lag verborgen hinter dem Hügel in ihrem Rücken. Selbst wenn sie bis zum Ende des Gartens ginge, sich über das Gatter beugte und den Hals reckte, würde sie die Stadt nicht sehen können. Aus den Augen, aus dem Sinn – so hoffte sie zumindest.

Nach der Tragödie hatte ihre Freundin Callie vorgeschlagen, dass Kate ihrem Haus zumindest für einige Zeit den Rücken kehren solle.

»Du brauchst unbedingt Urlaub«, hatte sie erklärt, als sie Kates Blässe und die dunklen Ringe unter ihren Augen gesehen hatte. »Wie wäre es mit Sonne tanken auf den Bahamas? Oder einer Trekkingtour in Nepal?«

»Nein, danke«, hatte Kate geantwortet. »Beides gehört zwar zu den Dingen, die ich unbedingt irgendwann einmal tun möchte, aber irgendwie fehlt mir im Augenblick die Energie dazu. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, Callie. Morgens muss ich mich zum Aufstehen geradezu zwingen, und ich habe seit Wochen nicht mehr richtig gearbeitet.«

»So etwas nennt man Trauerarbeit«, hatte Callie sanft geantwortet. »Du musst dir die Zeit nehmen, über das hinwegzukommen, was geschehen ist. Manchmal ist es dabei hilfreich, einigen Abstand zwischen sich und den Ort des Geschehens zu bringen – wenigstens ein paar Kilometer. Zieh doch einfach in mein Cottage. Ich habe während der nächsten drei Monate in New York zu tun, wenn alles gut läuft, auch länger.«

»Und was wird in der Zwischenzeit aus meinem Haus?«

»Vermiete es. Überlass es einer Agentur, die sich um alles kümmert. Dabei machst du sogar noch Profit.«

»Und was hast du davon?«

»Ich lasse das Cottage nicht gern so lange leer stehen. Du tust mir also einen Gefallen. Gleichzeitig würden fremde Leute in deinem Haus sozusagen die bösen Geister vertreiben und dazu beitragen, dass die Erinnerungen nicht mehr so lebhaft sind. Und vielleicht bringt dich ja die neue Umgebung wieder ein bisschen auf Trab und vor allem auf andere Gedanken.«

»Was macht man denn so auf dem Land? Wie soll ich die Zeit totschlagen?«

»Mit langen Spaziergängen auf matschigen Wegen oder indem du dich dem aufregenden gesellschaftlichen Leben in unserem Dorf anschließt. Du könntest auch ein Bild malen oder ein Buch schreiben. Du bist doch Schriftstellerin!«

Schließlich hatte Kate sich überzeugen lassen. Callie war nach New York verschwunden, und Kate hatte ein paar Koffer und ihren Computer in ihren alten Peugeot gepackt, war nach Gatt’s Hill gefahren und hatte es sich für unbestimmte Zeit in Callies Cottage bequem gemacht. Bis es mir wieder besser geht, sagte sie sich.

Vielleicht fühlte sie sich inzwischen tatsächlich schon ein wenig besser als bei ihrer Ankunft, aber sie war immer noch weit entfernt von ihrem gewohnten lebhaften Naturell. Kate tastete nach einem Taschentuch und wischte sich über die Augen. Sicher lag es am Wind, dass sie plötzlich tränten.

Im Dorf war Ruhe eingekehrt. Nur das leise Weinen des Windes in den Überlandleitungen war noch zu hören. Selbst die Kinder auf dem Spielplatz hatten sich zwischen den mit Müll verunreinigten Büschen auf ein weniger streitsüchtiges Spiel geeinigt. Dass mir das Landleben manchmal ziemlich langweilig erscheint, liegt sicher nur an mangelnder Gewöhnung, dachte Kate. Sie steckte den Finger in die Erde eines Blumentopfes. Trocken und sandig. Ein paar spät blühende Geranien kämpften darum, Kates fehlende Fürsorge zu überleben. Vielleicht sollte sie sich ein Handbuch der Gartenarbeit zulegen, ehe Callies Pflanzen an Vernachlässigung eingingen.

Sie könnte aber auch noch einmal spazieren gehen.

Eine unangenehme Windbö wirbelte Staub auf und blies ihn ihr ins Gesicht. Kate machte kehrt und ging ins Haus zurück. Crossways Cottage war wirklich hübsch, doch in ihrem derzeitigen Zustand ließen die weiß getünchten Mauern, das bemooste Dach und der hohe Ziegelschornstein Kate völlig kalt. Bestimmt ist dieses ungemütliche Wetter schuld daran, überlegte sie. Sicher geht es mir besser, wenn der Frühling kommt. Die kleinen Fenster schienen sie nachdenklich anzustarren. Sie musste unbedingt damit aufhören, die Zeit totzuschlagen. Sie könnte wieder einmal ein Buch lesen oder damit anfangen, sich Notizen für ihren nächsten Roman zu machen. Sie könnte aber auch Radio hören oder einfach nur dasitzen und die Tapete betrachten.

Unentschlossen ging sie wieder nach draußen. Die Regenwolken lockerten auf, und die fernen Berge schienen plötzlich erheblich näher zu sein. Die Sicht war so klar geworden, dass man Bäume und Sträucher deutlich unterscheiden konnte. Das Licht veränderte sich. Plötzlich schien die Vegetation die Umrisse eines Menschen anzunehmen, der mit verrenkten Gliedmaßen und dem Gesicht nach unten auf dem Feld lag. Die rötlichen Blätter eines Hagebuttenstrauchs breiteten sich wie eine Blutlache unter seinem Kopf aus. Alle Büsche und Bäume, ja selbst die Pylone der Überlandleitung, schienen auf ihn zu deuten. Der Mensch wuchs, verbreitete sich über das gesamte Feld und füllte schließlich die ganze Landschaft aus. Ein warmer, metallischer Blutgeruch lag in der Luft. Kate spürte, wie der Himmel über ihr zu verschwinden drohte, und hörte die Krähen in den Baumwipfeln entsetzt aufschreien.

Nein. Kate schüttelte den Kopf und versuchte, sich von dem Bild zu befreien. Sie wollte nicht mehr daran denken. Mühsam konzentrierte sie sich auf die nähere Umgebung, bis der Himmel wieder stillstand und die Vögel schwiegen. Die letzten Kinder verließen den Spielplatz und machten sich auf den Weg zum Abendessen. Eine Elster kreischte vor Entzücken über den wiedereroberten Spielplatz. Eine grauhaarige Frau in Gummistiefeln führte ihren Hund spazieren. Ein junger Mann in dunkler Kleidung und schwerem Schuhwerk ging vorüber, ohne einen Blick an das Cottage zu verschwenden. Er hatte das Profil einer klassischen Statue, regelmäßige, gut geschnittene Züge und blauschwarzes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Seine Haut war tief gebräunt; er sah aus, als würde er viel Zeit an der frischen Luft verbringen. Kate sah ihm nach, bis er verschwand.

Weiter unten auf der Straße näherte sich ein Auto, das noch nicht zu sehen war. Kate identifizierte das unverkennbare Motorengeräusch eines alten VW-Käfers. Ein Vehikel mit Seltenheitswert, dachte sie und wartete, bis der Wagen in Sicht kam. Tatsächlich. Er war knallgelb, hatte jede Menge Rostflecken und einige Dellen. Vor dem Cottage kam das Auto stotternd zum Stehen. Die Fahrerin öffnete die Tür mit einem Faustschlag und streckte ihre langen Beine auf den grasigen Randstreifen hinaus. Die Beine waren in blickdichte rote Strümpfe gehüllt, die schmalen Füße steckten in schwarzen Wildlederstiefeln. Den Beinen folgten ein dunkelvioletter Rock und eine bunte Patchworkjacke. Die dazugehörige Frau war groß und schlank und hatte dichte braune Locken. Sie holte eine große Ledertasche und einige Plastikbeutel vom Beifahrersitz und ging auf Kate zu. Am Gartentor blieb sie stehen und begutachtete ihr Schuhwerk.

»Ich hatte vergessen, wie matschig es hier auf dem Land ist«, sagte sie. »Jetzt habe ich mir meine Lieblingsstiefel versaut.« Die Frau hatte eine heisere dunkle Stimme, die sie, wie Kate vermutete, vielen Zigaretten und alkoholischen Getränken in exotischen Nachtclubs zu verdanken hatte. Sie und Kate musterten sich eine Weile. »Was zum Teufel hat dich hier ans Ende der Welt verschlagen?«, fragte die Frau schließlich. Ihre Haut war so gebräunt, dass das Grau ihrer Augen fast farblos wirkte.

»Hallo, Mutter«, sagte Kate.

2

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Kate.

»Ist das eine angemessene Begrüßung für deine verloren geglaubte Mutter? Willst du mich nicht wenigstens hineinbitten?«

»Ich habe dich nicht verloren. Du hast mich verloren, als du vor vielen Jahren einfach verschwunden bist«, fauchte Kate, ehe sie sich auf ihre Manieren besann und hinzufügte: »Ja, natürlich. Komm ins Haus. Schön, dich zu sehen.« Ein wenig ungeschickt – immerhin hatten sie sich seit mehr als zehn Jahren nicht mehr umarmt – legte sie flüchtig die Arme um ihre Mutter.

»Wie geht es dir?«, fragte sie.

»Ganz gut.« Sie schienen nicht über Banalitäten hinauszukommen.

»Tut mir leid wegen deiner Stiefel. Wenn du sie an die Hintertür stellst, bürste ich sie nachher ab.«

»Vergiss die Stiefel. Wie geht es dir? Ich finde, du wirkst etwas abgemagert.«

»Vielleicht bin ich einfach nur älter geworden.«

»Quatsch. Mit dem Älterwerden fängt man frühestens an, wenn man deutlich jenseits der vierzig ist. Und jetzt steh nicht rum, sondern hilf mir, das Auto auszuladen.« Gehorsam folgte Kate ihrer Mutter zum Auto, das in einem merkwürdigen Winkel zur Straße abgestellt war: ein Reifen auf dem Randstreifen, die anderen drei auf dem Asphalt. »Nimm das hier«, befahl ihre Mutter knapp.

Kate betrachtete den blauen Koffer, an dem die Überreste diverser Aufkleber von Fluglinien hafteten. Am Griff baumelte ein handgeschriebener Adressanhänger: Roz Ivory. Wie lange war es her, dass sie diesen Namen zuletzt gesehen hatte? Kate hatte schon beinahe vergessen, dass sie so etwas wie eine Mutter überhaupt besaß. Allerdings schien die Frau vor ihr auch nicht gerade eine besonders geeignete Kandidatin für den Job zu sein. Wie in Trance schleppte Kate den Koffer ins Haus.

Eine Minute später erschien ihre Mutter mit einem noch größeren Gepäckstück in Grün, einer verblichenen Stofftasche aus den Siebzigerjahren und diversen Plastiktüten. Sie stellte alles neben den blauen Koffer, wobei der Haufen die Ausmaße eines jungen Elefanten annahm. Kate konnte sich gerade noch bremsen, ihre Mutter zu fragen, wie lange sie bleiben wollte.

»Wie wäre es, wenn du mir den Weg zum Gästezimmer zeigen würdest?«, schlug Roz vor.

Kate öffnete den Mund, um abzulehnen und ihre Mutter zu fragen, wie sie auf die Idee käme, dass sie nach so vielen Jahren noch Lust habe, sie wiederzusehen, doch dann schloss sie ihn wieder, griff nach einem der Koffer und einigen Plastiktüten und stieg vor ihrer Mutter die schmale Treppe hinauf. Im Obergeschoss gab es zwei Zimmer. In dem einen schlief Kate, und das andere, das über das Tal hinausblickte, hatte sie als Arbeitszimmer vorgesehen. Auf dem Tisch stand ihr Computer, einige mitgebrachte Bücher waren im Regal deponiert. Bisher hatte sie zwar noch nicht gearbeitet, doch in den kommenden Wochen wollte sie sich wieder ernsthaft ihren Romanen widmen. Dieses Zimmer, so vermutete Kate, würde nun wohl oder übel als Gästezimmer herhalten müssen.

»Nett hier«, sagte Roz beim Anblick der gelb getünchten Wände, der passend zum Bettzeug bunt karierten Vorhänge und der soliden Landhausmöbel. Sie öffnete die dritte Tür im schmalen Flur. »Und das ist mein Bad?«

»Das ist das einzige Bad im Haus«, erwiderte Kate. »Bis jetzt war es meines.«

Irgendwie hatte sie in Anwesenheit ihrer Mutter ständig das Gefühl, ihr Territorium verteidigen zu müssen, obwohl sie sich selbst dafür verachtete. Würde sie sich allerdings nicht so verhalten, hätte ihre Mutter sie vermutlich irgendwann in die Ecke gedrängt und ihr allenfalls noch einen Besucherstatus zugestanden.

»Du brauchst durchaus nicht auf deinem Besitzstand herumzureiten«, entgegnete Roz. »Habe ich dir nicht als Kind schon beigebracht, dein Spielzeug mit anderen zu teilen?«

Wenn es so weiterging, würden sie in ihre alten Streitereien verfallen, ehe der Tag vorüber war.

»Ich nehme an, du möchtest dich frisch machen«, sagte Kate. »Soll ich inzwischen einen Tee aufsetzen?«

»Mehr hast du zur Feier des Tages nicht zu bieten? Ist Gin im Haus?«

Um halb vier nachmittags? »Könnte schon sein«, antwortete Kate vorsichtig.

»Keine Sorge, das war nur ein Scherz. Außerdem habe ich ein paar Flaschen aus dem Duty-free-Shop mitgebracht. Aber die machen wir später auf. Ein Tee wäre jetzt genau das Richtige.«

Kate ließ ihre Mutter allein, ging nach unten, setzte Teewasser auf und dachte nach. Wenn ihre Mutter etwas aus dem Duty-free-Shop mitgebracht hatte, musste sie im Ausland gewesen sein. Von wo war noch die letzte Postkarte gekommen? Miami? Möglich. Aber vielleicht war es auch Afrika gewesen. Von oben vernahm sie das Platschen von Wasser, das Geräusch der Toilettenspülung und lautes, unmusikalisches Singen. Als Kate ein Tablett mit Tee und Schokoladenkeksen ins Wohnzimmer trug, kam Roz die Treppe herunter. Diese Frau ist ein wahres Energiebündel, dachte Kate. Früher war sie selbst genauso gewesen, doch jetzt fühlte sie sich nur noch unendlich müde, wenn sie diese Eigenschaft an anderen entdeckte.

»Deine Freundin hat einen tollen Geschmack«, erklärte Roz, nachdem sie sich umgesehen hatte. »Und so, wie es aussieht, auch das nötige Kleingeld.«

»Stimmt.« Nachdem Roz ihren Gepäckberg in ihr Zimmer verfrachtet hatte, konnte man das Wohnzimmer wieder in seiner ganzen Schönheit genießen. Neben einigen teuren Möbelstücken gab es zwei tiefe, weiche Sofas, auf denen ohne Weiteres je vier schlanke Menschen einen Sitzplatz gefunden hätten; ein einzelner Faulpelz konnte sich aber auch in voller Länge darauf ausstrecken. Die Vorhänge und Bezüge waren neu genug, um nicht abgenutzt zu wirken, aber alt genug, um gemütlich auszusehen, und die hellen Farben fingen das wenige Tageslicht ein, das durch die kleinen, tief liegenden Fenster drang.

»Ich habe zwar keine Ahnung, warum du dich hier in der Pampa verkriechst, aber das Cottage ist wirklich sehr ansprechend.«

Kate ignorierte die versteckte Frage. »Hast du vielleicht Hunger? Ich könnte in den Supermarkt fahren und etwas zum Abendessen kaufen.«

»Zwanzig Kilometer fahren und dann auch noch kochen und abwaschen? Warum gehen wir nicht einfach in den Pub unten im Dorf? Warst du schon einmal dort? Wie ist er? Wahrscheinlich ein Eldorado für Landeier und Typen in Tweed.«

»Ich habe bei einem Spaziergang einmal durch die Fenster hineingespäht. Sah ganz okay aus. Ein bisschen auf ländlich gestylt, und sie kochen auch abends.«

»Also abgemacht, heute Abend gehen wir essen. Ich lade dich ein.«

Sie schwiegen eine Zeit lang. Schließlich sagte Roz: »Wir könnten jetzt miteinander reden. So etwas nennt man Gespräch.«

»Wie du meinst.« Kate wusste, dass sie unfreundlich klang, aber sie war noch nicht bereit für intime Geständnisse.

»Soll ich dir meine Lebensgeschichte erzählen?«, fragte Roz leichthin. »Oder willst du mit deiner anfangen?«

»Du könntest deine zum Besten geben, aber von hinten nach vorn. Ich sage dir dann, wenn ich genug habe. Zum Beispiel interessiert mich, wie du mich hier in Gatt’s Hill gefunden hast.«

»Nun, ich war bei dir zu Hause in Oxford. Agatha Street, glaube ich. Nach welcher Agatha mag die Straße wohl benannt worden sein?«

»Wahrscheinlich nach der Großtante des Erbauers«, erwiderte Kate. »Und weiter?« Endlich saß ihre Mutter still, und sie hatte Zeit, sie genauer zu betrachten. Roz’ Haut war tief gebräunt, wahrscheinlich von vielen Jahren Sonnenschein in Florida, Kaschmir oder sonst wo auf der Welt. In den Augenwinkeln zeichneten sich feine helle Fältchen ab. Offenbar hatte sie auf ihren Reisen viel Spaß gehabt und häufig gelacht. Ob sie ihre Tochter überhaupt je vermisst hatte? Doch das war eine Frage, die Kate auf keinen Fall stellen wollte.

»Na ja, auf jeden Fall warst du nicht da. Warum bist du umgezogen?«, fragte Roz. »Was haben diese fremden Menschen in deinem Haus zu suchen? Besonders hilfreich waren sie auch nicht gerade. Ich musste mir ein paar gute Ausreden einfallen lassen, ehe sie mit deiner neuen Adresse herausrückten. Warum hast du dich hier am Ende der Welt verkrochen?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Kate.

»Wir haben viel Zeit. Du tust doch nichts, soweit ich gesehen habe.«

»Noch eine Tasse Tee?«

»Nein, danke. Soll ich den zollfreien Whisky holen?«

»Nur zu, wenn du so nötig einen Drink brauchst.«

»Ich trinke so gut wie nie, aber du siehst mir ganz danach aus, als könnte dir ein kleiner Muntermacher nicht schaden«, erwiderte Roz steif.

Sie starrten einander an. Kates Mutter hatte die Patchworkjacke aus Samt abgelegt und trug jetzt eine gemusterte Bluse und ein langes Designer-Oberteil. Ihre Kleidung wirkte fremdländisch, fast exotisch, und wogte und bauschte sich um ihren schlanken Körper. Die herbstlichen Farben passten gut zu ihrem Teint. Sie hatte einen dunkelroten Lippenstift aufgelegt, und Kate wurde sich plötzlich der Tatsache bewusst, dass sie überhaupt nicht geschminkt war und vermutlich sehr blass und verhärmt wirkte.

»Wo warst du die ganze Zeit? Warum hast du dich nie gemeldet?«, fragte Kate.

»Ich war im Ausland. Mal hier, mal dort. Und zu Weihnachten habe ich dir geschrieben.«

»Schon, aber das war 1994.«

»Ich bin sicher, so lang ist es noch nicht her. Eher 1996.«

»1994. Ich habe die Karte einige Zeit aufbewahrt. Und was ist mit meinem Geburtstag?« Kate stellte fest, dass ihre Stimme wie die eines verletzten Kindes klang.

»Ich dachte, du hättest inzwischen längst aufgehört, deine Geburtstage zu zählen. Wer will denn schon an sein Alter erinnert werden?«

»Du hast vielleicht aufgehört zu zählen. Ich nicht. Sieh dich doch an! Du scheinst nicht über 1968 hinausgekommen zu sein!«

»Gefällt dir das Oberteil nicht? Wahrscheinlich würdest du mich lieber in einer Burka sehen. Wenn ich mich recht erinnere, war Tariq ganz scharf darauf. Ich hingegen finde die Burka eher unvorteilhaft.«

»Tariq?«, erkundigte sich Kate, die endlich auf einen Anhaltspunkt im Leben ihrer Mutter hoffte.

»Ach, ein früherer Freund«, gab Roz wegwerfend zurück. »Du hättest ihn nicht gemocht, ganz bestimmt nicht.«

Am ausdruckslosen Gesicht ihrer Mutter erkannte Kate, dass Roz nicht die Absicht hatte, mehr über diesen geheimnisvollen Tariq zu erzählen. »Und was um alles in der Welt ist eine Burka?«, fragte sie.

»Einer dieser scheußlichen Umhänge, die dazu dienen, Männer vor dem Anblick weiblicher Reize zu schützen.«

»Nein, das wäre bestimmt nicht dein Stil«, sagte Kate im Brustton der Überzeugung.

»Sondern? Etwa ein schickes kleines Kostüm aus dem Hause Agnès B.?«

Der Gedanke war so abwegig, dass beide losprusteten.

»So gefällst du mir schon viel besser.« Roz nickte. »Du siehst aus, als hättest du schon seit Wochen nicht mehr gelacht. Was ist bloß los mit dir? Möchtest du es dir nicht von der Seele reden?«

Kate antwortete nicht sofort. Stattdessen trank sie einen Schluck ihres bereits abgekühlten Tees. »Ich bemühe mich noch immer, die ganze Sache zu vergessen«, begann sie schließlich. »Allerdings ohne Erfolg.« Roz nickte ermutigend, und Kate fuhr fort: »Ich muss ständig daran denken. Ich habe es nicht fertiggebracht, in der Agatha Street zu bleiben, weil ein ganz lieber alter Freund im Flur meines Hauses gestorben ist. Sein Name war Andrew Grove. Nein«, unterbrach sie sich, »ich bin schon wieder dabei, die Wahrheit schönzureden. Er ist nicht einfach gestorben, er wurde getötet. Ermordet. Wäre er nicht ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt bei mir zu Hause gewesen, könnte er heute noch leben. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es mein Fehler war. Ich fühle mich schuldig an seinem Tod. Begreifst du jetzt, warum ich weggelaufen bin und mich hier am Ende der Welt vergrabe?«

»Wirklich begreifen kann das wohl niemand, nehme ich an. Aber ich habe Verständnis.«

»Ich will vor allen Dingen keine Leute treffen. Oder ausgehen und so tun, als würde ich mich köstlich amüsieren.«

»Was für eine Art Freund war er?«, fragte Roz in die Stille. »Wie eng wart ihr befreundet?«

»Willst du wissen, ob wir eine Beziehung hatten? Nein, hatten wir nicht. Aber er war ein Teil meines Lebens. Er gehörte einfach dazu. Er hat mir Arbeit besorgt, wenn ich Geld brauchte. Er stellte mir seine meist höchst unpassenden Freundinnen vor, und ich hörte ihm voller Mitleid zu, wenn sie ihn sitzen ließen. Er ging mit mir ins Konzert. Er hat mich bemuttert und für mich gekocht.«

»Hier, nimm dir ein paar Taschentücher.«

»Danke«, schluchzte Kate. »Und ich bin schuld, dass er tot ist!«

»Ich nehme eher an, dass die Bösartigkeit irgendeines anderen Menschen schuld ist.«

»Mag sein, aber damit fühle ich mich nicht weniger schuldig.«

»Hat man den Mörder schon gefasst?«

»Ja. Er sitzt in Untersuchungshaft, aber bis zum Verfahren dauert es sicher noch ein paar Monate. Die Beweisaufnahme scheint kein Ende zu finden.«

»Und du vergräbst dich in der Zwischenzeit hier und brütest vor dich hin. Meiner Ansicht nach sind Schuldgefühle eine ziemlich überflüssige Belastung. Genau wie Depressionen, die einem jegliche Energie rauben und unbeweglich machen.«

»Aus deinem Mund klingt es, als wäre ich nur faul.«

»Nein, ich halte dich durchaus nicht für faul. Mit Faulheit wäre erheblich leichter umzugehen.«

»Und was schlägst du vor, wie ich mit meinen Schuldgefühlen umgehen soll?«

»Wann ist Andrew gestorben?«

»Wie bitte? Ach so – vor drei oder vier Monaten.«

»Also, ich sage es ja nicht gern, aber du solltest dich allmählich wieder berappeln. Irgendwann musst du schließlich damit anfangen. Sieh dich doch nur an, Kate!«

»Was hast du an mir auszusetzen?«

»Wann warst du zuletzt beim Friseur?«

»Ich glaube nicht, dass es hier im Dorf einen gibt.«

»Das hoffe ich auch nicht! Allein bei der Vorstellung, in welchem Zeitalter die hier leben, bekomme ich eine Gänsehaut! Aber in Oxford gibt es bestimmt ein paar vertrauenswürdige Adressen.«

»Anzunehmen. Sieht mein Haar wirklich so schlimm aus?« Kate fuhr sich mit den Fingern über den Kopf. Es fühlte sich tatsächlich ein wenig pappig an.

»Wann hast du dir zuletzt die Haare gewaschen? Sie sind fettig und strähnig.«

»Vielen Dank. Ist es okay, wenn ich sie morgen wasche?«

Sie schwiegen eine Weile.

»Schmollen hat dir noch nie gestanden«, wagte sich Roz nach einer Weile vor.

»Ich schmolle nicht. Ich bin verletzt.«

»Dann ruf deinen Friseur an, am besten jetzt gleich, und mach einen Termin für morgen früh.«

Und wie eine Zwölfjährige trollte sich Kate und tat, wie ihre Mutter sie geheißen hatte. Ja, man konnte sie um zehn Uhr fünfzehn einschieben, allerdings nicht bei ihrer Stammfriseurin. Kate musste zugeben, dass sie sich nach dem Telefonat besser fühlte, was aber durchaus daran liegen mochte, dass sie den Reiz der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter genoss.

»Vielleicht sollten wir eine Liste der Dinge machen, die wir morgen unternehmen könnten«, schlug Roz vor, als Kate zum Sofa zurückkehrte.

»Wie früher in den Sommerferien«, bemerkte Kate.

»Oder an langen Wochenenden«, erwiderte Roz. »Jedenfalls machen wir morgen einen Ausflug nach Oxford.« Sie hielt inne, als sie das Gesicht ihrer Tochter sah. »Irgendwann musst du wieder anfangen. Ich fahre dich zum Friseur, und anschließend kaufen wir dir ein paar neue Kleider.«

»Gefallen dir meine etwa nicht?«

»Erstens sind sie alle schwarz, zweitens passen sie nicht besonders, und drittens stehen sie dir nicht. Wir gönnen uns einen richtig schönen Einkaufsbummel, ganz wie früher. Es wird bestimmt toll. Und wir kommen nicht einmal in die Nähe der Agatha Street.«

»Zum Mittagessen könnten wir vielleicht schon zurück sein«, sagte Kate.

»Spätestens zum Tee.«

»Mittagessen!«, drängte Kate.

»Einverstanden. Zumindest ist es ein Anfang. Du musst unbedingt mal raus. Du siehst aus, als würdest du seit deiner Ankunft hier ständig auf dem Sofa liegen und fernsehen.«

»Manchmal lese ich auch ein Buch.«

»Siehst du, genau das meine ich. Aber ab morgen wird alles anders.«

»Inwiefern? Okay, ich gehe morgen in Oxford zum Friseur. Aber das war’s dann auch schon. Anschließend kehre ich in dieses nette, sichere, etwas langweilige Cottage zurück.«

»Ich bin zwar erst seit ein paar Stunden hier, aber ich habe jetzt schon Fluchttendenzen. Natürlich ist die Aussicht hier ganz schnuckelig, aber wirst du es nicht allmählich leid, dir ständig Felder, Bäume und viele Quadratkilometer matschige Wiesen anzusehen?«

»Nein«, behauptete Kate fest.

»Na ja, ich schon, und ich glaube, du solltest dir ein Beispiel daran nehmen. Ich finde, wir sollten Tagesausflüge nach London, Birmingham und vielleicht sogar nach Edinburgh planen.«

»Birmingham?«

»Oder wir probieren diesen neuen Zug aus, der nonstop nach Paris fährt.«

»Nein, danke.«

»Wie weit würdest du dich denn vom Gartentor entfernen?«

»Sagen wir mal: bis zum Ende der Dorfstraße«, antwortete Kate.

»Hast du gesehen, dass in der Küche eine Ausgabe des Dorfblättchens an der Pinnwand hängt?«

»Ich kann mich entsinnen, es wahrgenommen zu haben. Und?«

»Da stehen jede Menge Dinge drin, die wir unternehmen können, und zwar unmittelbar vor der Haustür. Wenn du wirklich das Dorf nicht verlassen willst, könnten wir den Club der Dorffrauen auskundschaften. Wir könnten aber auch am Treffen des Gemeinderats teilnehmen oder gemeinsam mit den Dorfbewohnern Müll einsammeln und aus Gatt’s Hill ein Dorf machen, auf das man stolz sein kann.«

»Sehen wir etwa wie Dorffrauen aus? Braucht man da kein Passwort? Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass wir bei einem solchen Treffen zugelassen werden.«

»Ich persönlich würde lieber das Nachtleben von Paris erkunden, und wenn das schon nicht geht, dann wenigstens das von Oxford. Aber ich merke schon, dass ich dich kaum hundert Meter von diesem Wohnzimmer fortlocken kann. Trotzdem halte ich jede Art von Aktivität in deinem derzeitigen Zustand für eine deutliche Verbesserung.«

Kate runzelte die Stirn. »Ich stelle gerade fest, dass ich dir zwar viel aus meinem Leben erzählt habe, von dir eigentlich aber noch gar nichts weiß.«

»Mein Leben ist nicht besonders abwechslungsreich verlaufen«, erklärte Roz.

»Mit anderen Worten, es hat sich in Wolken von Cannabisrauch und Absinthdünsten verflüchtigt.«

»Manchmal frage ich mich, woher du diese merkwürdigen altmodischen Ansichten hast.«

Doch ehe sie sich noch in einen Streit hineinsteigern konnten, klopfte es an der Haustür. Roz ging, um zu öffnen. Kate hörte Stimmengemurmel, dann kehrte Roz zurück und fragte: »Weißt du irgendetwas über einen Gärtner?«

»Keine Ahnung.«

»Bestimmt nicht? Draußen ist jedenfalls jemand, der behauptet, sich immer um den Garten von Crossways Cottage zu kümmern.«

»Warte, ich glaube, Callie hat tatsächlich so etwas erwähnt.«

»Du solltest deinen Weinkonsum einschränken. Er schadet dem Gedächtnis«, versetzte Roz spöttisch und ging wieder zur Haustür, um sich dem Gärtner zu widmen. Kate hörte Bruchstücke einer Unterhaltung, dann sagte ihre Mutter: »Gut, dann kommen Sie mal rein.«

3

Überrascht stellte Kate fest, wie tief ihre Vorurteile gegenüber dem Landleben verwurzelt waren, als ihre Mutter mit der Person eintrat, die sich um Callies Garten kümmerte. Intuitiv hatte sie den üblichen, grauhaarigen Mann mit rosiger Gesichtsfarbe erwartet, dessen Hose von einer Kordel gehalten wurde, der sich am Stirnhaar zupfte, mit viel Sachverstand von Mulch und Baumstützen sprach und den richtigen Dünger für Heidekraut auf den ersten Blick erkannte.

»Das ist Donna«, sagte Roz.

Donna trug ein enges schwarzes Top und schwarze Jeans, die wie eine zweite Haut an ihren dünnen Beinen klebten. Ob ihr Gesicht eine gesunde, bäuerliche Hautfarbe zeigte, war unter einem dicken, weißen Make-up und schwarzem Lidstrich kaum festzustellen.

»Ich bin Ihre Gärtnerin«, erklärte Donna, als hätte sie das ungläubige Staunen in Kates Gesicht gelesen. »Hat Miss Callan Ihnen nichts von mir gesagt?«

»Möglicherweise hat sie es getan, aber offenbar habe ich es vergessen«, erwiderte Kate matt.

Donna war zierlich gebaut, hatte hohe Wangenknochen und dunkle Locken, die sie mit einem Gummiband nach hinten gebunden trug. Ihr Hals und die Hände wiesen eine gesunde Sonnenbräune auf, ihre Fingernägel schimmerten violett. In einem Nasenflügel steckte ein Glitzersteinchen, und jedes Ohr war mit fünf goldenen Ringen unterschiedlicher Größe geschmückt. Mitleidig dachte Kate an die Schmerzen, die das häufige Piercing mit sich gebracht haben musste.

Donna lächelte und entblößte dabei unregelmäßige, kaffeefleckige Zähne. »Ich habe die Schuhe ausgezogen, damit der Teppich sauber bleibt.«

»Danke, dass Sie daran gedacht haben. Ich nehme an, Sie arbeiten im hinteren Garten. Kommen Sie durch die Küche«, sagte Kate und ging voraus. Roz hielt sich schweigend im Hintergrund und überließ es Kate, mit der Gärtnerin zu verhandeln. Auf dem Weg durch das Wohnzimmer stellte Kate fest, dass der Teppich die Farbe eines nagelneuen Teddybären hatte, auf der man sicher jeden kleinen Flecken sah.

Donna trottete auf gelben Socken hinter Kate her. »Das ist hübsch«, stellte sie plötzlich fest und fuhr mit ihrem gedrungenen Finger über den glatten Kopf einer kleinen Bronzefigur.

»Ja, das finde ich auch.« Kate nickte. Die Bronze war modern, ziemlich abstrakt und fühlte sich auf eine sinnliche Weise seidig an, wenn man sie berührte. Bisher hatte Kate sich nicht die Mühe gemacht, Callies Besitztümer genauer in Augenschein zu nehmen. Sie hatte lediglich festgestellt, dass sich die Objekte harmonisch in den Stil des Cottages einfügten; erst jetzt fiel ihr auf, dass ein paar ausgesucht schöne Möbelstücke im Zimmer standen und einige sehr hübsche Aquarelle aus viktorianischer Zeit die Wände zierten.

»Sind sie nicht von dem Maler, der sonst immer Kühe malt?«, fragte Donna. »Wie heißt er noch?«

»Ich fürchte, ich habe keine Ahnung«, gab Kate verblüfft zurück.

Zum ersten Mal registrierte sie den rot-blau gemusterten Orientteppich vor dem Holzofen. Callies Journalistenjob musste ziemlich gutes Geld einbringen. Früher hatte sie in Mietwohnungen mit Ikea-Möbeln gelebt, doch die meisten Einrichtungsgegenstände hier lagen weit über diesem Niveau.

»Miss Callan hat voll die Ahnung.« Donna sprach aus, was Kate dachte. »Sie erkennt sofort, ob ein Stück echt ist oder nicht.«

Gegenüber der Eingangstür befand sich die Küche. Sie war groß, quadratisch und mit Natursteinen gefliest, auf denen bunte, moderne Läufer lagen. Der Esstisch und die Stühle waren aus Kiefernholz, die Rollos an den Fenstern lebhaft türkis und grün. Das lange Fenster über der Spüle schien den Garten auf natürliche Weise einzurahmen.

»Ja, das ist er«, bestätigte Donna. Ihre braunen Augen ließen keinen Schluss darauf zu, ob sie sich über die unwissende Großstadtpflanze lustig machte. »Ich war jetzt ein paar Wochen nicht da. Da draußen sieht es echt nach Arbeit aus.«

»Schon möglich.« Kate runzelte die Stirn und überlegte fieberhaft, ob die junge Frau genauere Anweisungen von ihr brauchte.

Donna kaute auf ihren glitzernden Fingernägeln herum. »Soll ich jetzt anfangen? Sie haben mich doch erwartet, oder vielleicht nicht? Wenn Sie mich nicht hier haben wollen, kann ich auch wieder gehen. Arbeit gibt es mehr als genug.«

»Nein, bleiben Sie. Ich bin fast sicher, dass Callie irgendetwas über Sie gesagt hat. Allerdings hatte ich jemand … anderen erwartet.«

»Keine Sorge«, sagte Donna, als wüsste sie längst, was Kate gedacht hatte. »Ich weiß, was ich zu tun habe. Echt! Früher habe ich meinem Onkel Ken immer im Schrebergarten geholfen. Jeden Nachmittag nach der Schule bin ich zu ihm hin. Die alten Knacker aus dem Dorf hatten alle einen Schrebergarten. Vermutlich, um sich vor ihren Frauen und Kindern zu verstecken. Jedenfalls sagten sie mir, was ich tun sollte, und verkrochen sich dann mit ihrem Bier in ihren Gartenhäuschen. Und es klappte ganz gut. Anscheinend habe ich doch was dabei gelernt. Jedenfalls mehr als in der Schule.«

»Prima«, sagte Kate. »Aber was ist mit Ihren Kleidern? Nicht, dass Sie sich schmutzig machen.«

»Meine Stiefel sind im Gartenhaus. Außerdem ziehe ich ein Arbeitshemd über dieses Zeug hier.« Sie löste ein Kettchen vom Hals und überreichte es Kate. »Passen Sie auf das hier auf. Ich will nicht, dass es in den Rasenmäher kommt.«

»Es ist schön. Und sehr ungewöhnlich. Was ist das?«

»Ein Parfümflakon. Natürlich nur ein ganz kleiner. Stammt aus Frankreich, ungefähr 1920. Hier an der Seite ist das Fläschchen ein wenig abgesplittert, sehen Sie? Es mindert den Wert, aber ich mag es trotzdem.« Das Fläschchen war aus dunkelblauem geschliffenem Glas, das im Licht wie ein Saphir funkelte, und sehr hübsch.

»Wenn Sie möchten, können Sie den Verschluss abnehmen«, fuhr Donna fort. »Probieren Sie mal. Man kann das alte Parfüm immer noch riechen.«

Kate roch an dem Glasstopfen. Zunächst nahm sie nichts wahr, doch mit einiger Konzentration glaubte sie, einen schwachen Duft zu erkennen. Einen Duft, der an Nachtclubs, an Jazz und an hübsche junge Frauen mit Bubikopf und scharlachroten Lippen erinnerte.

»Wie in diesen alten Filmen«, sagte Donna. »Gucken Sie sich so was manchmal an? Casablanca. Der blaue Engel. Ich bin ganz versessen auf die Schinken. Man fühlt sich wie in den alten Tagen. Am liebsten würde ich solche Klamotten tragen, und mein Haar müsste so ins Gesicht fallen. Glauben Sie, dass mir gemalte Augenbrauen stehen würden?«

Kate lachte. »Ich glaube, Sie würden eine gute Kopie abgeben, wenn Sie es versuchten. Allerdings müssten Sie das Piercing aus der Nase nehmen. So etwas gab es 1940 noch nicht.«

»Ich glaube, ich bleibe fürs Erste lieber bei meinem Parfümflakon.«

»Ich passe gut darauf auf«, versprach Kate. »Sie brauchen sich keine Sorgen darum zu machen. Und jetzt sollten wir den Garten in Angriff nehmen. Haben Sie eine Ahnung, was dort getan werden muss?«

»Miss Callan lässt mich einfach machen. Normalerweise arbeite ich zwei Stunden, im Sommer zwei Mal die Woche, im Winter ein Mal. Und Sie zahlen mir fünf Pfund die Stunde.«

Kate warf einen Blick in den grauen Himmel und suchte nach einem Anzeichen für Sonnenschein. »Ist Winter oder Sommer?«, fragte sie.

»Sommer«, behauptete Donna überzeugt. »Freitag komme ich wieder.« Sie sah mit Nachdruck auf ihre Uhr. »Die ersten zehn Minuten gehen auf Sie, okay?«

»Ja, natürlich.«

»Nach der halben Zeit mache ich Teepause und esse ein paar Kekse.«

»Verstehe. Ich leiste Ihnen dann Gesellschaft.«

»Wenn Sie welche dahaben, hätte ich am liebsten Schokoladenkekse.«

»Ich fürchte, die haben wir alle selbst gegessen. Aber ich mache mich gleich auf den Weg in den Dorfladen«, erklärte Kate gehorsam. Zwar war der Laden teuer, bot keine große Auswahl und das Personal bestand aus Teenagern, die lieber Radio hörten und mit ihren Freunden schwatzten, als sich um die Kunden zu kümmern, doch angesichts der Alternative, fast zehn Kilometer zum nächsten Supermarkt zu fahren, fiel die Wahl nicht schwer.

Nachdem Donna in Richtung Gartenhäuschen verschwunden war, kam Roz ebenfalls in die Küche.

»Warum hast du mich alles allein machen lassen? Hast du Ahnung von Gartenarbeit?«

»Habe ich. Aber ich finde, du hast dich wirklich gut geschlagen. Schließlich musst du irgendwann wieder deine eigene Frau stehen.«

»Glaubst du, dass ich schon so weit bin, demnächst meine Schuhe allein zuzubinden?«

»Sicher, wenn du schön brav bist.«

»Ich glaube, wir können darauf vertrauen, dass sie weiß, was sie tut«, sagte Kate, die Donna nachblickte.

»Sie sieht einigermaßen kompetent aus, trotz des vielen Metalls in ihrem Körper«, bestätigte Roz. »Merkwürdig finde ich nur, dass sie die Kunstobjekte in Callies Wohnzimmer anscheinend genau beurteilen konnte. Sie kennt sich jedenfalls mit viktorianischer Landschaftsmalerei besser aus als du.«

»Wo mag sie das herhaben? Eigentlich sieht sie nicht so aus, als ob sie aus den entsprechenden Verhältnissen stammte, aber heutzutage darf man nicht mehr nach dem Schein urteilen.«

»Jemand hat ihr beigebracht, keinen Schmutz auf dem Teppich zu hinterlassen. Glaubst du, sie könnte die Tochter des Pfarrers sein? Vielleicht stammt sie ja auch aus dem eleganten Queen-Anne-Haus am Fuß des Hügels.«

»Na ja …«

»Ehrlich gesagt glaube ich das auch nicht«, sagte Roz. »Und jetzt solltest du dich besser um diese Schokoladenkekse kümmern, die du ihr versprochen hast. Der kleine Laden schließt bestimmt um Punkt fünf.«

»Und was machst du?«

»Also ehrlich, Kate, ich finde dich ganz schön neugierig. Ich werde es mir gemütlich machen, ein wenig nachdenken und den Rest des Tages vielleicht mit dem einen oder anderen Nachbarn verbringen.«

»Wenn du mehr aus ihnen herausbekommst als ›Mnerf‹, halte ich das schon für eine echte Leistung. Und keinen Ärger, okay?«

»Du bist ganz schön vorlaut«, sagte Roz, aber es klang ausgesprochen liebevoll.

Eine Stunde später saßen Kate, Roz und Donna am Küchentisch, tranken Tee und schlugen tiefe Breschen in das eben erst erstandene Paket Schokoladenkekse.

»Wie haben Sie sich als Gärtnerin qualifiziert?«, erkundigte sich Kate. »Haben Sie eine Ausbildung gemacht?«

»Nee, ich hab nur Fernsehen geguckt und meinen Onkel gefragt. Ich finde es toll, Samen in den Boden zu legen und zuzusehen, wie sie wachsen und blühen. Oder zu Gemüse werden. Wenn man sich um die Planzen kümmert, sie düngt und gießt und sie beschneidet, damit sie dick und buschig werden, dann danken sie es einem, und das mag ich.«

»Sie bringen ein, was Sie ausgesät haben, würde unser Pfarrer sagen«, warf Kate ein.

»Was? Von solchem Zeugs habe ich keine Ahnung. Ich finde es einfach nur klasse, Sachen wachsen zu sehen. Jedenfalls haben die Leute schon bald darum gebettelt, dass ich mich ab und zu um ihre Gärten kümmere. Sie behaupten, dass man jemanden wie mich mit der Lupe suchen muss.«

»Aber im Winter haben Sie sicher nicht viel zu tun.«

»Ich kriege ja noch meine Stütze.«

»Arbeitslosenunterstützung?«

»Wie auch immer. Jedenfalls ist meine Miete bezahlt. Und dann ist da noch …«

»Kate, du bist wieder neugierig«, warnte Roz. »Aber erzählen Sie uns doch von Ihrem hübschen blauen Anhänger, Donna. Wo haben Sie ihn gefunden?«

»Ich habe ihn nicht gefunden«, entgegnete Donna schnippisch. »Ich habe ihn gekauft. Auf einem Antiquitätenmarkt. Ich mag alte Parfümflaschen. Ich sammele sie. Na ja, bis jetzt habe ich zwei oder drei.« Sie starrte Roz an, als habe sie den Eindruck, dass auch sie zu viele Fragen stellte.

»Jede Sammlung fängt einmal klein an«, sagte Roz besänftigend. »Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nie auf einem Antikmarkt. Wo findet so etwas statt?«

»Sie werden jede Woche veranstaltet, überall im ganzen Land. Es gibt Tausende davon«, erklärte Donna. »Ich gehe oft hin. Meistens mit …« Sie beendete den Satz nicht. »Wenn Sie auch mal hinwollen – in der Oxford Times steht immer eine ganze Liste von Märkten in der Umgebung.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Ich glaube, ich sollte lieber weitermachen«, sagte sie und pickte die letzten Krümel Schokolade mit angefeuchtetem Zeigefinger vom Teller. »Ich bin noch verabredet, da will ich nicht zu spät Schluss machen.« Ein verträumter Ausdruck legte sich über ihr Gesicht, und Kate verspürte einen kurzen Stich Eifersucht.

»Und wie heißt der Glückliche?«, fragte sie – nur um freundlich zu sein.

»Ich nenne ihn meinen Raben. Er ist groß, zieht sich cool an und fährt einen echt heißen Schlitten. Wir haben nicht vor, für immer in diesem Misthaufen hier zu bleiben. Irgendwie schaffe ich es, und mein Rabe hilft mir dabei. Wir haben Pläne. Er ist einfach toll«, schwärmte Donna, zog ihre Stiefel an und öffnete die Hintertür. »Und total sexy«, fügte sie hinzu.

»Hört sich wirklich gut an. Ist er ebenfalls Gärtner?«

»Nee, natürlich nicht! Er ist Geschäftsmann.«