9,99 €
Camelot als Gotham City, Motorräder statt Schlachtrösser: Das Finale der ungewöhnlichen Urban-Fantasy-Dilogie!
Sie glauben, alles über die Artus-Sage zu wissen? Dann kennen Sie die Neon Knights noch nicht! In dieser düsteren Roman-Dilogie nehmen die Ritter nicht etwa an der Tafelrunde Platz, sondern ringen als geltungssüchtige Celebrities in Fernsehkämpfen um Ruhm, Reichtum und Gerechtigkeit. Si Wyll hat als Champion des Königs – und somit dessen engster Vertrauter – zahllose solcher Kämpfe ausgefochten. Doch als nach einer Tragödie die Krone ins Wanken gerät, muss er sich entscheiden, wofür es sich wirklich zu kämpfen lohnt …
Die fantastische Fortsetzung von »Neon Knights – Das zerschlagene Schwert«!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 616
Sie glauben, alles über die Artus-Sage zu wissen? Dann kennen Sie die Neon Knights noch nicht! In dieser düsteren Roman-Dilogie nehmen die Ritter nicht etwa an der Tafelrunde Platz, sondern ringen als geltungssüchtige Celebrities in Fernsehkämpfen um Ruhm, Reichtum und Gerechtigkeit. Si Wyll hat als Champion des Königs – und somit dessen engster Vertrauter – zahllose solcher Kämpfe ausgefochten. Doch als nach einer Tragödie die Krone ins Wanken gerät, muss er sich entscheiden, wofür es sich wirklich zu kämpfen lohnt …
Autorin
Laure Eve ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Sie hat sowohl britische als auch französische Wurzeln, wurde in Paris geboren und wuchs in Cornwall auf. Die bereits veröffentlichten Werke der YA-Autorin waren ein internationaler Erfolg und wurden in zehn verschiedene Sprachen übersetzt. Mit ihrer neuen Urban-Fantasy-Dilogie, ein düsteres Re-Telling der Artus-Sage, begeistert sie nun auch eine erwachsene Fantasy-Leserschaft. Mit der Dilogie »Neon Knights – Das zerschlagene Schwert« und »Neon Knights – Die zerbrochene Krone« feiert Laure Eve ihr Debüt bei Blanvalet.
Neon Knights. Das zerschlagene Schwert
Neon Knights. Die zerbrochene Krone
LAURE EVE
DIE ZERBROCHENE KRONE
Roman
Deutsch von Charlotte Lungstrass-Kapfer
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Blackheart Ghosts« bei Jo Fletcher Books, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright der Originalausgabe © Laure Eve 2023
The moral right of Laure Eve to be identified as the author of this work has been asserted in accordance with the Copyright, Designs and Patents Act, 1988.
Copyright der Originalausgabe © 2023 by Jo Fletcher Books, an imprint of Quercus Editions Ltd
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung: © Anke Koopmann | Designomicon
Umschlagmotive: Shutterstock.com (Jakub Krechowicz; Don_Mingo; Gilmanshin; Vitalii Gaidukov; beadrobin; eddystocker)
SH · Herstellung: fe
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-28352-0V001
www.blanvalet.de
Dieses Buch widme ich D –
Bäcker, Detektiv, Freund der Dunkelheit und rundum außergewöhnlichstes menschliches Wesen überhaupt.
*
(Du vereinst so viele beeindruckende Facetten in dir, dass du als fiktionaler Charakter vollkommen unglaubwürdig wärst – deshalb kommst du in diesem Buch nicht vor.)
Komm zu mir, Geliebter, und höre mich an.
Ich weiß sehr wohl, wo alles begann.
Beflecke deine Hände mit deinen Sünden von einst.
– Blumen für Kain
Flussgebiet, Evrontown
Zwei Wochen zuvor
Stumm sehen die Häuser zu, wie der Fluss Leben hervorbringt.
Triefend nass steigt die Gestalt aus seinen tintenschwarzen Tiefen empor, kriecht keuchend über den steinigen Schlamm des Uferstreifens, den ein findiger Geschäftsmann einmal als »Strand« bezeichnet hat. Das steht sogar auf einem Schild, an dem die Gestalt nun vorbeiwankt; es eignet sich gut als Stütze, um sich mit der Kraft der Verzweiflung davon abzustoßen.
Schließlich erreicht die Gestalt das Ende der Böschung und damit den unbefestigten Weg, der in das Labyrinth der Lagerhäuser hineinführt. Zitternd geht sie weiter, Schritt für Schritt, schmutzige Pfützen hinterlassend. Ihre Stiefel geben mit jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich. Kurze Stoppeln bedecken den Kopf, den sie gebeugt hält; das fahle Mondlicht schimmert in den darin hängenden Wassertropfen. Hinter ihr, auf der anderen Seite des Flusses, markieren die Lichter der Stadt in einem bunten Raster den Horizont.
Die Gestalt verliert das Gleichgewicht, sinkt auf ein Knie. Ihre Schultern fallen kraftlos herab, lassen vermuten, dass sie sich vielleicht nicht wieder erhebt. Als sie ein, zwei Minuten so verharrt, scheinen sich die Lagerhäuser ringsum bestätigend zuzunicken: wieder mal ein Opfer, nichts weiter.
Dann geht ein Ruck durch die Gestalt, und sie rappelt sich auf, als habe die Furcht vor der Niederlage ihr einen elektrischen Schlag verpasst. Taumelnd schleppt sie sich weiter. Ihre dunklen Fußabdrücke ziehen sich zwischen den hoch aufragenden, namenlosen Lagerhallen entlang, über einen Weg, der beinahe so breit ist wie eine Prachtstraße.
Stumm beobachten die Häuser, wie sie lautlos in der Dunkelheit verschwindet.
*
»Sie wünschen?«, fragt der Gargoyle mit ausdrucksloser Stimme.
Die Projektion schwebt knapp einen halben Meter vor der Hauswand und kommt so jedem in die Quere, der sich dem Gebäude nähern will. Einen Moment lang mustert die Gestalt den reglosen, offenen Mund des Wasserspeiers, seine großen, starren Augen. Zwar flackert die Projektion hin und wieder, ist ansonsten aber sehr stabil. Das Lichtspiel ist sogar ausgefeilt genug, um eine gewisse Ähnlichkeit mit echtem Stein zu erzeugen.
Kurios. Wer hätte gedacht, dass der Silberne Engel zu so etwas in der Lage ist?
»Ich muss Garad sprechen«, erklärt die Gestalt hastig, bevor sie von einem Hustenanfall gepackt wird.
»Hier wohnt niemand dieses Namens«, erwidert der Gargoyle.
»Ich weiß, dass du da drin bist, Garad«, beharrt die Gestalt. »Lass mich rein.«
»Ich kenne dich nicht.«
Offenbar ist hinter der Projektion irgendwo eine Kamera versteckt, die die Gesichter aller erfasst, die vor dieser Tür auftauchen.
»Bitte«, flüstert die Gestalt. »Bitte, ich kann nicht …«
Ein heftiger Schauer erfasst ihren Körper, dann bricht die Gestalt zusammen. Das geht so langsam vonstatten, dass es irgendwie unecht wirkt: Erst geben die Knie nach, dann kippt sie nach vorne, ihr Körper prallt von der Schwelle ab, dreht sich und fällt die Eingangsstufen hinab, bevor er auf dem rauen Straßenbelag landet.
Als die Gestalt schließlich wieder zu sich kommt, liegt sie auf der Seite. Sie ist in eine Decke gewickelt und köstliche Wärme streicht ihren Rücken entlang. Eine beheizte Wand. Der harte Boden wird durch weitere Decken ein wenig bequemer. Alles in allem ist der Raum spartanisch eingerichtet, beinahe kahl, aber sauber und hell beleuchtet. Hinten in der Ecke steht ein Waffenregal. Im rechten Drittel sind mehrere senkrechte Stangen angebracht, wie Verrenkungskünstler sie gerne benutzen.
Stück für Stück stemmt sich die Gestalt hoch, erst auf die Ellbogen, dann auf die Hände, bis sie aufrecht sitzt. Offensichtlich befindet sie sich im Trainingsraum des Silbernen Engels – Garad Gaheris’ –, in dem gerade mal Platz für eine Person ist. Jetzt erinnert sie sich dunkel daran, hochgenommen und getragen worden zu sein, aber eher theoretisch, es ist kein körperliches Gefühl gewesen, fast so, als sei es geschehen, ohne dass ihre Haut berührt wurde. Vermutlich hat es Stunden gedauert, um vom Fluss zu Garad zu kommen, angefühlt hat es sich wie eine Ewigkeit. Ihr Körper war irgendwann vollkommen taub, sie ist dahingestapft, ohne die Beine zu spüren.
Eine Stimme reißt sie aus ihren Erinnerungen.
»Wie fühlst du dich?«
Es ist Garad. Xier sitzt wenige Schritte entfernt, das Schwert auf den Knien, die Finger locker, beinahe zärtlich, um den Griff gelegt. Der Stuhl ist exakt so positioniert, dass xier sich außer Reichweite befindet. Der Silberne Engel ist bekannt dafür, ein vorsichtiger Mensch zu sein.
Die dem Fluss Entstiegene horcht in sich hinein: Ihre Nerven kribbeln und brennen, da nun nach der betäubenden Kälte langsam etwas Leben zurückkehrt. Sie streicht mit der Hand über ihren kahl rasierten Kopf, genießt das Kitzeln der weichen Stoppeln, die Härte des Schädels.
»Etwas lebendiger«, stellt sie schließlich fest, um dann leicht verspätet hinzuzufügen: »Vielen Dank.«
»Wie nennt man dich?«
»Ghost.«
»Ghost«, wiederholt Garad skeptisch.
Sie wartet einfach ab.
»Ich kenne niemanden namens Ghost«, betont Garad schließlich.
Xiese Miene ist ausdruckslos, beinahe entspannt, während xier die halb ertrunkene Fremde mustert, die so plötzlich in xiesem geheimen Unterschlupf aufgetaucht ist. In jener Wohnung, von der eigentlich niemand wissen sollte; wer so berühmt ist wie Garad, tut gut daran, sich eine solche geheime Bleibe zuzulegen.
»Würde mich auch überraschen«, gibt Ghost zu.
»Wir sind uns nie begegnet.«
»Nein.«
Das stimmt zwar nicht ganz, aber vorerst muss das reichen. Momentan sind gewisse Unterlassungen unabdingbar.
»Warum bist du hier und wie hast du mich gefunden?«, will Garad von ihr wissen. Nach kurzem Zögern fügt xier hinzu: »Und warum bist du so nass?«
Für einen Moment huscht Ghosts Blick zu dem bereitliegenden Schwert in xiesem Schoß. Trügerisch entspannt wirken die Finger, die unzählige Gegner vernichtet haben im Laufe einer Karriere, die in der Geschichte der Caballaria nahezu einzigartig war.
»Man hat versucht, mich umzubringen«, erklärt Ghost. »Und um dir die Mühe der logischen Deduktion zu ersparen – es war eine Menge Wasser im Spiel.«
»Wie bedauerlich. Hast du denjenigen denn verärgert?«
»Ich denke, er tut so etwas eher aus Spaß an der Freude.«
Eine Einschätzung, die vor allem schockieren soll; Garads Miene nach zu schließen, hat es funktioniert.
»Was den Grund meiner Anwesenheit angeht«, fährt Ghost fort, »dazu komme ich gleich noch. Und auch zu der Frage, wie ich dich gefunden habe. Wie viele Menschen – abgesehen von mir – wissen, wo sich deine geheime Höhle befindet?«
Beredtes Schweigen.
»Einer«, sagt Garad dann.
»Ganz genau.« Ghost nickt.
»Sie hat es dir verraten.« Garad beugt sich vor und plötzlich schlingen sich xiese Finger deutlich fester um den Schwertgriff. »Finnavair.«
Furcht steigt in Ghost auf und sie schluckt schwer, bevor sie bestätigend nickt.
Mit einem Ruck lehnt sich Garad wieder in xiesem Stuhl zurück. »Sie ist tot«, erklärt xier tonlos.
»Ich weiß.«
Stille.
»Du hast eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr.«
Achselzuckend stellt Ghost fest: »Das höre ich nicht zum ersten Mal.«
»Woher kanntest du sie?«
»Ich bin ihre Schwester.«
Volltreffer.
»Ich dachte immer, sie hätte keine Familie«, entgegnet Garad.
»Offiziell nicht«, nickt Ghost. »Viele waren es sowieso nicht, eigentlich nur ich.«
»Und was willst du von mir?«
»Fin hat mich geschickt.«
»Wieso?«
Abwehrend hebt Ghost die Hand. »Lass mich zuerst meine Geschichte erzählen, das erklärt alles, versprochen. Danach kannst du mit mir machen, was immer dir beliebt. Einverstanden?«
»Ich mag Geschichten nicht sonderlich.« Ja, xier packt jetzt eindeutig fester zu, die Schwertspitze scheint sich langsam in Ghosts Richtung zu bewegen.
»Ist ja komisch, und ich dachte immer, du wärst ein Ritter der Caballaria«, spottet sie. Ghost zittert leicht – ob nun Furcht, Erschöpfung, Kälte oder alle drei zusammen der Grund dafür sind, lässt sich schwer sagen. Doch ihr Ton ist entschlossen. »Es müsste inzwischen nach Mitternacht sein, und du scheinst mir nicht der Typ zu sein, der sich nächtlichen Partyfreuden hingibt, also hast du wohl keine anderweitigen Verpflichtungen mehr. Du weißt bereits, dass ich mit keinerlei bösen Überraschungen aufwarten kann, denn du hast mich sicherlich durchsucht, als du mich von deiner Türschwelle gekratzt hast. Si Finnavair ist, auch wenn sie inzwischen Marvols Tor durchschritten hat, der Grund, warum ich hier bin. Und ich habe eine Geschichte zu erzählen. Die Art von Geschichte, die diese Stadt in ihren Grundfesten erschüttern kann. Wenn man bedenkt, wie es heutzutage in London zugeht, möchtest du sie deshalb vermutlich sehr wohl hören. Also, einverstanden?«
Garad bleibt reglos wie eine Statue.
»Haben wir damit eine Übereinkunft?«, hakt Ghost drängend nach.
»Einverstanden«, sagt Garad schließlich. »Schieß los.«
Sofort verfliegt ein Teil von Ghosts Anspannung und sie wickelt sich fester in ihre Decke.
»Hast du irgendetwas Alkoholisches da?«, fragt sie.
Die Stille wird leicht bedrohlich.
Ein ergebener Seufzer löst sich aus Ghosts Brust. Die Wärme der beheizten Wand in ihrem Rücken beruhigt sie vorerst aber auch genug. Ihre Lider sinken auf Halbmast.
»Anscheinend wird es bei mir langsam zur Gewohnheit, wie ein schlechter Witz vor der Tür fremder Menschen aufzutauchen«, beginnt sie. »Denn das alles hat ganz ähnlich angefangen.«
Shuttershill, Alaunitown
Zwei Monate zuvor
Als Leon Manus Dei Pendegast o’Launitown ihr die Tür öffnet, braucht er einen Moment, bis er begreift, was er dort vor sich sieht. Was man ihm keinesfalls verübeln kann.
»Wer bist du?«, fragt er misstrauisch.
»Guten Abend, Si«, beginnt Ghost höflich.
»Was? Si? Ich bin kein Ritter und ich kaufe nichts.«
»Aber du warst ein Ritter, Captain der Wache in Rhyfentown, und ich verkaufe nichts.«
Wie erhofft, hat sie sich damit seine Aufmerksamkeit gesichert.
Er mustert sie durchdringend. »Woher weißt du das?«
»Wir haben eine gemeinsame Freundin.«
»Und wen?«
»Finnavair Caballarias o’Rhyfentown.«
»Wie kommst du darauf, dass ich derart berühmte Freunde haben könnte? Außerdem hat die sich aus dem Staub gemacht, sie ist spurlos verschwunden.«
»Sie ist nicht verschwunden«, korrigiert ihn Ghost. »Sie ist tot.«
Das lässt Leon innehalten, bevor er mit einem knappen Seufzer feststellt: »So etwas hatte ich mir schon gedacht.«
Ghost hält sich bewusst zurück. Innerhalb weniger Augenblicke hat sie ihn bereits zweimal aus dem Gleichgewicht gebracht; wenn sie ihn zu sehr bedrängt, schlägt er ihr vielleicht einfach die Tür vor der Nase zu. Das trübe Licht, das hinter ihm aus dem Haus dringt, lässt auf eine ziemlich ärmliche Behausung schließen, während der Mann selbst nur schwer zu deuten ist. Seine Statur und seine kantigen, faltigen Züge verleihen ihm die Ausstrahlung eines hoffentlich gutmütigen Trolls.
Irgendwann scheint Leon wieder einzufallen, dass sie noch da ist. »Also?«, fragt er. »Was willst du von mir?«
Vorsichtig tastet sich Ghost voran. »Sie meinte, du würdest Leuten helfen, die in Schwierigkeiten stecken.«
Leon rührt sich nicht vom Fleck. »Willst wohl alte Schulden eintreiben, wie?«
»Wenn ich so durch diese Tür komme, ja.«
Geschickt verwandelt er ein unterdrücktes Schnauben in ein abfälliges Naserümpfen. »Verstehe.«
Jetzt mustert er sie genauer, registriert die weiß-grauen Zugehörigkeitssymbole an ihrem Kragenkettchen und den kleinen verschnörkelten Schlüssel, der auf ihren Handrücken tätowiert ist – Zeichen dafür, dass sie in Marvoltown geboren wurde. An ihrer Kleidung lässt sich nicht viel ablesen – sie soll ihr vor allem Bewegungsfreiheit garantieren –, aber vielleicht bemerkt er den hochwertigen Schnitt und die gute Qualität des Stoffes, wodurch sie sich auf subtile Art von ihrem Umfeld abhebt.
Endlich tritt er einen Schritt zurück und bittet sie herein.
Ghost könnte vor Erleichterung zusammenbrechen, als sie ihm durch den schmalen Flur in seine Wohnung folgt. Sie ist so schäbig wie erwartet: ein vollgestopftes Zimmer, dem jene Kleinigkeiten fehlen, die ein Heim daraus gemacht hätten. So wirkt es mehr wie eine Notunterkunft.
Es war nicht ganz leicht, Leon aufzuspüren. Schon vor einigen Jahren hatte er Rhyfentown verlassen und war nach Alaunitown gezogen und Fin kannte seine genaue Adresse nicht. Selbst heutzutage ist es nicht ganz einfach, von einem Bezirk in einen anderen zu übersiedeln. Doch soweit Ghost das beurteilen kann, ist Leon auch ziemlich tief gesunken. Die Ritter der Wache werden zwar längst nicht so gut bezahlt wie die der Caballaria, aber auch in diesem Feld lassen sich noch ordentlich Lektris verdienen, und er war ja schließlich sogar Captain. Nun aber hockt er in einem Einzimmerapartment in einer beschissenen Ecke eines vollkommen anderen Bezirks.
»Kannst dich da hinsetzen und dich aufwärmen«, bietet er Ghost im Befehlston an und zeigt auf die gegenüberliegende Wand. Ein Großteil davon ist in einer anderen, nicht weniger deprimierenden Farbe gestrichen als der Rest, um so den beheizten Bereich zu markieren. Unter dem breiten Rechteck steht ein durchgesessener Diwan ohne Rückenlehne.
»Alles gut«, versichert Ghost.
»Du zitterst aber.«
Ghost geht noch einmal in sich. »Stimmt. Es ist kalt draußen.«
Also nimmt sie auf dem Diwan Platz, während Leon abwartend stehen bleibt.
Sie sieht sich den Mann genauer an. Eines seiner Augen fehlt, die leere Augenhöhle ist mit vernarbtem Gewebe verschlossen. Bereits in seiner Jugend hat er dieses Auge eingebüßt, bei einer der vielen Bezirksstreitigkeiten. Anscheinend weigert er sich, eine künstliche Zweithaut, eine Augenklappe oder etwas dergleichen zu tragen, was diesen Makel verbergen würde. Für ihn scheint die Verwundung vielmehr eine Art Ehrenabzeichen zu sein.
Ghost kann einfach nicht anders, sie muss in der noch viel frischeren Wunde herumstochern. »Wie lebt es sich denn so nach der Ritterschaft?«
»Kann mich kaum daran erinnern, wie es früher war«, entgegnet er knapp. Trotzdem verrät jedes Wort, wie groß sein Schmerz noch immer ist. »Alles längst vorbei und abgehakt.«
Es gibt kein härteres Dasein als das eines ehemaligen Ritters. Ghost muss es wissen, sie ist selbst einer.
»Was ist denn eigentlich mit Fin passiert?«, fragt er. »Ganz Rhyfentown war in Aufruhr, man hat überall nach ihr gesucht. Hieß es zumindest in den Medien.«
»Keine Ahnung«, behauptet Ghost. »Ich weiß nur, dass sie nicht mehr nach Hause gekommen ist.«
»Vielleicht hat sie sich einfach im Palast verkrochen, beim König. Schließlich sind sie ja ein Paar«, stellt Leon hörbar angewidert fest.
»Nein, dort ist sie nicht.« Da das wenig überzeugend klingt, fügt Ghost hinzu: »Das wüsste ich.«
»Manche glauben ja, er hätte ihr etwas angetan«, fährt Leon nachdenklich fort. »Und dass Cair Lleon alles vertuscht.«
»Warum sollte er das tun, nachdem er mit der öffentlichen Bekanntgabe ihrer Beziehung so viel aufs Spiel setzte? Nein, da muss etwas anderes passiert sein.«
Leon verschränkt die Arme vor der Brust. »Du lebst also mit ihr zusammen.«
»Lebte.«
»Geliebte?«
»Schwester.«
»Fin war eine Kriegswaise, sie hatte keine Geschwister.«
Wieder zuckt Ghost mit den Schultern. »Ich kam erst später.«
»Aber ich dachte, sie hat ihre Familie nie gekannt.«
»Hat sie auch nicht. Ich habe sie aufgespürt.«
»Hm.« Leon grunzt. »Nachdem sie reich und berühmt war, nehme ich an. Warum hat sie niemandem von dir erzählt?«
»Fünfzig Fragen und ein kehlenklaffendes Grinsen, wenn ich eine falsch beantworte?«, schießt Ghost nicht unfreundlich zurück.
»Du bist bei mir aufgetaucht«, betont Leon. »Und ich habe noch immer keine Ahnung, wer du eigentlich bist.«
»Ich bin Ghost«, erklärt sie, »mehr wirst du von mir nicht erfahren. Hilfst du mir nun oder nicht? Du hast Fin doch gesagt, sie könnte dir jederzeit jemanden schicken.«
»Das ist verdammt lange her.«
»Auch alte Schulden müssen beglichen werden.«
Das entlockt ihm ein zustimmendes Nicken. Offenbar ist die bestehende Schuld in diesem Fall nicht unerheblich.
Müde fährt sich Leon mit der Hand über das Gesicht. »Also, was willst du? Kohle? Hab keine.« Mit einer ironischen Geste deutet er auf das schäbige Zimmer.
»Nein.« Ghost zögert kurz. »Ich brauche Arbeit.«
»Arbeit?«, wiederholt Leon verblüfft. Dann beginnt er zu lachen. »Bei allen Heiligen, bei dir jagt eine Überraschung die nächste. Deswegen hast du dich also nach meinem früheren Leben erkundigt, was? Tja, ich kann dich nicht bei der Wache unterbringen. Diese Brücken habe ich alle abgebrochen.« Für einen Moment wirkt er nachdenklich. »Eigentlich eher abgefackelt.« Dann wirft er Ghost einen prüfenden Blick zu. »Und eine halbe Portion wie dich würden sie sowieso nicht nehmen. Du kannst wahrscheinlich kaum ein Schwert halten.«
»Ich meinte nicht die Wache«, widerspricht Ghost. »Ich meinte deinen jetzigen Job.«
»Und welchen Job übe ich deiner Meinung nach momentan aus, verehrte Fremde?«
Der Moment der Wahrheit ist gekommen.
»Du jagst Gottgleiche.« Vollkommen glatt kommt ihr das über die Lippen, obwohl ihr Herz ihre Stimme Lügen straft, indem es ein paar Schläge aussetzt.
Leon wirft ihr einen schiefen Blick zu. Offenbar ist das die unangenehmste Überraschung, die sie ihm bisher bereitet hat.
»Ziemlich gut informiert, unsere gute Fin, vor allem, weil ich sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen habe«, stellt er nach einer gefährlich langen Pause fest.
Ghost nickt. »Sie hat dich immer im Auge behalten.« Etwas sanfter fügt sie hinzu: »Du warst ihr wichtig. Fast so etwas wie ein Vater wärst du für sie gewesen, meinte sie. Wo sie doch keinen richtigen hatte.«
Leon grunzt verlegen. »Eine ziemliche Plaudertasche war sie auch.« Aber Ghost sieht ihm an, dass sie genau die richtigen Worte gewählt hat, denn sein faltiges Gesicht wirkt plötzlich etwas weniger abweisend. »Warum willst du eine Waffe Gottes werden?«, hakt er nach. »Das ist keine sonderlich kluge Wahl.«
»Ich habe einfach keine andere.«
»Klar hast du eine andere Wahl, bist doch ein hübsches Ding.«
Nun ist es Ghost, die laut auflacht. »Wenn ich dich nicht so dringend bräuchte, würde dein Gesicht jetzt Bekanntschaft mit meiner Faust machen.«
»Bei den Heiligen, das war doch bloß Spaß. Fin hatte wenigstens Humor.«
»Ich bin aber nicht Fin«, entgegnet Ghost.
»Offensichtlich nicht«, stellt Leon säuerlich fest. »Aber egal, wer du bist, und egal, was du getan hast und was dich jetzt zur Flucht zwingt, du hast trotzdem noch eine Wahl. Und ich bin wirklich keine gute Option. Teamarbeit liegt mir nicht sonderlich.«
»Vielleicht könntest du mich einfach mit deinen Auftraggebern bekannt machen, dann kann ich wenigstens …«
»So läuft das nicht. In dieser Branche geht es ziemlich dubios zu. Viele halten uns für eine Art bessere Kopfgeldjäger, andere denken noch wesentlich schlechter von uns. Und wenn etwas schiefläuft, schickt niemand ein Rettungskommando los. Die Auftraggeber leugnen, je irgendetwas mit dir zu tun gehabt zu haben, und dann bist du so richtig am Arsch. Außerdem wird der Job schlecht bezahlt, macht einen körperlich und seelisch kaputt und man ist quasi ständig allein.« Abwehrend verschränkt er die Arme vor der Brust. »Letzteres passt mir allerdings sehr gut, denn ich mag keine Menschen. Schon daran kannst du leicht erkennen, dass es nicht funktionieren würde.«
Diese Behauptung scheint eine glatte Lüge zu sein, denn auf Ghost hat er bis jetzt vor allem extrem einsam gewirkt. Aber der Rest klingt ziemlich plausibel.
Trotzdem, ihr bleibt keine Wahl. Ein anderer Weg steht ihr nicht mehr offen.
»Tja, für mich bist du ganz sicher keine Vaterfigur«, stellt sie trocken fest, »deshalb folgender Vorschlag. Wie wäre es, wenn ich dir zum Zeichen meiner Dankbarkeit einen runterhole?«
Leons verbliebenes Auge wird gefährlich schmal. Mit zwei Schritten hat er den Raum durchquert und packt sie am Arm. Kurz fragt sich Ghost, ob er sie jetzt in irgendein Hinterzimmer schleift, weil er es lieber grob mag. Dieser unverhoffte Energieschub ist eigentlich sogar bewundernswert. Aber sie begreift schnell, dass er sie Richtung Tür zerrt.
Dann war das wohl der falsche Ansatz.
Er entriegelt die Haustür und schiebt sie nach draußen.
Eindeutig der falsche Ansatz.
»Warte«, protestiert sie hastig, »es tut mir leid, ich dachte bloß …«
»Falsch gedacht. Verschwinde.«
Bei allen Heiligen, er ist wirklich stinksauer.
Schnell überlegt sich Ghost eine neue Taktik.
»Du musst nicht alles gleich so ernst nehmen, das war doch nur ein Vorschlag«, ruft sie. »Warte, das kannst du nicht machen! Du bist es Fin schuldig!«
»Einer Toten kann man nichts mehr schuldig sein.«
»Doch, kann man, das nennt sich moldra lagha!«
Leon schlägt ihr die Tür vor der Nase zu.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
»Ich werde immer wieder hier auftauchen!«, schreit sie der geschlossenen Tür entgegen.
Leons Antwort wird durch das Metall gedämpft. »Dann werde ich dich jedes Mal wieder ignorieren!«
»Ach ja? Für immer und ewig? Ich bin arbeitslos, schon vergessen? Also habe ich nichts Besseres zu tun!«
Stille.
Er ist fort. In seiner Höhle verschwunden, während sie mutterseelenallein hier draußen steht.
Dann hört sie es: Ein kurzer, genervter Seufzer dringt durch die Tür.
Ein erleichtertes Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
Cair Lleon, Blackheart
Fünf Monate zuvor
Der Mediensaal von Cair Lleon, im Palast des Königs von London.
Höhlenartig wirkt dieser große Raum, hell erleuchtet, ohne nennenswerte Einrichtung. Hier kann man sich nirgendwo verstecken. Die nicht unbeträchtliche Menge von mit Filmapparaten ausgerüsteten Reportern ist zwischen hüfthohen Eisengittern eingepfercht, die den Raum in zwei Hälften teilen und sie so mehrere Meter von der Empore trennen, auf der sich der König zeigt. Sie müssten schon verdammt hoch springen können, um da rüberzukommen, sagt sich Wyll. Und bei den vielen Apparaten und Technikern kämen sie sowieso nicht durch. Er ist also weit genug von ihnen entfernt. Hier müsste er sicher sein.
Wyll sitzt auf dem Thron des Königs, flankiert von den Saith, den engsten Beratern des Herrschers, die inzwischen beinahe ebenso berühmt sind wie der König selbst. Sein heutiger Auftritt wurde von anhaltendem Applaus, Pfiffen und Rufen der Reporter begleitet. Wie Lucan ihm erklärt hat, sind einige von ihnen sehr erpicht darauf, ihre Zustimmung zu den jüngsten Ereignissen zum Ausdruck zu bringen, während andere deutlich weniger begeistert sind. Allerdings ist das bei diesem Lärm nur schwer zu unterscheiden; ab einer gewissen Lautstärke klingt alles gleich.
Manche Kommentatoren sehen in dem öffentlichen Bekenntnis des Herrschers zu seiner Beziehung mit Ritterin Finnavair »Flinke Fee« Caballarias o’Rhyfentown einen Schritt hin zu Stabilität und Festigung und die Aussicht auf Nachwuchs, der die geschwächte Blutlinie von Rhyfen stärken könnte. Andere halten es für eine gezielte Verbindung zwischen zwei einflussreichen Sippschaften. Ob das nun positiv oder negativ zu bewerten ist, sieht jeder anders, doch in einem Punkt sind sich alle einig: Es ist auf jeden Fall eine klassische Sensationsgeschichte. Der einst skandalumwitterte und letztlich zum König gekrönte Bastard hat sich eine vom Straßenkind zum gefeierten Ritter aufgestiegene Geliebte gesucht. Besser geht es aus Sicht mancher Reporter gar nicht mehr.
Der erste Punkt, auf den sich einige von ihnen später stürzen werden, ist die Tatsache, dass der König nicht ganz bei der Sache zu sein schien und für einen solch freudigen Anlass erstaunlich bedrückt wirkte. Andererseits hat sich Artorias Dracones schon immer außergewöhnlich zurückhaltend gezeigt, wenn es um sein Privatleben ging. Als Zweites fiel auf, dass die Frau, um die es ging, durch Abwesenheit glänzte.
»Unser Timing war einfach schlecht«, erklärt Wyll einem Reporter, der genau danach fragt. »Lady Finnavair musste sich im Anschluss sofort in Klausur begeben, um sich auf ihren nächsten Kampf vorzubereiten. Sie nimmt ihre Verpflichtungen gegenüber der Caballaria ebenso ernst wie ich die meinigen.«
»Konnten Sie sich vor ihrem Aufbruch denn noch angemessen … verabschieden, Sire?«, fragt der Reporter weiter, was mit lautem Gelächter quittiert wird.
»Nächste Frage«, erwidert Wyll knapp, was für weitere Lacher sorgt.
Wie gewünscht, folgt eine weitere Frage – »Wie haben Sie die Flinke Fee denn kennengelernt?« –, die ebenso wie die darauffolgenden leicht zu beantworten ist. Lucan hat ihn gründlich vorbereitet, vor allem auf die eine, entscheidende Frage, auf die sie alle warten. Gestellt wird sie von einem bekannten Reporter mit einer leicht säuerlichen Miene.
»Unser Publikum möchte natürlich vor allen Dingen eines wissen, Sire: Warum wählt der König eine Straßengöre aus Rhyfentown zu seiner offiziellen Geliebten? Welche Botschaft steckt hinter dieser Entscheidung?«
»Es war keine bewusste Entscheidung«, antwortet Wyll. »Niemand entscheidet sich dafür, sich zu verlieben. Aber meiner Meinung nach hat ihre Herkunft ihr vor allem zu großer Charakterstärke verholfen, ähnlich wie es auch bei mir der Fall war. Wer einen zu leichten Start ins Leben hat, läuft Gefahr, später in Selbstgefälligkeit zu verfallen, was – wie ich finde – oft zu großer Schwäche führt.«
Der bekannte Reporter sagt nichts mehr, aber viele seiner Kollegen kommentieren diesen Seitenhieb mit Pfiffen.
»Was hält Ihre Familie von dieser Verbindung, Sire?«, ruft ein anderer Reporter.
»Was von ihr noch übrig ist, meinen Sie?« Wylls trockener Kommentar bringt ihm weitere Lacher ein. »Nun, wer etwas gegen mein Glück einzuwenden hat, kann dafür ja nur schändliche Beweggründe haben.«
Ein geschickter Schachzug. Die nun noch folgenden wesentlich zahmeren Fragen zeigen, wie sehr man hier bemüht ist, nicht zu diesen Schändlichen gezählt zu werden. Und bereits wenige Minuten später wird die Pressekonferenz durch den charismatischen Medienberater des Königs beendet, den allseits bekannten Lucan Vastos Fenestris o’Senzatown.
*
»Du kannst sie jetzt abstellen«, weist Lucan ihn an. »Wir sind unter uns.«
Geschäftsmäßig baut er sich vor Wyll auf. Sie befinden sich in Arts Privatgemächern und hinter ihm haben sich die übrigen Saith versammelt: Brune, die klingengleichen Beinprothesen in einer gut geschnittenen schwarzen Hose verborgen; Fortigo, der dem König als persönlicher Vastos diente, seit dieser 19 Jahre zuvor das Schwert errungen hatte; Garad, der Silberne Engel und inzwischen in den Ruhestand verabschiedete Streiter des Königs. Und dann ist da noch Lillath, die Spinne des Königs. Mit wie üblich ausdrucksloser Miene lehnt sie neben Wyll an der Wand.
Beinahe widerwillig lässt Wyll die Illusion los. An den Gesichtern ringsum kann er ablesen, wie sich die Verwandlung vollzieht. Von einem Wimpernschlag auf den nächsten verschwindet der warmherzige und von allen geliebte Art, und die kalten, kantigen Züge des Hexenritters erscheinen.
»Bei allen Heiligen«, murmelt Fortigo. »Ich …« Hastig reißt er sich am Riemen und verstummt.
»Erschreckend, nicht wahr?«, stellt Lillath fröhlich fest.
Wyll ignoriert sie beide. Schon jetzt wird er von der nach solchen Illusionen üblichen Erschöpfung gepackt, außerdem lässt der Adrenalinrausch nach, der ihn durch die Pressekonferenz getragen hat. Er muss sich setzen. Unsicher wankt er auf den bequemen Sessel zu, der sich zu seinem Lieblingsplatz entwickelt hat, und lässt sich hineinfallen.
»Nun, da sind wohl Glückwünsche angebracht«, findet Brune. »Das war sehr überzeugend.«
»Im Verhalten sind ihm noch Fehler unterlaufen«, urteilt Lucan. »Das müssen wir noch stärker üben.«
Lucans Übungsstunden lassen sich im besten Fall als schmerzlich detailbesessen beschreiben. Wenn er das noch einmal über sich ergehen lassen muss, dreht Wyll wahrscheinlich einfach durch.
»Dieses Täuschungsmanöver wird nicht lange funktionieren«, prophezeit Fortigo leise. »Schon jetzt wird im Palast darüber getratscht, dass der König eine ganze Woche lang keinerlei Termine wahrgenommen hat. Gut, momentan geht man noch davon aus, dass Lady Fin der Grund dafür ist, aber wenn es so weitergeht …«
»Wir brauchen mehr Zeit«, erwidert Lucan. »Um einen besseren Plan zu entwickeln. Nur noch ein paar Tage.«
»Und was wollt ihr dann machen?«, murmelt Wyll. »Der Welt einfach so verkünden, dass der beste Herrscher des Jahrhunderts von seiner geheim gehaltenen Tochter ermordet wurde, einer Gottgleichen?«
Wie nach jeder komplexen Illusion schleicht sich ein ziehender Schmerz in seine Knochen, was seine Laune nicht gerade verbessert. Er hört selbst, wie mürrisch er klingt, aber es ist ihm egal.
»Es war kein Mord«, korrigiert ihn Lillath. »Es war moldra lagha.«
»Ja, prima«, spottet Lucan. »Du kannst dich gern mit den Medien auf semantische Wortgefechte einlassen, während London im Chaos versinkt.«
»Sie hat allein gearbeitet, Lux.«
»Das können wir nicht mit Sicherheit sagen.«
»Letztlich lässt sich überhaupt nichts mit Sicherheit sagen«, erwidert Lillath gelassen. »Aber die Befragungen waren äußerst umfassend.«
Wyll verkneift sich ein höhnisches Schnauben. Er würde jede Wette eingehen, dass er der Einzige hier ist, der wirklich weiß, was das Wörtchen »umfassend« bei jemandem wie Lillath bedeutet.
»Das ist keine Garantie«, meint Lucan. »Red wurde während ihrer Ausbildung zum Ritter auch mental geschult, nicht nur körperlich. Was wir übrigens seiner Großzügigkeit zu verdanken haben.« Er deutet mit dem Kopf auf Wyll.
»Komm schon, Lux …«
Wyll hebt den Kopf. »Er hat recht. Sie hat bei den Besten gelernt. Und wir können nicht garantieren, dass sie keine Helfer hatte.« Lillath will ihm widersprechen, aber er lässt sie nicht zu Wort kommen. »Auch wenn ihr selbst das vielleicht gar nicht bewusst war.«
»Wer auch immer dahintersteckt, hat es jedenfalls auf das Schwert abgesehen«, stellt Brune fest. »Und er oder sie hat offenbar kein Problem damit, jeden umzubringen, der ihm dabei im Weg steht.«
Drückende Stille breitet sich aus. Wyll kann regelrecht spüren, wie die Furcht aller Anwesenden den Raum verpestet.
»Sie war dein Geschöpf, Wyll«, meldet sich schließlich eine leise Stimme zu Wort. »Du hast sie entdeckt. Du hast sie aufgebaut, du hast sie zum Ritter gemacht. Und dann hast du sie in den Palast gebracht.«
Als drohender Schatten ragt Garad hinter ihnen auf. Wie ein Engel mit schützend ausgebreiteten Schwingen. Die Heiligen wissen, dass sie beide sich nie besonders grün waren. Nur auf Arts Bitte hin hat Garad den deutlich jüngeren Wyll unter xiese Fittiche genommen und aus ihm den nächsten Streiter des Königs gemacht, mit jener Sorgfalt, die xiese alles beherrschende Frömmigkeit gebot. Alles im Dienste xieses obersten Herrn, der Caballaria, und xieses zweiten Herrschers, des Königs. Und alles entgegen xieser eigenen Überzeugung.
Es ist sicher hart, wenn man den Thronräuber einmal mochte. Und es ist sicher noch härter, wenn dieser Thronräuber ein Gottgleicher ist. Das alles gibt Wyll gerne zu. Aber deshalb muss er sich noch lange nicht diesen engstirnigen Mist anhören.
»Ich weiß genau, wie das aussieht, Garad«, erwidert er deshalb. »Aber ich habe ihn geliebt. Ich habe ihm gedient. Genau wie alle hier. Muss ich das etwa mit meinen Fäusten unter Beweis stellen?«
»Noch bin ich nicht zu alt dafür, Hexenritter.«
»Hört auf«, schaltet sich Brune ein. »Solche Streitigkeiten tragen nicht zur Lösung unserer Probleme bei. Wir sind uns ja wohl alle einig, dass Wyll Art in Mafelon das Leben gerettet hat, was es äußerst unwahrscheinlich macht, dass er sich später an seiner Ermordung beteiligt, oder?«
Garads Schweigen sagt alles. Zum Beispiel, dass Mafelon inzwischen drei Jahre zurückliegt. Und dass sich die Dinge ändern können. Sich alles irgendwann ändern muss.
»Und was ist mit Fin? Verzeihung, mit Lady Finnavair?«, fragt xier deshalb nur.
Lillath schaltet sich ein: »Sie wird immer noch vermisst. Ihre Trainer haben sie seit dem letzten Kampf nicht mehr gesehen. Ihr wisst schon, als Art …«
»… sich zum Narren gemacht hat?«, beendet Garad frostig ihren Satz. »Wie könnten wir das vergessen?«
Garad den Mönch nennt man xien auch, xies Liebesleben ist so undurchschaubar, dass viele der Meinung sind, es existiere gar nicht. Möglicherweise steckt also nur xiese allseits bekannte Abneigung gegen öffentlich zur Schau gestellte Liebe hinter diesem Kommentar, vielleicht aber auch mehr. Schon von Beginn an stand Garad der Beziehung von Art und Fin beinahe feindselig gegenüber, auch wenn xier stets versucht hatte, das zu verbergen. Hin und wieder hat Wyll sich gefragt, ob die unerschütterliche Bewunderung für xiesen ältesten Freund vielleicht auch ein wenig ins Romantische abglitt. Hat xier deswegen alle Mädchen verabscheut, die Art den Kopf verdrehten?
Achselzuckend fragt Lucan weiter: »Vielleicht ist sie einfach abgetaucht? Schließlich ist es schon ziemlich überwältigend, wenn der König von London bei deinem Kampf auftaucht und dir vor den Augen der gesamten Welt seine Liebe gesteht.«
»Was ist mit ihren Freunden?«, schlägt Garad vor. »Wissen die denn nicht, wo sie steckt?« Als anstelle einer Antwort beredtes Schweigen einsetzt, fügt xier leicht gereizt hinzu: »Bei der Liebe der Heiligen, ein paar muss sie doch zumindest haben.«
»Sie hat Freunde«, nickt Lillath. »Sie ist mit Red befreundet. Seit Red nach Blackheart gezogen ist, stehen sich die beiden ziemlich nahe.«
Diese Nachricht schlägt ein wie eine Bombe.
Unsichere Blicke werden getauscht.
»Spekulieren wir hier gerade darüber«, beginnt Lucan langsam, »dass Arts illegitime Tochter und seine gerade erst öffentlich anerkannte Geliebte sich miteinander verschworen haben könnten, um ihn zu ermorden, oder …?«
Abrupt stößt Garad sich von der Wand ab und richtet sich auf. »Das ist lächerlich. Warum vergeuden wir unsere Zeit mit albernen Spekulationen? Was bringt das? Art ist tot und wir führen hier diese Scharade auf, belügen die ganze Welt und benutzen dafür einen Gottgleichen. Das ist ekelhaft und unmoralisch.«
Ja, genau, denkt Wyll. Sag endlich, was du wirklich von mir hältst.
»Garad.« Lucans sonst so unbeschwerter Tonfall hat plötzlich etwas Bedrohliches an sich. »Wir müssen in dieser Angelegenheit zusammenhalten. Wenn auch nur einer von uns durchblicken lässt, dass etwas nicht stimmt, wird das ganze Kartenhaus in sich zusammenfallen. Das ist dir doch klar, oder?«
Garad kocht vor Wut.
»Bist du auf unserer Seite, Garad?«
Trotz der bohrenden Blicke, die noch dazu von xiesen ältesten Freunden kommen, knickt xier nicht ein. Das nötigt Wyll widerwilligen Respekt ab. Aber es ist schwer, Garad keinen Respekt entgegenzubringen, auch wenn man sich so leicht über xien lustig machen kann.
»Ich werde diese Lüge nicht mehr lange mittragen«, verkündet xier schließlich.
Und plötzlich erkennt Wyll, was xiem das alles abverlangt. Wie ein schattenhafter grauer Dämon lastet die Lüge auf xiesen Schultern, drückt xien nieder, schlägt ihre Krallen in xiesen Rücken. Für jemanden, dem die Täuschung zur zweiten Natur geworden ist, verbirgt Lucan seine Verblüffung erstaunlich schlecht.
»Nur noch ein paar Wochen«, betont er.
Garad nickt steif, dann geht xier hinaus.
Mit einem leisen Klicken fällt die Tür hinter xiem ins Schloss.
Lucan zuckt kurz zusammen.
»Lass es gut sein«, bittet ihn Brune. »Xier leidet. Lass es einfach gut sein.«
»Tja, wer von uns leidet denn bitte schön nicht, Brune?« Lucans Lächeln wirkt zerbrechlich wie Glas. »Wer von uns muss nicht irgendwie weitermachen und so tun, als wäre ihm nicht gerade das Herz aus der Brust gerissen worden? Aber man kann seine Wunden eben nur in der Freizeit lecken. Hier und jetzt müssen wir das irgendwie hinkriegen, und zwar gemeinsam. Sollte es noch jemanden geben, der das anders sieht, kann er jetzt gerne gehen.«
Niemand rührt sich.
Lucan nickt. »Gut. Also, lasst uns Pläne schmieden.«
Er wendet sich Wyll zu.
»Was ist?«, fragt der misstrauisch.
»Das Verschwinden der Flinken Fee ist beunruhigend. Falls sie da mit dringesteckt hat, hätten wir zumindest eine Spur. Wir brauchen mehr Informationen von … der Tochter.« Nur mühsam bringt Lucan dieses Wort über die Lippen; fast scheint es, als müsse er mit der Tatsache, dass Red Arts Tochter ist, gleichzeitig eingestehen, dass auch sein über alles verehrter Art Fehler gemacht hat. »Und wenn der direkte Weg keinen Erfolg gebracht hat, müssen wir es eben mit einer List versuchen.«
»Mit einer List?«, wiederholt Wyll skeptisch. »Was erwartest du von mir? Soll ich etwa so tun, als würde ich sie nicht am liebsten in Stücke reißen?«
»Das wäre zumindest ein Anfang«, befindet Lucan. »Ich habe eine Idee.«
Garads Wohnung, Evrontown
Zwei Wochen zuvor
»Leon hat Wort gehalten«, fährt Ghost fort. »Einige Nächte später hat er mich zu einem Job mitgenommen.« Sie denkt kurz nach. »Da hat alles anfangen.«
»Was hat angefangen?«, will Garad wissen.
»Mein Abstieg in die sieben Höllen«, antwortet Ghost mit einem humorlosen Lächeln.
*
Zwei Monate zuvor
Leon ist leicht zu entdecken, auch wenn er sich zu verstecken versucht.
Er sitzt an einem Tisch ganz vorne, außen am Rand – der dunkelste Fleck im Raum, extra deshalb gewählt. In der ansonsten kalt ausgeleuchteten Bar ist er kaum mehr als ein Schatten, aber trotzdem unverkennbar: ein schäbiger, breiter Berg. Seine besten Tage hat er vielleicht hinter sich, trotzdem überlegt man es sich besser zweimal, bevor man sich mit einem Bergtroll anlegt, auch wenn er nicht mehr der Jüngste ist. Die Bühnenbeleuchtung strahlt ihn von hinten an, was ihn irgendwie brutal wirken lässt, da sein Gesicht so ganz im Schatten bleibt. Die Musik scheint sich um seine Schultern zu schlingen, während er Ghost reglos entgegenblickt.
Die Bar, in der sie ihn treffen soll, liegt tief im schäbigsten Teil von Alaunitown. Früher gab es in diesem ehemaligen Industriegebiet nur alte Fabriken und überfüllte, trostlose Wohnblöcke. Jetzt finden sich hier geräumige, bunt zusammengewürfelte Restaurants, die in alten Fabrikgebäuden untergebracht sind. In den beiden oberen Stockwerken einer einstigen Chemielagerstätte hat sich ein Künstlerkollektiv einquartiert. Und in den schmalen Straßen zwischen den Wohnblöcken stößt man auf Imbissbuden, die ausschließlich blaue Speisen anbieten oder vollkommen willkürliche Öffnungszeiten haben.
Die Bar trägt den Namen Machine Sounds, was wohl der betörenden, leicht schmierigen Musik zu verdanken ist, die sich zurzeit wie Motoröl in der Untergrundszene ausbreitet. Momentan präsentiert sich eine eher mittelprächtige Band auf der kleinen Bühne: gesanglich gar nicht schlecht – auch wenn der Text mehr aus angedeuteten Lauten als aus richtigen Worten besteht und ein beinahe greifbares Gefühl ekstatischen Elends hervorruft, allerdings mit einem beschämend schlechten Taktgeber. Die unrhythmischen, dumpfen Rassellaute machen die harte Gesangsarbeit beinahe wieder zunichte.
Leon schiebt mit dem Fuß den gegenüberliegenden Stuhl zurück, der widerstandslos unter dem Tisch hervorgleitet und mit Ghosts Schienbein kollidiert. Sie nimmt Platz und wartet, bis es etwas ruhiger wird. Schließlich beendet die Band ihre letzte Nummer und drückende Stille breitet sich in der von Apathie erfassten Bar aus.
»Vielen Dank«, sagt der Sänger trübsinnig.
Ghost beugt sich vor, bis sie vom Schein der kleinen Tischlampe erfasst wird. »Ich habe deine Nachricht bekommen, dass du mich hier treffen willst«, beginnt sie.
»Das sehe ich«, sagt Leon belustigt.
»Allerdings ist mir nicht ganz klar, wie das möglich war.«
Leon zuckt gelassen mit den Schultern. »Ach nein?«
»Immerhin sagte ich doch, dass ich mich bei dir melden würde.« Ghost schenkt ihm ein freundliches Lächeln. »Da du schließlich keine Ahnung hast, wo ich wohne.«
»Ich habe da so meine Mittel und Wege.« Leon unterstreicht diese Feststellung mit einem plumpen Zwinkern und Ghost lacht laut auf. Das lenkt ihn ausreichend ab, sodass sie sich vorbeugen und ihn an seinem Gummihalsband packen kann, das gerade weit genug ist, um eine Hand darunter zu schieben und ihn damit zu würgen.
Leon reißt die Augen auf und ringt um Luft. Dabei hofft Ghost inständig, dass ihm so schnell kein Atemzug mehr gelingt, denn das, was er ihr ins Gesicht gepustet hat, hatte keinen sehr angenehmen Duft.
»Hör zu«, fährt sie noch immer freundlich fort. »Ich mag es nicht, wenn andere wissen, wo ich wohne. Denn wenn andere wissen, wo ich wohne, fühle ich mich nicht mehr sicher. Das kannst du dir ja bestimmt vorstellen. Also, wie hast du es herausgefunden und wer weiß es noch?«
Leon reißt die breiten Hände hoch, packt damit aber nur die Tischkante, nicht sie. Entweder ist er im Alter weich geworden oder er will die Situation nicht noch weiter auf die Spitze treiben.
»Ganz ruhig«, keucht er. »Entspann dich, bei allen Heiligen noch mal! Nachdem du an dem Abend bei mir warst, bin ich dir nach Hause gefolgt, okay?«
»Na, da fühle ich mich doch gleich viel besser. Und wieso?«
»Du weißt, wo ich wohne, und jetzt weiß ich … wo du wohnst.«
Verdammt, da hat er nicht unrecht. Außerdem haben sich seine Wangen eindeutig violett verfärbt.
Ghost lässt ihn los.
Hastig weicht Leon ein Stück zurück. Dabei wirft er ihr einen beleidigten Blick zu.
Als er sie fragte, warum sie eine Waffe Gottes werden wolle, tat sie das mit dem scherzhaften Kommentar ab, dass sie eine Beschäftigung brauche, weil sie nicht der Typ sei, der einfach nur faul herumsitzt. Ihrer Meinung nach sei niemand der Typ dafür, aber manche Menschen redeten sich das erfolgreich ein und fänden dann in den meisten Fällen irgendwelche destruktiven Möglichkeiten, um die Zeit rumzubringen.
In Wahrheit aber … nein, die Wahrheit ging ihn nichts an. Fin hatte dem alten Penner vielleicht vertraut, aber Ghost ganz sicher nicht, denn Ghost konnte es sich nicht leisten, anderen zu vertrauen. Jetzt allerdings ist ihr dieser Gefühlsausbruch irgendwie peinlich. Nicht der Zorn selbst, sondern die Furcht, die dahintersteckt.
»Tut mir leid«, entschuldigt sie sich. »Du hast recht. Ich bin eine Fremde, und … fair ist fair.«
Offenbar fühlt sich Leon nun sicher genug, um seiner Wut Luft zu machen, allerdings kommt er nicht mehr dazu, da plötzlich sämtliche Lichter ausgehen und Finsternis die Bar erfüllt.
Von der Bühne dringt der Klang einer Stimme herüber, halb singend, halb sprechend in der absoluten Dunkelheit.
Alle scheinen den Atem anzuhalten, während sie versuchen, die Bedrohung zu erfassen.
Doch als die Bühnenbeleuchtung nach und nach wieder angeht, findet sich dort keine Bedrohung. Zumindest keine offensichtliche. Im Licht der Scheinwerfer steht eine Gestalt mit grell pink-gelber Perücke. Die Farbe erinnert an die dicken Zuckerschlangen, die man auf den Neonmärkten von Senzatown für ein paar Pennies gleich dutzendweise kaufen kann. Die Sängerin trägt außerdem transparente kniehohe Stiefel und schmale Stoffstreifen am Körper, die kaum als richtige Kleidungsstücke durchgehen. Sie hat beide Hände um das Mikro geschlungen und wiegt sich sanft hin und her, die Lider halb geschlossen, als wüsste sie kaum, wo sie sich befindet, als sei es nicht weiter wichtig, als wolle sie einfach nur für sich selbst singen.
Ghost hört Leons raues Lachen und spürt seinen warmen Atem an ihrer Wange.
»Gefällt sie dir?«, fragt er.
Das Licht von der Bühne überzieht sein Gesicht mit einem unnatürlich grellen Pinkton. Ghost lehnt sich zurück und versucht, die Sängerin am Rande ihres Gesichtsfelds auszublenden. Bleibt allerdings noch diese drängend-betörende Stimme.
Anscheinend kann sie es nicht verbergen, dass es ihr nicht gelingt, das Geschehen auf der Bühne zu ignorieren, denn Leon nimmt einen Schluck aus seinem Glas und versichert ihr dann: »Keine Sorge, du kannst sie dir noch genauer ansehen. Sie ist der Grund, warum wir hier sind.«
Dabei deutet er mit dem Kopf Richtung Bühne.
Diese wenig subtile Andeutung geht Ghost gehörig gegen den Strich und sie versucht nun noch angestrengter, sich zusammenzunehmen.
»Du lässt mich durch den halben Bezirk fahren, nur dass ich mir eine Sängerin in irgendeiner Klitsche anhöre?«
»Du bist heute sozusagen meine Rückendeckung – sieh zu und lerne. Falls es knifflig wird, kannst du auch gerne dein furchterregendes Temperament einsetzen«, fügt er beißend hinzu. »Allerdings hat sich das mit der vereinten Front gegenüber unserem Ziel wohl erledigt, nachdem der halbe Laden dabei zugesehen hat, wie du mich erwürgen wolltest. Vielen Dank dafür.«
Ghost sortiert im Kopf die spärlichen Hinweise. »Das soll meine Aufgabe sein? Dich zu beschützen?«
»Was ist daran so schlimm?«
»Ich habe die Gewalt zusammen mit meinem alten Leben hinter mir gelassen.«
»Ach ja?« Leon zupft vielsagend an seinem Halsband.
»Tut mir leid«, entschuldigt sie sich noch einmal.
Das wird er immer wieder gegen sie verwenden, um zu kaschieren, wie peinlich es für ihn war. Da kann sie ihm zuliebe wenigstens die Reumütige spielen.
Leon gibt sich weiter verschnupft. »Falls dem so ist, kannst du mir ja noch etwas zu trinken besorgen. Mein Hals ist ganz rau nach der ganzen Würgerei.«
Ghost drückt den Knopf und wenig später erscheint ein Kellner, herbeigerufen durch die über ihrem Tisch blinkende Projektion. Während sie bestellt, erhebt sich Leon und geht zu einem gelangweilt aussehenden Typen hinüber, der anscheinend den durch einen rostigen Kettenvorhang abgetrennten Bereich hinter der Theke bewacht. Vermutlich befinden sich dahinter noch ein paar nicht öffentliche Räumlichkeiten.
Ghost ertappt sich dabei, wie sie sich wieder der Bühne zuwendet. Die Sängerin hat die Augen nun weit geöffnet, starrt aber über die Köpfe des Publikums hinweg, als blicke sie in eine Welt jenseits dieser Bar. Dabei wirkt sie so überzeugend, dass Ghost beinahe mit ihr zu entschweben glaubt, an einen luftigeren Ort voller Sehnsucht. Sobald sie ihr Lied beendet hat, verschwindet die Sängerin hinter der Bühne. Ghost fühlt sich beinahe betrogen, so als wäre sie abrupt aus einem schönen Traum gerissen worden, ohne dessen befriedigendes Ende miterleben zu können.
Als Leon zu ihr an den Tisch zurückkehrt, kippt er seinen frischen Drink hinunter und signalisiert Ghost wortlos, dass sie ihm noch einen bestellen solle.
»Also, nach wem suchen wir heute?«, will sie von ihm wissen.
»Cassren Grenwald.« Er fischt eine Datenmünze aus seiner Jackentasche. Nachdem er den winzigen Knopf an deren Kante gedrückt hat, projiziert die Münze ein weißes Lichtfeld auf die dunkle Tischplatte; Worte und Bilder laufen über den so geschaffenen Bildschirm. Die Münze wird sämtliche auf ihr gespeicherten Daten abspielen und sie dann in einer Endlosschleife wiederholen, bis ihr der Saft ausgeht.
Durch erneuten Druck auf den Schalter hält Leon den Bildlauf an, sodass nun ein aus Licht geschaffenes Gesicht auf dem Tisch verbleibt: das Bild einer Frau mit makelloser dunkler Haut. Sie ist recht klein und kurvig und hat etwas Elfenhaftes an sich, das sie vermutlich jünger wirken lässt, als sie in Wahrheit ist.
»Sieht nicht aus wie jemand, der es nötig hätte, abzutauchen.«
»Genau wie du«, erwidert Leon. »Sie ist Lehrerin.«
Verblüfft will Ghost weiter nachhaken, wird aber unterbrochen, als jemand zu ihnen an den Tisch tritt.
»Man hat mir gesagt, ihr wollt mich sprechen?«
Es dauert einen Moment, bis Ghost die Sängerin wiedererkennt. Sie hat die grelle Perücke und die transparenten Fetzen abgelegt und ist nun dunkel und äußerst sittsam gekleidet. Selbst ihr Blick ist ein anderer: Auf der Bühne war er sanft und verträumt, jetzt wirkt sie wachsam und konzentriert.
»Sie sind eine enge Freundin von Cassren Grenwald«, beginnt Leon.
Die Sängerin antwortet nicht, doch wäre sie eine Katze, hätte sich nun wohl ihr Fell gesträubt.
»Darf ich nach Ihrem Namen fragen?«, fährt Leon fort.
»Blumen für Kain.«
»Und wie werden Sie genannt, wenn Sie nicht als Blumen für Kain auf der Bühne stehen?«, hakt er nach.
»Das kann ich nicht einfach ein- und ausschalten. Aber sicher kennen Sie meinen Namen bereits, da Sie ja sowieso schon so viel über mich wissen.«
»Tun wir einfach so, als wäre das nicht der Fall, und benehmen uns wie höfliche Menschen.«
»Delilah«, faucht die Sängerin. Mehr nicht.
Selbst in diesem Teil der Stadt kommt es einer groben Unhöflichkeit gleich, sich nur mit einem Viertel seines Namens vorzustellen. Die Sängerin gibt mit voller Absicht die Zicke, was bei allen den Puls ansteigen lässt.
»Sehr schön, Delilah. Mein Name ist Leon Pendegast o’Launitown, und ich wurde gebeten, Ihre Freundin Cassren ausfindig zu …«
»Von wem?«, unterbricht ihn Delilah sichtlich angewidert. »Von ihrer Familie bestimmt nicht. Und es kann auch sonst niemand gewesen sein, dem sie wichtig ist. Die würden keinen räudigen Köter wie Sie losschicken, um sie zu finden.«
Während Leon das kommentarlos hinnimmt, spürt Ghost, wie ihr Zorn zurückkehrt.
»Jetzt hör mir mal zu, meine Liebe«, beginnt sie leise. »Ich bin die Einzige hier, die ihm Beleidigungen an den Kopf werfen darf, und dieses Privileg werde ich definitiv mit niemandem teilen. Wie wäre es also, wenn du mal einen Gang runterschaltest?«
Irritiert dreht sich Delilah zu Ghost um. »Und wer bist du jetzt?«
»Seine Rückendeckung.« Erstaunlicherweise klingt das nicht ganz so peinlich, wie Ghost befürchtet hat.
Mit eisigem Spott stellt Delilah fest: »Dann müssen die Waffen Gottes jetzt also schon vor ihrer Beute geschützt werden, ja? Sollte es nicht eher andersherum sein?«
Leon räuspert sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Ich versuche nur, Cassren zu finden, und habe nicht vor, ihr irgendetwas anzutun.«
»Außer sie zu brandmarken, als wäre sie Ihr Eigentum, nicht wahr?«
»Es ist lediglich eine Tätowierung«, entgegnet Leon geduldig. »Genau wie die Bilder, die Ihre Arme schmücken, Teuerste. Und wahrscheinlich mit wesentlich weniger Schmerzen ver…«
»Sie werden sie auf diese beschissene Liste setzen«, übertönt ihn Delilah aufgebracht, »und dadurch wird sie zur Zielscheibe. So einfach ist das. Zur Beute.«
Mit regloser Miene fragt Leon: »Zu wessen Beute?«
Wortlos schüttelt Delilah den Kopf.
»Kann ich kurz …?« Ghost hebt fragend die Hand und wirft Leon dabei einen schockierten Blick zu. »Sie sind eine Waffe Gottes?«
Leon sieht sie an und kneift die Augen zusammen. Kurz entgleist ihm das Gesicht.
Zum Glück stürzt sich Delilah sofort auf den Köder. »Es ist Ihnen so peinlich, dass Sie nicht einmal Ihrer Leibwächterin etwas davon sagen! Überrascht mich eigentlich nicht.«
Leon leert sein Glas und knallt es so heftig auf den Tisch, dass die Sängerin erschrocken zusammenfährt.
»Sagen Sie ihr, dass es alles nur noch schlimmer macht, wenn sie wegläuft«, trägt er Delilah auf, dann nickt er Ghost auffordernd zu. »Wir gehen.«
»Ich kann ihr gar nichts sagen«, entgegnet Delilah. »Ich habe sie schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Mit meiner Hilfe werden Sie sie nicht finden, Sie suchen an der falschen Stelle. Sollten Sie nicht besser den undankbaren Mistkerl fragen, der sie hingehängt hat?«
»Sie meinen den aufrechten Bürger, der eine Straftat gemeldet hat?«, schießt Leon zurück, während er sich von seinem Stuhl erhebt.
Ghost zuckt zusammen.
»Ich meine den Arsch, der sie dafür bestraft hat, dass sie ihm das Leben retten wollte«, faucht Delilah.
»Sie war nicht registriert«, entgegnet Leon, »also war das seine gesetzlich verankerte Pflicht.« Er wendet sich ab und geht.
Ghost wirft der wütenden Sängerin noch einen kurzen Blick zu, bevor sie sich ihm anschließt.
*
Draußen lehnt sich Leon gegen die Hauswand, zündet sich einen Sicalo an und inhaliert tief. Eine dichte, nach Jasmin duftende Rauchwolke steigt um ihn herum auf.
Ghost stellt sich neben ihn.
»Was sollte das denn bitte schön, verehrte Fremde?«, presst Leon gereizt hervor.
»Tut mir leid.« Diesmal meint Ghost es ehrlich. »Die ganze Bar hat gesehen, wie ich dir an die Gurgel gegangen bin. Da dachte ich mir, ich ziehe das jetzt durch.«
Er schnaubt spöttisch. »Du hast eine Chance gesehen, mir noch eine zu verpassen, und wolltest sie dir nicht entgehen lassen.«
»Delilah sollte einen von uns sympathisch finden, und es ist ziemlich schnell klar geworden, dass du das ganz sicher nicht sein wirst«, erklärt Ghost hastig. »Also dachte ich mir, ich stelle mich mal dumm, was die Waffen Gottes angeht. Denn jetzt wird sie vielleicht wenigstens mit mir reden, verstehst du?«
»Und wie kommst du darauf, dass du überhaupt die Gelegenheit dazu bekommen wirst?« Wütend stößt Leon weitere Rauchwolken aus.
»Jetzt sei doch nicht so«, schmeichelt Ghost, bevor sie es mit Ablenkung versucht: »Was hat sie eigentlich genau gemeint, als sie sagte, ihre Freundin sei hingehängt worden? Was ist da passiert?«
Leon lässt den Blick über die Straße schweifen. »Cassren Grenwald ist eine Wahrsagerin«, erklärt er, »und offenbar eine wirklich gute. Das kam ans Licht, als sie vor ein paar Wochen eine Art Anfall hatte und einem ihrer Kollegen zurief, er solle am nächsten Tag besser zu Hause bleiben, da er sonst sterben würde. Natürlich hat er nicht auf sie gehört. Der Mann wurde bei einem Autounfall getötet – irgendwelche zugedröhnten Idioten haben einem reichen Knacker seinen Luxusschlitten geklaut, damit eine Spritztour gemacht und dann die Kontrolle über den Wagen verloren. Haben ihn voll erwischt, als er die Straße überqueren wollte. Jemand hat mitbekommen, wie sie dem armen Kerl diese Prophezeiung zugerufen hat, und hat sie als Wahrsagerin enttarnt. Wenig später ist sie verschwunden.«
Ghost stößt einen leisen Pfiff aus. Das hat man davon, wenn man nett sein will – man wird an die Waffen verraten.
»Und Delilah ist also mit ihr befreundet? So wie sie sich da drin aufgeführt hat, ist es vielleicht auch etwas mehr als das.«
Achselzuckend stellt Leon fest: »Habe schon deutlich Schlimmeres erlebt. Hunde, die bellen, beißen nicht.«
Und du hast sie schön gegen dich aufgebracht, damit sie immer lauter bellt.
»Von den Magiegesetzen hält sie jedenfalls nicht sonderlich viel«, folgert Ghost. »Eindeutig eine Sympathisantin. Möglicherweise auch mehr.«
Das scheint Leon aufzumuntern. »Aktivistin.«
»Kann sein. Wieso, jagt ihr die etwa auch?«
»Offiziell nicht, aber wenn wir auf sie stoßen, bekommen wir einen netten kleinen Bonus von der örtlichen Wache.«
Da nun möglicherweise mehr zu holen ist, hat sich sein Stolz schnell wieder eingerenkt.
»Lass uns mal sehen, was ich noch herausfinden kann«, schlägt Ghost vor. »Betrachte es als eine Art Test, der zeigen wird, ob ich gut genug für den Job bin. Ich lade sie auf einen Drink ein, zeige mich mitfühlend, erkläre ihr, dass ich die Waffen Gottes auch nicht ausstehen kann. Sie ist vor allem wütend und mit Wut kann ich arbeiten.«
»Sie ist eine selbstgerechte kleine Zicke«, brummt Leon. »Wo kämen wir denn hin, wenn alle einfach das Gesetz ignorieren würden und tun, wonach ihnen gerade ist? Gesetz ist Gesetz, ohne Ausnahme.«
Nicht einmal ehemalige Wachen glauben das uneingeschränkt – oder zumindest die Intelligenteren tun das nicht. Gesetze sollten nicht in Beton gegossen sein, sondern eine gewisse Flexibilität in sich tragen, wie ein biegsamer Bambusstock. Was auch immer das Leben in jüngster Zeit mit Leon angestellt hat, es hat ihn hart werden lassen.
Nun mustert er sie abschätzend, weshalb Ghost versucht, möglichst unschuldig zu wirken. Was offenbar nicht funktioniert.
»Niedlich magst du sein, aber darunter verbirgt sich ein hitziges Temperament«, analysiert er. »Was dir bisher bestimmt oft zugutegekommen ist. Ich würde wetten, dass du schon einigen Mist mitgemacht hast, aber von hier aus wird es düster wie in der siebten Hölle. Viel tiefer als eine Waffe Gottes kann man kaum sinken. Du musst dich mit der Welt unterhalb dieser Welt vertraut machen.«
Ghost entscheidet sich für diplomatisches Schweigen. Soll er ruhig glauben, was er glauben will. Solange er in Bezug auf ihre Vergangenheit auf der falschen Fährte bleibt, ist alles gut.
Leon steckt ihr Cassren Grenwalds Datenmünze zu.
»Dann mal los. Deine Chance, mich zu beeindrucken.«
*
Wie Leon immer sagt, gibt es drei Arten von Menschen, die sich den Waffen Gottes anschließen:
Zunächst einmal jene, in deren Augen Gottgleiche eine Gefahr darstellen; sie glauben, der Gesellschaft einen Gefallen zu tun. Manche sehen in ihnen sogar eine Blasphemie und lehnen die Bezeichnung Gottgleiche ab. Ihrer Meinung nach verrichten sie das Werk der Heiligen, indem sie diese Schmähungen Gottes aufspüren und ihnen eine Marke verpassen, damit sie für jeden leicht erkennbar sind. Ghost hat solche Typen auch schon an Straßenecken stehen sehen, wo sie zur stumpfsinnigen Masse predigen.
Üblicherweise haben diese Gläubigen eine Geschichte im Gepäck, die ihren Hass erklärt – eine Wette, die schiefgelaufen ist; ein geliebter Mensch, der krank wird und stirbt. Dann gehen sie zu einem Wahrsager, der das Problem für sie lösen soll, ihnen aber natürlich nicht liefern kann, was sie brauchen. Denn wer kann schon das Auf und Ab im rauen Seegang des Lebens steuern? Manchmal fällt man tief, das liegt in der Natur der Dinge. Aber die Menschen brauchen immer jemanden, dem sie die Schuld geben können, also ist es dann die Schuld der Gottgleichen, wenn sich herausstellt, dass auch sie den Launen eines gleichgültigen Universums unterworfen sind.
Dem zweiten Typus begegnet man laut Leon am häufigsten. Diese Menschen sind die Besten in dem Job. Sie tun es, um Geld zu verdienen und ihre Rechnungen zu bezahlen, mehr nicht. Sie denken nicht weiter darüber nach, das haben sie sich abgewöhnt. Oft handelt es sich dabei um ehemalige Ritter wie Leon.
Und wie Ghost.
Doch es gibt noch eine dritte Kategorie. Sie ist am seltensten vertreten, trotzdem tauchen auch solche Leute immer wieder auf. Sie kommen eine Weile gut zurecht als Waffe Gottes, aber jeder abgeschlossene Auftrag hinterlässt bei ihnen Spuren. Irgendwann fragen sie sich, warum sie die Gottgleichen überhaupt jagen müssen wie Tiere. Dann ist es oft nicht mehr weit von passivem Mitgefühl zu einem Riesenproblem.
Leon hatte einmal einen Rekruten, sehr jung, sehr eifrig. Zu eifrig. Wie sich herausstellte, war er Teil einer berüchtigten, gewaltbereiten Aktivistengruppe und hatte sich bei den Waffen Gottes eingeschleust, um ihre Arbeit zu torpedieren, wo immer es ging. Leon durchschaute ihn sofort und lieferte ihn aus. An dem Tag kassierte er einen fetten Bonus und zog abends durch die Bars. Eine tolle Nacht.
Zu welcher Gruppe gehöre ich?, fragt sich Ghost. Zu den Vollstreckern, den Abgeklärten oder den Sympathisanten?
Zusammen mit den ersten, schüchternen Vorboten der Morgenröte erreicht sie ihre Wohnung. Sie liegt im Dachgeschoss eines prachtvollen Hauses, das von außen äußerst geschichtsträchtig wirkt, drinnen aber vor allem nach Moder und altem Bratfett riecht. Zurzeit steht es halb leer, auf den Fluren begegnet man nur vereinzelten Kurzzeitmietern. Sie lassen Ghost in Ruhe und Ghost lässt sie ebenfalls in Ruhe. Niemand hier hat so viel, dass sich ein Diebstahl lohnen würde.
Mit einem gezielten Tritt öffnet sie die Wohnungstür – bei Nässe klemmt sie gerne – und schiebt sich in einem vorsichtigen Tanz durch das Labyrinth aus Kerzen, das den Boden im Wohnzimmer bedeckt. Aus grünen Absinthflaschen ragen schlanke Leuchterkerzen, ihre schwarzen Gegenstücke zieren Whiskyflaschen. Schalen aus Metall und Glas beherbergen dicke Stumpenkerzen, rote Baumkerzen stecken in filigranen, hüfthohen Leuchtern aus billigem Gold, das durch einen Kupferanstrich wertvoller wirken soll. Dazu noch schwarze Eisendreizacke, aus denen je drei Stumpen aufragen.
Die Stromversorgung des Hauses funktioniert sogar recht zuverlässig, von dem einen oder anderen hustenden Aussetzer mal abgesehen, aber diese Kerzen dienen auch nicht als Lichtquelle. Natürlich scheinen es übertrieben viele zu sein, aber sie erfüllen mehr als einen Zweck: Niemand außer ihr kann sich zwischen ihnen hindurchschieben, ohne einige umzuwerfen. Sollte jemand einbrechen, ist Ghost also gewarnt. Außerdem sehen sie einfach hübsch aus.
Sie erinnern sie an ein früheres Leben.
Schon immer hat es Ghost fasziniert, dass Kerzen sozusagen zwei Dinge gleichzeitig sind – eine billige Notwendigkeit für die Armen, prunkvoller Luxus für die Reichen. Die Kronleuchter im Ballsaal von Cair Lleon, dem berühmten Palast des Königs von London, sind jeweils mit Hunderten von Kerzen bestückt. Über dicke Seilzüge werden sie von der Decke herabgelassen, wenn die Kerzen ausgetauscht werden müssen. Oft wird der Ballsaal zwar nicht genutzt, aber wenn es doch einmal der Fall ist, schweben tausend schimmernde Flämmchen über der Menge, deren Licht die Welt in ein märchenhaftes Paradies verwandelt.
Ghost zieht sich aus, wickelt sich in ihre Bettdecke und rollt sich auf ihrem schlichten Klappbett zusammen. In einer Hand hält sie die Datenmünze, die Leon ihr überlassen hat. Sie drückt den Knopf und sofort vertreibt weißes Licht einen Teil der Dunkelheit in der erhabenen Einzimmerwohnung. Worte und Bilder gleiten vorbei und umreißen die wichtigsten Punkte im Leben der verschollenen Cassren Grenwald.
Das dumme Ding hätte besser die Klappe gehalten. Bestimmt wusste ihre Familie es. Schon immer. Wenn sie eine so präzise Vorhersage treffen konnte, war es sicher nicht das erste Mal und normalerweise zeigt sich diese Gabe bereits in der Kindheit. Vor allem, wenn sie derart stark ausgeprägt ist.
Dieses Mädchen ist eine Seltenheit.
Trotz der großen Integrationsversprechen des herrschenden Regimes und der vor einigen Jahren umgesetzten Deregulierung bezüglich der Bezirksgrenzen ist die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Bezirken nach wie vor kaum vorhanden. Es lässt sich also noch immer am leichtesten verschwinden, indem man durch die Bezirke springt. Leon hat ihr geraten, sich in Cassrens Heim nach allem umzusehen, was sie zu Freunden oder Angehörigen führen könnte, bei denen sie vielleicht vorerst Unterschlupf gefunden hat, um sich dann gefälschte Identifikationsmarken für einen anderen Bezirk zu besorgen – ein neuer Name für ein neues Leben. Es also genauso zu machen wie Ghost.
Irgendwie fühlt es sich an, als jage sie eine andere Version ihrer selbst.
Ghost fragt sich, wie sich Cassren wohl fühlt, wo sie ist, ob sie einsam ist.
Und sie fragt sich, was sie tun soll, wenn sie sie aufspürt.
Königlicher Marstall von Cair Lleon, Blackheart
Fünf Monate zuvor