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Der Umgang mit Menschen mit Demenz ist eine Herausforderung. Zwischen Theorie und Praxis klaffen Lücken, gerade Berufsanfängern in der Betreuung fehlen praktische Erfahrungen. So manche Betreuungskraft findet sich dann in „schwierigen“ Situationen wieder, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Statt Freude an der Arbeit entsteht Belastung und oft auch Überforderung. Dieses Buch versteht sich als Handbuch, das auf den praktischen Alltag im Beruf vorbereitet. Eine Berufsanfängerin gibt Auskunft: über ihre Gedanken, Erwartungen und Hindernisse auf ihrem beruflichen Entwicklungsweg. Die Leser gewinnen gemeinsam mit der Akteurin zunehmend Handlungssicherheit. „Stolperfallen“ werden aus dem Weg geräumt und Handlungsoptionen für „schwierige“ Situationen entwickelt.
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Seitenzahl: 183
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Anne Roder ist examinierte Altenpflegefachkraft, Fachkraft in der Gerontopsychiatrie und Pflegemanagerin (B.A.). Sie arbeitet zurzeit als freiberufliche Dozentin in der Altenhilfe (Schwerpunkt: Gerontopsychiatrie und Kommunikation). Sie führt Unternehmensberatungen zu Konzeptentwicklungen und Qualitätsmanagement durch, ist Fachautorin und Teamerin in der Integrativen Validation®.
»Soziale Betreuung im Altenhilfebereich ist eine wunderbare Aufgabe!Bereiten Sie Freude und erhalten Sie sich Ihre Freude daran!«
ANNE RODER
pflegebrief
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8426-0800-9 (Print)ISBN 978-3-8426-8995-4 (PDF)ISBN 978-3-8426-8996-1 (EPUB)
© 2020 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover
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Die im Folgenden verwendeten Personen- und Berufsbezeichnungen stehen immer gleichwertig für beide Geschlechter, auch wenn sie nur in einer Form benannt sind. Ein Markenzeichen kann warenrechtlich geschützt sein, ohne dass dieses besonders gekennzeichnet wurde.
Titelbild: belahoche - stock.adobe.comCovergestaltung und Reihenlayout: Lichten, Hamburg
Einleitung
1Demenz verstehen
1.1Was ist Demenz?
1.2Typen und Symptome von Demenz
1.2.1Demenz vom Alzheimer-Typ
1.2.2Vaskuläre Demenz
1.2.3Gemischte Demenz
1.2.4Lewy-Körper-Demenz
1.2.5Frontotemporale Demenz
1.2.6Pseudodemenz
1.2.7Demenz oder Depression?
1.3Gefühle werden nicht vergessen
1.3.1Die Vergangenheit wird zur Gegenwart
1.3.2Atmosphäre als Einflussfaktor
1.4Bedürfnisse von Menschen mit Demenz
1.5Lebendige Innenwelt
2Methoden und Techniken der Kommunikation
2.1Kommunikationsformen
2.2Kommunikation mit Menschen mit Demenz
2.3Den Schreck vermeiden: Gefühle und Reaktionen als Konfliktrisiko
2.4Die Haltung in der Betreuungsarbeit
2.5Fettnäpfe: Warum die Verständigung manchmal nicht gelingt
2.6Kommunikationskonzepte: Den Zugang erleichtern
2.6.1Validation
2.6.2Integrative Validation® (IVA) nach Nicole Richard
2.6.3Mäeutik
2.6.4Das Psychobiografische Pflegemodell
2.6.5Milieutherapie
3Demenz und herausforderndes Verhalten
3.1Die »Werkzeugkiste« der Kommunikation
3.2Herausforderndes Verhalten: Was ist das?
3.3Ursachenforschung
3.3.1Gesteigerter Antrieb, Ruhelosigkeit, Anspannung
3.3.2Hinlauftendenz
3.3.3Aggressionen
4Die Arbeit im Team
4.1Ihre Rolle als Betreuungskraft
4.2Die Zusammenarbeit im Betreuungsteam
4.2.1Fallgespräche
4.2.2Das gehört zu einer guten Zusammenarbeit
4.3Die Zusammenarbeit mit den Pflegekräften
5»Schwierige« Angehörige: Begriffe, Deutungen, Typen
6Rechtliche Rahmenbedingungen
6.1Abgrenzung Pflege – Betreuung
6.2Was darf ich und was darf ich nicht?
Nachwort
Literatur
Register
»Herzlich Glückwunsch!« Jetzt sind Sie an ihrem neuen Arbeitsplatz angekommen und können endlich richtig loslegen. Ein Stück des Weges liegt bereits hinter Ihnen. Wie die meisten Ihrer Kolleginnen und Kollegen haben Sie vermutlich eine andere berufliche Vergangenheit hinter sich und starten nun aus Ihren ganz persönlichen Gründen in eine neue berufliche Zukunft. Die Qualifikation zur Betreuungskraft gemäß § 53c SGB XI (vormals § 87b) haben Sie erfolgreich absolviert und brennen nun darauf, Ihre Kenntnisse eigenverantwortlich einzusetzen.
Sie sind also eine der Personen, »die neben dem allgemeinen Interesse an der Betreuungsarbeit u.a. auch eine gewisse Lebenserfahrung [mitbringen], sich selbstständig weiterbilden und arbeiten [wollen] und die den psychischen Arbeitsanforderungen gewachsen [sind]«.1
Sie sind nicht allein: Aufgrund der demografischen Entwicklung und der zunehmenden Anzahl an pflegebedürftigen Menschen – insbesondere Menschen mit Demenz – wird der Bedarf an qualifizierten Betreuungskräften deutlich steigen.
Selbstverständlich ist Ihnen bewusst, wie wichtig Ihre neue Aufgabe im »System Pflege und soziale Betreuung« ist und wie Sie persönlich einen Teil zum Wohlbefinden der Ihnen anvertrauten pflegebedürftigen Menschen beitragen können. Während Ihres Praktikums und durch den Austausch mit Ihren Mitstreiterinnen haben Sie wahrscheinlich festgestellt, dass sich im beruflichen Alltag abseits der viel geschmähten »schwierigen Rahmenbedingungen in der Pflege« so manche Herausforderung ergeben kann, mit der Sie nicht gerechnet haben und die auf den ersten Blick nicht deckungsgleich mit den »Richtlinien und Aufgaben einer zusätzlichen Betreuungskraft«2 zu sein scheint.
In diesem Buch geht es nicht um Ideen und Anregungen, was Sie »Ihren« Menschen in der sozialen Betreuung anbieten können, sondern darum, wie Sie das tun3.
Der neue Expertenstandard »Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz«4 erweitert die Sichtweise und eröffnet auch für die soziale Betreuung Handlungswege. Dementsprechend ist es auch mein Anliegen, den Expertenstandard an dieser Stelle »einzubauen«, ohne ihn intensiv zu bearbeiten. Auf diese Weise können Sie Ihr berufliches Handeln »ganz nebenbei« am Expertenstandard ausrichten.
Haben Sie eine Vision?
•Wie wollen Sie es schaffen, »Ihre« pflegebedürftigen Menschen bei Ihren alltäglichen Aktivitäten zu unterstützen und deren Lebensqualität tatsächlich zu verbessern?5
•Was können Sie tun, um ihnen sowohl in schwierigen Situationen als auch im »täglichen Allerlei« hilfreich zur Seite zu stehen?
Die soziale Betreuung von Menschen mit Demenz hält so manches Hindernis für Sie bereit, falls Sie kein »Rezept« haben sollten, den Pflegebedürftigen Ihre Angebote schmackhaft zu machen. Einen Kontakt zu ihnen herzustellen und die Beziehungsgestaltung zu fördern, gelingt oft nicht so, wie Sie es sich vielleicht vorgestellt haben. Es ist gut möglich, dass Sie von einigen Personen sogar beschimpft, beschuldigt oder einfach nicht wahrgenommen werden. Da kann bei Ihnen durchaus die Frage auftauchen, wie Sie Kommunikation und Beziehungsgestaltung erfolgreich bewerkstelligen können. Gibt es überhaupt so etwas wie ein Rezept?
Und – Hand aufs Herz – denken Sie auch an sich selbst?
•Wie geht es Ihnen, wenn Sie mit dem Leid der Ihnen anvertrauten Menschen und oft auch deren Angehörigen konfrontiert sind?
•Kommen Sie damit zurecht, dass Sie oft genug zu wenig Zeit haben für all das, was von Ihnen erwartet wird – oder was Sie glauben, leisten zu müssen?
•Finden Sie Unterstützung in Ihrem Team oder haben Sie eine Strategie für sich selbst gefunden?
Um ganz ehrlich zu sein: 160 Stunden Theorie und ein zweiwöchiges Berufspraktikum ermöglichen sicherlich einen guten Einblick in Ihren neuen Arbeitsbereich. Für eine umfassende Vorbereitung ist das allerdings arg knapp kalkuliert, da die Aufgaben in der Betreuungsarbeit immer komplexer und die Anforderungen immer höher werden. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung werden die Bewohner in den Einrichtungen pflegebedürftiger. Es leben dort zunehmend Menschen, die wegen einer demenziellen Erkrankung eine fachlich besonders qualifizierte Begleitung brauchen. Das Gleiche gilt für teilstationäre Angebote: In der ambulanten Pflege und Betreuung treffen Sie oft besonders häufig auf pflegende Angehörige, die Sie in gewisser Weise auch betreuen.
Überspitzt formuliert, macht Ihnen womöglich nicht nur »herausforderndes Verhalten« Kopfzerbrechen…
Wie verhält es sich mit die Angehörigen?
Der Kontakt zu ihnen ist Teil Ihres Aufgabenbereichs. Im Praktikum haben Sie selbst beobachtet und noch mehr davon gehört, dass es auch »schwierige« Angehörige geben kann, weil diese angeblich nicht selten überzeugt zu sein scheinen, »alles« besser zu wissen, in manchmal hinderlicher Weise die Arbeit der Betreuungskraft »unterstützen« oder genau in den Momenten beraten werden möchten, in denen Sie gerade keine Zeit haben oder schlicht und einfach keine Antwort auf Fragen haben.
Und wie sieht es mit Ihrem Team aus?
•Ziehen Sie alle an einem Strang, stimmen Ihre Arbeit untereinander ab und tauschen sich regelmäßig aus?
•Finden Sie einen kompetenten Ansprechpartner, der Ihre ersten selbständigen Schritte an Ihrem neuen Arbeitsplatz gemeinsam mit Ihnen geht und auch später mit Rat und Tat zur Verfügung steht, wenn Sie mal mit Ihrem Latein am Ende sind?
•Wird in Ihrer Einrichtung gemeinsam mit der Pflege oder nebenher gearbeitet?
•Werden die Mitarbeitenden der sozialen Betreuung als Teil des Teams wahr genommen und in den Pflegeprozess mit eingebunden oder steht ihre Arbeit eher »am Rande«?
•Gibt es einen regelmäßigen Kontakt zwischen der Leitung der Betreuung und der Pflege sowie den jeweiligen Teams?
•Gibt es auch gemeinsame Team- und Fallbesprechungen?
Solche und ähnliche Fragen mögen Ihnen vielleicht durch den Kopf gehen. Ganz sicher sind damit – wie bei allen Menschen – auch Gefühle verbunden, die nicht nur mit Vorfreude zu tun haben.
•Vielleicht nehmen Sie ein unbestimmtes Unbehagen wahr, vielleicht auch Angst oder Unsicherheit vor dem Unbekannten, vor der Verantwortung?
•Vielleicht hat Ihre Motivation auch schon einen ersten Dämpfer erhalten, weil Sie sich schon ein paar Mal in einer Situation befunden haben, in der Sie nicht mehr weiter wussten?
•Vielleicht haben sich auch schon einmal Zweifel eingeschlichen, ob Sie mit Ihrer Berufswahl doch die falsche Entscheidung getroffen haben?
Nein, das haben Sie hoffentlich nicht! Allein die Tatsache, dass Sie jetzt gerade dieses Buch in den Händen halten, wird Sie dabei unterstützen, sich auf den praktischen Alltag in Ihrem Beruf vorzubereiten. Ich stelle Ihnen eine Kollegin an die Seite, die Sie durch dieses Buch begleiten wird: Frau Sommer.
Da sie sich beruflich neu orientieren wollte und sich eine Tätigkeit mit alten Menschen gewünscht hatte, schien für sie der noch recht junge Beruf als Betreuungskraft genau das Richtige zu sein. Frau Sommer musste – genau wie Sie – ihren Weg in den Beruf finden. Sie sind herzlich dazu eingeladen, an ihren Gedanken, Erwartungen und Hindernissen teilzuhaben, sich mit ihr in typischen Situationen aus der Praxis wiederzufinden und Lösungswege für Herausforderungen zu entwickeln. So wird das theoretische Fachwissen für Sie greifbarer und Sie gewinnen zunehmend an Handlungssicherheit.
Mag sein, Sie erkennen Sich selbst an einigen Stellen wieder und räumen zusammen mit Frau Sommer Stolperfallen aus dem Weg. Eine Portion Selbstreflexion über Ihre eigenen Ansprüche an die Arbeit, Ihr Verhalten in bestimmten Situationen sowie Ihre Bereitschaft zur beruflichen Weiterentwicklung werden Sie dabei unterstützen.
Soziale Betreuung im Altenhilfebereich ist eine wunderbare Aufgabe! Bereiten Sie Freude und erhalten Sie sich Ihre Freude daran!
In den Beispielen werden Sie eine Reihe von Namen finden, die selbstverständlich alle der Fantasie entstammen. Jeglicher Bezug zu wirklich lebenden Personen wäre reiner Zufall und nicht beabsichtigt.
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1 GKV-Spitzenverband (2012): Betreuungskräfte in Pflegeeinrichtungen. Schriftenreihe Modellprogramm zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, Band 9. Berlin. S. 62
2 Vgl. GKV (2016): Richtlinien nach § 53c SGB XI zur Qualifikation und zu den Aufgaben von zusätzlichen Betreuungskräften in stationären Pflegeeinrichtungen (Betreuungskräfte-RL) vom 19. August 2008 in der Fassung vom 23. November 2016
3 Vgl. DNQP (2019): Expertenstandard »Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz«. Osnabrück.
4 Ebd.
5 Vgl. GKV 2016
»Demenz ist nicht gleich Demenz.« Sicherlich haben Sie diesen Satz schon oft gehört und auch im Qualifizierungskurs die nötigen Grundkenntnisse zu gerontopsychiatrischen Erkrankungen erhalten. Aber worin unterscheiden sich nun die verschiedenen Formen der Demenz und welche Auswirkungen ergeben sich daraus für Ihre Arbeit?
In der Praxis sieht einiges anders aus und vielleicht fällt es Ihnen manchmal schwer, Unterschiede zu erkennen, Symptome richtig zuzuordnen und Ihr Verhalten daran auszurichten. Ist das für die Betreuungsarbeit überhaupt wichtig? Mit Pflege haben Sie schließlich nichts zu tun. Aber wirklich beruhigend ist es auch nicht, wenn Ihre Kolleginnen sagen: »Das wird sich schon finden.« Zudem sieht es nicht immer so aus, als hätten sie recht…
Sie wollen doch eigentlich wissen, warum Menschen mit Demenz sich in einer bestimmten Art und Weise verhalten, was in ihnen vorgeht und wie Sie ihnen am besten begegnen. Frau Sommer ging es anfangs genauso: »Oft hatte ich das Gefühl, die Menschen nicht wirklich zu erreichen, dass sie mich nicht verstehen, gar nicht anwesend sind, etwas anderes möchten, als ich gerade vorschlage, oder sich nicht entscheiden können.«
Kurz gesagt: Sie möchten die Menschen verstehen, Ursachen für ihr Verhalten ergründen und professionell agieren! Dazu aber müssen Sie Zusammenhänge erkennen und anschließend entsprechend handeln.
Wichtig Vertiefen Sie Ihre Kenntnisse zum Krankheitsbild Demenz!
Das ist Ihr Handwerkszeug, auf das Sie in Ihrer täglichen Arbeit zurückgreifen können. Je öfter Sie es einsetzen desto schneller erkennen Sie, was im Moment gerade wichtig ist. Achten Sie dabei aber unbedingt darauf, im Sinne Kitwoods* nicht nur den Menschen mit Demenz zu sehen, sondern den Menschen mit Demenz.
* Vgl. Kitwood T (2019): Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. 8. Aufl. Hogrefe, Göttingen.
In Deutschland leben zurzeit etwa 1,7 Millionen Menschen mit Demenz. Jedes Jahr kommen ca. 300.000 Menschen dazu6. Das Alter ist der größte Risikofaktor, an einer Demenz zu erkranken. Aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung sind Frauen (70 Prozent) häufiger als Männer (40 Prozent) betroffen.7
Natürlich wurde Ihnen im Qualifizierungskurs Wissen zum Thema Demenz vermittelt und auch in Ihrer Einrichtung wohnen Menschen mit dieser Erkrankung. Trotzdem können Sie immer wieder beobachten, dass »Demenz nicht gleich Demenz« ist und es keine »Schublade für Symptome und Verhalten« gibt. Häufig haben noch längst nicht alle Bewohner mit demenziellen Verhaltensweisen auch tatsächlich die Diagnose Demenz. Schauen wir also genauer hin:
Demenz tritt in verschiedenen Formen auf. Bei ca. 10 Prozent der Demenzen handelt es sich um sog. sekundäre Formen. Sekundäre Demenzen sind die Folge einer anderen Erkrankung. Dazu gehören etwa eine Unterfunktion der Schilddrüse (Hypothyreose), Schlaganfall, Delir, Dehydration, Vitamin B12-Mangel, eine schwere Depression (Pseudodemenz), eine Parkinson-Erkrankung oder die Korsakov-Demenz. Auf den ersten Blick ähneln die Symptome denen einer Demenz. Sekundäre Demenzen sind – je nach Ursache – manchmal heilbar oder zumindest behandelbar.
Bei ca. 90 Prozent der Demenzen handelt es sich um primäre Formen. Hier liegt die Ursache der Demenz in Abbauprozessen im Gehirn (Degeneration). Den primären Demenzen gemeinsam ist der fortschreitende Verlust von Gehirnzellen, weswegen es immer mehr zu einem Verlust erlernter Fähigkeiten und Kenntnisse kommt. Das größte Risiko, an einer Demenz zu erkranken, ist das Alter.
Der häufigste Typ der Demenz ist die Alzheimer Demenz (ca. 65 Prozent aller Demenzen), gefolgt von der vaskulären Demenz (ca. 15 Prozent) und Mischformen aus beiden (ca. 15 Prozent)8. Außerdem gibt es noch seltener auftretende Formen, deren Symptome sich anfangs anders darstellen. Im späteren Verlauf der Erkrankung lassen sich die Folgen dann kaum noch untereinander abgrenzen, weil sämtliche Hirnareale betroffen sind.
Info
Entsprechend des Fortschreitens der Demenz, dem damit verbundenen Verlust von Fähigkeiten und dem immer größer werdenden Unterstützungsbedarf wird die Erkrankung in verschiedene Stadien unterteilt: leicht, mittel, schwer.
Die demenziell bedingten Veränderungen betreffen aber nicht nur kognitive Verluste. Sie wirken sich auch massiv auf die Beziehungsgestaltung aus. Menschen mit Demenz verlieren zunehmend die Fähigkeit, in bekannter Weise mit anderen Menschen zu kommunizieren und ihr soziales Umfeld zu erhalten.
Doch nicht jede ausgeprägte Vergesslichkeit ist gleich eine Demenz. Ehe diese Diagnose von einem (Fach-) Arzt gestellt werden kann, bedarf es noch weiterer Kriterien:
•Gedächtnisstörungen bis hin zum Verlust sämtlicher Erinnerungen müssen so ausgeprägt sein, dass die Gestaltung des Alltags beeinträchtigt ist.
•Beeinträchtigung mindestens einer weiteren kognitiven Funktion: Denken, Urteilen, Planen oder Organisieren.
•Dauer der Symptome mindestens 6 Monate.
•Keine Eintrübung des Bewusstseins wie es etwa nach einer Narkose oder bei hohem Fieber vorkommen kann.
Nach der ICD 10 ist eindeutig geregelt, ab wann man überhaupt von einer Diagnose Demenz sprechen kann (Abb. 1).
Abb. 1: Definition »Demenz« nach ICD 10.
Die Symptomatik einer Demenz ist demnach eindeutig beschrieben: Bei der Diagnoseerhebung werden immer zunächst körperliche Ursachen ausgeschlossen, die demenzähnliche Symptome hervorrufen können.
»Zur Diagnostik wird ein zweistufiges Verfahren empfohlen, bei dem auf der ersten Stufe das demenzielle Syndrom zu klären und auf der zweiten Stufe die Ursache zu ermitteln ist.
1. Stufe 1, Diagnostik des demenziellen Syndroms: Anamnese/Fremdanamnese, psychopathologischer Befund, neuropsychologische Screeningverfahren (beipielsweise Mini-Mental-Status, Uhrentest, Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung (TFDD), Demenz-Detections-Test (DemTec) etc.),
2. Stufe 2, Differenzialdiagnostik: bildgebende Verfahren wie cCt oder cMRT. Bei Verdacht auf eine vaskuläre Demenz sollte eine Dopplersonografie der hirnversorgenden Gefäße durchgeführt werden, außerdem EKG und umfangreiche Labordiagnostik einschließlich TSH, Folsäure und Urinteststreifen.
Fakultativ (im Bedarfsfall): Test des Urins auf Benzodiazepine oder ähnliche Stoffe, weitergehende neuropsychologische Untersuchung, EEG, Liquordiagnostik und weitere Labordiagnostik, z. B. HbA1, Lues-Serologie etc.«9
Definition
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat folgende Definition für das Krankheitsbild: »Demenz ist eine erworbene globale [umfassende] Beeinträchtigung der höheren Hirnfunktionen einschließlich des Gedächtnisses, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, sensomotorischer und sozialer Fertigkeiten der Sprache und Kommunikation, sowie der Kontrolle emotionaler Reaktionen, ohne Bewusstseinsstörungen. Meistens ist der Verlauf progredient (fortschreitend), nicht notwendigerweise irreversibel.«*
* WHO 1986, vgl. https://page-one.springer.com/pdf/preview/10.1007/978-3-531-19835-4_2
Meist beginnt die Demenz vom Alzheimer-Typ schleichend im höheren Lebensalter (zwischen 65 und 80 Jahren). Selten gibt es frühe Formen, die deutlich vor dem 60. Lebensjahr beginnen können. Ganz selten (weniger als 1 Prozent aller Betroffenen) ist die Demenz vom Alzheimer-Typ erblich und beginnt noch deutlich früher.
Die Ursache der Demenz vom Alzheimer-Typ ist noch nicht wirklich aufgeklärt. Allerdings gehen Forscher davon aus, dass Eiweißablagerungen im Gehirn dabei eine Rolle spielen, die im Gehirn Ablagerungen (Plaques) oder Stränge (Fibrillen) bilden. Dadurch wird zum einen die Informationsweitergabe in den Nervenfasern und Gehirnzellen unterbrochen und zum anderen die Blutversorgung gestört, sodass die Zellen absterben.
Als erste Symptome treten Störungen des Kurzzeitgedächtnisses und Wortfindungsstörungen auf. Häufig kommt es zu einem sog. »Fassadenverhalten«, bei dem die Betroffenen bemüht sind, ihre Beeinträchtigungen zu verbergen.
Im Spätstadium ist die Gehirnmasse deutlich geschrumpft und sämtliche Hirnfunktionen drastisch eingeschränkt.
Diese Form (ca. 20 Prozent) wird von Durchblutungsstörungen im Gehirn verursacht, die im Zusammenhang mit mehreren (großen oder kleinen) Schlaganfällen stehen. Deshalb spricht man auch von einer »Multiinfarkt-Demenz«. Die Blutversorgung der Gehirnzellen wird gestört oder unterbrochen, woraufhin sie absterben und ihre Funktion nicht mehr aufrechterhalten können.
Zu den typischen Anfangssymptomen einer vaskulären Demenz gehören nächtliche Verwirrtheit mit Störung des Tag-Nacht-Rhythmus, schnell wechselnde (»himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt«) und schwer zu lenkende Gefühle (Affektstörungen) sowie häufig ein unsicherer Gang und Stand.
Im Gegensatz zur Alzheimer-Demenz beginnt die vaskuläre Demenz plötzlich und der weitere Verlauf geht schubweise voran. Anfangs sind zwischenzeitliche Verbesserungen möglich, sodass der falsche Eindruck entstehen kann, dass es sich womöglich doch nicht um einen Demenz handelt.
Häufig (ca. 15 Prozent) treten bei hochaltrigen Menschen Symptome sowohl der Alzheimer- als auch der vaskulären Demenz auf. In diesem Fall handelt es sich um eine Mischform.
Diese Art tritt seltener (ca. 4 Prozent) auf, zumeist (aber nicht nur) im Rahmen einer Parkinson-Erkrankung. Die Muskulatur wird häufig steif, der Mensch unbeweglich. Stürze können aus diesem Grund häufiger auftreten. Ursachen sind – ähnlich wie bei der Alzheimer-Demenz – Eiweißablagerungen im Gehirn (Lewy-Körper).
An typischen Symptomen werden zunächst Aufmerksamkeit- und Konzentrationsstörungen beobachtet. Halluzinationen können ebenfalls auftreten. Die Menschen sehen oder hören Dinge oder Geräusche, die nicht von einem tatsächlichen Reiz ausgelöst werden, sondern ausschließlich »im Kopf« des Betroffenen entstehen.
Dieser Typ (ca. 5 Prozent) unterscheidet sich deutlich von den anderen Formen der Demenz. Die frontotemporale Demenz beginnt im mittleren Lebensalter (ca. 50 bis 60 Jahre) und ist anfangs nicht von Gedächtnisstörungen gekennzeichnet.
Die Betroffenen fallen durch Veränderungen des Sozialverhaltens und der emotionalen Reaktionen auf. Oft wird teilnahmsloses oder auch gereiztes, taktloses und enthemmtes Verhalten beobachtet, weil die degenerativen Prozesse im Stirn- und Schläfenbereich10 des Gehirns stattfinden, wo das Verhalten und die Emotionen gesteuert werden.
Störungen der Wortfindung und der Wortinterpretation sind ebenfalls möglich. Gedächtnisstörungen entwickeln sich in der Regel erst später. Ursache der frontotemporalen Demenz sind ebenfalls abnorme Eiweißprozesse, die zum Absterben der Gehirnzellen führen. Da man im Alter von 50 bis 60 Jahren nicht mit einer Demenz rechnet und sich die Symptome deutlich von einer »typischen« Demenz unterscheiden, geht man zunächst häufig von einer Persönlichkeitsstörung oder auch von Beziehungsproblemen aus.11
Es gibt noch viele weitere Demenzformen, die ich an dieser Stelle aber nicht weiter aufführen möchte, weil sie Ihre Arbeit als Betreuungskraft nicht bestimmen12. Erwähnen möchte ich allerdings noch die Demenz, die eigentlich keine ist und die den sekundären Formen zugeordnet wird.
Menschen mit einer schweren Depression können Symptome entwickeln, die denen einer Demenz auf den ersten Blick sehr ähnlich sein können. Die Ursachen sind in diesen Fällen keine degenerativen Prozesse im Gehirn, sondern organische oder psychische Störungen. Die Symptome (Antriebsstörungen, sozialer Rückzug, kognitive Störungen etc.) können sich manchmal bei entsprechender Behandlung zurückbilden.
Demenz und Depression sind zwei unterschiedliche Krankheitsbilder, doch in Ihrer Praxis als Betreuungskraft sollten Sie auch wissen, dass Betroffene oft scheinbar dieselben Symptome aufweisen. Umso wichtiger ist es, dass Sie eine Demenz von einer Depression unterscheiden können:
»Die Depression wird als affektive Störung bezeichnet, deren Hauptsymptome im Bereich der Stimmung oder der Affektivität bestehen. Hinzu kommt meist noch eine Veränderung des Aktivitätsniveaus.
Die Demenz ist eine organische Störung des Gehirns, die durch eine zerebrale Krankheit ausgelöst wird. Die fortschreitende Erkrankung des Gehirns geht mit Störungen der höheren Hirnfunktion, einschließlich Gedächtnis, Sprache, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, Veränderungen der emotionalen Kontrolle ohne Bewusstseinsstörungen einher.
Es ist durchaus möglich, dass ein Patient mit einer Depression auch eine Demenz entwickeln kann.«13
Tab. 1: Unterschiede im Verhalten bei Demenz und Depression
Depression
Demenz
Widersprüchliche Ergebnisse bei kognitiven Tests
Testergebnisse gleichbleibend schlecht
»Ich weiß nicht«-Antworten bei Gedächtnisfragen
Bemühen um richtige Antwort; oft »beinahe richtig«
Bessere Alltagskompetenz
Schlechte Alltagskompetenz
Apraxie/Aphasie selten
Apraxie/Aphasien typisches Symptom im Krankheitsverlauf
Kurzfristige Konzentration möglich
Konzentration schwer möglich
Depressive Stimmung
Wechselnde Stimmung
Klagen über kognitive Einbußen
»Fassadenverhalten«
Orientierung vorhanden
Orientierung zunehmend beeinträchtigt
Beginn eher plötzlich
Beginn in der Regel schleichend
Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis gleich schlecht
Langzeitgedächtnis zunächst besser als Kurzzeitgedächtnis
»Für eine zusätzliche Depression bei einer Demenz sprechen folgende Symptome:
•Interessenverlust,
•Schlaflosigkeit,
•Schuldgefühle,
•Suizidalität,
•psychomotorische Hemmung oder auch
•Agitation – erkrankten Menschen fällt es schwer, sich zu bewegen, oder sie sind extrem unruhig.«14
Info
Nicht selten kommt es vor, dass Menschen zu Beginn einer Demenz eine Depression entwickeln, wenn sie die Dimension der Diagnose erfassen. Im späteren Verlauf der Erkrankung verschwinden die depressiven Symptome oft wieder, weil deren Auslöser vergessen werden.
Wie bereits gesagt sind die Unterschiede der einzelnen Demenzformen im späteren Verlauf der Erkrankung kaum noch voneinander zu unterscheiden. Allen Demenzformen gemeinsam ist, dass der Prozess des Vergessens und des Orientierungsverlusts immer weiter voranschreiten. Die Kenntnis über die eigene Persönlichkeit bis hin zum Bewusstsein der eigenen Identität geraten für die Betroffenen immer weiter in den Hintergrund.
Was das wirklich bedeutet, können wir als Betreuungskräfte nur erahnen. Die damit verbundenen negativen Gefühle wie Verwirrung, Scham, Angst und Verzweiflung sind dem Einzelnen aber deutlich »ins Gesicht geschrieben«. Sie sind immer ehrlich, weil Menschen mit Demenz sich nicht »sozial angepasst« verstellen können.
Tipp
Nehmen Sie die sichtbaren Gefühle der Menschen mit Demenz als Art Wegweiser, wie sich das innere Erleben des Betroffenen im jeweiligen Moment darstellt. Sie sind eine Chance, genau die Unterstützung zu geben, die jetzt gerade gebraucht wird!