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Die Arbeitswelt verändert sich rasant – auch in traditionellen Branchen wie der Steuerberatung. Der Übergang vom Industrie- zum Informationszeitalter bringt tiefgreifende Veränderungen mit sich, die nicht nur die Technologie betreffen, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen arbeiten und zusammenarbeiten. Steuerberatungskanzleien, die traditionell in einem stabilen, vorhersagbaren Umfeld agierten, sehen sich heute zunehmend dynamischen Märkten gegenüber, in denen Anpassungsfähigkeit und Kreativität gefragt sind. Ein einfaches Rezept für die Gestaltung der Zusammenarbeit in Kanzleien gibt es nicht, doch es sollten folgende Fragen gestellt werden: • Welche individuellen Lösungsansätze müssen Kanzleiinhaber:innen entwickeln, die die spezifischen Bedingungen und kulturellen Eigenheiten ihrer Kanzlei berücksichtigen – und zwar jenseits von Management-Moden und universellen Lösungsansätzen? • Was brauchen Führungskräfte, um dem "Erneuerungs- und Transformationswahn" mit durchdachten Strategien entgegentreten und damit nicht zuletzt den Schaden aktionistischer »One-Size-Fits-All-Ansätze« abwenden zu können? Die Führungskräfte von morgen müssen lernen, nicht nur strukturelle Veränderungen zu steuern, sondern auch kulturelle Transformationen aktiv zu gestalten. Dies erfordert ein neues Führungsverständnis, das Future Leadership genannt wird. Dieser Ansatz betont die Notwendigkeit, Mitarbeitenden Raum für Eigenverantwortung und Kreativität zu geben. Geleitet von sieben Grundprinzipien zukunftsorientierter Unternehmensführung stellt Ralf Haase Denkwerkzeuge für Kanzleien vor, um passende Konzepte für Veränderungsstrategien zu entwickeln. Er zeigt, wie Kanzleien es schaffen können, durch eine neue Unternehmens- und Arbeitskultur den Kanzleierfolg zu steigern und gleichzeitig als Arbeitgeber attraktiver zu werden. Das Buch ist ein Werkzeug für Organisationsverantwortliche, die ihre Kanzlei in eine moderne und zukunftsorientierte Arbeitsumgebung transformieren wollen. Es bietet neben Strategien Perspektiven, Inspiration und praktische Ratschläge, um die Vorteile von New Work voll auszuschöpfen. Dieses Buch ist ein wertvolles Werkzeug für all jene, die bereit sind, ihre Kanzlei durch neue Ansätze der Arbeitsorganisation und des Führungsverhaltens in die Zukunft zu führen. Durch die Implementierung von New Work-Prinzipien können Steuerberatungskanzleien nicht nur wettbewerbsfähig bleiben, sondern auch als attraktive Arbeitgeber in einem hart umkämpften Arbeitsmarkt bestehen. Ergänzt wird das Buch durch digitale Audiodateien mit Interviews von 26 Praktiker:innen- und Organisationsentwickler:innen auf myBook+. Die digitale und kostenfreie Ergänzung zu Ihrem Buch auf myBook+: - Zugriff auf ergänzende Materialien und Inhalte - E-Book direkt online lesen im Browser - Persönliche Fachbibliothek mit Ihren BüchernJetzt nutzen auf mybookplus.de.
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Ralf Haase
Neue Arbeitswelt in der Steuerberatung
1. Auflage, Oktober 2024
© 2024 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
Reinsburgstr. 27, 70178 Stuttgart
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Transformation ist in aller Munde. Sei es die agile, digitale, kulturelle, Nachhaltigkeits- oder KI-Transformation – irgendein Anlass zur Transformation scheint sich stets zu finden. Spitzer formuliert: Transformationsvorhaben sind vom Zeitgeist geprägt, anstatt sich auf konkrete Probleme zu beziehen. Für Letzteres müssten sich Managementteams der Anstrengung unterziehen, ein substanzielles, bereichs oder gar tätigkeitsspezifisches Verständnis zu gewinnen. Sie müssten der Frage nachgehen, ob, wo und warum das Unternehmen Kunden an den Wettbewerb verliert oder wirtschaftliches Potenzial auf der Strecke lässt. Stattdessen geben sie sich mit Pauschaldiagnosen zufrieden, die insbesondere von den Medien und der Beratungsindustrie attestiert werden.
»Fehlende AgilitätAgilität« reicht als Grund, um eine agile Transformation zu initiieren. »Analoge Geschäftsprozesse« legitimieren bereits die Digitale Transformation. »Fachkräftemangel« stößt das Kulturelle Transformationsprojekt an.
Selten wird jedoch gefragt: Wenn die agile/digitale/kulturelle etc. Transformation die Lösung ist, was ist dann das ganz konkrete Problem in diesem Team, bei diesen Kunden, bei den Mitarbeitern, den Leistungen, den Geschäftsprozessen etc.? Kaum überraschend, dass die Transformationsvorhaben hinter ihren Erwartungen zurückbleiben und regelmäßig mit Belächeln oder Zynismus der Mitarbeiter quittiert werden.
Was also brauchen Führungskräfte, um sich gegen einen Erneuerungs- und Transformationswahn zu immunisieren? Wie können sie den Schaden aktionistischer »One size fits all«-Ansätze abwenden, ohne als taten- oder mutlos abgestempelt zu werden?
Die Antwort liegt in der Bereitschaft, selbst zu denken, anstatt Konventionen anderer zu folgen. Das klingt mindestens vorwurfsvoll, vielleicht aber auch zu offensichtlich, als dass es einer Erwähnung bedarf. Tatsächlich eifern viele Führungskräfte jedoch Methoden, Frameworks, Modellen und Best-Practice-Lösungen nach – stets mit bester Absicht wohlgemerkt. Von eigenem Denken kann dabei jedoch nicht gesprochen werden. Auch nicht, wenn die Konservenlösungen hier und da an die Unternehmensspezifika angepasst werden. Eigenes Denken würde bedeuten, die Probleme des Unternehmens so gut zu verstehen, dass passende Ideen als Abfallprodukt dieser Anstrengung entstehen.
Dazu bedarf es einer Zutat, die im Managementalltag selten Gehör findet und stattdessen Opfer einer aktionistischen Umtriebigkeit wird. Die Rede ist von Denkwerkzeugen – landläufig als Theorien verschrien.
Theorien haben einen schlechten Ruf. Theorien haftet der Mythos der Praxisferne an. Doch wer sich damit brüstet, ein Praktiker zu sein und die Theorien den Akademikern zu überlassen, bezichtigt sich implizit selbst der Denkfaulheit und Beliebigkeit.
Theorien dienen in Gegenwart komplexer Situationen als Qualitätsfilter für unsere Gedanken. Ohne Theorien werden angenehme Gedanken regelmäßig mit nützlichen verwechselt. Da eine Führungskraft nur so wirksam handeln kann, wie sie imstande ist zu denken, ist die Theoriefestigkeit zu einer der Schlüsselqualifikationen wirksamen Managements geworden.
Ralf Haase präsentiert in diesem Buch eine umfangreiche Sammlung, einen regelrechten Rundumschlag der Theorien, die gegenwärtig im Dunstkreis der Unternehmensführung und OrganisationsentwicklungOrganisationsentwicklung diskutiert werden. Dabei nutzt er seine eigene Erfahrung und entsprechende Interpretation, um die Theorien für die Arbeit im Steuerberatungsumfeld aufzubereiten.
Ich bedanke mich nicht nur für die mehrfache Nennung unserer eigenen Denkschule und -werkzeuge, sondern insbesondere für den mit diesem Werk geschaffenen Beitrag zu einer Verbreitung einer neuen, aufgeklärten und für die gegenwärtigen Herausforderungen nützlichen Werkzeugsammlung.
Mark PoppenborgMark Poppenborg, Gründer der intrinsify GmbH
Shoreham-by-Sea, im Juli 2024
»Also könntest du genauso gut hier sein, wo die Leute sich kümmern. Halte dich nicht zurück!«
The Chemical Brothers
Ich schreibe dieses Buch als Praktiker der OrganisationsentwicklungOrganisationsentwicklung, der in der Steuerberatungsbranche arbeitet, für Praktiker der Steuerberatung, die an einer zukunftsfähigen Gestaltung ihrer Kanzleien interessiert sind.1 Dabei geht es mir vor allem darum, den Zusammenhang zwischen passenden Unternehmensstrukturen und guter Zusammenarbeit in einer sich verändernden Welt aufzuzeigen. Dafür habe ich 24 Expertinnen und Experten aus den Bereichen Steuerberatung und systematische Organisationsberatung interviewt und lasse diese im Buch immer wieder in den verschiedenen Kapiteln mit ihrem Wissen, ihren Erfahrungen und ihren Meinungen zu Wort kommen. Was wird Unternehmen in den nächsten Jahren am meisten bewegen? Es geht zuallererst um Mitarbeiter, Führungskräfte- und Managemententwicklung. Die Optimierung von Prozessen, Verfahren und Methoden zur Effizienzsteigerung sind zwar nach wie vor ein wichtiger Teil der Organisationsentwicklung, werden aber zunehmend automatisiert, da alle Unternehmensbestandteile, die mit Wissen zu bespielen sind, zukünftig durch KI-Unterstützung wenig menschlichen Input benötigen.
Ein spezifischer Blick auf die SteuerberatungSteuerberatung zeigt, dass die Branche traditionelle Tätigkeiten erlebt, die zunehmend von Maschinen übernommen werden, insbesondere solche, die durch Normierung und Standardisierung gekennzeichnet sind. Dies schließt Aufgaben ein, die sich auf die sogenannte Wertschöpfung der Norm stützen, von der Sie im weiteren Verlauf des Buches mehr erfahren werden. Das betrifft vor allem die Verarbeitung von Steuererklärungen, Buchhaltung, und ähnliche routinemäßige Aufgaben, die durch Algorithmen und KI-Systeme effizienter und schneller durchgeführt werden können als von Menschen. Den wirklichen Wettbewerbsvorteil wird der gute Umgang mit den dynamischen, komplexen, überraschungsreichen Teilen der Wertschöpfung ausmachen. In der Zukunft wird erwartet, dass Kanzleien in der Lage sein müssen, individuelle Kundenwünsche immer schneller und kreativer zu erfüllen, indem sie Wertschöpfung der Ausnahme betreiben, ein Bereich, in dem menschliche Kreativität und individuelle Beratung weiterhin unerlässlich sind. Hier bietet sich KI-Unterstützung in Form von Datenanalyse, Mustererkennung und Vorhersagemodellen an, die es menschlichen Steuerberatern ermöglicht, tiefere Einblicke zu gewinnen und kundenspezifische Lösungen zu entwickeln. Die Herausforderung und gleichzeitig die Chance für Steuerberatungskanzleien besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen dem Einsatz von KI für Effizienzsteigerung und der Bewahrung des menschlichen Elements in der Beratung zu finden, das für die Erbringung maßgeschneiderter, wertschöpfender Dienstleistungen entscheidend ist.
Hier ist Ideenreichtum und InnovationInnovation gefragt. Damit sind aktuell Führung und Management in den meisten Unternehmen überlastet. Lediglich zusätzliches Training ist nicht hilfreich, es bedarf eines Perspektivwechsels sowie neuen Skillsets. Nicht Best Practices, Managementmoden oder Tools werden da die größte Hilfe sein, sondern DenkwerkzeugeDenkwerkzeuge. Das sind keine Handlungsanweisungen, sondern Denkempfehlungen als Grundlage für eigenes kreatives Vorgehen im Umgang mit mehrdeutigen, volatilen und unsicheren Situationen. Wie beispielsweise, dass man erst einmal unterscheiden muss, um Zusammenhänge erkennen zu können, oder analysieren muss, welche Ressourcen zu den verschiedenen Arten der Wertschöpfung in der Norm oder in der Ausnahme passen. Denn die Ausprägung von Höchstleistung ist stets einzigartig. Es geht nicht um Rezepttreue, sondern um Innovation. Nur weil eine Küche exakt nach Rezept kocht, wird noch lange kein Sternerestaurant daraus. Und weil ein guter Koch das Zusammenspiel von Geschmackskomponenten kennt, kann er auf diesen Prinzipien Ideen für köstliche Speisekompositionen aufbauen.
Und es ist keineswegs so, dass wir eine Wahl haben. Die Welt dreht sich auch ohne uns weiter. Die Wertschöpfungsstrukturen und Unternehmenskulturen, die sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten etabliert haben, hatten ihre Blütezeit unter den Bedingungen träger Märkte, die das Diktat des Produktes zuließen. Das Henry Ford zugeschriebene Zitat »Meine Kunden können Autos in jeder Farbe haben, solange diese schwarz ist« steht sinnbildlich für das Phänomen der tayloristischen Produktionsmethoden und den durch die trägen Märkte bedingten Mangel an Individualisierung in der Produktwelt des frühen 20. Jahrhunderts. Diese Aussage unterstreicht die damalige Priorisierung von Effizienz und Massenproduktion über individuelle Kundenbedürfnisse. Gestützt durch eine scheinbar unbegrenzte Expansionsmöglichkeit in der Globalisierung und gepaart mit schier unerschöpflichen Ressourcen fossiler Energien sind Unternehmen mit gigantischen Ausmaßen entstanden und haben sich perfekt an ein effizienzgetriebenes Ökosystem des Wirtschaftens angepasst. Die EDV, der Computer und das Internet haben das Informationszeitalter hervorgebracht. Die Umweltbedingungen für die Menschen als kollaborierende Wesen ändern sich damit dramatisch. Die Menschheit hat schon mehrfach solche Veränderungen erlebt. Man bezeichnet sie auch als »stille Revolutionen« – radikale Umbrüche, die aber Jahrzehnte oder in der Vergangenheit auch Jahrhunderte gedauert haben.
Vor 66 Millionen Jahren starben die größten Lebewesen aus, die jemals auf der Erde gelebt haben, weil sich deren Lebenswelt durch einen Meteoriteneinschlag zu einer feindlichen Materie verwandelte. Ihr gigantischer Ressourcenbedarf konnte durch die Natur nicht mehr gedeckt werden und sie gingen zugrunde. Die neue, kleinere und anpassungsfähigere Spezies der Säugetiere, die vorher ein kümmerliches Nischendasein gefristet hatte, weil sie immer durch die übermächtigen Raubsaurier gefressen und dezimiert wurde, war nun die Lebensform mit den besten Fähigkeiten für die neue Zeit. Die Dinosaurier des Industriezeitalters sind die Konzerne und Trusts, die es in der Vergangenheit unter den Bedingungen der industriellen Moderne immer geschafft haben, kleinere Konkurrenten zu vernichten oder sie sich einzuverleiben. Sie haben den Einschlag des »Meteoriten« zwar schon gesehen, aber als Bedrohung für sich selbst noch nicht wahrgenommen. Die große Welle der Vernichtung rollt noch auf sie zu. Es sind die Konzerne und Megaunternehmen, die ihren unbändigen Ressourcen- und Fachkräftehunger sowie -verschleiß bald nicht mehr stillen können werden. So wie damals das Ende der Kreidezeit erleben wir heute das Ende der Industriezeit. Das neue Tertiär ist das Informationszeitalter, und wie damals nach den Dinosauriern die kleinen flinken Säugetiere gewannen, werden heute die dynamikrobusten Spezial-Höchstleister das Rennen machen. Sie sind attraktiv für die Fachkräfte, weil diese ihren Mitarbeitern eher das Gefühl vermitteln, an etwas Bedeutungsvollem teilzunehmen und direkten Einfluss auf den Erfolg des Unternehmens zu haben. Wir werden später noch auf dieses ‒ Empowerment genannte ‒ zentrale Element guter Zusammenarbeit zu sprechen kommen. Und sie sind wendig genug, um den volatilen, kontingenten und komplexen Marktanforderungen gerecht zu werden. Anpassungsfähigkeit, schnelle Entscheidungen, Kundennähe und agile Arbeitsweisen ermöglichen es ihnen, iterativ und in enger Zusammenarbeit mit den Kunden zu arbeiten.
Mehrdeutigkeiten sind die Normalität unserer Epoche. »Wer Ambivalenzen aushalten und produktiv mit ihnen umgehen kann, ist in der Spätmoderne klar im Vorteil. Allerdings hat die elementare psychologische Fähigkeit der Ambiguitätstoleranz im heutigen Debattenklima mit seinen klaren Freund-Feind-Unterscheidungen einen schweren Stand«, schreibt Andreas Reckwitz in seinem Buch »Das Ende der Illusionen – Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne« (Reckwitz 2019, S. 16). Die immense Informationsflut zu Dingen, die wir kaum beeinflussen können, triggert das System-1-Denken, wie Daniel Kahneman betont, was wiederum zu Debatten auf Stammtischniveau führt. Wir müssen insgesamt auf eine Kultur hinarbeiten, die Komplexitätsresilienz und Ambiguitätstoleranz als Grundkonsens beinhaltet. Da aber die Kultur nur der »Schatten« der Verhältnisse ist, brauchen wir Treiber von Führungsstrukturen, die gedanklich in der Spätmoderne angekommen sind. Wir brauchen etwas Neues, einen Abschied von den Illusionen, wir könnten das als gut Empfundene aus der Vergangenheit einfach in der Zukunft weiterverwenden – die Extrapolierung des Bekannten ist nicht zielführend. Diese Desillusionierung ist eine Chance, Offenheit für Zukunftsthemen zu entwickeln, sowohl in der Gesellschaft als Ganzes, aber natürlich zuerst in den kleinen Strukturen, wie Familie, Organisationen und – um die Klammer zur Attitüde dieses Buches zu spannen – insbesondere in den Unternehmen.
Spezielle Situation der Steuerberatungskanzleien
Im Hinblick auf die spezielle Situation von Steuerberatungskanzleien eröffnen sich spannende Perspektiven für die Anpassung dieser Branche an die Anforderungen der Spätmoderne. Steuerberatungskanzleien stehen, wie viele andere traditionell konservative und stark regulierte Bereiche, vor der Herausforderung, sich in einer sich rapide verändernden Welt zu behaupten und zu entwickeln. Hier sind einige spezifische Interpretationen und Anpassungen, die für Steuerberatungskanzleien relevant sein könnten:
AmbiguitätstoleranzAmbiguitätstoleranz stärken: In der heutigen schnelllebigen Welt, in der gesetzliche Änderungen und internationale Steuervorschriften an der Tagesordnung sind, müssen Steuerberater in der Lage sein, mit Unsicherheiten und mehrdeutigen Informationen umzugehen. Die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten und produktiv zu nutzen, wird zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil.
KomplexitätsresilienzKomplexitätsresilienz aufbauen: Die immense Menge an Informationen und die schnellen Veränderungen in der Gesetzgebung erfordern von den Steuerberatern, dass sie nicht nur reaktiv agieren, sondern proaktiv Lösungen für ihre Mandanten entwickeln, die robust gegenüber den Unwägbarkeiten des Marktes sind. Das bedeutet auch, sich von traditionellen, einfachen Lösungsansätzen zu lösen und komplexere, aber flexiblere Beratungsansätze zu entwickeln.
Modernisierung der Führungsstrukturen: Steuerberatungskanzleien müssen ihre internen Strukturen überdenken. Das traditionelle hierarchische Modell könnte durch agilere, teamorientierte und dezentralisierte Führungsstile ergänzt oder ersetzt werden, die eine schnellere Anpassung an Veränderungen ermöglichen und die Eigeninitiative sowie die Kreativität der Mitarbeiter fördern.
Innovative Denkansätze fördern: Die Extrapolation bekannter Praktiken in die Zukunft ist, wie Reckwitz betont, nicht zielführend. Stattdessen sollten Kanzleien Innovationen in der Dienstleistung und in der Mandanteninteraktion vorantreiben, um sich von der Konkurrenz abzuheben und neuen Mehrwert zu schaffen.
KulturwandelKulturwandel initiieren: Die Unternehmenskultur in Steuerberatungskanzleien muss sich weiterentwickeln, um eine höhere Resilienz gegenüber Veränderungen und eine stärkere Akzeptanz von Unsicherheiten zu fördern. Dies könnte durch fortlaufende Weiterbildung, den Einsatz neuer Technologien und die Förderung einer offenen Kommunikationskultur geschehen.
DigitalisierungDigitalisierung und Technologieeinsatz: Um mit der Informationsflut umgehen zu können, ist der Einsatz von Technologie unabdingbar. Automatisierung von Routineaufgaben, Einsatz von Künstlicher Intelligenz für datenintensive Analysen und die Digitalisierung von Kundeninteraktionen sind Ansätze, die die Effizienz steigern und den Beratern ermöglichen, sich auf komplexere und wertstiftendere Tätigkeiten zu konzentrieren.
Diese Anpassungen erfordern von den Kanzleien nicht nur eine technologische Modernisierung, sondern auch eine tiefgreifende Veränderung in der Denkweise und Kultur. Es geht darum, ein Umfeld zu schaffen, das Innovation fördert und in dem Mitarbeiter sich sicher fühlen, neue Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Dieser Wandel kann dazu beitragen, dass Steuerberatungskanzleien in einer zunehmend komplexen Welt erfolgreich und relevant bleiben.
Andreas Reckwitz schreibt weiter: »Eine realistische ›Sozialanalyse‹ enthält in mancher Hinsicht viel mehr Parallelen zur Psychoanalyse, so wie Sigmund Freud sie in Bezug auf Individuen und Kultur entwickelte: Auch diese stellt schließlich keine vollständige Auflösung der Widersprüche in einer versöhnten, harmonischen Existenz in Aussicht. Der Aufklärungsgewinn – der analytische Fortschritt – besteht vielmehr gerade darin, die Paradoxien und Ambivalenzen sichtbar zu machen, dadurch auf sie reflektieren zu können und über diesen veränderten Blick auf die Lage der Dinge realistische Schritte zu ihrer Veränderung zu ermutigen« (Reckwitz 2019, S. 15) ‒ eine spannende Sichtweise, wie ich finde. Es geht darum, sich auf Unsicherheiten einzulassen und eine Denkweise zu entwickeln, die Mehrdeutigkeiten und Unüberschaubarkeiten erträglich macht, Konflikte nicht als Störung begreift, sondern als Treiber des Fortschritts – mehr noch: Sie als Motivationskatalysator für das eigene Streben nach Weiterentwicklung zu entdecken. Führung und Management spielen dann eine aktive Rolle bei der Gestaltung der barrierefreien Strukturen der Unternehmen, die den Mitarbeitern Handlungsräume geben, um sinnvoll am Markt im ausgewogenen Interesse von Kunde und Unternehmen zu agieren sowie sinnvolle Entscheidungen treffen zu können. Auch Coaching und Entwicklung der Mitarbeiter werden im besonderen Fokus stehen. Was das konkret heißt, wird in Kapitel 4 dieses Buches beschrieben.
Die Organisationskultur als beobachtbare Expression der Verhältnisse im Unternehmen wird noch mehr an Bedeutung gewinnen, sowohl für den Arbeitsmarkt als auch aus Kundensicht. Unternehmenskultur als Gradmesser einer dynamikrobusten und zukunftsfähigen Kollaborationsstruktur – die mehr und mehr auf den Effekt von Emergenzen angewiesenen Höchstleister werden die Benchmarks in dem Verständnis von konkurrenzfähiger Zusammenarbeit setzen. Das neue Narrativ unserer Zeit könnte so beschrieben werden: In den meisten Steuerberatungskanzleien wird der Wandel spürbar. Früher galten Zahlen, Gesetze und Vorschriften als das Alpha und Omega ihrer Arbeit. Doch nun, inmitten des stürmischen Meeres des Informationszeitalters, ist es Zeit zu erkennen, dass die Segel neu gesetzt werden müssen. Die Kanzleien sehen sich nun mit einer Welt konfrontiert, in der Veränderungen so konstant sind wie der Wechsel von Ebbe und Flut. Die alten Karten und Navigationswerkzeuge reichen nicht mehr aus, um die ungewissen Gewässer der Spätmoderne zu durchqueren. Es ist die Ära der VUCA-WeltVUCA-Welt – volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig – und die Kanzleien müssen sich anpassen, um nicht vom Wind of Change aus dem Markt geweht zu werden. Die Kanzleiführung, einst streng und hierarchisch, wird flexibler. Man legt Wert auf die flexible Zusammenarbeit und die Kommunikation zwischen den Ebenen wird gefördert. Junge Steuerberater, die frischen Wind mitbringen, werden ermutigt, ihre Ideen zu teilen. Sie formen Teams, die nicht nur Zahlen analysieren, sondern die Geschichten hinter den Bilanzen verstehen. Sie entwickeln neue Dienstleistungen, die über die traditionelle Steuerberatung hinausgehen, und bieten strategische Beratung an, die ihren Mandanten hilft, auf dem dynamischen Markt zu bestehen.
Inmitten dieser Veränderungen entsteht eine neue OrganisationskulturOrganisationskultur. Sie wird geprägt von Respekt, Offenheit und dem Wunsch, gemeinsam zu lernen. Es entstehen Mikrokulturen der InnovationInnovation, in denen Mitarbeiter ermutigt werden, Experimente zu wagen und aus Fehlern zu lernen, ohne Angst vor Sanktionen zu haben. Diese Mikrokulturen sind die Brutstätten für Innovationen, die letztlich den gesamten Markt transformieren.Die Kanzleien beginnen, die Beziehungen zu ihren Kunden neu zu gestalten. Sie sehen jeden Mandanten nicht mehr nur als Nummer in ihrer Akte, sondern als Partner auf einer gemeinsamen Reise. Die Berater nehmen sich Zeit, die Herausforderungen der Mandanten wirklich zu verstehen und maßgeschneiderte Lösungen anzubieten. In der Beratung geht es nicht nur um Steuern, sondern auch um Nachhaltigkeit, Wachstum und langfristigen Erfolg. Mit der Zeit entwickeln sich fortschrittliche Steuerberater zu Vorreitern für New Work in ihrer Branche. Sie ziehen talentierte Fachkräfte an, die nach einem sinnvollen und erfüllenden Berufsleben suchen. Ihre Kunden sind Unternehmen, die Wert auf eine Zusammenarbeit legen, die auf Vertrauen und gegenseitigem Respekt basiert. Die Kanzleien wachsen, aber nicht nur in der Größe, sondern auch in ihrem Einfluss und ihrer Reputation. Das Narrativ dieser Kanzleien wird zu einer Geschichte des Wandels, der Anpassung und des Erfolgs in einer Zeit, die von Unsicherheit geprägt ist. Es ist eine Geschichte, die zeigt, dass es möglich ist, Traditionen zu ehren, während man mutig in eine ungewisse Zukunft segelt.
Die heute zu beobachtende Unsicherheit in der Unternehmenswelt – wie die Kultur für den hybriden Arbeitsplatz umgestaltet werden kann – wird mehr und mehr einer »Betriebswirtschaftslehre 2.0Betriebswirtschaftslehre 2.0« Platz machen, die nicht mehr Effizienz als Gradmesser hat, sondern dauernde Innovationsfähigkeit und extrem hohe Adaptivität. Ohne kulturell und emotional verbundene Mitarbeiter ist das nicht zu bewältigen. Also werden dynamische Höchstleister der Zukunft ein sehr starkes Augenmerk auf das Empowerment der Mitarbeiter legen. Das organisationelle Lernen durch autopoietisch entstehende Höchstleistungsinseln innerhalb der Organisationen wird einer der maßgeblichen Wettbewerbsvorteile am Arbeitsmarkt und Kundenmarkt sein. Lebendige und gesunde Mikrokulturen sind die Grundlage für Ideen und daraus entstehende Innovation. Sie können nur entstehen, wenn Widerstand und Geborgenheit in der Organisation nahe beieinander liegen. Widerstand braucht es, damit sich gute von weniger guten Ideen absetzen können (Try and Error), und dafür ist die Geborgenheit in Form von psychologischer Sicherheit essenziell, damit anhand von Irrtümern gelernt werden kann, ohne dass ein Rückschlag disziplinarische oder soziale Konsequenzen nach sich zieht.
Veränderung braucht Empowerment der Mitarbeiter und Offenheit für kontinuierliches Adaptieren der Kollaborationssystematik. Strategien gegen Veränderungsmüdigkeit und für psychologische Sicherheit werden integraler Bestandteil der OrganisationsentwicklungOrganisationsentwicklung. Das bedeutet den Abschied von der traditionellen Herangehensweise an Mitarbeiterentwicklung. Das Enablen des Wissenstransfers wird zukünftig obsolet, denn Wissen ist kein limitierender Faktor mehr. Vielmehr muss der Fokus auf ein Career Management gerichtet werden, das den Erwerb von Können unterstützt und vielfältige Erfahrungen sowie individuelle Fähigkeiten und Neigungen zur Erweiterung der Expertise integriert. Psychologisches Empowerment setzt sich aus vier Facetten zusammen: dem Erleben von Kompetenz, Bedeutsamkeit, Selbstbestimmung und Einfluss während der Arbeit (Schermuly 2019). Viele Führungskräfte suchen heute qua Mangel an (erlernbaren) Führungsskills fast verzweifelt nach Möglichkeiten, »den Laden zusammenzuhalten«, und verfallen dabei im System-1-Denken (schnelles Denken, wie es Kahneman beschreibt) dem riesigen Angebot der GlücksbewirtschaftungsindustrieGlücksbewirtschaftungsindustrie. Hier noch ein Benefit, da noch ein Teamevent. Das ist Infantilisierung erwachsener, nach Selbstwirksamkeitserfahrung strebender Menschen par excellence. Statt Selbstwirksamkeit bekommen diese Lob und Goodies. Man könnte auch sagen, sie werden mit »Drogen« kurzfristig zufriedengestellt. Und die Dosis schaukelt sich immer höher. Näheres dazu erfahren Sie in den Kapiteln 4 und 5 dieses Buches.
Disclaimer: Auch wenn der Autor in der Steuerberatungsbranche arbeitet und seit vielen Jahren als Unternehmer mit Themen der Buchhaltung in Berührung ist, können die verwendeten Worte und Begriffe für Vorgänge, mit denen die Buchhalter und Steuerfachleute tagtäglich umgehen, manchmal laienhaft klingen oder nicht zu 100 Prozent dem fachlichen Terminus entsprechen. Bitte beachten Sie dabei, dass der Autor als Personaler einer Steuerkanzlei nur am Rande mit den Fachbezeichnungen des Accounting zu tun hat. In diesem Buch geht es um die Systematik der Zusammenarbeit in der Branche und nicht um einen Lehrbuchcharakter für Buchführungs- und Steuerberatungsberufe.
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern in diesem Buch meistens das generische Maskulinum verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.
Haben Sie schon mal versucht, ohne Mathematik eine Zahlenaufgabe zu lösen? Mathematik untersucht abstrakte Strukturen mittels der Logik auf ihre Eigenschaften und Muster. Sie dient als Werkzeug zur Lösung von eigentlich zu schweren Aufgaben und ist somit eine Abkürzung dafür. Genau so kann man auch die Systemtheorie verstehen, nämlich als Werkzeug für das Erklären sehr komplexer Phänomene in sozialen Organisationen, zu denen auch Unternehmen gehören. Somit kann diese, vor allem von dem deutschen Soziologen Niklas Luhmann beeinflusste Denkschule als Fundament für das Organisationsdesign und die Führung von dynamikrobusten Unternehmen dienen. Aber eine Theorie ist keine Methode – sie ist ein Werkzeug, das erst bei der Anwendung durch einen mitdenkenden Menschen zur Wirkung kommt. Man kann sie auch als Abkürzung verstehen, die schneller zu Ergebnissen führt. Mit Mathematik kann man Zusammenhänge in der Musik beschreiben. Aber man kann mit ihr nicht komponieren. So ähnlich verhält sich das auch mit der Systemtheorie und sozialen Systemen: Man kann mit ihr die Wirkmechanismen, Zusammenhänge und Unterschiede in kollaborativen Gruppen von Menschen beschreiben und erklären. Aber eine Handlungsanleitung sucht man darin vergebens. Vielleicht weil die Systemtheorie nicht handlungsleitend ist, wirkt sie nicht besonders anschlussfähig, aber der Effekt, dass auftretende Phänomene in Organisationen damit erklärbar werden, lässt meist die Lösung dabei schon offensichtlich zutage treten.
»Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie«, diese Erkenntnis hat Kurt Lewin geäußert und damit viele Menschen inspiriert. Und wenn man genauer darüber nachdenkt, was ohne Theorie alles in unserem Alltag unmöglich wäre, erschließt sich dieses Zitat auch ganz von allein: Eine Wettervorhersage ist deshalb einigermaßen zuverlässig, weil sich Meteorologen einer Theorie bedienen. Wie wir beobachten, kommt es oft dann doch etwas anders, aber die Grundtendenz stimmt schon. Das liegt daran, dass die Theorie die Komplexität der Realität in ein reduziertes Muster packt. Bestimmte Wirkfaktoren, die zwar relevant, aber für das Verstehen des Gesamtzusammenhangs von untergeordneter Bedeutung sind, werden weggelassen. Wie bei der physikalischen Beschreibung der Fallgeschwindigkeit. Auf einen fallenden Körper wirken zwar Luftwiderstand, Windverhältnisse und weitere Faktoren, die aber ignoriert werden können, ohne das Naturgesetz unverständlich zu machen. Natürlich kann man sich auch über Versuch und Irrtum an eine Erkenntnis herantasten, begeht aber damit einen viel schwereren Weg. Mit einer Theorie wird eine zielführende Erkenntnis wesentlich wahrscheinlicher.
Trotzdem hat die Theorie im Alltag keinen guten Stand. »Grau ist alle Theorie« heißt es oft. Und es wird ihr die Praxis als wirksameres Gegenstück entgegengehalten. Dabei sind Theorie und Praxis gar keine Antagonisten, sondern beide sind untrennbare Bestandteile menschlichen Handelns. Die Theorie unterstützt die praktische Umsetzung, reduziert Verschwendung bei »Try and Error«. Theorien wurden aus den praktischen Erkenntnissen heraus entwickelt, um bei Wiederholung der Lösung von Problemen bereits bekannte Grundlagen so zu beschreiben, dass Muster erkennbar sind. Wichtig dabei ist natürlich auch, dass man nicht ausschließlich blind theoriegläubig unterwegs ist, sondern stets mitdenkt, dass die Theorie ein Werkzeug ist, um die Komplexität zu reduzieren. Andererseits aber auch nicht bei jeder Ausnahme, die eine volatile, unsichere und mehrdeutige Situation mit sich bringen kann, die Theorie infrage stellt. Das Gesetz des freien Falles zweifelt auch keiner mehr an, nur weil in der Praxis ein Körper langsamer fällt, als es die Theorie beschreibt. Letzteres ist für die meisten gebildeten Menschen eine Selbstverständlichkeit. Im Hinblick auf die Einordnung von Phänomenen in Unternehmen, die, wie später im Buch noch beschrieben wird, als soziale Systeme zu betrachten sind, hat sich eine solche Denkweise noch nicht durchgesetzt. Das hängt wohl auch mit der menschlichen Neigung zusammen, zunächst mit dem von Daniel Kahneman beschriebenen schnellen Denken (System 1) zu agieren.2
Und so liegt die Annahme auf der Hand, dass wirksame Führung, passendes Organisationsdesign und gute Kollaborationsstrukturen mit Theorie wahrscheinlicher werden als ohne. Auf den Streit, welche Theorie dafür am besten geeignet ist, möchte ich in diesem Buch nicht näher eingehen, und zwar aus einem ganz praktischen Grund: Egal, ob man der Analyse und Erklärung von Phänomenen der Zusammenarbeit und Führung das Viable System Model (VSM), die Komplexitätstheorie, die Lehren von Deming oder die luhmannsche Systemtheorieluhmannsche Systemtheorie3 zugrunde legt, kommt man immer zu relativ ähnlichen Ergebnissen und Konsequenzen im Denken und damit zu Impulsen für praktische Veränderungen in Unternehmen. Wenn man mit einer solchen Denkgrundlage auf Unternehmen blickt, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass man nicht Opfer, sondern Nutzer der Komplexität wird und damit sein Unternehmen zu einem dynamischen Höchstleister macht. Und da ich mich selbst mit der Systemtheorie am besten auskenne und weil sie sehr präzise, unmissverständlich und deutlich ist, wird sich dieses Buch weitgehend auf die Grundlage der Forschungsergebnisse von Niklas Luhmann beziehen. Die Begrifflichkeiten, die benutzt werden, sind besonders klar und geben damit wenig Raum für Spekulationen oder Missverständnisse.
Ohne eine brauchbare theoretische Grundlage ist gutes Organisationsdesign schwierig. »Eine gute Theorie ist das Praktischste, was es gibt«, sagte auch der deutsche Physiker Gustav Robert Kirchhoff. Das war weit vor dem Wirken von Niklas Luhmann, dessen Systemtheorie uns aktuell wertvolle Denkwerkzeuge zur Unternehmensentwicklung für die heutige und zukünftige Wertschöpfung liefert. »In der Enge globaler Märkte wird Überraschung zur wirksamen Waffe: Wer seinen Konkurrenten auf dem falschen Fuß erwischt, gewinnt«, sagt Gerhard Wohland in seinem Buch »Denkwerkzeuge der Höchstleister«. Diese Unternehmen, die er Höchstleister nennt, erzeugen die damit verbundene Dynamik oder nehmen sie in Gebrauch. Es geht in den aktuellen und zukünftigen Wirtschaftsräumen nicht mehr darum, Methoden, Prozesse oder Technologien, also Wissen, präzise und konsequent anzuwenden, sondern Talente der Mitarbeitenden, also das Können, zu erkennen und zur Wirkung zu bringen. Nicht das »Wie« ist entscheidend, sondern wer ein Problem lösen kann und dafür die richtigen Ideen hat.
In der heutigen Zeit beeinflussen Dynamik und Überraschung immer größere Teile der Wertschöpfung, wodurch die klassische BWL nicht mehr als universelles Werkzeug zur Unternehmensführung geeignet ist. Denn die BWL kennt nur Kausalitäten, Wenn-dann-Beziehungen von organisatorischen Operationen, die wiederkehrende und bekannte Probleme kennzeichnen. Damit lassen sich Prozesse steuern, die im systemtheoretischen Kontext »blaue Probleme« genannt werden. Für den dynamischen, auch als »rot« bezeichneten Teil der Wertschöpfung ist sie jedoch blind und kann mit Überraschungen nicht adäquat umgehen. Dazu mehr im Kapitel 4.1 dieses Buches.
Die aus dem tayloristischen Industriezeitalter stammende wissenschaftliche Basis des Wirtschaftens beruht auf konsequentem Einhalten von Regeln und absolutem Fokus auf effektiven Umgang mit Ressourcen. Konsequenz kann bei Überraschungen zur Falle werden, weil man sich dadurch leicht in eine Sackgasse manövriert, an deren Ende kein Kunde mehr zufrieden ist, und Effizienz endet bei dynamischen Märkten in der Reaktionsunfähigkeit, weil fehlende Redundanzen keinen Handlungsspielraum ermöglichen. In der Praxis der Steuerberatung zeigt sich die Falle des Taylorismus beispielsweise, wenn Kanzleien versuchen, komplexe Steuerfälle mit standardisierten, effizienzorientierten Prozessen zu bearbeiten. Das tayloristische Modell, das auf Spezialisierung und Routinen beruht, kann bei unvorhergesehenen oder individuellen Mandantenanforderungen an seine Grenzen stoßen. In einer Welt, die durch individuelle Kundenwünsche und schnelle technologische Veränderungen geprägt ist, erfordert erfolgreiche Wertschöpfung ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und kreative Problemlösungen.
Ein Beispiel wäre eine Steuerberatungskanzlei, die sich auf standardisierte Prozesse verlässt, um Steuererklärungen zu erstellen. Diese starren Prozesse mögen in der Vergangenheit gut funktioniert haben, als die steuerlichen Gesetze stabil waren und die Anforderungen der Mandanten vorhersehbar. In der heutigen VUCA-WeltVUCA-Welt (volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig) sind jedoch Flexibilität und Kreativität erforderlich, um auf die individuellen Bedürfnisse der Mandanten einzugehen und komplexe steuerrechtliche Herausforderungen zu bewältigen. Stellen wir uns vor, eine Kanzlei wird mit einer Situation konfrontiert, in der ein Mandant eine komplexe internationale Steuerstruktur hat, die schnelle und maßgeschneiderte Lösungen erfordert. Wenn die Kanzlei in ihren tayloristischen Methoden verhaftet bleibt, wird sie wahrscheinlich nicht in der Lage sein, eine adäquate Lösung zu finden. Die benötigte Flexibilität fehlt, und die Mitarbeiter sind möglicherweise nicht darin geschult oder ermächtigt, über den Tellerrand hinaus zu denken und kreative Lösungen zu entwickeln. Die Konsequenz wäre, dass der Mandant unzufrieden ist, weil seine spezifischen Bedürfnisse nicht erfüllt werden, und die Kanzlei könnte aufgrund ihrer Inflexibilität und langsamen Reaktionsfähigkeit Marktanteile verlieren. Das Festhalten an einem veralteten, starren Ansatz in einem sich schnell verändernden Umfeld kann also dazu führen, dass die Kanzlei an Wettbewerbsfähigkeit verliert und ihre Fähigkeit einschränkt, innovative Lösungen zu bieten, die im heutigen dynamischen Steuerumfeld erforderlich sind. Für dynamische Märkte brauchen Unternehmen heute eine andere Theorie als Basis der Organisation. Und die luhmannsche Systemtheorie bietet sich dafür in hervorragender Weise an, weil sie die grundlegenden Muster der Evolution sozialer Systeme in schlüssiger Form vereint.
Als ich mich das erste Mal mit der SystemtheorieSystemtheorie als Erklärungsmodell für das Funktionieren von Unternehmen beschäftigte, war ich einerseits irritiert von den sehr ungewohnten Denkansätzen und anderseits begeistert von der Logik, mit der sich nun der Umgang mit der zunehmend komplexer werdenden Arbeitswelt betrachten lässt. Eine der kontraintuitivsten Aussagen war in diesem Zusammenhang die Behauptung, dass Organisationen (wozu auch Unternehmen gehören) nicht aus Menschen bestehen, sondern lediglich aus der Kommunikation, die im sozialen System, an dem sie teilnehmen, entsteht. So wie bei einem Brettspiel, zu dem sehr wohl das Spielbrett, die Spielfiguren und auch die Spielregeln gehören, aber nicht die Spieler. Diese nehmen lediglich an dem Spiel teil und verhalten sich nach dessen Regeln. Wenn nicht … Sie kennen das Ergebnis! Wer sich bei einem Gesellschaftsspiel nicht an die Regeln hält, wird wahrscheinlich nicht mehr lange Mitspieler sein. Wer das in einem Unternehmen tut, riskiert schlimmstenfalls die Entlassung.
Und die Regeln sind für jede Art von Brettspiel unterschiedlich – genau wie in verschiedenen Unternehmen. Sofort wurde mir klar, warum Menschen in unterschiedlichen sozialen Systemen oft völlig verschiedene Verhaltensmuster an den Tag legen – im positiven wie im negativen Sinne. In Kanzleien, die individuelle Boni basierend auf der Leistung einzelner Mitarbeiter vergeben, kann dies zu einem starken internen Wettbewerb führen. Ein solches Bonussystem kann dazu beitragen, dass Mitarbeiter dazu neigen, Informationen zurückzuhalten oder nicht mit Kollegen zu teilen, da sie befürchten, dass dies ihre eigenen Bonuschancen mindern könnte. Dieses Verhalten kann die Zusammenarbeit unter den Mitarbeitern beeinträchtigen und zu einer Kultur des Misstrauens beitragen. Die Mitarbeiter konzentrieren sich dann auf kurzfristige Ziele, um ihren individuellen Bonus zu maximieren, anstatt das langfristige Wohl der Kanzlei und die Zufriedenheit der Mandanten in den Vordergrund zu stellen. Individuelle BonussystemeBonussysteme sind in einem komplexen Umfeld wie dem einer SteuerberatungskanzleiSteuerberatungskanzlei, wo die Leistung oft schwer zu messen und zuzurechnen ist, problematisch. Die Ausrichtung auf Teamleistung kann in diesem Kontext vorteilhafter sein. Teamorientierte Boni motivieren Mitarbeiter dazu, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zum Wohle des Teams einzusetzen. Dies kann die Zusammenarbeit verbessern, da Mitarbeiter ermutigt werden, gemeinsam an Problemlösungen zu arbeiten und voneinander zu lernen. Wenn Boni an die Gesamtleistung des Teams gekoppelt sind, werden Wissensaustausch und kreative Problemlösungen wahrscheinlicher. Mitarbeiter fühlen sich eher verantwortlich, zum Teamerfolg beizutragen, was wiederum den Anstoß für Innovationen geben kann. Die kollektive Intelligenz und die kollaborativen Fähigkeiten der Mitarbeiter werden gefördert und dadurch die Kanzlei als Ganzes gestärkt.
Es gelten natürlich überall unterschiedliche Regeln und die Erwartungen sind ebenfalls höchst unterschiedlich. Der Philosoph Richard David Precht geht in seinem Buch »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« auf diese Thematik ein. Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. Was bedeutet, dass wir nicht nur ein Ego besitzen, sondern mehrere, je nach sozialem Kontext ‒ eines in der Familie, ein anderes im Sportverein und ein wieder anderes im Zusammenhang mit der Arbeit. Welche Personalität von einem Menschen konstruiert wird, hängt zum Großteil vom sozialen System ab, in dem dieser sich bewegt. Je nach System entstehen unterschiedliche Personalitäten von ihm. In diesen sozialen Systemen entstehen aus der Kultur heraus spezifische Erwartungen an die Rollen, die die beteiligten Menschen ausfüllen sollen. Insofern kann man jegliches Verhalten, das sichtbar wird, als für die Kultur »nützlich« bezeichnen, selbst dann, wenn es unerwünscht ist. Jedes Verhalten ist die Lösung eines Problems, selbst wenn es schädlich ist. In sozialen Systemen, wie beispielsweise Unternehmen, werden Verhaltensweisen und Rollenerwartungen stark von der jeweiligen Kultur geprägt. Kultur ist dabei ein komplexes Set an gemeinsamen Werten, Überzeugungen, Normen und Praktiken, die das Verhalten der Menschen innerhalb dieser Systeme beeinflussen.
Oft ist das beobachtete Verhalten eine Antwort auf ein implizites oder explizites Problem innerhalb der Kultur eines sozialen Systems. Beispielsweise kann ein Mitarbeiter in einer von hohem Druck und Konkurrenzdenken geprägten Kultur aggressive oder konkurrenzbetonte Verhaltensweisen entwickeln, um sich zu behaupten. Auch wenn dies für das soziale Gefüge schädlich sein könnte, ist es für die Person selbst eine Überlebensstrategie in dieser spezifischen Kultur. Verhaltensweisen, die als negativ angesehen werden, wie beispielsweise der Widerstand gegen Veränderungen, können Symptome tiefer liegender Probleme sein. Sie können auf nicht adressierte Bedürfnisse oder auf Mängel im sozialen System hinweisen. In einem Unternehmen, das eine Kultur des Misstrauens hat, könnte der Widerstand eines Mitarbeiters gegen Veränderungen eine rationale Reaktion auf die Angst vor negativen Konsequenzen sein. In jeder Kultur gibt es explizite und implizite Erwartungen an die Rollen, die Individuen einnehmen sollen. Die Mitarbeiter handeln oft in einer Weise, die diese Erwartungen erfüllt, selbst wenn dies nicht ihrem natürlichen Verhalten entspricht. Dies kann sich in Form von »Dienst nach Vorschrift« äußern, wenn die Kultur Eigeninitiative nicht fördert oder gar bestraft.
Jedes Verhalten, das sich innerhalb eines sozialen Systems etabliert, hat eine Funktion für das System, auch wenn es von außen als dysfunktional betrachtet wird. Beispielsweise kann das konservative, veränderungsaverse Verhalten in einer Organisation dazu dienen, Stabilität zu gewährleisten und die Organisation vor riskanten Entscheidungen zu schützen. Soziale Systeme tendieren dazu, ein Gleichgewicht zu erhalten, das durch die bestehende Kultur gestützt wird. Verhalten, das die bestehende Ordnung stört, wird oft sanktioniert oder unterdrückt, um die kulturelle Homöostase zu wahren. Daher kann selbst unerwünschtes Verhalten dazu beitragen, das System in seinem gegenwärtigen Zustand zu halten. Es ist wichtig zu verstehen, dass Verhalten nicht isoliert betrachtet werden kann. Es ist immer im Kontext der umgebenden Kultur und der innerhalb dieser Kultur vorhandenen Dynamiken zu sehen. Die Herausforderung für Organisationen besteht darin, zu erkennen, welche Probleme durch das Verhalten gelöst werden und wie die zugrunde liegenden kulturellen Bedingungen angepasst werden können, um sowohl für das Individuum als auch für das gesamte System günstigere Verhaltensweisen zu fördern. Ein systemtheoretischer Ansatz für jegliche Veränderung hin zum Erwünschten wird demzufolge immer zuerst in der Organisation nach dem Schlüssel zum Problem suchen und nur sekundär beim Individuum.
Mark PoppenborgMark Poppenborg (Link zu mybook+/ dem Interview via QR-Code), einer der Vordenker für die systemtheoretisch fundierte Herangehensweise an Organisationsdesign und Führung sowie Gründer eines Netzwerkes von Avantgardisten der Neuen Arbeit, sagt: »Die sogenannte Neue SystemtheorieSystemtheorie von Niklas Luhmann bietet […] einen sehr hilfreichen Denkansatz. Sie stellt ein Erklärungsmodell für soziale Systeme zur Verfügung und lässt damit auch einen geradezu revolutionär neuen Blick auf Unternehmen zu« (Poppenborg 2015).
Systemtheorie als Werkzeug für individuelle Change-Prozesse
Die luhmannsche Systemtheorieluhmannsche Systemtheorie, entwickelt von Niklas LuhmannNiklas Luhmann, ist ein umfassender Ansatz zur Analyse von Gesellschaften und ihren Subsystemen. Der Kern dieser Theorie liegt in der Idee der funktionalen Differenzierung und der Kommunikation zwischen autonomen Systemen. Luhmann versteht soziale Systeme als eigenständige Einheiten, die sich durch Kommunikationsprozesse selbst organisieren und reproduzieren. Hier sind einige grundlegende Aspekte der Theorie:
Systeme und Umwelten: Luhmann unterscheidet zwischen Systemen und ihrer Umwelt. Ein System grenzt sich durch spezifische Kommunikationsweisen von seiner Umwelt ab. Diese Grenzziehung ist entscheidend für die Autonomie und die Identität des Systems.
AutopoiesisAutopoiesis: Ein zentraler Begriff in Luhmanns Theorie ist die Autopoiesis, die Selbsterzeugung von Systemen. Systeme sind selbstreferenziell, das heißt, sie beziehen sich in ihrer Kommunikation immer auf sich selbst und reproduzieren sich durch diese Kommunikationsprozesse selbst.
Kommunikation als Operation: Die Kommunikation ist für Luhmann die grundlegende Operation, durch die soziale Systeme entstehen und sich erhalten. Die Kommunikation umfasst dabei nicht nur die Übermittlung von Informationen, sondern auch das Verstehen und die Anschlussfähigkeit von Kommunikationsakten.
Funktionale Differenzierung: Luhmanns Gesellschaftsanalyse basiert auf der Idee der funktionalen Differenzierung. Die moderne Gesellschaft teilt sich demnach in verschiedene Funktionssysteme wie Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft usw., die jeweils spezifische Funktionen erfüllen und eigene Kommunikationscodes verwenden.
Beobachtung und Unterscheidung: Systeme operieren durch Beobachtung, was bedeutet, dass sie Informationen aus ihrer Umwelt nach eigenen Kriterien selektieren und verarbeiten. Die Beobachtung erfolgt stets auf der Grundlage von Unterscheidungen, wie zum Beispiel System/Umwelt oder Recht/Unrecht.
Luhmanns Theorie bietet einen tiefgreifenden Einblick in die Komplexität sozialer Ordnungen und betont die Rolle von Kommunikation bei der Konstruktion sozialer Realitäten.
Aber die SystemtheorieSystemtheorie ist weit davon entfernt, eine Methode darzustellen, mit der ein Patentrezept für die Gestaltung von Unternehmenskulturen oder -strukturen geliefert wird. Sie verändert die Herangehensweise an Probleme. Die Eigenschaft, keine Handlungsempfehlungen zu enthalten, ist ein großer Vorteil der Systemtheorie. Durch den systematischen Ausschluss von unwirksamen Problemlösungsansätzen wirkt sie als Abkürzung für den Weg zum Erkenntnisgewinn. Essenziell für diese heuristische Herangehensweise ist die Unterscheidung zwischen Entscheidungsprämissen, die Luhmann in »entscheidbar« und »unentscheidbar« unterteilt. Nur der entscheidbare Teil kann direkt beeinflusst werden. Der Versuch, unentscheidbare Entscheidungsprämissen zu verändern, ist zum Scheitern verurteilt. Die Wirkungslosigkeit ist hierbei das geringste Übel, oft wird damit sogar Schaden angerichtet. In einer Steuerberatungskanzlei ist die Entscheidung, individuelle Bonussysteme abzuschaffen und durch teamorientierte Anreize zu ersetzen, ein klassisches Beispiel für eine entscheidbare Prämisse. Das Management kann beschließen, dass anstelle von individuellen Bonuszahlungen, die auf der Leistung einzelner Mitarbeiter basieren, Teamleistungen belohnt werden. Dieser Prozess umfasst die Definition neuer Kriterien für die Bonusbemessung, die Anpassung der entsprechenden Vertragsbedingungen und die Kommunikation der Veränderungen an das Team. Dies ist eine direkte, bewusste Entscheidung, die das Management trifft und umsetzt, mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zu verbessern und eine Kultur der Teamarbeit zu fördern.
Vertrauen dagegen ist eine unentscheidbare Prämisse. Es lässt sich nicht einfach durch einen Beschluss oder eine Anordnung herbeiführen. In einer Kanzlei, die durch individuelle Leistungsvergütungen ein kompetitives Umfeld schafft und daraus resultierend von einer Kultur des Misstrauens geprägt ist, kann das Management nicht einfach »Vertrauen« verordnen. Vertrauen baut sich über die Zeit auf, durch konsistentes, verlässliches und faires Verhalten. Das Management kann Rahmenbedingungen schaffen, die vertrauensvolles Verhalten begünstigen, wie Transparenz in den Entscheidungsprozessen, Fairness bei der Beurteilung der Leistung oder eben die Abschaffung von individuellen Boni. Das ist entscheidbar. Aber Vertrauen selbst ist ein emergentes Phänomen, das erst aus diesen Bedingungen entsteht. Versuche, Vertrauen direkt einzufordern, ohne die zugrunde liegenden Bedingungen zu ändern, sind zum Scheitern verurteilt und können sogar kontraproduktiv wirken, indem sie Zynismus oder weiteres Misstrauen fördern. Oft verwendete Werteappelle und alle Veränderungsabsichten, die direkt auf die Kultur gerichtet sind, gehören ebenfalls zu den unentscheidbaren EntscheidungsprämissenEntscheidungsprämissen, weil nach systemtheoretischem Verständnis die Kultur und die Werte Ergebnisse der im Unternehmen herrschenden Verhältnisse sind ‒ sozusagen der Schatten der Organisation. Und versuchen Sie mal, Ihren Schatten direkt zu verändern! Dies gelingt eben nur, wenn die Ursache herangezogen wird. So, wie man selbst seinen Schatten nur verändert, indem Körperumfang oder -haltung variiert werden, so ist die Unternehmenskultur nur durch Arbeit an den Bedingungen in der Organisation beeinflussbar. Und diese sind zahlreich genug: Bonus- und Feedbacksysteme, Regelhandbücher oder Abteilungsstrukturen, Meetingrituale oder Jobtitel sind nur einige Beispiele.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass Unternehmen operativ geschlossene Systeme sind, wovon jedes nach seinen eigenen Kulturmustern agiert, kann es keine allgemeingültige Lösung für Veränderungen in der Organisation geben. Kulturmuster, die nicht unmittelbar beeinflussbar sind, sondern lediglich »irritiert« werden können, ohne eine Auswirkung dieses Impulses antizipieren zu können.
Praxisbeispiel
Ein Beispiel für den Umgang mit operativ geschlossenen Systemen und deren Kulturmuster in einer Steuerberatungskanzlei könnte die Implementierung einer neuen digitalen Arbeitsweise sein, insbesondere der Wechsel zu papierloser Buchführung und digitalem Dokumentenmanagement.
Situation: Die Kanzlei ist traditionell auf Papierdokumentation und manuelle Prozesse ausgerichtet. Die bestehende Unternehmenskultur schätzt bewährte Abläufe und Face-to-Face-Interaktionen.
Irritation: Das Management möchte auf digitale Prozesse umstellen, um die Effizienz und die Zugänglichkeit zu erhöhen. Es führt neue Software ein und schult die Mitarbeiter in der Nutzung digitaler Werkzeuge.
Nicht antizipierbare Auswirkung: Obwohl die technischen Voraussetzungen geschaffen und die Mitarbeiter geschult wurden, kann das Management nicht vorhersehen, wie genau diese »Irritation« die etablierten Kulturmuster beeinflussen wird. Mögliche Reaktionen könnten folgende sein:
Annahme und positive Adaption: Mitarbeiter erkennen die Vorteile der neuen Prozesse und beginnen, sie in ihre tägliche Arbeit zu integrieren, was zu einer schrittweisen Veränderung der Kultur führt.
Widerstand: Trotz der Schulungen halten Mitarbeiter an ihren gewohnten Papierprozessen fest, weil sie den persönlichen Austausch schätzen oder sich von der neuen Technologie überfordert fühlen. Die digitalen Tools werden nur zögerlich oder gar nicht genutzt.
Hybride Anpassung: Einige Mitarbeiter nehmen die neuen Werkzeuge an, während andere sie ablehnen. Es bildet sich ein hybrides System, das teilweise effizienter ist, aber auch neue Reibungen und Kommunikationsprobleme zwischen digital und traditionell arbeitenden Kollegen mit sich bringt.
In allen Szenarien ist die Reaktion des sozialen Systems nicht direkt steuerbar, sondern nur indirekt durch die Schaffung von Anreizen, die Förderung von positiven Beispielen und die kontinuierliche Kommunikation der Vorteile beeinflussbar. Das Management kann zwar die Rahmenbedingungen verändern, aber wie genau sich die Kultur anpasst, ist offen und emergent.
Gute Berater beobachten und hinterfragen die Verarbeitung der Irritation in der Kommunikation des Unternehmens und können mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit prognostizieren, welche Auswirkungen zu erwarten sind. Selbst hochkompetente Könner innerhalb des Unternehmens werden wirksame Irritationen kaum erzeugen können, da sie ja selbst die gelebte Kultur der Organisation in Gebrauch nehmen. Nun möchte ich Sie als geneigtem Leser nicht ratlos im Regen stehen lassen – erscheint doch dieser Mangel an Handlungsoptionen etwas dystopisch. Welche Möglichkeiten es gibt, der Unternehmenskultur »auf die Schliche zu kommen«, die Ursachen ihrer Muster zu erkennen und daraus Handlungsoptionen abzuleiten, erfahren Sie später im Buch.
2 Daniel Kahneman schrieb das Buch »Schnelles Denken, langsames Denken« (englischer Originaltitel: Thinking, Fast and Slow), das seine oft mit Amos Tversky durchgeführten Forschungen aus mehreren Jahrzehnten zusammenfasst. Die zentrale These ist die Unterscheidung zwischen zwei Arten des Denkens: Das schnelle, instinktive und emotionale System 1 und das langsamere, Dinge durchdenkende und logischere System 2. Das Buch schildert kognitive Verzerrungen im Denken von System 1 und bietet dabei einen breiten Querschnitt von Forschungsergebnissen der sogenannten Heuristics-and-biases-Schule, die von Tversky und Kahneman in den 1970er Jahren begründet wurde, s. auch Kapitel 6.3.
3 Das Viable System Model (Modell lebensfähiger Systeme) wurde 1959 von Stafford Beer in seinem Buch »Kybernetik und Management« erstmals formuliert. Es dient als Referenzmodell zur Beschreibung, Diagnose und Gestaltung des Managements von Organisationen, das die Managementfunktionen auf jeder Organisationsebene erfasst, den Informationsfluss zwischen den Organisationsebenen darstellt und hilft, zielführende Fragen zu stellen. Das VSM korreliert mit dem Paradigma des Systemdenkens, in der Elemente durch Relationen miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen (Quelle: Wikipedia). Komplexitätstheorie: Komplexe Systeme sind nach außen offene, hochgradig geordnete und organisierte, uneinheitlich aufgebaute (heterogene) Ganzheiten von funktionalen Strukturen (= Systeme), deren Vernetzungsgrade unüberschaubar sowie wandelbar sind (Kontingenz) und deren Wechselwirkungen zu nichtlinearen Entwicklungen führen (= Komplexität). Der permanente Wandel erfolgt als (evolutionärer) Um- und Ausbau in immer kürzerer Zeit (Dynamik). Die Wechselwirkungen sind passend aufeinander bezogen (Kohärenz) und führen zu weiter steigender Ordnung und Komplexität. Der ebenfalls steigenden Gefahr durch Unordnung und Desorganisation (Entropie) begegnet das System durch zunehmende Kontroll- und Schutzfunktionen (Stabilität), die vor allem auf Rückkopplung von Prozessen beruhen (Prozessualität). Je komplexer Systeme werden, desto größer werden ihre Reaktionsmöglichkeiten, desto eher können gänzlich neue Systemeigenschaften entstehen (Emergenz) und desto selbstständiger werden sie. Lebende Systeme schaffen, erhalten und organisieren sich selbst (Autopoiesis) (Quelle: Wikipedia). William Edwards Deming (1900–1993) war ein US-amerikanischer Physiker, Statistiker sowie Pionier im Bereich des Qualitätsmanagements. Als Schüler von Walter A. Shewhart, dem Begründer der statistischen Prozesslenkung, entwickelte er ab den 1940er Jahren die prozessorientierte Sicht auf die Tätigkeiten eines Unternehmens, die später auch Eingang in die diversen Qualitätsnormen und Qualitätsmanagementlehren fand. Die luhmannsche Systemtheorie ist eine Spielart der Systemtheorie des deutschen Soziologen Niklas Luhmann, in welcher die Welt als grundlegend aus autopoietischen Systemen bestehend betrachtet wird, welche klar von ihrer Umwelt getrennt sind (von ihm Differenz genannt). Einen besonderen Einfluss hatte diese auf die Soziologische Systemtheorie als eine Variante, in welcher die Gesellschaft als ein »umfassendes soziales System, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt«, beschrieben und erklärt wird. Er beschreibt, wie unter diesen Voraussetzungen Soziales entsteht und sich durch funktionale Differenzierung in verschiedene soziale Systeme abgrenzt (Quelle: Wikipedia).
Buchhaltung und Steuerberatung haben den Ruf, wenig Teamarbeit zu enthalten. Ich möchte versuchen, mit diesem Vorurteil und vielleicht dem einen oder anderen Beobachtungsfehler aufzuräumen. Wenn man in dem Glauben ist, dass eine Arbeit eine bestimmte Struktur hat, und die Rahmenbedingungen dann dementsprechend setzt, wird eine (Zusammen-)Arbeit herauskommen, die dieser Struktur angepasst ist. Das funktioniert so lange, wie die überwiegende Zahl der Unternehmen der Branche das auch so macht. Übertragen auf die derzeit (noch) beobachtbare Systematik in der Steuerberatungsbranche heißt das, dass die meisten Kanzleien ihre Strukturen auf eine singuläre Wertschöpfung ausgerichtet haben, in denen die Arbeit eines jeden einzelnen Mitarbeitenden diesem exakt zuordenbar ist. Man kann diesen Grundgedanken an vielen Punkten der üblichen Arbeit in Steuerkanzleien ausmachen: Rechtevergaben in den Buchhaltungsprogrammen, Kostensatzberechnungen, Sollzeiten-Vorgaben und viele andere. Am deutlichsten wird diese Philosophie an der leistungsbezogenen (Zusatz-)Vergütung, die in der überwiegenden Zahl der Unternehmen anzutreffen ist. Jedem Mitarbeiter wird ein auf Euro und Cent berechneter individueller Umsatz zugeordnet. Dieser Glaubenssatz der Berechenbarkeit von Einzelleistungen sitzt so tief, dass kaum jemand hinterfragt, ob diese Zuordenbarkeit überhaupt faktisch möglich ist. Stattdessen werden hoch komplizierte Berechnungsmethoden erfunden, um die Illusion der Individualisierbarkeit der Umsätze aufrechtzuerhalten: Es werden Umbuchungen nach fiktiven Anteilen der Mitarbeiter an einem vom Mandanten gezahlten Honorarbetrag vorgenommen, Wichtungen werden hinzugenommen, um den verschiedenen (auch schon auf fiktiven Werten beruhenden) Kostensätzen der Kollegen gerecht zu werden, und schließlich werden sogar komplett fiktive Umsätze »erfunden«, um Tätigkeitsanteile von Mitarbeitern, die nicht direkt einem Mandanten zuzuordnen sind, bei der Berechnung der Leistungsvergütung heranzuziehen.