Neue deutsche Europapolitik - Etienne Schneider - E-Book

Neue deutsche Europapolitik E-Book

Etienne Schneider

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Beschreibung

Während der Coronakrise setzte die Bundesregierung anders als während der Eurokrise nicht auf Austeritätspolitik, sondern überraschend auf eine gemeinsame europäische Verschuldung und Umverteilung im Rahmen des EU-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU) – ein Bruch mit dem europapolitischen Tabu einer »Schulden-« und »Transferunion«. Zugleich drängt Deutschland seit 2019 in der Industriepolitik auf einen strategisch-interventionistischen Ansatz unter Aushöhlung der EU-Wettbewerbspolitik. Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Umbrüche und Krisentendenzen des deutschen Wirtschaftsmodells analysiert Etienne Schneider, welche Interessen und Konflikte diesem Wandel der deutschen Europapolitik zugrunde liegen.

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Etienne Schneider

Neue deutsche Europapolitik

Währungsunion und Industriepolitik zwischen Eurokrise und geopolitischer Wende

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Während der Coronakrise setzte die Bundesregierung anders als während der Eurokrise nicht auf Austeritätspolitik, sondern überraschend auf eine gemeinsame europäische Verschuldung und Umverteilung im Rahmen des EU-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU) – ein Bruch mit dem europapolitischen Tabu einer »Schulden-« und »Transferunion«. Zugleich drängt Deutschland seit 2019 in der Industriepolitik auf einen strategisch-interventionistischen Ansatz unter Aushöhlung der EU-Wettbewerbspolitik. Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Umbrüche und Krisentendenzen des deutschen Wirtschaftsmodells analysiert Etienne Schneider, welche Interessen und Konflikte diesem Wandel der deutschen Europapolitik zugrunde liegen.

Vita

Etienne Schneider, Dr. phil., ist PostDoc am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

Problemstellung und Forschungsfrage

Forschungsstand

Argumentationsgang und Aufbau

1.

Theoretischer Zugang: Regulationsansatz und materialistische Staatstheorie

1.1

Der Regulationsansatz – eine kritische Rekonstruktion

1.1.1

Abgrenzungs- und Bezugspunkte: Der Varieties of Capitalism-Ansatz und neuere Debatten in der Vergleichenden Politischen Ökonomie

1.1.2

Grenobler und Pariser Ansatz der Regulation

1.1.3

Kritische Synthese der regulationstheoretischen Schlüsselbegriffe

1.2

Akkumulationsregime und Produktionssystem: internationalisierungstheoretische Erweiterung

1.2.1

Dependenztheoretische Weiterentwicklungen des Regulationsansatzes

1.2.2

›Wettbewerbsfähigkeit‹ und dominante Stellung in der internationalen Arbeitsteilung

1.3

Regulation: Staats- und politiktheoretische Erweiterung

1.3.1

Fraktionierung des Kapitals und soziale Kräfte

1.3.2

Staat und die Organisation des Machtblocks

1.3.3

Hegemonie, Regulation und die Konfiguration des Machtblocks

1.4

Europäisierung der Regulation

1.4.1

Internationalisierung und Europäisierung des Staates

1.4.2

Phasen, Modi und Widersprüche europäischer Regulation

1.5

Operationalisierung und methodischer Zugang

1.5.1

Analyse der (bundes-)deutschen Entwicklungsweise und der Internationalisierungsmuster des Akkumulationsregimes

1.5.2

Analyse der Schlüsselkonflikte

2.

Entwicklungsweisen des deutschen Kapitalismus

2.1

Die fordistische Entwicklungsweise der Bundesrepublik

2.1.1

Initialfaktoren: Historische Kontinuitätslinien und internationale Regulationsbedingungen

2.1.2

Akkumulationsregime, Regulationsweise und das ›Modell Deutschland‹

2.1.3

Krise der fordistischen Entwicklungsweise in der Bundesrepublik

2.2

Postfordistische Entwicklungsweise: Rekonfiguration des ›Modell Deutschland‹

2.2.1

Produktionssystem und industriell-technologisches Paradigma – Re-Organisation und Kontinuität

2.2.2

Rekonfiguration des Lohn- und Reproduktionsverhältnisses

2.2.3

Rekonfiguration des Konkurrenzverhältnisses

2.2.4

Rekonfiguration des Geldverhältnisses

2.2.5

Rekonfiguration des Naturverhältnisses

2.3

Vertiefung der Extraversion, Internationalisierungsmuster und Krisentendenzen

2.3.1

Wachsende Polarisierung und Dominanz des deutschen Produktionssystems in der europäischen Arbeitsteilung

2.3.2

Außenwirtschaftliche Re-Orientierung und Internationalisierungsmuster

2.3.3

Krisentendenzen: Geopolitische Konkurrenz und technologischer Paradigmenwechsel

3.

Die Reform der Währungsunion zwischen Euro- und Corona-Krise – Positionsverschiebungen und neue Konfliktlinien im deutschen Machtblock

3.1

Von den Ursprüngen der Währungsunion zur Debatte über ihre ›Vollendung‹

3.1.1

Die historischen Ursprünge der WWU und ihrer spezifischen Konstruktion

3.1.2

Die so genannten ›Konstruktionsfehler‹ der WWU und die Eurokrise

3.1.3

Autoritärer Krisenkonstitutionalismus und partielle Rekonfiguration der Währungsunion

3.1.4

In Richtung einer ›echten‹ Währungsunion – die WWU-Reformdiskussion

3.2

Die Akteurs- und Interessenkonstellation im Machtblock

3.2.1

Autoritäre Stabilisierung: die supranational-konstitutionalistische Akteursgruppe

3.2.2

Rückbau der Währungsintegration: die national-regressive Akteursgruppe

3.2.3

Vertiefung mit sozialpolitischer Flankierung: die sozial-integrationistische Akteursgruppe

3.2.4

Asymmetrische Kompromissbildung: die zwischenstaatlich-konstitutionalistische Akteursgruppe

3.3

Prozessanalyse: Verschiebungen und neue Bruchlinien im deutschen Machtblock

3.3.1

Latenzphase: Akteurskonstellation und Weichenstellungen vor 2015

3.3.2

Blockade der Reformdiskussion, Konsolidierung der Akteurskonstellation (2015 bis 2017)

3.3.3

Spannungsaufbau: Druck von außen, Verschiebungen im staatlichen Terrain (2017–2018)

3.3.4

Spannungsentladung: Offene Konflikte, neue Kompromisslinien (2018 bis Anfang 2020)

3.3.5

Rekonfiguration in der Corona-Krise (März bis Juli 2020)

3.3.6

NextGenerationEU – ein Paradigmenwechsel im deutschen Machtblock?

3.4

Synthese

4.

EU-Wettbewerbspolitik und strategische Industriepolitik – umkämpfter Paradigmenwechsel im deutschen Machtblock

4.1

Die verschränkte Entwicklungsdynamik von Industrie- und EU-Wettbewerbspolitik

4.1.1

Grundzüge und Entwicklungslinien der EU-Wettbewerbspolitik

4.1.2

Industriepolitik im Spannungsverhältnis zur EU-Wettbewerbspolitik

4.1.3

Die blockierte industriepolitische Renaissance in der EU bis 2017

4.1.4

Technologischer Paradigmenwechsel, geopolitische Konkurrenz und erste Verschiebungen in der EU-Industriestrategie

4.1.5

Die Konflikte brechen auf: Die Nationale Industriestrategie 2030

4.2

Die industrie- und wettbewerbspolitische Konfliktkonstellation im Machtblock

4.2.1

Industriepolitische Neuausrichtung: Die weltmarktorientiert-strategische Akteursgruppe

4.2.2

In Verteidigung des Status quo: Die ordoliberal-defensive Akteursgruppe

4.2.3

Die sozialdemokratisch-interventionistische Akteursgruppe

4.2.4

Zentrale Staatsapparate als vermittelnd-organisierende Akteursgruppe

4.3

Prozessanalyse: Kompromissbildung im Machtblock und Folgewirkungen auf europäischer Ebene

4.3.1

Latenzphase: Erste tektonische Verschiebungen im Machtblock vor 2019

4.3.2

Offene Konfrontation – asymmetrische Kompromissbildung im Machtblock

4.3.3

Umkämpfter Durchbruch auf europäischer Ebene

4.3.4

Corona und die deutsche Ratspräsidentschaft: Dynamisierung des Paradigmenwechsels, Gegenoffensiven der Generaldirektion Wettbewerb

4.4

Synthese

Schlussfolgerung

Abkürzungen

Interviews

Abbildungen

Tabellen

Literatur

Dank

Einleitung

2010: Seit Jahresbeginn schießen die Zinsen für griechische Staatsanleihen in die Höhe. Im Vorjahr hat die neue Regierung in Athen das Haushaltsdefizit auf über zwölf Prozent nach oben korrigieren müssen. Seither stufen die internationalen Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit Griechenlands sukzessive herab, ausländisches Kapital wird massenhaft aus Griechenland abgezogen. Bereits im Januar diskutieren die Euro-Finanzminister:innen1 über ein Rettungsprogramm für Griechenland. Doch die deutsche Seite blockiert (Hadjiemmanuil 2019). Im Februar drängt Frankreich auf eine gemeinschaftliche Unterstützung, um eine Insolvenz Griechenlands abzuwenden, nicht zuletzt wegen der empfindlichen Exposition französischer Banken – ein kritischer Moment, in dem sich die Eurokrise womöglich noch im Keim hätte ersticken lassen. Doch die deutsche Seite blockiert erneut. Die Krise eskaliert, greift über auf Irland, Portugal und Spanien. Im März akzeptiert die deutsche Bundesregierung ein Kreditprogramm für Griechenland, unter Einbindung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Doch dieses kommt zu spät. Die Eurokrise hat längst eine von Griechenland unabhängige Eigendynamik entfaltet. Angesichts der anstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westphalen Anfang Mai verschleppt die deutsche Bundesregierung abermals eine gemeinschaftliche Reaktion auf die Eurokrise. Anfang Mai 2010, noch vor den Wahlen, gerät die Krise vollends außer Kontrolle: Das europäische Interbankengeschäft kommt zum Erliegen, selbst der wichtigste US-amerikanische Aktienindex Dow Jones bricht ein. Die Europäische Zentralbank (EZB) kauft erstmals in großem Maßstab Staatsanleihen auf, um einen Zusammenbruch des Euro zu verhindern. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet und der geschäftsführende Direktor des IWF, Dominique Strauss-Kahn, fliegen eigens nach Berlin, um die deutsche Bundesregierung umzustimmen. US-Präsident Barack Obama interveniert persönlich im Kanzleramt (vgl. Gammelin/Löw 2014, Gocaj/Meunier 2013, Tooze 2018).

Erst unter diesem massiven Druck lenkt die Bundesregierung schließlich ein und stimmt der Einrichtung eines vorübergehenden Stabilisierungsmechanismus für die Eurozone zu, der so genannten Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Die Bundesregierung knüpft ihre Zustimmung jedoch an weitreichende Bedingungen. Sie besteht nicht nur auf einem Vetorecht hinsichtlich der Mittelvergabe. Vor allem sollen Kredite nur gegen harte Auflagen vergeben werden, verhandelt und überwacht durch die inzwischen berüchtigte ›Troika‹ aus IWF, Europäischer Kommission und EZB. Diese sehen in den so genannten Krisenländern tiefgreifende Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben, umfangreiche Privatisierungen und drastische Lohnsenkungen zur Steigerung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit (›innere Abwertung‹) vor. Andere Vorschläge, der Eurokrise durch eine breitere Streuung von Risiken oder anderweitige Ausgleichsmechanismen zu begegnen, lehnt die Bundesregierung dagegen ab – eine Position, an der sie auch im weiteren Krisenverlauf konsequent festhalten wird (Mahnkopf 2012, Germann 2018, Howarth/Schild 2021). In der Folge erleben die Krisenländer einen beispiellosen wirtschaftlichen Einbruch, getrieben von einer deflationären Spirale aus Austerität und schwacher Konjunkturentwicklung – mit verheerenden sozialen Folgen, vor allem in Griechenland (Branas et al. 2015, Kouvelakis 2018, Perez/Matsaganis 2018, Storm/Naastepad 2014).

2015: Nach einer Welle sozialer Proteste gegen die Krisen- und Austeritätspolitik in Südeuropa gewinnt SYRIZA mit deutlichem Vorsprung die Wahlen in Griechenland. Erstmals seit dem Ausbruch der Eurokrise gelangt damit eine Partei an die Macht, die glaubhaft verspricht, mit der Austeritätspolitik zu brechen – und die bereit ist, dafür auch in offene Konfrontation mit der Troika und anderen europäischen Regierungen zu gehen (Ovenden 2015). In den darauffolgenden Verhandlungen über ein drittes Hilfsprogramm geht es nicht mehr allein um Griechenland. In den Verhandlungen verdichtet sich eine viel größere Auseinandersetzung über Fortsetzung oder Bruch mit einer zunehmend autoritär durchgesetzten Politik der Austerität und inneren Abwertung in der Europäischen Union (EU). Umso konsequenter soll ein Verhandlungserfolg der griechischen Regierung verhindert werden, um ein Exempel zu statuieren (Oberndorfer 2017). EU-Ratspräsident Donald Tusk warnt explizit vor der politischen Ansteckungsgefahr der »Illusion«, dass »es möglich ist, eine Alternative zur traditionellen europäischen Wirtschaftsauffassung aufzubauen« (Tusk 2015, eig. Übersetzung). Im Sommer 2015 wird SYRIZA letztlich mit bislang beispiellosen Maßnahmen in die Knie gezwungen: Die EZB schränkt die Kreditlinien gegenüber griechischen Banken ein, ohne diese Lebensader steht das griechische Finanzsystem vor dem Kollaps (Schneider/Sandbeck 2019). Der finale ›Todesstoß‹ für das Regierungsprojekt SYRIZAs kam jedoch wiederum von der deutschen Bundesregierung: In den entscheidenden Verhandlungen Mitte Juli lässt das Bundesfinanzministerium (BMF) ein einseitiges, schlicht gehaltenes Papier unter den Beteiligten streuen. Es bietet Griechenland »zügige Verhandlungen« über einen Austritt aus dem Euro an, verbunden mit »humanitärer« Unterstützung bei der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieses Schritts (BMF 2015a, Dams/Gersemann 2015).

Damit schien sich ein Eindruck zu bestätigen, der im Verlauf der Eurokrise vielfach geäußert und analysiert wurde: Die Bundesrepublik (BRD) ist kein Mitgliedsland unter anderen, sie ist innerhalb der EU dominant – wirtschaftlich, und immer mehr auch politisch. War mit der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) anfangs die verbreitete Erwartung verbunden, der Euro erweise sich als »Konvergenz-Maschine« (Gill/Raiser 2012), der die Mitgliedsländer wirtschaftlich sukzessive auf die gleiche Ebene hebe und damit letztlich auch politisch auf Augenhöhe bringe, so offenbarte die Eurokrise die wachsende Polarisierung und Machtasymmetrie zwischen Zentrum und Peripherie in Europa (Celi et al. 2018, Magone et al. 2016, Weissenbacher 2015). Aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und seines Status als größter Gläubiger wird der deutsche Staat zunehmend als zentraler Krisenmanager in der Eurokrise betrachtet (Bulmer/Paterson 2013). Berlin sei nun die »heimliche Hauptstadt Europas« (Gammelin/Löw 2014), und Bundeskanzlerin Angela Merkel habe de facto die Führung über Europa übernommen (Mahnkopf 2012: 479, Proissl 2010), so eine in ähnlicher Form vielfach variierte Diagnose. Jürgen Habermas (2015) geißelte die neue Rolle Deutschlands als »Zuchtmeister« Europas, der prominente Soziologe Ulrich Beck (2012) sah ein »deutsches Europa« im Zuge eines Macchiavellischen Griffs zur Macht entstehen. Zugleich, so eine ebenfalls häufig vertretene Sichtweise, setze die BRD ihre neue Macht in Europa – anders als etwa die USA in der Nachkriegszeit – nicht hegemonial ein: Anstatt durch Allianzen und Konsens der Unterworfenen zu führen, verfolge Deutschland seine Eigeninteressen brachial und mit Zwang gegen andere Mitgliedsländer (Bulmer 2014, Morisse-Schilbach 2011). Indem Deutschland Europa derartig rücksichtlos seinen Eigeninteressen unterwerfe (Donnelly 2018), verstärke es letztlich jedoch die Desintegrationstendenzen und treibe Polarisierung und Spaltung zwischen den Mitgliedsländern weiter voran (Karnitschnig 2018, Kundnani 2014). Auch in der nach der akuten Krisenphase geführten Diskussion über eine weitere ›Vertiefung‹ und langfristige Stabilisierung der WWU durch zusätzliche Elemente der Risikoteilung oder Ausgleichsmechanismen ist die deutsche Seite zu keinen relevanten Zugeständnissen bereit (Seikel/Truger 2019, Schneider/Syrovatka 2019).

2020: Die Corona-Krise trifft folglich auf eine nach wie vor enorm fragile WWU (Herr et al. 2019). Erneut schnellen die Zinsen auf Staatsanleihen der südeuropäischen Mitgliedsländer nach oben, eine zweite Eurokrise steht im Raum (Handelsblatt 2020). Italien drängt, unterstützt von Spanien und Frankreich, auf Corona-Bonds, eine zeitlich auf die Pandemiebewältigung befristete Gemeinschaftsanleihe der Euro-Länder. Aber Deutschland blockiert erneut. Im Mai jedoch stellt sich die Bundesregierung hinter das Projekt eines europäischen Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU). Dieser sieht zwar keine Corona-Bonds mit gesamtschuldnerischer Haftung, wohl aber erstmalig eine gemeinsame europäische Schuldenaufnahme in großem Maßstab mittels Anleihen der Europäischen Kommission vor – ein Schritt in Richtung jener viel beschworenen ›Schuldenunion‹, gegen den sich die Bundesregierung stets rigoros verwahrt hatte (Howarth/Schild 2021). Auch sollen die dadurch mobilisierten Finanzmittel vor allem jenen Ländern zugutekommen, die am stärksten von der Corona-Krise betroffen sind (Watzka/Watt 2020) – ein Schritt in Richtung jener viel beschworenen ›Transferunion‹, die die Bundesregierung ebenfalls stets hatte verhindern wollen. An der Seite Frankreichs und Südeuropas stellte sich die deutsche Bundesregierung sogar entschlossen gegen die Versuche der so genannten ›frugalen Vier‹ aus Österreich, Dänemark, den Niederlanden und Schweden, die Höhe der Zuschüsse aus dem Wiederaufbaufonds zu kürzen. Ob als »Schuldenunion durch die Hintertür« verfemt, wie von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (ORF 2020), oder als »Quantensprung« in der europäischen Fiskalpolitik begrüßt, wie vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB 2020a) – aus Sicht vieler Beobachter:innen stellt der EU-Wiederaufbaufonds einen Durchbruch, mithin gar eine historische Wende, einen game changer in der europäischen Wirtschaftsintegration dar (Taylor 2020, Guttenberg et al. 2021, kritisch Höpner 2020).

Die skizzierten Entwicklungen werfen eine Reihe von Fragen auf, die den Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden: Warum vollzog die Bundesregierung in der Corona-Krise diese europapolitische Wende? Handelt es sich überhaupt um einen grundlegenden Kurswechsel, oder bloß um eine moderate Kurskorrektur? Und warum setzte die Bundesregierung zuvor auf einen derart kompromisslosen Kurs, der die Eurokrise weiter verschärfte (Matthijs 2016), selbst aus Sicht des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) »restriktiv übersteuerte« (BDI 2018a: 4) und in vielen Euro-Länder, allen voran Italien, eine »schwelende Krise« hinterließ (Heimberger 2020), die den Aufstieg rechter, eurokritischer Kräfte begünstigte? Eine naheliegende, vielfach bemühte Erklärung verweist auf das Interesse Deutschlands, die unmittelbaren Kosten der Krisenbewältigung möglichst gering zu halten: Die Kosten für Rettungskredite an andere Euro-Länder sollen auf ein Minimum beschränkt bleiben, europäische Anleihen mit gemeinschaftlicher Haftung (so genannte »Euro-Bonds«) werden abgelehnt, weil diese die Refinanzierungsbedingungen des deutschen Staates auf dem Kapitalmarkt verschlechtern würden.

Doch ist diese Erklärung bei näherer Betrachtung unterkomplex – und das ›deutsche Interesse‹ weit weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick erscheinen mag: Denn warum riskierte die Bundesregierung mit ihrer Krisenpolitik ein Auseinanderbrechen der WWU, obwohl Deutschland, so zumindest die Auffassung führender Wirtschaftsforschungsinstitute (Felbermayr/Steininger 2019) und wichtiger integrationspolitischer Denkfabriken (CEP 2019) in Deutschland, wie kaum ein anderes Land vom Euro profitierte – und zwar in einem Ausmaß, das die Kosten für die Rettungsprogramme um ein Vielfaches übersteigt? Warum beharrte die Bundesregierung unbeirrbar auf der Durchsetzung von Austeritätspolitik – auch noch zu einem Zeitpunkt, als selbst der IWF bei Griechenland bereits explizit davon abrückte (Obstfeld/Thomsen 2016) – obwohl dies die Nachfrage nach deutschen Exporten in der Peripherie der WWU nachhaltig einbrechen ließ? Und auch wenn die Bundesregierung letztlich immer bereit war, die WWU vor dem Zusammenbruch zu bewahren: Warum verfolgte sie dabei den Ansatz, fortwährend ›zu wenig, zu spät‹ zu tun (Howarth/Schild 2021) und Reformen zur langfristigen Stabilisierung der WWU aufzuschieben – ein Ansatz, der die Krisenkosten nicht nur in der Peripherie, sondern wohl auch für Deutschland auf lange Sicht unnötig in die Höhe trieb und weitere Stabilisierungsmaßnahmen erforderlich machte (vgl. auch Jones et al. 2016, Steinberg/Vermeiren 2016)?

Die Frage nach den Bestimmungsgründen der deutschen Position und ihrer Verschiebung drängt sich auch in einem zweiten zentralen Bereich der europäischen Wirtschaftsintegration auf, der EU-Wettbewerbs- und Industriepolitik. Ende der 1980er Jahre war die Bundesregierung an der Seite Großbritanniens die zentrale Verfechterin einer rein wettbewerbsorientierten EU-Wettbewerbspolitik, die das Ziel verfolgte, Spielräume für Industriepolitik auf der Ebene der Mitgliedsstaaten möglichst tiefgreifend zu beschneiden (Buch-Hansen/Wigger 2011). 2008 wurden die EU-Beihilfen und -Wettbewerbsregeln zwar vorübergehend gelockert, um umfangreiche öffentliche Mittel für strauchelnde Banken und angeschlagene Industrien bereitzustellen. Ein nachhaltiger Paradigmenwechsel in der EU-Wettbewerbs- und Industriepolitik blieb jedoch aus (Wigger/Buch-Hansen 2014). Die deutsche Industriestrategie von 2010 hielt vielmehr unbeirrbar daran fest, Industriepolitik müsse auf den »Markt als Entdeckungsverfahren« und die »unsichtbare Hand« setzen und von staatlichen Eingriffen möglichst absehen (BMWi 2010: 32). 2019 jedoch veröffentlichte das deutsche Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) eine Nationale Industriestrategie 2030 (BMWi 2019a), die weithin als »Paradigmenwechsel« interpretiert wurde (Bofinger 2019). Sie zielt darauf ab, »Game-Changer«-Technologien durch strategische industriepolitische Interventionen zu fördern, »nationale und europäische Champions« in der Weltmarktkonkurrenz zu schützen sowie Wertschöpfungsketten im Sinne der »industriellen und technologischen Souveränität« wo nötig zurückzuverlagern (BMWi 2019a: 10-12). Damit verknüpft wurden weitreichende Vorstöße zur Rekonfiguration der EU-Wettbewerbspolitik, untermauert in einem französisch-deutschen »Manifest für eine europäische Industriepolitik« (BMWi/MEF 2019), um den politischen Spielraum für diese neue, strategische Industriepolitik auszuweiten. Vom grün geführten Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz wird diese industriepolitische Stoßrichtung im Wesentlichen fortgesetzt und – vor allem mit Blick auf die durch den Ukraine-Krieg freigelegten energiepolitischen Abhängigkeiten und den US-amerikanischen Inflation Reduction Act – teils noch intensiviert (Kersting et al. 2021, Habeck/Le Maire 2022). Auch im Hinblick auf die Industrie- und Wettbewerbspolitik scheint sich also eine grundlegende Verschiebung in der deutschen Position zur europäischen Wirtschaftsintegration abzuzeichnen, die in deutlichem Widerspruch zur vermeintlich ordoliberalen wirtschaftspolitischen Tradition der BRD steht.

Problemstellung und Forschungsfrage

Wie lässt sich dieser Positionswechsel Deutschlands in zentralen Bereichen der europäischen Wirtschaftsintegration erklären? Wie weitreichend ist dieser Positionswechsel, und welche polit-ökonomischen Triebkräfte liegen ihm zugrunde? Lassen sich in diesem Positionswechsel womöglich sogar die Konturen einer neuen deutschen Europapolitik erkennen?

Diese Arbeit geht von der Annahme aus, dass diese Fragen einen wichtigen Schlüssel bilden sowohl für das Verständnis der aktuellen Umbrüche als auch der zukünftigen Entwicklungsrichtung der europäischen Wirtschaftsintegration. Angesichts der viel diagnostizierten neuen deutschen Dominanz in der EU mag diese Annahme unstrittig erscheinen – innerhalb der europäischen Integrationsforschung ist sie jedoch keinesfalls unangefochten. Der Neo-Funktionalismus, die ›Mutter‹ aller Integrationstheorien, betont vielmehr eine von den einzelnen Mitgliedsstaaten relativ eigenständige Integrationslogik, die sich, einmal in Gang gesetzt, durch so genannte funktionale spill-over von einem Politikbereich auf weitere ausdehnt (Haas 1968, Wolf 2012). In diesem Sinne wurde zum Beispiel auch die Eurokrisenpolitik interpretiert: Die Währungsintegration führte letztlich – ungeachtet aller Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten – zu einer tieferen Integration angrenzender Politikbereiche wie der Finanz- und Fiskalpolitik (Genschel/Jachtenfuchs 2013). Auch der Neogramscianismus Amsterdamer Prägung (van der Pijl 1998), ein zentraler Ansatz in der kritischen Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) und der kritischen Europaforschung, misst der Positionierung einzelner Mitgliedsstaaten, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Bedeutung bei und geht demgegenüber von der zentralen Rolle einer transnationalen bzw. europäischen kapitalistischen Klasse aus. So hat Bastiaan van Apeldoorn (2014: 197), ein zentraler Vertreter dieses Ansatzes, argumentiert, der Fokus auf die Rolle Deutschlands in der europäischen Krisenpolitik unterschätze, wie stark das europäische Krisenmanagement von einer aktiven Zustimmung einer transnationalen kapitalistischen Elite in ganz Europa getragen wird (vgl. auch Gill 2016).

In der Tat sollte die Macht Deutschlands in der EU – entgegen den oben zitierten Thesen einer überwältigenden deutschen Dominanz – nicht überschätzt werden. Deutschland hat aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner damit verbundenen historischen Rolle als europäisches Leitwährungsland sicherlich eine zentrale Stellung in der Wirtschaftsintegration und der europäischen Währungsintegration im Besonderen inne (Aglietta 2012, Cafruny 2015, 3.1.1.). Auch konnte Deutschland seinen Einfluss in der Eurokrise weiter ausbauen, nicht zuletzt aufgrund der wachsenden Machtasymmetrie zwischen Deutschland und dem wirtschaftlich deutlich geschwächten Frankreich (Heine/Sablowski 2015, Ryner/Cafruny 2017: 18). Es ist jedoch nicht in der Lage, seine Interessen unilateral dem Rest der EU aufzuzwingen (Freudlsperger/Jachtenfuchs 2021, Schild 2020, Schoeller 2019). Dennoch stoßen Neofunktionalismus und neogramscianische Ansätze Amsterdamer Prägung mit Blick auf die oben skizzierten Entwicklungen schnell an ihre Grenzen: Sie können nicht erklären, warum etwa die Weiterentwicklung der WWU im Nachgang der Eurokrise aufgrund der deutschen Blockade derart festgefahren war, und warum die deutsche Bundesregierung selbst Reforminitiativen blockierte, die von Institutionen wie der Europäischen Kommission vorangetrieben und dem IWF unterstützt wurden (Arnold et al. 2018) – Institutionen, denen traditionell eine besondere Durchlässigkeit gegenüber transnationalen Kapitalinteressen attestiert wurde (Gill 1998a, 1998b). Für die europäische Integrationsforschung ist eine eingehendere Beschäftigung mit der Positionierung Deutschlands und ihren aktuellen Verschiebungen daher unerlässlich, um die aktuellen Rekonfigurationsprozesse in der europäischen Wirtschaftsintegration zu verstehen.

Relevant ist diese Beschäftigung aber nicht nur für die europäische Integrationsforschung – sie hat auch eine unmittelbare politische Relevanz. Besonders deutlich wird diese an der anhaltenden Diskussion über die Reformierbarkeit der EU (Ryner 2022a). Von progressiver Seite wurde der seit den 1980er Jahren zunehmend neoliberale Charakter der europäischen Wirtschaftsintegration fortlaufend kritisiert – allen voran die beispiellose Deregulierungs- und Liberalisierungsdynamik im Zuge der europäischen Binnenmarktintegration mit weitreichenden Eingriffen in die Sozialmodelle und industriellen Beziehungen der Mitgliedsstaaten (Höpner 2014), aber auch die monetaristische Konstruktion der WWU (Huffschmid 2001, Schneider 2017a, 1.4.2.). Dem entgegengestellt wurde die Alternative eines anderen, sozialen, demokratischeren Europas der Vollbeschäftigung, Nachhaltigkeit und sozialen Kohäsion (vgl. etwa die Euromemoranda seit 1997). Doch dessen ungeachtet schritt die europäische Wirtschaftsintegration unter neoliberalen oder zumindest marktliberalen Vorzeichen immer weiter voran. Insbesondere seit dem Scheitern der SYRIZA-Regierung im Sommer 2015 wurde die progressive Reformierbarkeit der EU daher von einem Teil der gesellschaftlichen Linken in Europa zunehmend in Zweifel gezogen. Aus dieser Perspektive ist die neoliberale Ausrichtung inzwischen derartig tief in den ›genetischen Kern‹ der EU eingeschrieben und gegenüber demokratischer Anfechtung verhärtet, dass ein ›Plan B‹ – wahlweise ein Austritt (Flassbeck/Lapavitsas 2015, Stierle 2018) oder ein selektiver Rückbau der Integration (Nölke 2019) – als gangbarere Strategieoption betrachtet wird als eine progressive Reform der EU ›von innen heraus‹ (Bortun 2022).

Eine zentrale Motivation für dieses Buch ist die Überlegung, dass ein genaueres Verständnis, warum Deutschland bestimmte Positionen zur europäischen Wirtschaftsintegration einnimmt und wie sich diese Positionierung verändert, wichtige Anhaltspunkte für die inzwischen stark verhärtete Kontroverse über die progressive Reformierbarkeit der EU liefern kann. Zwar ist die neoliberale Ausrichtung der europäischen Wirtschaftsintegration – wie in der kritischen Europa- und Neoliberalismusforschung vielfach herausgearbeitet wurde (Gill 1998b, Bonefeld 2015, Slobodian 2019) – tief in die supranationale Rechtsordnung der EU eingeschrieben und somit formal gegenüber gesellschaftlichen und selbst intergouvernementalen Kräfteverhältnissen in der EU abgeschirmt. Seit der Eurokrise hat sich jedoch gezeigt, dass viele Kernelemente dieser ›konstitutionalisierten‹ neoliberalen Orientierung unter entsprechenden politischen Kräfteverhältnissen umgangen, adaptiert oder unterminiert wurden: Die EZB kaufte trotz des Verbots monetärer Staatsfinanzierung in großem Umfang Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt, die Nichtbeistands-Klausel wurde angepasst, um den Europäischen Stabilitätsmechanismus, die Nachfolge-Institution des EFSF, rechtlich abzusichern, und das als enorm restriktiv geltende EU-Beihilfenrecht wird zunehmend im Rahmen so genannter Important Projects of Common European Interest ausgehölt (Hadjiemmanuil 2019, Schlager/Soder 2020, vgl. Kap. 3 und 4). Letztlich, so die hier vertretene Annahme, scheiterten die diversen progressiven, solidarischen Alternativen zur dominanten Krisenpolitik in erster Linie an den intergouvernementalen Kräfteverhältnissen – allen voran dem Widerstand Deutschlands (Germann 2018, Mahnkopf 2012). Insofern ist auch mit Blick auf die Frage der progressiven Reformierbarkeit ein besseres Verständnis der deutschen Positionierung, ihres Wandels – und ihrer Wandelbarkeit – sowie der dahinterstehenden Bestimmungsfaktoren zentral.

Wie aber die deutsche Positionierung zur europäischen Wirtschaftsintegration untersuchen und erklären? Die bestehende politikwissenschaftliche Forschung bietet eine Reihe alternativer Forschungs- und Erklärungsansätze, die jedoch – wie unten ausführlich begründet – jeweils verschiedene Schwächen bzw. Unzulänglichkeiten aufweisen. Realistische Ansätze (Donnelly 2018, Kundnani 2014) etwa betonen, dass Deutschland in der Eurokrise dazu überging, seine nationalen Interessen offensiver und rücksichtsloser gegen den Rest der EU durchzusetzen, bieten jedoch keine zufriedenstellenden Erklärungen, worin dieses ›nationale Interesse‹ Deutschlands eigentlich genau besteht (kritisch auch Germann 2018). Konstruktivistische Ansätze (Matthijs 2016, Schäfer 2016) verweisen überwiegend auf die anhaltende Wirkmächtigkeit der ordoliberalen wirtschaftspolitischen Tradition und Denkweise in Deutschland, können jedoch nicht erklären, warum Deutschland in der Krisenpolitik immer wieder dazu bereit war, pragmatisch von ordoliberalen Grundsätzen abzugehen (Jacoby 2014, Young 2020). Responsivitätstheoretische Ansätze (Degner/Leuffen 2019a) wiederum argumentieren, die Politik der deutschen Bundesregierung habe sich zuvorderst an Wähler:innenpräferenzen und wahltaktischen Überlegungen der regierenden Parteien orientiert, stoßen jedoch spätestens bei der Erklärung der deutschen ›Tabubrüche‹ (›Schuldenunion‹, ›Transferunion‹) im Zusammenhang mit dem EU-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU) ebenfalls an ihre Grenzen. Andere Autoren (Schild 2013, Krotz/Schramm 2022) betonen die zentrale Rolle des deutsch-französischen Bilateralismus, d.h. institutionalisierte Mechanismen der Kompromissbildung zwischen Deutschland und Frankreich, bieten jedoch wenig Anhaltspunkte hinsichtlich der Frage, welche Faktoren die deutsche Position abseits dieser Kompromissbildungsmechanismen bestimmen.

Die vorliegende Arbeit schlägt daher einen anderen theoretisch-konzeptionellen Weg ein, um eine differenziertere Perspektive auf die Bestimmungsgründe der deutschen Positionierung zu entwickeln. Ausgehend von der materialistischen Staatstheorie im Anschluss an Nicos Poulantzas (2002) und der internationalisierungstheoretisch erweiterten Regulationstheorie (Atzmüller et al. 2013, Becker/Jäger 2012) verfolgt sie den Ansatz, die deutsche Positionierung zur europäischen Wirtschaftsintegration durch eine Analyse der Positionen, Interessen, Strategien und Konfliktlinien innerhalb des deutschen Machtblocks im Rahmen einer historisch-materialistischen Politikanalyse (Buckel et al. 2014, Brand et al. 2022) zu entschlüsseln.

Mit dem Begriff des Machtblocks geht die materialistische Staatstheorie grundsätzlich davon aus, dass in einer sozialen Formation wie der BRD verschiedene soziale Kräfte um die Durchsetzung ihrer (Klassen-)Interessen konkurrieren, wobei der Staat aufgrund seiner relativen Autonomie gegenüber einzelnen Kräften das zentrale, zugleich jedoch gegenüber einzelnen Interessen selektiv wirkende Terrain dieser Auseinandersetzungen bildet. Indem Staatsapparate wie Ministerien und staatsnahe Denkfabriken (zum Beispiel öffentlich finanzierte Wirtschaftsforschungsinstitute) durch die Formulierung von Politiken, Strategien und Positionen aktiv auf die Interessenartikulation und asymmetrische Kompromissbildung zwischen diesen sozialen Kräften hinwirken, formiert und erhält sich ein gesellschaftlich dominanter Machtblock. Auf diese Weise verfolgt der Machtblock – trotz divergierender Interessenlagen der in ihm zusammengeschlossenen sozialen Kräfte – eine relativ kohärente strategische Ausrichtung (etwa mit Blick auf die Weiterentwicklung der europäischen Wirtschaftsintegration). Dennoch bildet der Machtblock keine monolithische Einheit, er bleibt vielmehr in sich fragmentiert und von Spannungen durchzogen, und das Kompromissgleichgewicht innerhalb des Machtblocks fragil. Zugleich – und hier liegt die Bedeutung der Regulationstheorie – muss sich die strategische Ausrichtung des Machtblocks an dem Erfordernis der Bearbeitung bzw. Regulation von Widersprüchen und Krisentendenzen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise im Rahmen verschiedener, von der Regulationstheorie analytisch unterschiedener struktureller Formen der Regulation orientieren, die im Zuge des Integrationsprozesses partiell europäisiert wurden (vgl. Kap. 2). Mit dieser theoretischen Herangehensweise knüpft diese Arbeit auch an neuere Debatten innerhalb der vergleichenden Kapitalismusforschung an, welche sich mit der Analyse unterschiedlicher Wachstumsmodelle (»growth models«) und »dominanter sozialer Blöcke«, d.h. klassenübergreifender sozialer Allianzen, in jüngerer Zeit (wieder) stärker der Regulationstheorie und materialistischen Ansätzen zugewandt hat (Amable 2017, Baccaro/Pontussen 2019, Hall 2018, Abschnitt 1.1.1.).

Ausgehend von dieser theoretisch-konzeptionellen Grundlage untersucht die vorliegende Arbeit die Positionierung des deutschen Machtblocks zur Weiterentwicklung der europäischen Wirtschaftsintegration anhand von zwei Schlüsselkonflikten: die Auseinandersetzungen über die Vertiefung bzw. Weiterentwicklung der WWU nach der Eurokrise, einschließlich der Konflikte über den EU-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU) am Beginn der Corona-Krise (Untersuchungszeitraum 2015 bis 2020), sowie die Auseinandersetzung über die Rekonfiguration des Verhältnisses von EU-Wettbewerbspolitik und Industriepolitik ausgehend von der neuen deutschen Industriestrategie von 2019 (Untersuchungszeitraum Anfang 2019 bis Ende 2020). Die Arbeit fokussiert hierbei auf die Auseinandersetzungen innerhalb des deutschen Machtblocks, welche der Positionierung der Bundesregierung auf europäischer Ebene zugrunde liegen, d.h. sie untersucht nicht – oder höchstens insoweit, als dies für die Auseinandersetzungen innerhalb Deutschlands relevant war – inwieweit sich die deutsche Position auf europäischer Ebene durchgesetzt hat. Untersuchungsleitend waren hierbei folgende übergeordnete Forschungsfragen:

Welche Positionen vertraten unterschiedliche Fraktionen des deutschen Machtblocks in den betrachteten Konflikten? Welche Interessen, Strategien und politischen Projekte liegen diesen Positionen zugrunde, und welche Konfliktlinien im deutschen Machtblock ergaben sich hieraus? Wie übersetzte sich die Interessenkonstellation im Machtblock in eine relativ kohärente strategische Ausrichtung auf europäischer Ebene, und wie und warum hat sich diese Ausrichtung im Untersuchungszeitraum verändert?

Die hier untersuchten Schlüsselkonflikte (Vertiefung der WWU, Verhältnis EU-Wettbewerbspolitik und Industriepolitik) wurden vor allem aus drei Gründen gewählt: Erstens verdichteten sich die Konflikte über die Weiterentwicklung der europäischen Wirtschaftsintegration seit dem Ausbruch der Eurokrise insbesondere in den Auseinandersetzungen über die Krise der WWU, ihre Bearbeitung und ihre mittel- und langfristige Reform. Zugleich – und dies begründet den Fokus auf industriepolitische Fragen – ist die Krisenanfälligkeit der WWU eng mit der wachsenden wirtschaftlichen Divergenz bzw. Polarisierung zwischen den Mitgliedsländern auf der Ebene der Produktionsstrukturen verbunden (Gräbner et al. 2020a, Storm/Naastepad 2015). Zweitens ist die deutsche Macht innerhalb der EU in diesen Bereichen besonders ausgeprägt und strukturell verankert (Lapavitsas/Cutillas 2022): Die institutionelle Architektur der WWU und ihre Weiterentwicklung in der Eurokrise orientierten sich – aufgrund der historischen Stellung der BRD als europäisches Leitwährungsland sowie des Status als größter Gläubiger in der Eurokrise – stark an deutschen Vorgaben und Interessen (Stützle 2013, 3.1.1.). Zugleich basiert die Macht der BRD in der europäischen Wirtschaftsintegration in besonderem Maße auf der zentralen und dominanten Stellung ihres industriellen Produktionssystems in der asymmetrischen europäischen Arbeitsteilung (2.3.1.). Insofern ist die Positionierung des deutschen Machtblocks in diesen beiden Bereichen für die Weiterentwicklung der europäischen Wirtschaftsintegration besonders ausschlaggebend. Und drittens hat sich die Positionierung des deutschen Machtblocks in diesen beiden Bereichen in den vergangenen Jahren am deutlichsten verschoben – eine Entwicklung, die zu Beginn der Arbeit an diesem Buch noch nicht absehbar war, ihm aber, so hoffe ich, eine zusätzliche Aktualität und Relevanz verleiht.

Forschungsstand

Innerhalb der europäischen Integrationsforschung wurde die Vertiefung der europäischen Wirtschaftsintegration im Zuge der Eurokrise intensiv und aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven beforscht (vgl. zur Übersicht Bieling/Guntrum 2019, Ioannou et al. 2015). Sofern die Positionierung Deutschlands dabei überhaupt gesondert betrachtet wurde, blieb die Analyse der ihr zugrundeliegenden Triebkräfte und Interessenkonstellation jedoch unzulänglich. Dies gilt insbesondere für die beiden hier betrachteten Schlüsselkonflikte (WWU-Reform, Verhältnis EU-Wettbewerbspolitik und Industriepolitik). Ein zentraler Grund für diese Blindstelle besteht darin, dass sich die dominanten Ansätze der europäischen Integrationsforschung weitgehend von der IPÖ und der Vergleichenden Politischen Ökonomie (VPÖ) entkoppelt haben (Lavery/Schmid 2021, Ausnahmen bilden Ryner/Cafruny 2017, Steinberg/Vermeiren 2016) – eine disziplinäre Verengung, die diese Arbeit im Sinne einer (Wieder‑)Zusammenführung von europäischer Integrationsforschung, IPÖ und VPÖ überwinden möchte.

Wie bereits vergangene Krisen der europäischen Integration setzte auch die Eurokrise einen neuen Integrationsschub in Gang (Bieling 2013a, Jones et al. 2016). Die Veränderungen in der Architektur der WWU – etwa die Einführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) oder die Herausbildung der neuen EU Economic Governance – wurden vielfach zusammengetragen und systematisiert (Hodson 2015, Ioannou et al. 2015, vgl. 3.1.3. für eine Übersicht). Historisch-institutionalistische Arbeiten argumentieren, die Integrationsvertiefung entspreche im Wesentlichen der Logik institutioneller Pfadabhängigkeit (Laffan/Schlosser 2016, Verdun 2015, vgl. auch Gocaj/Meunier 2013): Ältere Institutionen der WWU wie der Maastricht-Vertrag oder der Stabilitäts- und Wachstumspakt, die auf eine regel- und sanktionsbasierte Kontrolle der nationalen Fiskal- und Wirtschaftspolitik abzielten, werden von neuen Institutionen wie dem Six- und Two-Pack oder dem so genannten Fiskalvertrag im Sinne eines more of the same kopiert und auf diese aufgesetzt. Im Anschluss hieran sieht Schlosser (2019), entgegen der gängigen Diagnose eines fiskalpolitischen Vakuums in der WWU (Schelkle 2014: 105), sogar eine neue zentralisierte, wenngleich in ihrer inneren Architektur und Kompetenzordnung vielfach fragmentierte europäische Fiskalunion entstehen – eine Fiskalunion also, die dem pfadabhängigen institutionellen modus operandi der EU entspreche.

Auch neo-funktionalistische Ansätze betonen in erster Linie den integrationsvertiefenden Charakter der Eurokrise. Mitunter wurde die Integrationsvertiefung im Zuge der Eurokrise gar als Musterfall und Bestätigung der von vielen bereits abgeschriebenen neofunktionalistischen Integrationstheorie und ihres zentralen Theorems, des funktionalen spill-over, interpretiert – gewissermaßen als späte ›Rache‹ des Neofunktionalismus (Vilpišauskas 2013). So erwiesen sich die Maßnahmen zur Bearbeitung der Eurokrise angesichts funktionaler Defizite bzw. Dissonanzen in der WWU (Integration der Geldpolitik ohne Integration der Fiskalpolitik) als klassischer Fall eines funktionalen spill-over: Integrationskrisen in einem Sachbereich (Geldpolitik) werden durch die Integration in anderen Bereichen (Finanzpolitik) gelöst (Genschel/Jachtenfuchs 2013), wobei transnational orientierte Interessengruppen und supranationale Institutionen im Sinne politischer und kultivierter spill-over zusätzlichen Integrationsdruck ausübten (Niemann/Ioannou 2015, vgl. auch Schimmelfennig 2018).

Einige Arbeiten betonen darüber hinaus die gestärkte Rolle supranationaler Institutionen – vor allem der EZB (Heldt/Mueller 2021), aber auch der Europäischen Kommission (Bauer/Becker 2014, Dehousse 2016, Savage/Verdun 2016, kritisch Conceição-Heldt 2016) – im Rahmen der neuen Economic Governance. Die kritische Europaforschung hat in diesem Zusammenhang insbesondere den autoritären Charakter der Krisenbearbeitung und Integrationsvertiefung herausgearbeitet (Bieling 2013a, Oberndorfer 2016, Sandbeck/Schneider 2014, Wissel 2016): Neben den weitreichenden, demokratisch nicht legitimierten wirtschaftspolitischen Eingriffen der Troika in den Programmländern wurde im Rahmen des Europäischen Semesters, dem Kernstück der neuen Economic Governance, eine Vielzahl von Instrumenten geschaffen, durch die die Europäische Kommission ohne entsprechende demokratische Rückkopplung die nationalen Arbeits- und Sozialpolitiken kontinuierlich überwachen, koordinieren und disziplinieren kann (Syrovatka 2022a, vgl. auch Bruff 2017, Lux/Kompsopoulos 2019). Die EZB wiederum, eine formal unabhängige, demokratisch nicht legitimierte Institution, stieg aufgrund der spezifischen Architektur der WWU zum zentralen supranationalen Krisenmanager mit weitreichenden wirtschaftspolitischen Eingriffs- und Sanktionsmöglichkeiten auf (etwa durch die Kopplung ihrer Anleiheprogramme an die Inanspruchnahme von ESM-Krediten, vgl. Heinrich 2019, Ojala 2021, Schneider/Sandbeck 2019).

Trotz dieser partiellen Macht- und Kompetenzerweiterung supranationaler EU-Institutionen wurde die Integrationsvertiefung im Zuge der Eurokrise jedoch überwiegend als Stärkung intergouvernementaler Entscheidungsstrukturen und institutioneller Arrangements interpretiert (Bressanelli/Chelotti 2016, Puetter/Puntscher Riekmann 2020, Wenz-Temming/Sonnicksen 2020). So fanden die richtungsweisenden Verhandlungen über die Krisenbearbeitung in intergouvernementalen Terrains wie dem Europäischen Rat oder der Eurogruppe statt, wobei die Kommission eher eine vermittelnde Rolle einnahm (Kudrna/Wasserfallen 2021). Der ESM, eines der zentralen Instrumente der Krisenbearbeitung, wurde als zwischenstaatliche Organisation auf Basis eines völkerrechtlichen Vertrags außerhalb des EU-Rechts gegründet, genauso wie der so genannte Fiskalpakt als zwischenstaatlicher Vertrag institutionalisiert wurde (Brunnermeier et al. 2016a: 20-27, Donnelly 2018).

Vor diesem Hintergrund haben verschiedene Autor:innen untersucht, wie die Einigung auf weitreichende Integrationsschritte trotz divergierender Ausgangspräferenzen der Mitgliedsstaaten überhaupt möglich war. So argumentieren etwa Arbeiten aus den Perspektiven des diskursiven Institutionalismus (Crespy/Schmidt 2014) und des neuen Intergouvernementalismus (Bickerton et al. 2015, Csehi/Puetter 2021), dass intensive intergouvernementale Verhandlungs-, Koordinierungs- und Konsensfindungsprozesse in der Krisenbearbeitung – entgegen Robert Putnams (1988) two-level game – nationalstaatliche Präferenzen mit hervorbrachten, was letztlich auch eine Einigung ermöglichte. Andere Beiträge betonen die zentrale Rolle des deutsch-französischen Bilateralismus (Schild 2013, Krotz/Schild 2013, vgl. auch Degner/Leuffen 2019b): Die in den etablierten und bewährten institutionellen Verhandlungsstrukturen zwischen Deutschland und Frankreich erzielten bilateralen Kompromisse bilden die Basis für die Einigung unter allen Mitgliedsländern, weil letztere ihre Interessen entweder von Frankreich oder von Deutschland vertreten sehen. Obwohl mit Blick auf den weiteren Krisenverlauf und die WWU-Reformdiskussion wiederholt auf die Grenzen des deutsch-französischen Bilateralismus verwiesen wurde, zumal angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Asymmetrie zwischen Deutschland und Frankreich (Schoeller 2018, Syrovatka/Schneider 2019), gilt die Einigung auf den EU-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU) in der Corona-Krise als Beleg für die ungebrochene Relevanz dieses Kompromissmechanismus (Krotz/Schramm 2022, Howarth/Schild 2022).

Die skizzierte Literatur liefert wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der Vertiefung der europäischen Wirtschaftsintegration seit der Eurokrise. Sie stößt jedoch an ihre Grenzen bei der Frage, warum eine weitere Vertiefung der WWU, trotz der in der Krise freigelegten Widersprüche und ›Konstruktionsfehler‹, nach der Eurokrise insbesondere von deutscher Seite systematisch blockiert wurde – und warum Deutschland in der Corona-Krise innerhalb kurzer Zeit bereit war, von dieser Blockadeposition abzurücken2. Weiterführend sind hier Ansätze, die die Divergenz nationalstaatlicher Präferenzen und speziell die deutsche Positionierung in der Eurokrise und der WWU-Reformdiskussion in den Analysefokus rücken (für den Versuch eines Mapping der unterschiedlichen Positionen der Mitgliedsländer vgl. Wasserfallen/Lehner 2017, Lehner/Wasserfallen 2019).

(Neo-)Realistische bzw. realistisch inspirierte Arbeiten verstehen die Divergenz und Kollision nationaler Präferenzen in der Eurokrise und WWU-Reformdiskussion in erster Linie als Folge einer ›Normalisierung‹ der deutschen Außen- und Machtpolitik. War die BRD in der Nachkriegszeit eine ›gezähmte‹, an Westeinbindung, Multilateralismus und europäischer Integration orientierte »Zivilmacht« (Harnisch/Maull 2001, Hyde-Price 2001), so gingen das wiedervereinigte Deutschland und seine politischen Eliten spätestens in der Eurokrise dazu über, die deutschen Interessen wieder offensiver zu verfolgen (Bulmer/Paterson 2010, vgl. auch Oppermann 2012, Proissl 2010, Wood 2016). In der Folge, so Shawn W. Donnelly (2018) aus der Perspektive des realistischen Institutionalismus, habe Deutschland neue, zwischenstaatliche Mechanismen wie den ESM geschaffen, die die Einbindung Deutschlands in ein zu Kooperation verpflichtendes institutionelles Gefüge der EU aufbrechen und es Deutschland erlauben, seine eigenen Interessen anderen Mitgliedsländern unumwunden aufzuzwingen. Hans Kundnani (2011, 2014) erkennt in der Eurokrise den vorläufigen Kulminationspunkt einer Wandlung Deutschlands von einer multilateral orientierten Zivilmacht zu einer geoökonomischen Macht par excellence – ein Staat also, dessen Macht nicht auf militärischer, sondern wirtschaftlicher Stärke beruht, und der seine Machtressourcen im Sinne einer Nullsummenkonkurrenz gegen andere Staaten einsetzt (vgl. auch Cafruny 2015, kritisch Germann 2018). Hierbei agiere Deutschland aufgrund innenpolitischer Blockaden (etwa europapolitischer Urteile des Bundesverfassungsgerichtshofs, Bulmer/Paterson 2013) oder fehlender Ressourcen (Cafruny 2015) nicht als europäische Hegemonial- und Führungsmacht3 – wenn überhaupt, so eine prominente Diagnose aus der Perspektive einer neorealistisch interpretierten Theorie hegemonialer Stabilität (Kindleberger 1973), sei Deutschland ein widerwilliger (»reluctant«) regionaler Hegemon (Bulmer/Paterson 2018, Paterson 2011).

Auch wenn die BRD bereits in früheren Phasen der europäischen Wirtschaftsintegration ihre Positionen offensiv durchsetzte (Dyson/Featherstone 1999, Kaltenthaler 1998, Schoeller/Karlsson 2021, 3.1.1.), ist der Befund einer offeneren, kompromissloseren deutschen Machtpolitik seit der Eurokrise sicherlich zutreffend4, ebenso wie der Verweis auf die Strategie der Bundesregierung, EU-Institutionen durch zwischenstaatliche Arrangements zu umgehen (vgl. 3.2.4.). Eine entscheidende Schwäche realistisch inspirierten Ansätze besteht jedoch darin, dass sie das nationale ›Eigeninteresse‹ Deutschlands voraussetzen anstatt zu erklären, oder aber, wie Kundnani (2014), schlichtweg mit den Interessen der deutschen Exportwirtschaft gleichsetzen. Wie einleitend bereits bemerkt, ist das ›nationale‹ Interesse Deutschlands und selbst jenes des Exportkapitals in diesen Fragen jedoch alles andere als eindeutig oder selbsterklärend: Warum etwa hielt die deutsche Bundesregierung an der Durchsetzung der Austeritätspolitik fest, obwohl selbst der BDI (2018a), die zentrale Interessenvertretung des exportorientierten Kapitals in Deutschland, diese als zu weitgehend kritisierte? Und lässt sich das deutsche Beharren auf einer austeritätspolitischen Krisenbearbeitung wirklich als Ausdruck einer geoökonomischen Machtlogik verstehen – riskierte die Bundesregierung damit doch ein Auseinanderbrechen der WWU, d.h. gerade jenes zentralen Integrationsprojekts, dem wie kaum einem anderen eine geoökonomische Bedeutung (Überwindung der US-Dollar-Dominanz) zugeschrieben wurde (Cohen 2003, Lippert et al. 2019: 26)?

Kontruktivistische Ansätze bieten einen alternativen Erklärungsansatz. Sie führen die deutsche Positionierung primär auf die in Deutschland tief verankerte ordoliberale Denktradition zurück (Belke 2016, Dullien/Guérot 2012, Nedergaard/Snaith 2015, Matthijs 2016, Schäfer 2016, ähnlich auch Brunnermeier et al. 2016a, Hien 2020). Entsprechend dem ordoliberalen Leitprinzip, wirtschaftliche Ordnung durch Regelsetzung und regelbasierte Beschränkung diskretionärer wirtschaftspolitischer Eingriffsmöglichkeiten zu schaffen (Vanberg 2015), habe die deutsche Krisenpolitik vor allem darauf abgezielt, diskretionäre fiskalpolitische Spielräume der Mitgliedsstaaten noch effektiver und sanktionsbewährter als zuvor zu beschränken (etwa durch den Fiskalpakt). Wie Wade Jacoby (2014) jedoch herausgearbeitet hat, ist die deutsche Positionierung durch die ordoliberale Denktradition unterdeterminiert, d.h. verschiedene Akteure in Deutschland beziehen sich zwar auf ordoliberale Ideologeme, vertreten aber unterschiedliche, teils diametrale Positionen in den konkreten politischen Auseinandersetzungen (vgl. auch die Akteursanalyse in 3.2. und 4.2.). Letztlich, so zeigt auch Brigitte Young (2020), erfolgte der Rückgriff auf ordoliberale Ideologeme äußerst selektiv, zweckorientiert und interessengeleitet. Auch können konstruktivistische Ansätze nicht erklären, warum Deutschland immer wieder pragmatisch von ordoliberalen Grundsätzen abging – etwa im Rahmen der diskretionären, antizyklischen Konjunkturpolitik in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise (Zohlnhöfer 2011), oder mit Blick auf die Umgehung bzw. Aushöhlung zentraler, ursprünglich von Deutschland verfochtener Ordnungsprinzipien der WWU wie des Verbots monetärer Staatsfinanzierung oder der Nichtbeistands-Klausel5 (vgl. 3.1.3., aus ordoliberaler Perspektive Feld et al. 2015a). Ordoliberale Ideologeme sind in der Politikberatung in Deutschland und in zentralen Staatsapparaten sicherlich einflussreich (vgl. auch Kapeller et al. 2021, zur Geschichte der WWU Clift/Ryner 2014)6, können die deutsche Positionierung allein aber nicht hinreichend erklären.

Wiederum einen anderen Erklärungsansatz verfolgt die so genannte Responsivitäts-Perspektive. Anhand von Meinungsumfragen und einer Medienanalyse argumentierten Hanno Degner und Dirk Leuffen (2019a), dass die Positionierung der Bundesregierung in zentralen Auseinandersetzungen über die Krisenpolitik überwiegend der öffentlichen Stimmungslage entsprach – und gerade nicht den Forderungen wichtiger wirtschaftlicher Interessengruppen wie dem BDI. War die europäische Wirtschaftsintegration lange von einem passiven bzw. permissiven Konsens weiter Bevölkerungsteile getragen (vgl. Huke/Wigger 2019), so habe sich die Bundesregierung angesichts der starken Politisierung der Krisenpolitik vor allem an Wähler:innenpräferenzen bzw. an wahltaktischen Erwägungen der regierenden Parteien7 orientiert (ähnlich auch Oppermann 2012, Schneider/Slantchev 2018). Auch Klaus Armingeon und Skyler Cranmer (2018), die die Positionierung nationalstaatlicher Regierungen zu den Optionen Austerität vs. Transfermechanismen in Abhängigkeit von der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsstaaten erklären, führen die nationalen Positionierungen zur Krisenpolitik letztlich auf Wähler:innenpräferenzen zurück: Da die Bevölkerung der wettbewerbsfähigen Länder wie Deutschland die Kosten für Transfermechanismen zu tragen hätten und diese folglich ablehnten, setzte die Bundesregierung auf Austerität, um ihre electoral costs zu minimieren. Auch diese Arbeit geht davon aus, dass politische Parteien in der Artikulation von Positionen und der Bildung von Kompromissen eine wichtige Rolle spielen (vgl. 1.3. sowie Kap. 3 und 4), allein bzw. primär auf Wähler:innenpräferenzen und parteipolitische Taktik fokussierte Ansätze weisen jedoch deutliche Unzulänglichkeiten auf: Degner und Leuffen (2019a) etwa begründen das Auseinanderklaffen zwischen der Positionierung der Bundesregierung und wirtschaftlicher Interessenverbände in erster Linie anhand der Positionen des BDI, obgleich dieser vor allem die Interessen des weltmarktorientierten Industriekapitals vertritt und insofern nicht als repräsentativ für die Positionierung anderer wirtschaftlicher Interessenverbände in Deutschland gelten kann (vgl. 3.2.1.). Darüber hinaus konzentrieren sich diese Ansätze auf die Phase der akuten Eurokrise, während derer die Krisenpolitik hochgradig politisiert war. Die in dieser Arbeit beleuchtete Diskussion über die Reform der WWU ab 2015 erfuhr demgegenüber weitaus weniger öffentliche Aufmerksamkeit. Das lässt – gemäß Pepper D. Culpeppers (2010) Konzept der quiet politics – ein weitaus größeres Gewicht organisierter Interessen gegenüber der öffentlichen Stimmungslage erwarten. Und letztlich offenbart auch die deutsche Zustimmung zum EU-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU) – entgegen der gängigen Annahme einer deutlichen Ablehnung einer ›Transferunion‹ in der deutschen Bevölkerung – die Grenzen dieser Ansätze. Dass der EU-Wiederaufbaufonds von einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung sogar befürwortet wurde (Hassenkamp 2020) zeigt letztlich auch, dass die Stimmungslage der deutschen Bevölkerung in diesen Fragen weitaus weniger eindeutig und festgefahren ist als vielfach angenommen (vgl. auch Baccaro et al. 2020) – und folglich als zentrale unabhängige Variable zur Erklärung der deutschen Position zu kurz greift.

In dieser Hinsicht differenzierter argumentieren liberal-intergouvernementalistische Ansätze (Schimmelfennig 2015). Sie gehen von der Annahme aus, nationale Präferenzen seien in erster Linie von den wirtschaftlichen Interessen einflussreicher heimischer Interessengruppen in einer Situation internationaler Interdependenz geprägt (vgl. Moravcsik 1993). Vor diesem Hintergrund argumentiert zum Beispiel Frank Schimmelfennig (2015), die negative finanzielle und fiskalpolitische Interdependenz zwischen den Euro-Ländern habe ein gemeinsames Interesse am Erhalt der WWU begründet, der asymmetrische Charakter dieser Interdependenz jedoch dazu geführt, dass Deutschland seine wirtschaftlichen Interessen hinsichtlich der Form der Krisenbearbeitung weitgehend durchsetzen und die Krisenkosten überwiegend auf Südeuropa abwälzen konnte. Erik Jones et al. (2016) kombinieren neofunktionalistische mit liberal-intergouvernementalistischen Argumenten zu einem so genannten failing forward-Argument: Aufgrund divergierender, jeweils durch kurzfristige wirtschaftliche Interessen bestimmter Präferenzen einigen sich die Mitgliedsstaaten in den Verhandlungen über die Reform der WWU stets nur auf den ›kleinsten gemeinsamen Nenner‹, um die WWU zu erhalten. Dadurch bleibe die Architektur der WWU unvollendet und fragil – ein fortwährender Zyklus aus Krisen und stückhafter, unvollkommener Reform. Allerdings setzen diese Ansätze die wirtschaftlichen Interessen und Interdependenz als gegeben voraus, anstatt diese genauer zu untersuchen. Spezifischer argumentieren hier Silvana Târlea et al. (2019), die die finanzielle Integration der Mitgliedsstaaten als zentrale Erklärungsvariante für die Positionierung der Mitgliedsländer zu WWU-Reformoptionen heranziehen. Der von ihnen gewählte Indikator, die Gesamt-Verbindlichkeiten des Finanzsektors im Verhältnis zum BIP, ist insgesamt jedoch wenig aufschlussreich, da er weder nicht-finanzielle Verflechtungen (Handelsbeziehungen, transnationale Produktionsnetzwerke) noch bilaterale finanzielle Verflechtungsbeziehungen und deren Entwicklung erfasst8. Damit bleibt etwa unberücksichtigt, dass – wie Helen Thompson (2013, 2015) gezeigt hat – deutsche Banken ihre Exposition gegenüber der südeuropäischen Peripherie in der Eurokrise besonders schnell und umfassend reduzierten. Letztlich bleiben diese auf wirtschaftliche Interessen und Interdependenzen abstellenden Erklärungen also eine Analyse der tatsächlichen wirtschaftlichen Verflechtungsbeziehungen und deren Entwicklung – sowie möglicherweise damit verbundener Verschiebungen in der Interessenkonstellation – schuldig.

Angesichts dieser Unzulänglichkeiten bestehender Ansätze wurden in jüngerer Zeit unterschiedliche Ansätze miteinander kombiniert, um die deutsche Position zur WWU-Reform zu erklären. So führen David Howarth und Joachim Schild (2022) die deutsche Position einerseits auf eine Kombination aus wirtschaftlichen Interessen, ordoliberalen Ideen, Normen der Kooperation und geostrategischen Interessen zurück. Andererseits verbinden sie neofunktionalistische Argumente mit postfunktionalistischen Debatten (Hooghe et al. 2009), die das Augenmerk auf die Blockade des Integrationsprozesses durch die parteipolitische Politisierung von Fragen der Identität und Gemeinschaft richten (Howarth/Schild 2021, vgl. auch Freudlsperger/Jachtenfuchs 2021): Die staatlichen Eliten der BRD hätten die Schaffung neuer fiskalischer Kapazitäten in der WWU meist blockiert, um finanzielle Kosten (etwa für Transfermechanismen) und politische Kosten (etwa die Politisierung eurokritischer Stimmungslagen durch die AfD) zu minimieren. Nur wenn die Status quo-Kosten aus Sicht der staatlichen Eliten »prohibitiv« gewesen seien, habe Deutschland gemeinsamen Haftungsmechanismen zugestimmt. Auch in diesen Ansätzen bleiben die Interessenlagen jedoch unterbestimmt, zumal unter Bezugnahme auf die Ergebnisse von Degner und Leuffen (2019a) die Positionierung wirtschaftlicher Interessenverbände wiederum als unbedeutend eingestuft wird (vgl. zur Kritik oben). Letztlich ist auch der Verweis auf ›prohibitive‹ Kosten tautologisch, da nicht erklärt wird, ab wann und warum die staatlichen Eliten (wessen) Kosten als prohibitiv einschätzten.

Während die dargestellten Ansätze wichtige Anhaltspunkte liefern, ist – so die Ausgangsthese dieser Arbeit – eine polit-ökonomische Perspektive, einschließlich einer Untersuchung der konkreten Positionen und Strategien einzelner Interessenverbände, für die Erklärung der Positionierung Deutschlands zur WWU-Reform seit der Eurokrise unverzichtbar. Allerdings weisen auch die vorliegenden polit-ökonomischen Arbeiten ihrerseits erhebliche Forschungslücken auf. Verschiedene Beiträge (Höpner/Lutter 2018, Scharpf 2018, Schoeller/Karlsson 2021, Steinberg/Vermeiren 2016) haben überzeugend herausgearbeitet, dass die spezifische Konstruktion der WWU dem wirtschaftlichen Erfolg des ›Modell Deutschland‹ bzw. der deutschen Entwicklungsweise in besonderer Weise zuträglich war: Konnte Deutschland aufgrund seiner kooperativen Lohnfindungsstrukturen im Rahmen der WWU eine hohe preisliche Wettbewerbsfähigkeit erhalten, verloren andere Euro-Länder mit höheren Lohnzuwachs- und Inflationsraten durch den Wegfall der Abwertungsoption zunehmend an preislicher Wettbewerbsfähigkeit9. Hierin sehen einige Autoren (Schoeller/Karlsson 2021, Steinberg/Vermeiren 2016) die deutsche Strategie begründet, die WWU einerseits aufgrund ihrer enormen Vorteile für die deutsche Exportwirtschaft vor einem Zerfall zu bewahren, zugleich jedoch ihre bestehende Konstruktion soweit wie möglich beizubehalten, d.h. eine Weiterentwicklung der WWU durch makroökonomische Ausgleichs- und Anpassungsmechanismen zu blockieren (vgl. auch Bonatti/Fracasso 2013). Allerdings wirft diese Erklärung die Frage auf, warum gerade der BDI, die zentrale Interessenvertretung des exportorientierten Industriekapitals in Deutschland, in der WWU-Reformdiskussion gegenüber derartigen makroökonomischen Ausgleichs- und Anpassungsmechanismen aufgeschlossener war als die Bundesregierung (vgl. 3.2.1.). Offensichtlich greifen auch politik-ökonomische Erklärungsansätze zu kurz, die lediglich auf die Interessen einzelner Kapitalfraktionen wie des exportorientierten Industriekapitals oder des international orientierten Bankkapitals fokussieren. Umgekehrt sieht etwa Thompson (2013, 2015) die deutsche Position maßgeblich durch die sich wandelnde Exposition des deutschen Bankensektors gegenüber der südeuropäischen Peripherie und die Interessen des deutschen Bankkapitals bestimmt, vernachlässigt in ihrer Analyse jedoch die Interessen und Strategien des gegenüber dem deutschen Bankkapital zunehmend dominanten exportorientierten Industriekapitals (Braun/Deeg 2020). Die bestehende Forschung zu den deutschen Interessenverbänden wiederum hat zwar deren allgemeine europapolitische Positionierungen in den Blick genommen (Bührer 2008, 2017, von Winter 2016), die Haltungen zur WWU-Reformdiskussion seit der Krise allerdings nicht gesondert betrachtet.

Aufschlussreicher sind daher Arbeiten, die spezifisch die Positionen von Wirtschaftsverbänden und die dahinterliegenden Kapitalstrategien untersuchen. So argumentiert etwa Julian Germann (2018) auf der Grundlage von Positionspapieren des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), dass das zunehmend auf die emerging markets orientierte deutsche Exportkapital in der Politik von Austerität und innerer Abwertung in der südeuropäischen Peripherie eine Möglichkeit sehe, nach der mittel- und osteuropäischen Peripherie auch Südeuropa in eine untergeordnete Produktions- und Zuliefererzone für die deutsche Industrie zu transformieren. Anhand der Entwicklung der deutschen Direktinvestitionen lässt sich diese These allerdings nicht stützen: So war der Anteil der deutschen Direktinvestitionsbestände in der südeuropäischen Peripherie an den gesamten deutschen Direktinvestitionsbeständen seit dem Ausbruch der Eurokrise bis 2016 rückläufig und verbleibt seither – trotz eines leichten Anstiegs – auf niedrigem Niveau (vgl. Abb. 13). Wie Annamaria Simonazzi et al. (2013) und Giuseppe Celi et al. (2018) herausarbeiten, hat sich die deutsche Wirtschaft von der südeuropäischen Peripherie mit Blick auf Regionalstruktur der deutschen Außenhandelsbeziehungen eher entkoppelt als enger verflochten.

Ioannis Chasoglu (2019), Frederic Heine und Thomas Sablowski (2013), John Kannankulam und Fabian Georgi (2014), Martin Konecny (2012) sowie Felix Syrovatka (2022a) wiederum differenzieren unterschiedliche Strategien oder Akteursgruppen bzw. Hegemonieprojekte bezüglich der Bearbeitung der Eurokrise in Deutschland (für ein differenziertes Akteursmapping vgl. auch Hacker/Koch 2016). Eine zentrale Stärke dieser Beiträge besteht darin, dass sie die teils tiefgreifenden Konfliktlinien innerhalb des deutschen Machtblocks herausarbeiten – etwa entlang des Grads der Außenorientierung unterschiedlicher Kapitalfraktionen – und somit über monolithische Konzeptionen des ›deutschen Interesses‹ hinausgehen. Insbesondere Heine und Sablowski (2013) haben hierbei gezeigt, dass jene Verbände, die überwiegend die exportorientierte Großindustrie repräsentieren, der Reform der EU Economic Governance und der EZB-Politik weitaus aufgeschlossener gegenüberstanden als jene Verbände, die eher kleine- und mittelständische, überwiegend auf den europäischen oder deutschen Binnenmarkt orientierte Unternehmen vertreten.

Die vorliegende Arbeit knüpft an diese Beiträge an, geht jedoch in drei wesentlichen Hinsichten darüber hinaus. Erstens liegt der Fokus dieser Arbeit auf der besonders seit 2015 intensiv geführten Diskussion über die langfristige Weiterentwicklung der WWU, wohingegen sich die skizzierten polit-ökonomischen Analysen (mit Ausnahme von Hacker/Koch 2016) lediglich auf den Zeitraum der akuten Krisenbearbeitung (2010-2013) konzentrieren. Zweitens betrachten die bestehenden polit-ökonomischen Analysen zwar die Positionierung verschiedener Interessenverbände, verzichten aber auf eine genauere Untersuchung jener politischen Prozesse, mittels derer die Interessen im deutschen Machtblock durch Parteien und staatliche Apparate artikuliert, organisiert und vermittelt wurden. Damit bleibt unklar, inwieweit sich welche Positionen letztlich in der Positionierung der zentralen Staatsapparate niederschlugen und für die Positionierung der Bundesregierung auf europäischer Ebene ausschlaggebend waren. Dies ist vor allem deshalb relevant, weil sich, anders als etwa Chasoglu (2019) argumentiert hat, zumindest für den Untersuchungszeitraum von 2015-2020 gerade nicht davon ausgehen lässt, dass die Bundesregierung überwiegend die Position des BDI oder des exportorientierten Industriekapitals vertrat (vgl. auch Degner/Leuffen 2019a) – eine Tatsache, die angesichts des vielfach postulierten dominanten Einflusses des deutschen Exportkapitals auf die Krisenpolitik besonders erklärungsbedürftig ist. Drittens rekonstruieren diese Studien, mit Ausnahme jener von Chasoglu (2019), die Interessenkonstellation innerhalb des deutschen Machtblocks lediglich tentativ anhand der Außenkommunikation verschiedener Akteure sowie anhand von Medienberichten, d.h. ohne genauere polit-ökonomische Analyse der Internationalisierungsmuster verschiedener Kapitalfraktionen und deren Wandel seit der Eurokrise. Nicht berücksichtigt wird daher, inwiefern sich Entwicklungstendenzen wie die Re-Orientierung des deutschen Außenhandels in Richtung der emerging markets seit dem Ausbruch der Eurokrise (Simonazzi et al. 2013, Celi et al. 2018) oder die wachsenden Krisentendenzen des extrem exportorientierten deutschen Akkumulationsregimes seit 2017 (2.3.3.) auf die Interessenkonstellation im deutschen Machtblock hinsichtlich der Weiterentwicklung der WWU auswirken.

Im Vergleich zu den Auseinandersetzungen über die WWU wurde die Verschiebung der deutschen Position im zweiten hier untersuchten Schlüsselkonflikt, dem Verhältnis von EU-Wettbewerbspolitik und Industriepolitik, weitaus weniger intensiv beforscht. Die EU-Wettbewerbspolitik, einschließlich der EU-Beihilfenpolitik, bildet den Gegenstand eines sich seit den 2000er Jahren konsolidierenden, insgesamt jedoch stark spezialisierten Forschungsfeldes innerhalb der europäischen Integrationsforschung (Cini/McGowan 2008, für eine systematische Literaturübersicht vgl. Karagiannis 2010, Kassim/Lyons 2013). Im Zentrum dieser Literatur steht insbesondere die Frage, wie es der Kommission gelang, im Zuge der zunehmenden Europäisierung der Wettbewerbspolitik derartig weitreichende wettbewerbspolitische Kompetenzen zu erlangen (für eine historische Darstellung vgl. Aydin/Thomas 2012, Büthe 2007). Während konstruktivistische Arbeiten auf die Rolle von ›Mythen‹ verweisen – etwa von jenem, die Wahrung der Integrität des Binnenmarkts erfordere eine supranationale Wettbewerbspolitik (Akman/Kassim 2010) –, heben andere Autor:innen institutionelle Pfadabhängigkeiten (Warlouzet 2016) sowie die kontinuierliche Weiterentwicklung eines wettbewerbspolitischen soft law durch die Kommission hervor (Blauberger 2009, Cini 2001, Doleys 2013): So verfolgte die Kommission die Strategie, ihre durch die Europäischen Verträge zwar weitreichend, aber unscharf bestimmten wettbewerbspolitischen Kompetenzen durch ein komplexes System an Leitlinien und Gruppenfreistellungen immer präziser auszulegen, um ihre wettbewerbspolitischen Entscheidungen gegen Anfechtungen aus den Mitgliedsstaaten abzusichern.

Aus kritischer, neogramscianischer Perspektive haben Hubert Buch-Hansen und Angela Wigger (2010, 2011) umfangreiche Arbeiten zur EU-Wettbewerbspolitik vorgelegt. Setzten sich europäische Großkonzerne bis Mitte der 1980er Jahre noch überwiegend für eine neo-merkantilistische, auf selektiven Protektionismus und Industriepolitik basierende Orientierung ein (vgl. auch van Apeldoorn 2002), so zeigen Buch-Hansen und Wigger, wie sich seither nach einem Strategiewechsel dieser Kräfte eine rein wettbewerbsorientierte EU-Wettbewerbspolitik durchsetzen konnte. Indem sich die Ausgestaltung der EU-Wettbewerbspolitik in der Folge, wie auch Dzmitry Bartalevich (2016) herausgearbeitet hat, stark am neoliberalen wettbewerbspolitischen Denken der Chicagoer Schule orientierte, wurde die Berücksichtigung alternativer, d.h. industrie- oder sozialpolitischer Ziele in der wettbewerbspolitischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen und der Spielraum für eine eingreifende, ausgewählte Branchen selektiv fördernde Industriepolitik in der EU insgesamt erheblich eingeschränkt (4.1.2.). Trotz der seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise vielfach wiederholten Diagnose einer Renaissance der Industriepolitik (Rodrik 2008, Wade 2012, Eder/Schneider 2018) und der temporären Lockerung der EU-Beihilfenkontrolle in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise (Lyons/Zhu 2013) stimmen die vorliegenden Untersuchungen darin überein, dass bis Mitte der 2010er Jahre keine grundlegende Verschiebung in der Orientierung der EU-Wettbewerbspolitik erfolgte (Botta 2016, Wigger/Buch-Hansen 2014) – auch und insbesondere aufgrund der Blockade durch die deutsche Bundesregierung (Ambroziak 2015).

Die deutsche Positionierung zur EU-Wettbewerbspolitik im Allgemeinen und zum hier untersuchten Spannungsverhältnis von EU-Wettbewerbspolitik und Industriepolitik im Besonderen wurde bislang kaum systematisch erforscht und erklärt. Buch-Hansen und Wigger (2011) berücksichtigen zwar die deutsche Positionierung in zentralen Auseinandersetzungen über die Entwicklung der EU-Wettbewerbspolitik. Sie arbeiten heraus, dass die Bundesregierung – insbesondere in den Auseinandersetzungen um die Europäisierung der Fusionskontrolle – den Kompetenzzuwachs der Kommission möglichst zu begrenzen versuchte und auf einem rein wettbewerbsorientierten Ansatz ohne Berücksichtigung industriepolitischer Kriterien bestand. Sie analysieren jedoch nicht, welche Strategien und Interessenkonstellation dieser Positionierung zugrunde lagen. Konstruktivistische Ansätze wiederum (vgl. Ergen/Kohl 2019, Gerber 1998) stellen, ähnlich wie die konstruktivistischen Beiträge zur deutschen Eurokrisenpolitik, auf die Bedeutung ordoliberaler Ideen ab (vgl. auch Giocoli 2009). Dieser Erklärungsansatz erscheint naheliegend angesichts des starken Einflusses ordoliberaler Intellektueller auf die Herausbildung der Wettbewerbspolitik der BRD in der Nachkriegszeit (Buch-Hansen/Wigger 2011: 34-37, 2.1.). Allerdings wich gleichzeitig die (west-)deutsche Industriepolitik seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich von ordoliberalen Grundsätzen ab (Naqvi et al. 2018, Kattel et al., 2020, früh schon Shonfield 1965). Auch können konstruktivistische Ansätze nicht erklären, warum die Bundesregierung bereits Anfang der 2000er (Smith 2005) und in ähnlicher Form im untersuchten Schlüsselkonflikt ausgehend von der Nationalen Industriestrategie 2030 (BMWi 2019a) und dem französisch-deutschen Manifest für eine europäische Industriepolitik (BMWi/MEF 2019) eine Reform der EU-Wettbewerbspolitik forderte, um den Spielraum für aktive, strategische Industriepolitik zu vergrößern (kritisch gegenüber der These eines starken ordoliberalen Einflusses auf die EU-Wettbewerbspolitik auch Akman/Kassim 2010, Storey 2017, Wigger 2017).

Die bestehende wissenschaftliche Literatur zur Nationalen Industriestrategie 2030 und dem französisch-deutschen Manifest für eine europäische Industriepolitik wiederum ist bislang insgesamt spärlich und hat sich mit der Frage der deutschen Positionierung zur EU-Wettbewerbspolitik nicht spezifisch befasst. Sophie Meunier und Justinas Mickus (2020) legen zwar dar, dass die EU-Wettbewerbspolitik, einschließlich der Regulierung ausländischer Direktinvestitionen (vgl. auch Meunier 2019), im Licht wachsender geopolitischer Spannungen und der durch die Corona-Krise offenbarten Abhängigkeiten grundlegende und anhaltende Rekonfigurationsprozesse durchläuft: So wurde etwa eine Flexibilisierung der Fusionskontrolle eingeleitet, um Konzentrationsprozesse zur Bildung weltmarktfähiger europäischer ›Champions‹ zu erleichtern, und die Beihilfenkontrolle durch die strategische Förderung ausgewählter Schlüsseltechnologien im Rahmen so genannter Important Projects of Common European Interest aufgeweicht. Hierbei verweisen sie auch auf die zentrale Rolle deutsch-französischer Initiativen sowie dahinterliegende wirtschaftliche Interessen in diesen Ländern, die Akteurs- und Interessenkonstellation in Deutschland wird jedoch nicht analysiert. Frank Gerlach und Astrid Ziegler (2019) beleuchten die Positionierungen einiger Wirtschaftsverbände in Deutschland, gehen allerdings nicht gesondert auf die damit verbundenen Interessenlagen und die Positionierungen zur EU-Wettbewerbspolitik ein. Die bislang umfassendsten polit-ökonomische Analyse der Nationalen Industriestrategie 2030 haben Sean Kenji Starrs und Germann (2021) vorgelegt. Obwohl dieser Beitrag die Nationale Industriestrategie 2030 grundsätzlich überzeugend in den Kontext einer neuen ›techno-nationalistischen‹ Konkurrenz angesichts des Aufstiegs von China in der globalen politischen Ökonomie stellt, unterschätzt er – so legen es zumindest die Ergebnisse dieser Untersuchung nahe – die sozialen Kräfte und Kapitalinteressen im deutschen Machtblock, die auf einen industriepolitischen Paradigmenwechsel drängen bzw. diesen zumindest in relevanten Hinsichten unterstützen. So gehen Starrs und Germann (2021) davon aus, dass die enorme Bedeutung von China als Absatzmarkt für deutsche Exporte und die damit verbundenen Interessenlagen auf Kapital- und Gewerkschaftsseite den Bemühungen des deutschen Staates, eine nationalistischere Technologie- und Industriepolitik zu verfolgen, enge Grenzen setzt. Hier wird demgegenüber die These vertreten, dass die Nationale Industriestrategie 2030 selbst als Ausdruck einer strategischen Re-Orientierung auf Seiten des exportorientierten, weltmarktorientierten Industriekapitals angesichts des Aufstiegs von China verstanden werden muss, wenngleich diese Re-Orientierung aufgrund der beträchtlichen Abhängigkeit des deutschen Exports vom chinesischen Absatzmarkt heftig umkämpft ist und bleibt.

Zusammenfassend lässt sich mit Blick auf den Forschungsstand zu den beiden hier betrachteten Schlüsselkonflikten festhalten, dass ein Großteil der europäischen Integrationsforschung der deutschen Positionierung zwar einen zentralen Stellenwert beimisst, ihre Bestimmungsgründe, insbesondere hinsichtlich der wirtschaftlichen Interessenlagen, in Ermangelung polit-ökonomischer Untersuchungen jedoch nicht hinreichend geklärt sind. Diese polit-ökonomische Leerstelle in der europäischen Integrationsforschung ist insofern erstaunlich, als gerade die deutsche Ökonomie innerhalb der VPÖ in ihren verschiedenen institutionellen Facetten intensiv beforscht wurde und den Anstoß zur Entwicklung zentraler Konzepte wie jener der koordinierten Marktwirtschaft (Hall/Soskice 2001) oder des nicht-liberalen Kapitalismus (Streeck/Yamamura 2001) gab (vgl. auch Jackson/Deeg 2006). Allerdings weist die VPÖ, insbesondere die in der VPÖ lange dominante Varieties of Capitalism-Perspektive, ihrerseits konzeptionelle Begrenzungen auf, die einer Verknüpfung ihrer Forschungsergebnisse mit der Frage nach der Rolle Deutschlands in der europäischen Wirtschaftsintegration tendenziell entgegensteht: Zum einen wurden aufgrund der »konzeptionellen Fixierung auf den Nationalstaat« dieser Ansätze (Becker/Jäger 2013: 163) Internationalisierungs- und Integrationsprozesse, wenn überhaupt, nur als exogene Faktoren hinsichtlich ihrer Auswirkung auf das institutionelle Gefüge des deutschen Kapitalismus thematisiert (vgl. auch Bieling/Brand 2015, Bruff et al. 2013, Koddenbrock/Mertens 2022). Zum anderen hat der Fokus auf institutionelle Komplementarität und die Muster pfadabhängigen Wandels eine Analyse der sozialen Kräfte, ihrer Interessen, Strategien und Konflikte verstellt (Kannankulam/Georgi 2014) – auch in Bezug auf die politischen Auseinandersetzungen in Deutschland über die WWU und die europäische Wettbewerbs- und Industriepolitik. Warum ausgerechnet Deutschland – jenes Land, das innerhalb der vergleichenden Kapitalismusforschung wie kein anderes Land als repräsentativ für den Idealtyp einer koordinierten, nicht-liberalen Kapitalismusvariante galt (und teils noch immer gilt) – in der Eurokrise derart erbittert auf Austeritätspolitik und neoliberalen Strukturreformen bestand, bleibt aus dieser Perspektive somit rätselhaft (vgl. auch Germann 2021: 3, 36-39, Ryner 2022b).

Erst in jüngerer Zeit, vor allem vor dem Hintergrund der Eurokrise, wurde innerhalb des Varieties of Capitalism-Ansatzes der Versuch unternommen, diese konzeptionellen Begrenzungen zu überwinden: Wurden nationale Kapitalismusvarianten zuvor weitgehend in Isolation voneinander betrachtet, so rückte nun die Frage in den Fokus der Analyse, wie die (asymmetrische) Interaktion und Verknüpfung verschiedener nationaler Wachstumsmodelle innerhalb der WWU spezifische ›Pathologien‹ und Krisentendenzen hervorbringen (Hall 2018, Höpner/Lutter 2018, Johnston/Regan 2016). Zugleich wurde, wiederum mit besonderem Fokus auf den deutschen Fall, der Frage nach den sozialen Kräften, die bestehende Wachstumsmodelle politisch tragen, sowie deren Strategien und Bündnissen in der VPÖ neue Aufmerksamkeit geschenkt – vor allem durch die Analyse klassenübergreifender dominanter »sozialer Blöcke« (Baccaro/Pontussen 2019) oder durch die Öffnung gegenüber dem business power-Ansatz (Culpepper 2010, vgl. Bohle/Regan 2021). Damit nähert sich die institutionalistische VPÖ wieder dem Regulationsansatz und der materialistischen Staatstheorie an (für eine eingehende Diskussion dieser Annäherung und weiter bestehender Differenzen vgl. 1.1.1.).

Bislang fehlt jedoch eine systematische Zusammenführung von europäischer Integrationsforschung und politik-ökonomischen Analysen zur Erklärung der deutschen Positionierung in Schlüsselkonflikten über die europäische Wirtschaftsintegration. Um diese Leerstelle zu schließen, verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, die hinter der deutschen Positionierung liegenden Interessen, Strategien und Konfliktlinien im deutschen Machtblock durch zwei ineinandergreifende Forschungsstrategien zu ergründen: Zunächst werden die wesentlichen Konturen der deutschen Entwicklungsweise sowie die Internationalisierungsmuster des deutschen Akkumulationsregimes und einzelner Kapitalfraktionen anhand einer regulationstheoretisch angeleiteten Sekundäranalyse sowie der Entwicklung ausgewählter Außenwirtschaftsdaten analysiert. Auf dieser Basis werden dann die Interessenlagen und Konflikte im deutschen Machtblock anhand von Expert:inneninterviews und einer qualitativen Dokumentenanalyse im Rahmen einer historisch-materialistischen Politikanalyse aufgeschlüsselt (Kap. 3 und 4).

Argumentationsgang und Aufbau

Das Buch gliedert sich in vier Kapitel. Kapitel 1 legt die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen und operationalisiert diese für den weiteren Gang der Untersuchung. Hierzu führt es zunächst in die Grundannahmen des Regulationsansatzes ein, konturiert dessen zentrale theoretische Prämissen und Stärken gegenüber dem in der VPÖ lange dominanten Varieties of Capitalism-Ansatz und systematisiert die zentralen regulationstheoretischen Begriffe für die weitere Analyse (Abschnitt 1). Um die Entwicklungsdynamik des deutschen Kapitalismus, speziell die Entwicklungs- und Krisentendenzen des hochgradig exportorientierten bzw. extravertierten Akkumulationsregimes der BRD als wichtigen Ausgangspunkt für die Analyse der beiden Schlüsselkonflikte im deutschen Machtblock systematisch regulationstheoretisch erfassen zu können, nimmt Kapitel 1 hieran anschließend eine dependenz- und internationalisierungstheoretische Erweiterung des Konzepts des Akkumulationsregimes vor (Abschnitt 2). Zur Analyse der Auseinandersetzungen im deutschen Machtblock und deren Vermittlung auf dem Terrain des Staates wird das Verständnis von Regulation darüber hinaus staats- und politiktheoretisch im Anschluss an die materialistische Staatstheorie von Poulantzas und die neogramscianische Theoriebildung erweitert (Abschnitt 3). Als wichtigen Hintergrund für die untersuchten Konflikte im deutschen Machtblock rekonstruiert Kapitel 1 zudem die partielle und asymmetrische Europäisierung der Regulation im Zuge der europäischen Wirtschaftsintegration und entwickelt ein Verständnis des europäischen Integrationsprozesses als Verdichtung zweiter Ordnung, das der Analyse der Auseinandersetzung im deutschen Machtblock zugrunde liegt (Abschnitt 4). Abschließend werden die entwickelten theoretischen Grundlagen unter Bezugnahme auf die historisch-materialistische Politikanalyse für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit operationalisiert (Abschnitt 5).

Auf Basis der eingeführten regulationstheoretischen Analysekategorien entwirft Kapitel 2 eine Skizze der Entwicklung von Regulationsweise und Akkumulationsregime in der BRD, wobei der Fokus auf der postfordistischen Rekonfiguration der Regulation sowie den aktuellen Krisentendenzen des deutschen Akkumulationsregimes liegt. Diese Analyse verfolgt das Ziel, die Grundlage für die Rekonstruktion der Interessenkonstellation im deutschen Machtblock in den darauffolgenden Kapiteln zu legen. Hierzu zeichnet Kapitel 2 zunächst die spezifische fordistische Entwicklungsweise der BRD, ihre Entstehungsbedingungen sowie zentrale Elemente ihrer Krise nach (Abschnitt 1). Hiervon ausgehend werden die postfordistische Rekonfiguration der Regulation sowie das spezifische (und kontrovers diskutierte) Verhältnis von Kontinuität und Bruch in der Entwicklung des deutschen Kapitalismus genauer beleuchtet (Abschnitt 2). Vor diesem Hintergrund lassen sich dann die spezifischen Krisentendenzen des deutschen Akkumulationsregimes sowie die Internationalisierungsmuster einzelner Branchen und Kapitalfraktionen im Zuge der enormen Vertiefung der Exportorientierung bzw. Extraversion des deutschen Akkumulationsregimes seit Beginn der 1990er Jahre skizzieren (Abschnitt 3). Eine zentrale These dieses Kapitels lautet, dass neben der Rekonfiguration der Regulation des Lohnverhältnisses auch die weitgehende Europäisierung der Regulation von Konkurrenz- und Geldverhältnis für die Vertiefung der Exportorientierung der BRD und die Herausbildung einer relativen Kohärenz von Regulationsweise und Akkumulationsregime entscheidend war. Seit ca. 2017 stößt jedoch die Extraversion des deutschen Akkumulationsregimes und damit verbunden auch die spezifische relative Kohärenz von Regulationsweise und Akkumulationsregime zunehmend an Grenzen. Dies bildet eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis davon, wie sich die Interessenkonstellation im deutschen Machtblock mit Blick auf die Rekonfiguration der europäischen Regulation verschiebt und welche neuen Konfliktlinien sich hierbei herausbilden.

Kapitel 3 widmet sich hiervon ausgehend den Auseinandersetzungen im deutschen Machtblock über die ›Vertiefung‹ der WWU und der Frage, wie es zum Positionswechsel der deutschen Bundesregierung in der Corona-Krise, d.h. der Zustimmung zum EU-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU