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Warnung, Satire: Hätte es Papst Pius V. nicht gegeben, würde die Christenheit heute nicht mehr existieren. Er allein hat nämlich verhindert, dass Rom, und damit ganz Europa, von den Muslimen erobert wurde. Ohne ihn würden vermutlich Alice Schwarzer und Angela Merkel heute mit einem Kopftuch oder gar in einer Burka herumlaufen. Hat die Heilige Inquisition dafür nicht unseren tief empfundenen Dank verdient? Hans Conrad Zander, der Großmeister der religiösen Satire, erweist nun endlich diesen überfälligen Dank: Er macht geneigten Zeitgenossen klar, was die Heilige Inquisition war: jung und fortschrittlich, frauenfreundlich, effizient, im Recht und eben heilig... oder doch nicht? Ein Buch, unterhaltsam und lehrreich zugleich, das populäre Irrtümer aufklärt und sich zugleich nicht zu wichtig nimmt. Heilsam und wohltuend in Zeiten von Kirchenkrise, Fatalismus und Zukunftsangst.
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Seitenzahl: 273
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Hans Conrad Zander
Neue Verteidigung der Heiligen Inquisition
Eine erste Fassung erschien 2007 unter dem Titel:
Kurzgefasste Verteidigung der Heiligen Inquisition
Es spricht der Großinquisitor
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Die angegebenen Bibelverse wurden vom Autor frei übersetzt.
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © German Neundorfer
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-451-39348-8
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82745-7
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82875-1
Offener Brief des Großinquisitors an die neueste Generation von Kleininquisitoren.
1. Rede: Die Heilige Inquisition war jung und fortschrittlich.
2. Rede: Die Heilige Inquisition war frauenfreundlich.
3. Rede: Die Heilige Inquisition erfand den offenen Vollzug.
4. Rede: Die Heilige Inquisition hatte recht.
5. Rede: Die Heilige Inquisition war Heilig*.
Über den Autor
* Registered orthography of the Holy Inquisition. Offenders will be prosecuted.
Meine Kleinen!
Dass ich das noch erleben durfte! Voltaire, mein alter Erzfeind, auf Twitter in heller Panik! Zuerst ein Bild, auf dem man einen edlen Menschen sieht, grausam festgekettet an einem dicken Pfahl. Um ihn die höhnischen Schergen der Inquisition. Mit Reisigbündeln haben sie ihr hilfloses Opfer bis zum Kragen zugepackt. Und schon fuchtelt einer mit einer lodernden Fackel in den Scheiterhaufen hinein.
Darunter twittert dieser Voltaire einen Satz, der gar nicht zu der grinsenden Visage passt, mit der er sich als historischer Voltaire im Porträt vorzustellen sucht. Ein todernster Voltaire warnt die Menschheit: »Dies ist wahrhaftig das Albtraum-Szenario. Es würde das Ende der Aufklärung bedeuten und damit auch das Ende von Wissenschaft, von wirtschaftlichem Wachstum, von moralischer Ertüchtigung, von Freiheit und Fortschritt jeder Art.«
Was ist in meinen Erbfeind gefahren? Über Twitter versucht er, sich in eine Diskussion einzuklicken, die nicht in Frankreich und noch viel weniger in Deutschland geführt wird, wohl aber in England und Amerika. Angestoßen hat sie der britische Autor Sean Thomas mit dem Alarmruf, es müsse Schluss sein mit den saublöden Witzen über die Political Correctness, über die Wokeness und die Cancel Culture, wie sie in altliberalen altweißen Altherrenkreisen noch immer gerissen werden.
Solche Witzelei, meint er, könnte man sich erlauben, wenn die Political Correctness nichts wäre als eine kurzfristige Spinnerei. Inzwischen sei aber klar, dass sie uns für mindestens tausend Jahre beherrschen werde. Als neue Religion des Westens, als »New Christianity«. Nichts als Witze über den heiligen Hieronymus haben doch auch die letzten aufgeklärten heidnischen alten weißen Männer in Rom gerissen. Dann aber gingen die Lichter der heidnischen Aufklärung ganz schnell für tausend Jahre aus. Umso heller begannen die Scheiterhaufen der Inquisition zu leuchten.
Vielleicht werden es diesmal sogar mehr als tausend Jahre. Denn die Political Correctness hat alles, was zu einer nachhaltigen Religion gehört. Das Wichtigste ist ein hoch motivierter Klerus. Von der Kita-Betreuerin bis zur Uni-Professorin, von der Grundschullehrerin bis zum Fußballcoach sind Millionen von Lehrkräften damit beschäftigt, die Jugend zur schönsten Norm der Political Correctness zu erziehen: zur totalen Vorurteilslosigkeit. Der Erziehung durch die Kirche war einst ein deutsches Kind pro Woche etwa zwei Stunden ausgesetzt, ein Kind heute der Erziehung zur Political Correctness in Schule und Medien etwa vierzig Stunden pro Woche.
Die neue Religion hat ihre Kirchtürme, die Windkraftwerke. Unübersehbar überragen sie das ganze Land. Auch Märtyrerinnen, vergleichbar den Gespielinnen der heiligen Ursula, hat sie schon: Reese Witherspoon, Alyssa Milano, Meryl Streep, Emma Stone und Maggie Gyllenhaal. Diese Religion hat eine echte Todsünde: die Beleidigung von LGBTQIA*. Sie hat ihre Heiligen Schriften: Im Neuen Testament zum Beispiel Annalena Baerbocks hübschen Essay »Jetzt« (stilistisch auf jeden Fall besser als die Briefe des Apostels Paulus). Sie hat viele böse Ketzer, vor allem auch schon in Donald Trump einen echten Satan. Sie hat Bilderstürmer, Denkmalstürzer und Wörterexorzisten. Und wie einst das junge Christentum sich 2000 Jahre Judentum als »Altes Testament« angeeignet hat, so eignen sich jetzt die Aktivist*innen der Political Correctness das alte, überholte Christentum für die nächsten 2000 Jahre an. Zwei Beispiele: Die Katholische Studierenden Jugend (ein Teil-Verband des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend) schreibt das wichtigste aller christlichen Wörter nur noch so:
Gott*
Und das zweitwichtigste Wort? Den Aktivist*innen von Maria 2.0 gelingt ein politisch wunderschön korrekter Marienkult.
Der Großinquisitor singt, alle singen ergriffen mit:
Wunderschön prächtige,
Hohe und mächtige,
Liebreich holdselige
Maria zwo null!
Vor allem hat die Political Correctness einen Kinderkreuzzug, und zwar – historisch einmalig – einen erfolgreichen. Und erst die Apokalypse! Im Unterschied zur Old Christianity hat die New Christianity eine echte, wissenschaftlich unleugbar bewiesene und mindestens zweitausend Jahre lang drohende Apokalypse: die Klimakatastrophe. Alles ist da für eine neue nachhaltige Religion. Oder wie es der Atheist Sean Thomas ausdrückt: »We could be in for two thousand years of madness.«
Das halte ich für eine verwegene Prognose. Selbst wir, die Spanische Inquisition, konnten uns nicht einmal vier Jahrhunderte lang an der Macht halten. Wollt Ihr, meine lieben Kleinen, länger an der Macht bleiben, so müsst Ihr allerdings unsere Geschichte kennen. Damit Ihr nicht die Fehler, die wir im Großen gemacht haben, im Kleinen wiederholt.
Doch Ihr kennt uns nicht. Ja, Ihr wollt uns nicht kennen. Dabei ist die totale Ausrottung aller Vorurteile doch die Mutter aller Dogmen der Political Correctness. Die schlimmsten Vorurteile der Geistesgeschichte aber sind die Vorurteile gegen die Heilige Inquisition. Paradoxerweise kommt Ihr Euch woke vor, wenn Ihr Euch weigert, Eure törichten Vorurteile gegen uns abzubauen. Dabei mahnt Euch doch kein geringerer als Wilhelm von Humboldt, dass, wer seine Zukunft erfolgreich gestalten will, seine Vergangenheit kennen muss.
Lernt Eure roots, lernt uns kennen! Nicht die Leyenda negra, nicht jenes höllische Zerrbild der Inquisition, das Euch die englische Propaganda gegen Spanien in Eure naiven deutschen Köpfe gesetzt hat. Seid wahrhaft woke! Erwachet! Überwindet Eure Vorurteile gegen die Heilige Inquisition!
Dieses Buch wird Euch dabei helfen. Es beginnt mit einer tröstlichen Nachricht: Ihr braucht Euch Eurer roots nicht zu schämen. Die besten aller Inquisitoren, die Modellinquisition von Toulouse, waren genau das, was Ihr sein möchtet. Schon im 13. Jahrhundert waren sie jung, woke und demokratisch. Darum ist auch die Spanische Inquisition ihrem Vorbild gefolgt.
Nach dem verheerenden Fehlstart der Inquisition in Deutschland tat der Papst endlich das Richtige: Er übergab die Musterinquisition von Toulouse dem jungen Orden des heiligen Dominikus. Das waren die woken Intellektuellen des 13. Jahrhunderts. Vorurteile kannten sie nicht. In Paris hatten sie studiert, wo die großen muslimischen Denker, Averroes und Avicenna, vorurteilslose Furore machten.
Demokraten waren sie vor allem. Schon der Dominikanerorden selbst hatte die demokratische Verfassung der italienischen Stadtstaaten übernommen. An der Spitze der Klöster keine patriarchalischen Äbte, sondern frei und demokratisch auf Zeit gewählte Prioren. Demokratie bis hinauf ins oberste Organ der Spanischen Inquisition, bis in die Suprema. Alle Entscheidungen haben wir da in demokratischen Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip gefällt. Als Großinquisitor hatte ich einen besonderen Ehrentitel. Aber keine besondere Macht. Lest es nach in diesem Buch: Als guter Demokrat habe ich mich stets der Mehrheit gefügt.
Das alles, meine lieben Kleininquisitoren, schreibe ich nicht, um mich bei Euch demokratisch einzuschleimen. Großinquisitoren schleimen nicht. Im Gegenteil. Meine historische Pflicht ist es, Euch zu warnen. Wenn Ihr dieses Buch nicht lest, wenn Ihr nicht aus unseren Fehlern so schonungslos lernt, wie ich sie freilege, dann wird nichts aus zwei Jahrtausenden Political Correctness. Dafür ist die Inquisition, wie Ihr sie betreibt, gar nicht nachhaltig genug. Dass sie nicht mehr ist als eine hierarchisch ungeordnete Schwarminquisition, darauf seid Ihr ja sogar stolz.
Schwarminquisition – das wissen Zoologen besser als ich – ist gewiss das Beste für Ameisenstaaten und für Bienenvölker. Aber, meine lieben Kleininquisitoren, wir sind keine Ameisen und keine Bienen. Wir sind Menschen. Was Schwarminquisition unter Menschen anrichten kann, lehrt die Geschichte der deutschen Hexeninquisition. Sechzehn Auflagen des Straßburger »Hexenhammers« allein in Deutschland! Die Folge war ein enormer Schwarm von deutschen Hexenjägern. Jeder der unzähligen deutschen Landesfürsten wollte seine eigene Hexenjagd. Und jene Bürgermeisterchen in kleineren Städten, auf den Dörfern, die vielleicht gar nicht wussten, was eine Hexe ist? Schwärme von freiberuflichen Hexenjägern zogen übers Land, boten allenthalben den überforderten Behörden ihre Dienste an und zogen nach vollstrecktem Werk weiter. Auf ins nächste Dorf, ins nächste Städtlein zur nächsten Hexenjagd.
Zu viel Inquisition! Muss denn ich, der alte weiße Großinquisitor, Euch Multikulti-Kleininquisitoren darauf hinweisen, dass zu viel Inquisition Schaden anrichtet? Im Grunde ist es mit der Inquisition wie mit den besten Weinen aus Bordeaux: »à consommer avec modération« lese ich auf einer meiner teuersten Flaschen. Auch Inquisition muss mit modération genossen werden, sonst richtet sie schweren Schaden an. Nicht zuletzt im Kopf.
Es wird jetzt etwas unappetitlich. Ich muss Euch nämlich erzählen, wie wir, die Spanische Inquisition, mit dem Hexenwahn der deutschen Inquisition fertiggeworden sind. Anno 1610 war ich schon eines der erfahrensten Mitglieder der Suprema, der allerobersten Leitung der Spanischen Inquisition. Da kam aus Navarra die Hiobsbotschaft: Der Hexenwahn aus Straßburg war über die Pyrenäen gedrungen. Eine Schwarminquisition von Hexenjägern hatte in Navarra einen – nicht zufällig ebenso großen – Schwarm von mehr als tausend Hexen aufgespürt, sodass sogar die offizielle Inquisition von Navarra den obrigkeitlichen Kopf verlor. Ohne die Genehmigung der Suprema einzuholen, veranstaltete sie ein zweitägiges Autodafé, las zuerst dem gebannt lauschenden Volk all die satanischen Orgien vor, welche elf vorgeführte Hexen mit dem Teufel selbst verbrochen hatten. Und verbrannte anschließend alle elf auf einem einzigen Scheiterhaufen.
Was tun?
Es ist der Ruhm der Spanischen Inquisition, dass sie den Hexenwahn immerdar bekämpft hat. Anders als die deutsche Inquisition haben wir uns stets an den maßgebenden Beschluss der Paderborner Kirchenversammlung von 785 gehalten, der jedem den Galgen androht, der es wagt, »nach Art der Heiden« eine Frau als Hexe zu verfolgen.
Angesichts der katastrophalen Nachrichten aus Navarra musste die Suprema handeln. Unseren erfahrensten Hexenexperten, Alonso de Salazar Frias, haben wir nach Navarra geschickt. In einem wahren Inquisitionsmarathon verhörte er insgesamt 1384 Teenager, Jungen und Mädchen, in die nach eigenem Geständnis der Teufel mit seinem riesigen schwarzen Penis eingefahren war. Dabei kam ihm ein Gedanke: Zumindest bei den Mädchen müsste die satanische Schändung empirische Spuren hinterlassen haben. Aus Madrid ließ er einen erfahrenen Frauenarzt nach Navarra kommen. Sein empirischer Befund: Nach all den entsetzlichen Orgien mit dem Teufel waren die verhexten Mädchen alle unverändert »jungfräulich unberührt«.
Meine lieben Kleininquisitoren, wenn Ihr erpicht seid auf mehr satanische Details aus dem über fünftausend Seiten umfassenden Hexenbericht, den Pater Salazar der Suprema eingereicht hat, dann lest das 2. Kapitel dieses Buches: »Die Heilige Inquisition war frauenfreundlich.«
Hier nur noch das wichtigste Ergebnis von Salazars Studie. Der Hexenschwarm kam von der Schwarminquisition, nicht umgekehrt. Dringend riet der Experte uns deshalb davon ab, jetzt noch zusätzlich Inquisitoren nach Navarra zu schicken. Das reize nur den Wahn noch mehr. Wenn ich die vielen Tausend spanischen Sätze von Pater Salazar zusammenfassen darf in einen einzigen deutschen Satz: Je weniger Inquisition, desto weniger Hexen.
Ich komme jetzt zu Thomas de Torquemada. Manche halten ihn für den schlimmsten aller Großinquisitoren. Ich halte ihn für den besten. Im Jahr 1482 hat er es für die reyes católicos Ferdinand und Isabella übernommen, die überalterten Inquisitionen in Kastilien und Aragón zu modernisieren. Fortan bezeichnete die Geschichtsschreibung die Inquisition in Spanien als »Inquisitio moderna«. Atemberaubend modern war sie, die Inquisitionsreform von Torquemada, wie sie uns in seinen »instrucciones« erhalten ist.
Wichtigste Instrucción: Jeder Distrikt der Heiligen Inquisition darf höchstens zwei Inquisitoren beschäftigen, nur in Ausnahmefällen einen dritten. Auch später, als Spanien ein Weltreich geworden war, in dem die Sonne nicht unterging, waren es rund um den Globus nicht mehr als zwanzig Distrikte. Also insgesamt gut vierzig Inquisitoren für die halbe Welt. Aber die werden ihre Arbeit doch nicht allein gemacht haben? Nein. Jedem Inquisitor gestehen die Instrucciones zehn Fulltime-Kleininquisitoren als Mitarbeiter zu. Dazu zählen mehrere Schreiber, der Bote, der Pförtner und der Alguacil, auf Deutsch der Büttel, der die Aufgabe hatte, Ketzer zu verhaften.
Zehn ganz, ganz kleine Teilzeit-Kleinstinquisitoren kommen dazu. Neben dem Kaplan und dem Arzt gehört überraschenderweise auch der Kassierer dazu. Doch darüber später mehr. Jetzt erst einmal die Addition, die der französische Historiker Jean-Pierre Dedieu für das Jahr 1557 vorgenommen hat: für Spanien, Amerika, Asien und die spanischen Besitzungen in Italien insgesamt 600 Inquisitionsbeamte, die Hälfte davon in Teilzeit. Inquisition ja, aber so wenig Inquisition wie möglich. Das ist das Prinzip Torquemada.
Jeder von Euch wird verstehen, dass ich mich als Großinquisitor für die Kollegen vom deutschen Verfassungsschutz lebhaft interessiere. Seit seiner Gründung lasse ich mir von meinen Freunden in Köln die neuesten Zahlen geben. Damals, 1950, waren es erst 83 deutsche Inquisitoren, einen Bestand, gegen den Thomas de Torquemada nichts einzuwenden hätte. Aber jetzt? 2020 waren es schon 4113 vollbeschäftigte deutsche Inquisitionsbeamte. Und das waren nur die im Bundesamt für Verfassungsschutz. Hinzu kommen mindestens ebenso viele in den Landesämtern für Verfassungsschutz. Insgesamt über achttausend vollbeschäftigte deutsche Inquisitoren.
600 Inquisitoren (die Hälfte teilbeschäftigt) für ein Weltreich, in dem die Sonne nicht unterging. 8000 vollbeschäftigte Inquisitoren für den engen Staat Deutschland, in dem die Sonne allzu oft untergeht. Das sind schon zu viele. Viel zu viele.
Hinzu kommen aber noch die Schwärme von Freizeitinquisitoren. Groß ist die Zahl derer, die durch deutsche Städte laufen auf der Suche nach bösen, politisch inkorrekten Straßennamen. Andere sind voll damit beschäftigt, Proseminararbeiten auf fehlende Gendersternchen zu überprüfen und entsprechend schlecht zu benoten. Andere üben daheim vor dem Spiegel den kleinen Gluckser, der das Gendersternchen im Fernsehen dem Volk live vermittelt. Andere kämpfen dafür, nach englischem Vorbild in Universitäten politisch inkorrekte Professoren, ja, sogar Professorinnen culturell zu canceln. Andere wühlen so lange in altem Familiengerümpel, bis sie das kompromittierende Foto gefunden haben: Uroma als feige Mitläuferin beim BDM. Andere lesen sogar wieder Klassiker, aber nur, um sie des Rassismus zu überführen und politisch korrekt umzuredigieren. Andere opfern lieber ihre Freizeit, um in Polizeiwachen Rassisten, in Kasernen Faschisten zu erschnüffeln. Andere laufen von Bäckerei zu Bäckerei auf der Suche nach einem allerletzten, noch nicht korrigierten M-Wort. Andere tun ihr Menschenmögliches, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Verwaltungs- und Aufsichtsräten durch den gesteigerten Einsatz von Quotenfrauen zu verbessern. Anderen ist es sogar gelungen, im Europa-Park in Rust Spuren von wilhelminischem Kolonialismus aufzuspüren. Viel zu viele Amateur-Kleininquisitoren am Werk im politisch korrekt gewordenen Deutschland!
Was diesem Land fehlt, ist ein Torquemada. Ein Großinquisitor, der weiß, dass zu viele Inquisitoren zu viel sind. Groß ist Thomas de Torquemada, weil er die Spanische Inquisition bewusst kleingehalten hat. Einen einzigen Fehler kreide ich ihm an: dass er den Kassierer nicht voll einstellen wollte, sondern nur als Teilzeitinquisitor. Vorurteil eines Mönchs aus einem Bettelorden: mit Geld wollten Torquemada und seine Dominikaner nichts zu tun haben. Geld verachteten sie und haben deshalb ihre Finanzen outgesourct an fromme Laien. Die wiederum haben das Geld der Inquisition an ihre Frauen und vor allem an ihre Kinder outgesourct. Was blieb uns anderes übrig, als über die Ketzer immer milder zu urteilen, in unserem eigenen Interesse immer häufiger nur noch Geldstrafen zu verhängen.
Dabei hatten wir, wenn ich es heute betrachte, absurde Kosten. Am teuersten waren unsere Autodafés. Auf ihnen wurden zwar, anders als in der englischen Polemik dargestellt, keine Ketzer verbrannt. Das überließen wir anschließend dem staatlichen Henker. Dennoch waren diese Ketzertribunale als großes religiöses Theater im Volk, auch bei Hofe, ungemein beliebt. Schon vor dem großen Autodafé von Madrid anno 1680 waren aber manche Inquisitionsdistrikte aus Kostengründen gezwungen, zusammen mit benachbarten Distrikten Sammel-Autodafés zu veranstalten. Das große Autodafé von Madrid wollten wir gar nicht mehr, der König hat es uns aufgezwungen, sozusagen als UNESCO-Kulturerbe für Spanien. Danach waren wir finanziell so ruiniert, dass wir kein einziges Ketzertribunal mehr veranstalten konnten.
So schlecht ging es uns, dass wir begannen, Stellen in der Heiligen Inquisition an die Meistbietenden zu versteigern. Auf die Dauer konnte auch das unsere Kasse nicht sanieren. Nein, nicht an der hemmungslosen Polemik aus London und Paris ist die Spanische Inquisition gescheitert. Um einen Vergleich zu wagen: Wie die Sowjetunion ist auch die Spanische Inquisition von ihren Feinden nie besiegt worden. Sie ist von selber, ja, sie ist an sich selber pleitegegangen.
Das lag daran, dass wir noch nicht grün waren und deshalb von Nachhaltigkeit nichts wussten. Mein dringender Rat an die neue, die politisch korrekte Inquisition: Soll sie zweitausend Jahre lang gut funktionieren, so braucht sie eine nachhaltige Finanzierung.
Wie könnte die aussehen?
Ich sehe dafür nur ein wirklich gutes Modell: ARD/ZDF/Deutschlandradio. Der »Beitragsservice«! Jeder Haushalt im ganzen Land wird, ob er will oder nicht, seinen Beitrag zur Finanzierung der Inquisition leisten müssen. Eine Kirchensteuer ist das, der sich keiner durch Austritt entziehen kann. Wer nicht will, der muss den Offenbarungseid leisten. Bockt er dann noch immer, so muss er in den Knast.
Und das wird nicht der Knast der Spanischen Inquisition sein. In diesem Buch könnt Ihr lesen, wie miserabel unsere Knäste bewacht waren. Ein Ketzer, der nicht ganz auf den Kopf gefallen war, der kam da raus. Rechtzeitig vor dem Autodafé war er weg über die Pyrenäen. Nur als Strohpuppe konnten wir ihn noch vorführen. Jetzt ist das viel besser. Der Beitragsservice von ARD/ZDF/Deutschlandradio kann sich, wenn sich ihm einer ernsthaft widersetzt, auf die freiheitlich-demokratischen Knäste verlassen. Die sind viel solider, viel zuverlässiger als damals die Knäste der Spanischen Inquisition.
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, ob wir für die politisch korrekte Inquisition des 3. und 4. Jahrtausends einen eigenen »Beitragsservice« aufbauen sollen. Groß wären die Synergieeffekte, wenn wir uns einfach mit dem Beitragsservice von ARD/ZDF/Deutschlandradio zusammenschließen würden. Die unabhängige Kommission KEF, die jetzt schon den finanziellen Bedarf von ARD/ZDF/Deutschlandradio ganz sachlich und neutral ermittelt, wird dann genauso sachlich und neutral auch den finanziellen Bedarf der Inquisition ermitteln und ihn einfach bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als Inquisitionsservice draufschlagen.
Keine Angst: Ein großer Aufschlag wird das nicht. Etwas Mönchisches, etwas Spartanisches war immer um die Heilige Inquisition. So viel Geld wie ARD/ZDF/Deutschlandradio hat die Inquisition nie gebraucht, wird sie auch nie brauchen. Ist nicht eine Weile daran gedacht worden, diesen Beitragsservice zur »Demokratieabgabe« hochzuframen? Die Leute fanden das dann aber doch ein bisschen verlogen. »Inquisitionsabgabe« wäre ein ehrlicheres Framing und fände mehr Akzeptanz im zahlungswilligen deutschen Volk.
Wie beliebt waren wir doch im spanischen Volk! Auch das deutsche Volk weiß im Grunde, dass jede noch so offene Gesellschaft ein bisschen Inquisition braucht. Selbst das konfuzianische China ist ja ohne Inquisition nicht ausgekommen:
Es ist jetzt Zeit für das ökumenische Bekenntnis. Öffentlich will ich bekennen, was ich seit Jahrhunderten in meiner Brust verborgen halte. Ich, ja ich, der spanische Großinquisitor, bin ein heimlicher Bewunderer von Martin Luther.
Ähnlich wie wir spanischen Großinquisitoren war auch Martin Luther von der Herkunft aus einem Bettelorden zutiefst geprägt. Zur klassischen Mentalität der Bettelmönche aber gehört ex definitione die Verachtung für das Geld. Unablässig hat Luther in seinen Tischreden das Geld verdammt. Einen ekelhaften »Teufelsgestank« roch er um alles Finanzielle. Dennoch war er, als er 1546 starb, der reichste Mann von Wittenberg. Seinen Erben hinterließ er Grundstücke, Häuser, Gold und Silber für umgerechnet 3 Millionen Euro.
Multimillionär Martin Luther!
Und wir? Wir von der Spanischen Inquisition? Verglichen mit Luther waren wir eine bettelarme Rotte von hungrigen katholischen Kirchenmäusen. Schon vor dem großen Autodafé von Madrid wurschtelten wir uns mühsam durch von einer finanziellen Krise zur andern. So immens war der Aufwand für das große Autodafé von Madrid, dass es uns in den Ruin trieb. Danach konnten wir uns keine einzige Ketzerverbrennung mehr leisten. Und als wir uns im Jahr 1829 selber auflösen mussten, lag das nicht an Voltaires polemischen Schriften. Es war viel banaler: Die Heilige Spanische Inquisition war bankrott.
Warum ist es Luther so gut gegangen, uns so schlecht? Gewiss konnte Luther so wenig rechnen wie wir, ausnützen ließ er sich auch. Doch da war ein Unterschied zu uns. Der Zölibat! Der verdammte Zwangszölibat! Er ist an allem schuld, vor allem am Untergang der Spanischen Inquisition. Ohne seine Frau, ohne Katharina von Bora, wäre Luther noch viel schneller pleite gewesen als wir.
Meine lieben Kleininquisitoren deutscher Nation, wie Euer ganzes Volk seid Ihr davon überzeugt, dass der Zölibat etwas Böses sei. Als Großinquisitor kann ich das bestätigen. Nichts hat der Spanischen Inquisition so geschadet wie der Zölibat. Hätten uns Gattinnen wie Katharina von Bora zur Seite gestanden, es gäbe die Spanische Inquisition noch heute. Ohne Zölibat aber hat die Political Correctness gute Chancen, unsere Wertegemeinschaft zwei Jahrtausende lang zu beherrschen.
I have a dream!
Leuchtend sehe ich sie vor mir. Die lebendige Verkörperung der höchsten Werte unserer Wertegemeinschaft im neuen Jahrtausend. Den Antirassismus, den Antifaschismus in Person. Die endgültige Überwindung des schlimmen Vorurteils, dass nur Männer Inquisition können.
Eine Jeanne d’Arc im immer neuen, im ewigen Kampf gegen das Böse. Gegen Rechts. Auf ihrer Stirn kein kleines Gendersternchen, sondern, neu über der Milvischen Brücke, ein gewaltig leuchtender Genderstern:
»In diesem Zeichen wirst Du siegen!«
Kein alter weißer Mann wie ich, sondern eine junge, strahlend selbstverwirklichte, starke woman of colour. Ihr werden alle Herzen zufliegen, vor ihr werden sich alle Knie beugen. Meine lieben kleinen Kleininquisitoren, in Euer aller Namen beuge ich mein Haupt und mein Knie vor ihr, vor der kommenden Herrscherin über zwei neue, politisch korrekte Jahrtausende.
O Magna Inquisitrix!
Der Großinquisitor tritt auf und spricht:
Lasst mich dort anfangen, wo Dostojewski endet. In jenem russischen Restaurant, in dem Iwan Karamasow seinen Bruder Aljoscha teilnehmen lässt an einer Fischsuppe mit eingelegten Kirschen. Und an seiner blühenden religiösen Fantasie. Es ist die Fantasie von dem bösen greisen Großinquisitor und dem jungen sanften Jesus, der im Kerker der Heiligen Inquisition zu Sevilla schmachtet.
Wortreich hat sich Dostojewskis Großinquisitor vor seinem Gefangenen verteidigen müssen. Doch Jesus würdigt ihn keiner Antwort. Nicht eines einzigen Wortes. »Der Greis möchte, dass Er etwas zu ihm sage, sei es auch etwas Bitteres, Furchtbares. Aber Er nähert sich plötzlich schweigend dem Greis und küsst ihn still auf die blutlosen neunzigjährigen Lippen.«
Soweit Dostojewskis russische Fantasie. Ebenso gut hätte ich Friedrich Schillers deutsche Verse zitieren können oder Giuseppe Verdis italienischen Gesänge. Wo immer der Großinquisitor in dichterischer Fantasie auftritt, ist er neunzig. Genau neunzig Jahre ist er alt und ein blutleer erstarrter, lebensfeindlicher Greis.
Das ist der Grund, warum mir so viel daran liegt, persönlich vor euch zu erscheinen. Nicht vor eurer Fantasie, sondern vor euren Augen. Schaut her! Mit eigenen Augen schaut her! Seht ihr, wie jung ich bin?
Ich bin die Jugend und der Fortschritt in Person. So jung bin ich, wie es die ganze Heilige Inquisition von Anfang an war.
Gewiss behaupten manche, die Heilige Inquisition sei so alt wie Moses. Ja, Moses persönlich habe sie gegründet. Befiehlt er doch wörtlich in seinem dritten Buch: »Wer den Namen des Herrn lästert, der soll des Todes sterben. Die ganze Gemeinde soll ihn steinigen« (Lev. 24,16).
Nach dem nicht ganz falschen Prinzip »Der liebe Gott sieht alles« haben fromme Seelen die Heilige Inquisition sogar noch weiter zurückgeführt, bis zurück zu Adam und Eva. »Wo bist du, Adam?«, fragt Gottes forschende, strafende Stimme gleich nach dem Sündenfall im Paradies (1. Mosis 3,9). Und alsogleich verurteilt er ihn. In einem geheimen Prozess ohne jede Einvernahme von Zeugen. Wie, wäre das nicht schon mitten im Paradies der erste Inquisitionsprozess?
Adam, der erste Mensch und somit der erste Ketzer, Gott selber aber von Anbeginn der Schöpfung der Großinquisitor des Universums? Das ist gut gemeinter Unsinn. Nicht mit Adam, nicht mit Moses hat die Heilige Inquisition begonnen, sondern, historisch präzis, mit Papst Gregor IX. anno Domini 1231.
Beachtet das Jahr! Noch entfaltet sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts das Mittelalter zur Blüte seiner höchsten Dome. Doch schon regen sich auf allen Gebieten des europäischen Lebens, in der Religion vor allem, die Vorzeichen einer neuen und anderen Zeit, der Renaissance. Nichts ist so schöpferisch, so voll von Neuem wie solche Bruchstellen zwischen zwei Epochen. Mit der Stiftung der Heiligen Inquisition durch Papst Gregor IX. endet im Grunde das Mittelalter. Mit der Heiligen Inquisition beginnt – ein epochaler Fortschritt – die Moderne!
Ja gewiss, mit dem nötigen Tiefsinn bedacht, hat es alles schon immer einmal gegeben, »irgendwie« seit Adam und seit Moses schon. »Irgendwie« wird es Ketzerverfolgung – modern gesagt: Verfassungsschutz – seit Anbeginn der Menschheit gegeben haben. Trotzdem war jene Päpstliche Inquisition, die Papst Gregor IX. 1231 ins Leben rief, ein historischer Qualitätssprung: Diese Art der gerichtlichen Verfolgung von religiösen Extremisten war anders als alles zuvor. Sie war aufregend neu und besser.
Zu Unrecht stellen sich die meisten von euch das Leben im dunklen Mittelalter etwa so vor wie den Alltag in einem katholischen Dorf im Wallis oder in Bayern zur Zeit unserer Großväter. Nichts, das falscher wäre. Im frühen 20. Jahrhundert war das katholische Leben geprägt durch strengen Kirchgang, durch lebenslangen Sakramentenempfang und durch unablässige Belehrung der Gläubigen.
Anders im Mittelalter. Im dunklen Mittelalter stand es etwa so wie jetzt wieder, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in katholischen Ländern. Der allgemeine Glaube war katholisch, doch er war so schwach wie die Bereitschaft zum Kirchgang und zum Empfang der Sakramente. Vor allem war die religiöse Bildung jener mittelalterlichen Analphabeten so abgründig schlecht wie das Zeit-online-Wissen postmoderner religiöser Analphabeten. Gewiss wurde schon damals viel über den Klerus gemault. Doch dabei blieb es. So dumpf wie heute brütete das analphabetische Volk vor sich hin.
Einziger Unterschied: Weil das Volk so dumpf vor sich hinbrütete, war die Kirche damals, anders als heute, mächtig. Das lag daran, dass die kirchlichen Institutionen, die Abteien zum Beispiel, aus dem Meer des allgemeinen Analphabetismus herausragten wie rettende Inseln der antiken Hochkultur. So zogen sie die besten Talente an. Und da die Bischöfe und Päpste die Könige und Kaiser krönten, waren sie mächtig.
Eine mächtige herrschende Klasse also und ein dumpf vor sich hinbrütendes Volk. Das ist – nicht nur in der Religion – eine gute Voraussetzung für Ruhe. Soweit es so etwas wie religiösen Frieden überhaupt gibt, herrschte intern in Europa einigermaßen Friede, jahrhundertelang, etwa bis zum schicksalhaften Jahr 1000. Doch dann zog das Gewölk eines religiösen Sturms herauf.
Wie gewöhnlich kam er aus dem Osten. Dorthin segelten die christlichen Kaufleute jetzt viel häufiger als zuvor. Von dort kehrte in arabischer Übersetzung die Weisheit Griechenlands nach Europa zurück. Nicht in die trutzigen Abteien weit draußen auf dem Land, sondern mitten ins städtische Leben, in die vielen neuen Schulen und Universitäten. Und die Kreuzfahrer brachten in ihrem orientalischen Gepäck nicht nur die neuesten Reliquien nach Hause, sondern auch die neuesten östlichen Erleuchtungen.
So kamen auch die Katharer, vermutlich aus Bulgarien, in den Westen. Ihre Priester hießen »Perfecti«, »Perfectae« ihre Priesterinnen. Angeführt von 72 Bischöfen zogen um das Jahr 1200 etwa 5000 solcher »Vollkommenen«, in tiefschwarze Togen gehüllt, durch die Lombardei und die Provincia, das heutige Südfrankreich, seltener auch den Rhein entlang. Und sie predigten finsteren Gesichts, dass es von Anbeginn zwei Götter gebe: den guten Gott, der die geistige Welt erschaffen habe, und den bösen Gott, der die materielle Welt erschaffen habe. Die Bosheit der Materie aber verkörpere sich am schlimmsten in der Sexualität und in der katholischen Kirche. Wer da einmal drinstecke, in der Sexualität und in der katholischen Kirche, der sei verdammt zum endlosen Leidenszyklus der Reinkarnation.
Wie kommen wir da raus? Aus der Sexualität und aus der katholischen Kirche?
Natürlich durch ein reines Leben – »Katharer« heißt »die Reinen« –, insbesondere durch vegetarische Ernährung. Vor allem aber durch das »Consolamentum«. Dieses einzige Sakrament der Katharer, von den Perfecti den Gläubigen auf dem Totenbett durch Handauflegung gespendet, erlöste aus allem Leiden der Reinkarnation.
Klingt alles ein bisschen nach Zarathustra. Nach Indien ein bisschen und nach Tibet auch. Nichts Neues also unter der aufgehenden Sonne.
Aber neu im Abendland. Für die katholische Kirche zumindest war es ein aufregend neues Erlebnis, mit der Sexualität identifiziert zu werden. Ein neues Erlebnis war es auch für die Gläubigen, von anderen Priesterinnen und Priestern eine andere Religion gepredigt zu bekommen. Bisher allgemein verbreitet war nur der Zweifel an der katholischen Lehre. Aber Zweifel ist in der katholischen Kirche nicht strafbar. Gezweifelt haben sogar die Apostel (siehe Johannes 20,25). Zweifeln ist urkatholisch. Hier aber kam im eigentlichen Sinn etwas anderes. Nicht der altgewohnte Zweifel, sondern neu und streng ein anderer Glaube.
Eine Alternative.
Alsbald begann es, von Alternativen zu wimmeln. Längst nicht mehr nur von Katharern. Etwa dreitausend fromme Kommunen, so schätzt man, versuchten sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Norditalien und Südfrankreich im reinen Leben. Manche von ihnen nannten sich Waldenser nach Pierre Valdes, einem Kaufmann aus Lyon.
Der Beruf fällt auf. Auch Franz von Assisi war ja Kaufmannssohn. Offensichtlich schlägt der berufsbedingte Zwang, hinter dem Geld anderer herzulaufen, nicht selten um in Hass aufs Geld. Jedenfalls verteufelten die Waldenser nicht die Sexualität, sondern das Geld. Im Unterschied zu den Katharern, die ihre eigenen Bischöfe hatten, waren diese alternativen Kommunen aber antiautoritär und demokratisch. Sie beriefen sich auch gar nicht auf eine östliche Heilslehre, sondern priesen, ähnlich wie bald danach Franz von Assisi, die Armut als etwas urchristlich Schönes. Ein Irrtum, der, glaubt’s mir, der Heiligen Inquisition noch viel Arbeit machen wird.
Aber vorläufig gibt es sie noch gar nicht, die Heilige Inquisition. Im wirtschaftlichen und kulturellen Kernland Europas, von Mailand bis Toulouse, gibt es erst eine aufregende religiöse Multikultiszene mit den Katharern als hartem ketzerischem Kern. Auf allen Straßen und Plätzen wandeln, schwarz verhüllt, die »Perfectae« und »Perfecti« und verfluchen die Kirche Roms als »Hure Babylons« und »Synagoge Satans«.
Was tun?
Diese Frage, so möchte man glauben, habe sich allen voran die katholische Kirche gestellt. Irrtum. Es war damals mit der Ketzerei so wie heute mit dem radikalen Islam. Obwohl sein aggressives Eindringen nach Europa eigentlich die Kirchen am meisten stören müsste, ist es keineswegs der christliche Klerus, der Alarm schlägt. Das tut vielmehr die weltliche Öffentlichkeit. Das Volk ärgert sich. Die Politiker reden. Die Polizei regt sich sogar. Die Kirche aber hält sich in christlicher Sanftmut zurück.
So war es damals auch. Ähnlich wie heute bildeten sich im christlichen Volk ziemlich rasch zwei Standpunkte heraus, wie mit dem neuen Multikulti umzugehen sei. Rezept Numero eins: Gar nichts tun! Rezept Numero zwei: Alle verbrennen!
Es überrascht kaum, dass Rezept Numero eins vor allem im weltgewandten städtischen Bürgertum befolgt wurde, auch im Adel. Mancherorts mit Erfolg. Gefragt, warum er nicht gegen die Ketzer vorgehe, gab ein katholischer Adeliger aus der Grafschaft Toulouse seinem Bischof Fulko wörtlich dies zu Protokoll: »So etwas können wir nicht tun. Wir sind mit diesen Leuten zusammen aufgewachsen, mit einigen von ihnen sind wir eng verwandt, und wir sehen doch, dass sie ein ehrbares Leben führen.«
Multikulti, wie es sich der Gutmensch von Herzen wünscht. Leider überwog damals wie heute ganz schnell der Ärger.
Seit Jahrhunderten war ja für den mittelalterlichen Menschen der katholische Glaube genau das, was für uns heute die Political Correctness ist. Niemand brauchte ein eifriger Katholik zu sein, ein minimalkatholisches Einvernehmen aber hatte jahrhundertelang Europa so zusammengehalten wie heute der minimaldemokratische Konformismus. Wo dieses Einvernehmen endete, genau da allerdings war jene Grenze der Toleranz erreicht, die jede Gesellschaft braucht. Sogar eine westliche Gesellschaft. Die westliche Gesellschaft des Mittelalters genauso wie die unsrige heute auch.
»Hure Babylons« und »Synagoge Satans«? Es war nicht eigentlich die Beleidigung der Kirche durch die »Vollkommenen«, welche dem christlichen Volk auf die Nerven ging. Über den Klerus lästerten sie alle so gern wie ihr heute. Als unerträglich aber empfanden es Unzählige, dass da etwas radikal anderes feindselig in die europäische Gesellschaft eindrang und das jahrhundertealte minimalkatholische Einvernehmen aggressiv störte. Waren das nicht alles verkappte Terroristen?
Am 16. Februar 1208 wird der höchste Repräsentant der katholischen Kirche in der Provincia – heute Südfrankreich –, der päpstliche Legat Peter von Castelnau, von Katharern meuchlings ermordet.
Schluss jetzt mit Multikulti. Die Stunde hatte geschlagen für Rezept Numero zwei: Bringt sie alle um!
Auf diese Stunde gewartet hatte der König von Frankreich. Was wir heute Südfrankreich nennen, gehörte ihm ja gar nicht. Umso lieber marschierte er dort ein, natürlich nur um des frommen Anliegens willen, nach dem frevlerischen Attentat von Two/Sixteen die katholisch-christliche Grundordnung wiederherzustellen.
So begann – benannt nach der südfranzösischen Stadt Albi – der »Albigenserkrieg«, eines der grausamsten Blutbäder der europäischen Religionsgeschichte. Mit dem Schlachtruf »Tötet alle, Gott wird die Seinen schon erkennen«, metzelte das französische Kreuzritterheer alles nieder, was ihm in den Weg kam, Ketzer und Katholiken allesamt.
Zwanzig Jahre lang, von 1209 bis 1229, dauerte der französische Kreuzzug gegen die »Albigenser«. Zeit genug für die Deutschen, sich ein paar Gedanken zu machen. »So etwas wollen wir bei uns lieber nicht«, war der nächstliegende Gedanke. Sogar im fernen Palermo kam einer zu diesem Schluss: Friedrich II. von Hohenstaufen, Kaiser des römisch-deutschen Reiches und König von Sizilien.
Ausgerechnet Friedrich II.! Er, der sich an seinem sizilianischen »Musenhof« von christlichen, jüdischen und muslimischen Gelehrten multikulturell umschwärmen ließ. Er, der »stupor mundi«, das »Weltwunderwesen« der Offenheit und Toleranz.
Ja, gewiss Multikulti. An seinem sizilianischen Hof Multikulti vom Feinsten. Für die kulturelle Hofierung Seiner Majestät. Aber Multikulti für seine Völker? Multikulti für seine Italiener und gar für seine Deutschen? Um Gottes willen, nein. In welchen Blutbädern das endete, das hatte man ja inzwischen in Toulouse erlebt.
Ausgerechnet Friedrich II., das sagenumwobene Mirakel frühaufgeklärter Toleranz, erließ im Jahr 1224 Ketzergesetze von solcher Strenge, dass sogar die katholische Kirche entsetzt war: Im Regelfalle Verbrennung bei lebendigem Leib, bei stark mildernden Umständen Begnadigung zu bloßem Herausschneiden der ketzerischen Zunge.