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Jörg hat es nicht einfach. Gleich zwei Teenager leben in seinem Haushalt. Seine Tochter Beate hat Liebeskummer und weigert sich, mit ihrem Vater zu sprechen. Sein Sohn Thomas dagegen lässt keine Gelegenheit aus, seinen Vater zu provozieren. Seitdem Jörg mit den Kindern alleine ist, hat sich ihr Verhältnis deutlich verschlechtert. Eines Tages beschließt Jörg, Beate nachzuspüren, um herauszufinden, was sie in ihrer Freizeit treibt. In seinen schlimmsten Vorstellungen denkt er an Alkoholexzesse. Zu seiner großen Überraschung unternimmt Beate in ihrer Freizeit aber ganz andere Sachen... Aus der neuen Perspektive sieht Jörg plötzlich einen völlig anderen, liebenswerten Menschen.NEUES VOM ALTEN TROSTDOKTOR ist ein amüsanter und unterhaltsamer Roman über einen alleinerziehenden Vater, der bemerkt, dass er seine Kinder gar nicht richtig kennt, obwohl er seit über siebzehn Jahren mit ihnen unter einem Dach wohnt. Lise Gast demonstriert in diesem Buch erneut, dass sie Generationskonflikte gefühlvoll und facettenreich darstellen kann, ohne Partei zu ergreifen. Lesenswert! Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-
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Seitenzahl: 101
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Lise Gast
Saga
Neues vom alten Trostdoktor
© 1977 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711514030
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
„Beate!“
Keine Antwort.
„Beate! Mach auf, ich bin’s, Vater!“
Wieder Stille. Jörg Hagemann legte das Ohr an das Holz der Tür. Er hörte Atmen – oder Weinen? Wer konnte das unterscheiden?
Seufzend richtete er sich wieder auf, ging. Beate besaß einen Dickkopf, an dem auch andere gescheitert wären, stärkere als er. Er war zu weich seinen Kindern gegenüber, vor allem der Tochter, das wußte er längst. Diese weiche Welle heute – war sie wirklich gut? Er bezweifelte es.
Seine Frau hätte es richtig gemacht. Sie besaß jene pädagogische Begabung, der alle Moden, harte und weiche Wellen, Zeiten voll Frustrationswarnungen und ähnlichem siegreich überdauert hätte, erzog mit Strenge, Liebe, Geschick und Humor – das heißt, sie hatte so erzogen. Und dann hatte sie plötzlich behauptet, mit siebzehn und neunzehn seien die Kinder fertig, und es würde für sie selbst nun Zeit, sich zu verwirklichen. Damit war sie gegangen.
Dieses „Sich-selbst-verwirklichen“ hatte sie natürlich ironisch gemeint, in Anführungszeichen. Heute war es ja üblich, daß sich Hausfrauen und Mütter selbst verwirklichen und in den Beruf zurückgehen mußten, während sie für ihre Kinder bezahlten, sehr hoch bezahlten, Ersatz-Mütter engagierten, bei denen die Kinder das Wichtigste vermißten, nämlich die Mutterliebe. Luka hätte das nie getan, solange die Kinder klein waren. Vor einem Jahr aber hatte sie sich verabschiedet.
Jörg war sich darüber klar, daß die Selbstverwirklichung nicht der einzige, der ausschlaggebende Grund gewesen war für die Trennung. Sie hatten einen Streit gehabt. In ihrer Ehe gab es viele Streitereien, kleine und größere, aber niemals hatte es bisher eine so ernsthafte Auseinandersetzung gegeben. Immer war es bis dahin ein fröhliches Kreuzen der Klingen gewesen mit darauf folgender Versöhnung, bei der Luka sich ein Rindvieh und ihn einen Rechthaber nannte, wobei offen blieb, was schlimmer zu bewerten war. Diesmal aber war es ein Kampf gewesen, der Wunden hinterließ. Jörg dachte nicht gern daran zurück.
Luka war gegangen. Sie hatte immer eine Reise nach Südamerika vorgehabt, jahrelang darauf gespart, das gesparte Geld wieder ausgegeben, für ihn oder die Kinder oder für eine größere Anschaffung, ohne Opfermiene, in ihrer resolut-herzlichen Art. Und dann fing sie von neuem an zu sparen. Ihr einziger, viel älterer Bruder lebte in Chile. Sie hatten ihn besuchen wollen, seit Jörg sie kannte, niemals war es dazu gekommen. Jetzt war sie drüben, seit einem Jahr.
Jörg stand und grübelte, lange. Hatte er ihr zu wenig Freiheit gegeben, daß sie ausbrach? Hatte er sie nicht genug geliebt? Hätte sie gern mehr Kinder gehabt? Vielleicht.
Rumms – das war Beates Tür, die aufflog.
„Damit du es weißt, du Widerling! Wegen dir komme ich nicht heraus. Aber ich habe eine Verabredung, zu der ich gehe!“
Er hatte sie ganz vergessen. Sie schoß an ihm vorbei, schmetterte die nächste Tür hinter sich zu. ‚Du Widerling‘ – nie hätte ein junges Mädchen der vorigen Generation ihren Vater so genannt. Auch er nicht, obwohl er kein angenehmer Sohn gewesen war, wenn er ehrlich sein wollte. Außerdem – zu seinem Vater? Den hatte er gar nicht gekannt.
Seine Mutter, Schauspielerin, später beim Film und Fernsehen tätig, hatte sich scheiden lassen, ehe er ein Jahr alt war. Vielleicht vererbte sich das wie die hängende Unterlippe der Habsburger oder die Neigung zum Alkohol, vielleicht war seine Familie zu keiner Stetigkeit in Bezug auf den Partner prädestiniert.
Jörg Hagemann seufzte tief und ging in sein Arbeitszimmer hinüber. Der Schreibtisch war vollgepackt, er mochte gar nicht hinsehen. Briefe, Zeitschriften, Zeitungen, Postwurfsendungen, ekelhaft sah es aus. Einmal mußte er sich durch diesen Wust hindurcharbeiten, seit einem Jahr mußte er das selbst tun. Bis dahin hatte ihm Luka das meiste abgenommen, hatte sortiert und beantwortet, vieles für ihn erledigt – oh Luka, Luka! Er kam sich zum zweiten Mal an diesem Tag von ihr verraten und im Stich gelassen vor, er wütete mit ihr, er beschimpfte sie und sehnte sie zurück, so sehr ...
Thomas kam herein. Sein langes Haar sah glanzlos und beinah struppig aus, das fand die heutige Jugend offensichtlich schön. Es hing bis auf die Schultern herab. Dann wenigstens müßte es gepflegt sein, so meinte der Vater. Die Jeans, unten umgeschlagen, waren verblaßt und verschossen. Um den Hals trug der junge Mann ein Amulett am Silberkettchen. Jörg Hagemann holte tief Luft, um etwas zu sagen und schwieg dann doch. Es nützte nichts, es nützte nichts, er wußte es ja.
„Na? Hat Beatchen wiedermal ihren Koller?“ fragte der Sohn und sah den Vater an. Schadenfroh, so meinte Jörg, und er fühlte eine neue Welle ohnmächtiger Wut. Vielleicht war es in Wirklichkeit keine Schadenfreude, die Thomas zu diesem Ausspruch anregte, vielleicht war es sogar Mitleid oder doch ein gewisses Mitgefühl.
„Ja, daß du es weißt.“ Ich spreche schon wie Beate, dachte er bei sich. „Sie hat mich eben Widerling genannt. Ist das ein Kosewort?“ fragte er verbissen.
„Kaum. Sie leidet an Liebeskummer, dünkt es mich.“ Thomas nahm lässig eine Zigarette aus der Packung, die auf dem Schreibtisch lag. Vater Hagemann zuckte zusammen.
„Kannst du nicht fragen?“ sagte er halblaut und versuchte, diese Frage nicht allzu bissig klingen zu lassen. Thomas lachte.
„Klar kann ich fragen. Uns fragt man nicht, ob wir mit Waffen umgehen wollen, wir werden einfach zu so etwas eingeteilt. Aber wegen einer winzigen Zigarette – also: Gestattest du, daß ich rauche, Väterchen?“ sagte er süffisant. Der Vater antwortete nicht. Er ging hinaus. Und die Art, in der er ging, unsicher, mit hängenden Schultern, ohne sich umzusehen, machte den Sohn für einen Augenblick aufmerksam. Alt sah er aus, der Alte – im Grunde war er es noch nicht, noch nicht so sehr jedenfalls. Aber die vorige Generation, kommt einem ja immer uralt vor. Jedoch jetzt auch alt im Gehabe, das war Thomas bisher noch nie aufgefallen. Vielleicht sollte man ihn schonender behandeln, obwohl ...
Ja, er hatte verstiegene und überholte Ansichten. Daß man immer bitte und danke zu sagen hatte, bei Tisch nicht Zeitung lesen und lümmeln durfte und sich anzuziehen hatte, wie kein Mensch heute noch angezogen gehen mochte. Das alles war unzählige Male und bis zum Überdruß diskutiert worden, ohne daß sich die Fronten auch nur um Haaresbreite geändert hätten. Heute aber, so dachte Thomas, machte der Alte keinen kriegerischen Eindruck. Eher einen geschlagenen, wahrhaftig. Wahrscheinlich entbehrte er Mutter eben doch, obwohl er sie damals hinausgeekelt hatte.
Nein, ganz so war es nicht gewesen. Ihn ging es zwar nichts an, worüber sich die beiden Altvorderen stritten, fand der Sohn – und er kam sich dabei recht weitherzig und großzügig vor –, aber man konnte den Vater ja etwas trösten, wenn er sich nun einmal solch ein Pech eingehandelt hatte, man konnte nett zu ihm sein, ihn einbeziehen.
Beates Auftritt hatte am Nachmittag stattgefunden, so gegen vier, halb fünf. Abends um elf war Beate noch nicht zurück.
Hagemann hatte die Zeit am Schreibtisch verbracht, versucht die Rückstände aufzuarbeiten und auch einiges geschafft. Als er, von Hunger getrieben, auf die Uhr sah, war es schon elf Uhr. Gerade ging die Flurtür. Vielleicht war das Beate.
Der Vater stand auf und ging hinaus. Es war nicht die Tochter, sondern der Sohn. Er grüßte kurz und wollte in seinem Zimmer verschwinden. Jörg Hagemann hielt ihn auf.
„Weißt du, wo Beate ist?“
„Nö. Warum?“
„Na, ich finde, es ist spät genug.“
„Sagte sie nicht, sie ginge zu einer Party?“
„Einer Verabredung“, korrigierte der Vater.
„Ist doch egal. Sie wird schon von jemandem gebracht werden. Da kannst du dich drauf verlassen.“
„Von wem denn?“
„Na, halt von einem, der mitgemacht hat. Die bringen die Mädchen schon nach Hause. Gute Nacht.“
Jörg blieb allein zurück. Als er wieder auf die Uhr sah, war es halb eins. Um eins endlich ging die Flurtür zum zweitenmal, und es war Beate, die nach Hause kam. Diesmal ging er nicht hinaus, er horchte, hörte ihre Schritte, die zu ihrem Zimmer führten, die Tür wurde vorsichtig geöffnet und wieder zugemacht. Er ging zum Schreibtisch zurück.
Er setzte sich und begann mit einem wilden Entschluß zu schreiben. Es war nicht der erste Brief an Luka, der sie zurückrief, aber vielleicht der dringlichste. Jörg schrieb und schrieb, bis der Morgen fahlgrau zum Fenster hereinschien. Da stand er auf, fuhr sich über die Augen, und ging, ein wenig schwankend vor Müdigkeit, ins Schlafzimmer. Er warf sich angezogen aufs Bett und war so übermüdet, daß er nicht einschlafen konnte. Eine Weile hing er zwischen Schlafen und Wachen, sah schreckliche Szenen, Haschparties und Alkoholexzesse, wie sie sich sicherlich in Wirklichkeit nicht zutrugen, fuhr auf, suchte mit schlechtem Gewissen nach einer Schlaftablette und als er keine fand, warf er sich wieder aufs Bett. Schließlich zog er sich aus, ging heiß duschen, duschte dann ausgiebig kalt, zog den Schlafanzug an und glättete das Bett, das zerwühlt war, sorgfältig, ja, penibel, ehe er sich hineinlegte. Er schlief bis mittags, stand auf, wusch und rasierte sich und ging dann zum Schreibtisch, wo er den geschriebenen Brief, ohne ihn noch einmal zu lesen, in kleine Stücke zerriß, in den beschrifteten Umschlag zurückstopfte und diesen in die Tasche seines Jacketts steckte. Irgendwo würde er ihn verbrennen.
Der Saal war groß, hell und freundlich. An einem Ende war eine kleine Bühne zu sehen, mehr angedeutet als abgeteilt, davor mit Abstand einige Reihen Stühle. Es saßen da Mütter und Großmütter, vielleicht auch Tanten, natürlich auch Kinder. Kein Mann, nirgends. Jörg Hagemann kam sich etwas verloren vor, als einziges männliches Wesen in einen so ausgesprochen weiblichen Verein geraten zu sein.
Aber er wollte Beate sehen, einmal sehen und beobachten, dort, wo sie häufig hinging und sich also gern aufzuhalten schien, im städtischen Kindergarten. Tagsüber jedenfalls schien sie oft dort zu sein. Thomas hatte davon gesprochen, als er ihn fragte. Nun, Kindergarten, nicht das Dümmste.
„Gesine arbeitet dort“, hatte Thomas erklärt.
Gesine? Wohl eine Freundin, wenn es das heute noch gab. ‚Zeige mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist‘, hieß es doch. Luka hätte sicherlich gewußt, wer Gesine war.
Jetzt kamen die Kleinen herein. Sehr klein noch die meisten, so zwischen drei und sechs Jahren. Das erste wurde von einem jungen Mädchen an der Hand geführt, das Jörg auf Anhieb gefiel: Groß, nicht allzu schlank, eher weich und biegsam, mit langem, dunklen Haar, seitlich gescheitelt, das immer wieder über das Gesicht fallen wollte, was Jörg eigentlich nicht ausstehen konnte. Sie strich es dauernd, mit einer ihr schon unbewußten Bewegung, aus dem Gesicht, in dem zwei ganz dunkle Augen vorherrschten. Zwei schöne, man konnte sagen, zwei wunderschöne Augen. Jörg blickte fasziniert zu dem jungen Mädchen hin, das das Kind sorgsam aber keineswegs auffällig zärtlich an der Hand hielt. Ja, wenn Beate so aussähe!
Er wußte nicht, wie ungerecht er jetzt dachte. Hätte Beate solch langes Haar, so würde er sich ständig darüber ärgern, wie er es bei Thomas tat. Jetzt sah er seine Tochter kommen, den Schwarm Kinder wie eine Herde kleiner Kücken vor sich her scheuchend, „Vorwärts, lauft, meine Kleinen!“ Sie trug, wie fast immer, enge Jeans, ziemlich verschossen, dazu eine helle Bluse. Ihr kurzes, ein wenig storres Haar umrahmte ein jetzt lebhaftes vergnügtes Gesicht, denn im Gegensatz von zu Hause wo sie meist gelangweilt und gleichgültig wirkte, strahlte und lachte Beate hier. Jörg sah sie an.