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Erinnerungen an die Shoah haben sich im Laufe der Zeit immer wieder mit passionsgeschichtlichen Motiven verknüpft. Vor allem wenn es sich um christliche Formen der Erinnerung handelt, drängen sich Fragen auf: Was bedeutet es, wenn eine mit Antijudaismus belastete Erzähltradition als Deutungsmuster dient, um die Shoah zu verstehen? Drei Texte stehen zur Debatte: der sogenannte "Blutruf" (Mt 27,25), die "Seligpreisung der Unfruchtbaren" (Lk 23,29) und der "Schrei der Gottverlassenheit" (Mk 15,34 / Mt 27,46). Ziel ist nicht, diese Texte vom Antijudaismus zu reinigen und eine quasi unschuldige Lesart zu ermöglichen. Stattdessen untersucht die Autorin die Bedeutungsdimensionen der Texte in bestimmten gesellschaftlichen Situationen des 20. und 21. Jahrhunderts.
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Judentum und Christentum
herausgegeben von Ekkehard W. Stegemann
Band 21
1. Auflage 2014
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Reproduktionsvorlage: Andrea Siebert, Neuendettelsau
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-025635-4
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-025636-1
epub: ISBN 978-3-17-025637-8
mobi: ISBN 978-3-17-025638-5
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Für Markus
Im Sommer 2002 begann ich meine Arbeit zum Passionsmotiv in der Holocaust-Erinnerung. Ermöglicht wurde mir dies durch ein Reise- und Forschungsstipendium des Mount Union Colleges in Ohio, an dem ich damals als Assistant Professor arbeitete. Kurz darauf entstanden die ersten Entwürfe für diese Arbeit und ich konnte eine frühe Fassung meines Argumentes an einigen Konferenzen vorstellen. Im Sommer 2003 zog ich von Ohio nach Zürich und trat eine Stelle in der kirchlichen Bildungsarbeit an. Es dauerte einige Jahre, bis ich mein Thema in der Schweiz wieder aufgreifen konnte. Zu verdanken habe ich dies vor allem Ekkehard Stegemann. Er hat mich ermutigt, mein in den USA entstandenes Buchprojekt als Habilitationsschrift neu zu konzipieren und innerhalb der deutschsprachigen neutestamentlichen Exegese zu verorten. Für seinen weiten Horizont und für die sorgsame Begleitung dieser Arbeit danke ich ihm von Herzen. Die gutachterlichen Hinweise von Alfred Bodenheimer, Brigitte Kahl und Moisés Mayordomo haben mir bei der Überarbeitung des Manuskripts sehr geholfen. Das vorliegende Buch ist eine Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Mai 2013 von der Theologischen Fakultät der Universität Basel angenommen wurde.
Während der Arbeit an diesem Buch hatte ich das grosse Glück, ein Jahr an der Harvard Divinity School verbringen zu können. Dort habe ich als Research Associate 2009/2010 im „Women’s Studies in Religion Program“ den zweiten Teil dieses Buches geschrieben. Ich danke Ann Braude, der Direktorin des Programms, sowie meinen damaligen Kollegen und Kolleginnen Benjamin Dunning, Solimar Otero, Lucinda Ramberg und Susan Crawford Sullivan. Sie haben mein Projekt mit einer Fülle von interdisziplinären Impulsen bereichert. Ermutigt haben mich auch François Bovon, Susannah Heschel und Elisabeth Schüssler Fiorenza. Für die freundlichen Gespräche danke ich ihnen herzlich. Dass ich diese Zeit mit meiner Familie in Cambridge verbringen konnte, ist auch der Reformierten Landeskirche Zürich zu verdanken, die meinen Mann für ein Jahr von seiner Pfarrstelle beurlaubt hat.
Ein wichtiges Netzwerk, aus dem heraus diese Arbeit entstand, ist die „Religion, Holocaust, and Genocide Group“ der American Academy of Religion. Ich danke insbesondere Liora Gubkin, Björn Krondorfer, Laura Levitt, Oren Baruch Stier und Katharina von Kellenbach für die vielen hilfreichen Diskussionen. Auch in der Schweiz haben mich Kolleginnen und Kollegen inspiriert, die sich in verschiedenen Zusammenhängen für eine gesellschaftsrelevante Theologie einsetzen. Besonders danken möchte ich Veronika Bachmann, Jeannette Behringer, Andreas Borter, Béatrice Bowald, Moni Egger, Monika Frieden, Esther Kobel, Brigitte Rabarijaona, Simone Rudiger, Jacqueline Sonego-Mettner, Sabine Scheuter, Christine Stark, Esther Straub, Ursula Vock, Christoph Walser und Heike Walz. Marian Ronan und Verena Naegeli haben Teile dieser Arbeit gelesen und mit mir ausführlich diskutiert. Für ihre kritischen Hinweise und für die vielen Jahre der Freundschaft danke ich ihnen herzlich. Meine Doktormutter Laura Levitt hat mich in entscheidenden Momenten an ihren eigenen Fragen zur Holocaust-Erinnerung teilnehmen lassen. Dies war für mich unschätzbar wertvoll. Dass ich diese Arbeit fertig schreiben konnte und dabei trotzdem mitten im Leben stand, habe ich den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der reformierten Kirchgemeinde Zürich-Fluntern zu verdanken.
Jens Vollbert hat sich ohne Zögern bereit erklärt, beim Korrekturlesen zu helfen. Franz Gruss hat für mich ein Gedicht aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt. Beiden sei herzlich gedankt. Für die Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts danke ich Julia Zubcic, Janina Schüle und Jürgen Schneider vom Kohlhammer-Verlag.
Schliesslich danke ich meiner Familie in Aarau, Bremen, Brombach und Wiesloch, die mich mit vielen guten Energien begleitet hat. Meine Tochter Philine hat für mich etliche Bücherregale in der Zentralbibliothek Zürich auseinander gerollt. Mein Mann Markus Felss hat jede Seite dieses Buches engagiert gegengelesen. Für seine bedingungslose Unterstützung meiner Arbeit bin ich ihm zutiefst dankbar. Nicht zuletzt hat er mich davon überzeugt, dass aus den englischen Entwürfen ein auf Deutsch verfasstes Buch werden sollte. Ihm sei dieses Buch gewidmet.
Einleitung
1. Problemstellung
2. Von der Frage nach dem Anti-Judaismus zur post-Holocaust Relektüre
3. Zur Historisierung deutschsprachiger exegetischer Arbeit nach der Shoah
4. Interventionen der neutestamentlichen Forschung nach Auschwitz
Erster Teil „Sein Blut auf uns und unsere Kinder“ (Mt 27,25) Zum Motiv der Kollektivschuld nach der Shoah
1. Die „jüdische Kollektivschuld“ nach der Shoah
1.1 Jules Isaac und die Vorstellung von der jüdischen Kollektivschuld
1.2 Mt 27,25 und die Debatte zum Antijudaismus
1.3 Die „jüdische Schlechtigkeit“ und ein Massaker im Oktober 1942: Eine Relektüre von Jules Isaac
1.4 Auslegungsgeschichten: Mt 27,25 als Teil eines kulturellen Reservoirs
2. Mt 27,25 und die Kollektivschuld der Deutschen
2.1 Die Rede von der Schuld des „deutschen Volkes“:Theodor Heuss, Karl Jaspers und die Stuttgarter Erklärung
2.2 Das „schuldige jüdische Volk“ als Metapher für die Schuld der Deutschen
2.2.1 „Die glückliche Schuld“: Hans Eduard Hengstenberg
2.2.2 „Der Schuld vermählt“: Werner Bergengruen und Gertrud von le Fort
2.3 Mt 27,25 als Deutewort der Nachkriegszeit
2.3.1 „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“: Heinrich Fries
2.3.2 „Es komme die Schuld über uns“: Paul Celan
3. Schuld und Vergebung: Der „Blutruf“ im Deutschland der 1960er Jahre
3.1 Die „soteriologische Argumentation“ in der Exegese von Mt 27,25
3.2 Romain Garys Der Tanz des Dschingis Cohn
3.2.1 Der „ewige Jude“ im Land der Täter
3.2.2 Die jüdisch-deutsche Aussöhnung: Ein Albtraum
3.3 Exegese im Land der Täter und die Rhetorik der Vergebung
4. Schlussgedanken
Zweiter Teil „Selig die Unfruchtbaren …“ (Lk 23,29) Lukanische Bilder der Katastrophe und ihre Rezeption nach der Shoah
1. Zur neueren Auslegungsgeschichte von Lukas 23,27–31
1.1 Jüdische Mütter und das Ende des fleischlichen Israels: Walter Käser (1963)
1.2 Die Emotionalität des Textes und die Unerbittlichkeit der Exegese: Jerome Neyrey (1983) und Franz Georg Untergassmair (1980)
1.3 Jüdische Mütter und Kannibalismus: Gerhard Maier (1992)
1.4 Der empathische Gott und das Bedauern Jesu: Raymond Brown (1993) und François Bovon (2009)
2. Die Seligpreisung der Unfruchtbaren und das Erinnern der Katastrophe
2.1 Klage und Gericht
2.2 Der jüdisch-römische Krieg im Lukasevangelium
2.3 Zum Motiv der στεῖραι in Lk 23,29
2.4 Unfruchtbarkeit als Bild der Zerstörung
3. Die Seligpreisung der Unfruchtbaren: Eine Relektüre nach der Shoah
3.1 Lk 23,29 und die Literatur der Katastrophe
3.2 Charlotte Delbos „Strassen der Ankunft“
3.3 „Strassen der Ankunft“ und die Seligpreisung der Unfruchtbaren
3.4 Christliche Rezeption der Katastrophenliteratur
3.5 Konsequenzen für eine Exegese nach der Shoah
4. Schlussgedanken
Dritter Teil „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34 / Mt 27,46) Der Schrei des Gekreuzigten und die Shoah
1. Exegese und Intertextualität von Mk 15,34 / Mt 27,46
1.1 Ein exegetischer Befund
1.2 Ein Holocaust-Zeugnis als Intertext von Mk 15,34 / Mt 27,46
2. Der Schrei des Gekreuzigten in der jüdischen Literatur bis 1945
2.1 Der Schrei des Gekreuzigten und die Pogrome in Osteuropa: Emma Lazarus (1889) und Israel Davidson (1903)
2.1.1 Der Kreuzesschrei im Spannungsfeld von Assimilation und Protest
2.1.2 Eine umstrittene literarische Praxis
2.2 Ein Schrei ohne Wirkung: Uri Zvi Grinberg (1920–1922) und Itzik Manger (1929)
2.2.1 Der Kreuzesschrei verstummt
2.2.2 Zur Formbarkeit eines biblischen Motivs
2.3 Das Riesenkreuz der Juden und die Shoah: Jizchak Katzenelson (1943–1944)
2.3.1 Die biblischen Bilder versagen
2.3.2 Die christliche Welt wird angeklagt
2.4 Das Grab in der Luft und der gekreuzigte Schrei: Mieczysław Jastrun (1944) und Aaron Glanz-Leyeless (1945)
2.4.1 Die Grenzen des Sagbaren
2.4.2 Die Grenzen des Lesbaren
3. Der Schrei der Gottverlassenheit als Figur christlicher Erinnerungsarbeit
3.1 Der Kreuzesschrei und die Grosse Deportation: Sholem Asch (1945)
3.1.1 Der Schrei als Appell an eine christliche Leserschaft
3.1.2 Der Kreuzesschrei und die Christianisierung der Shoah
3.2 Ravensbrück-Passion: Micheline Maurel (1950)
3.2.1 Die Unzulänglichkeit der Passionsmotive
3.2.2 Unzulänglichkeit und Wirkkraft des Kreuzesschreis
3.3 Christus in Dachau: Johannes Maria Lenz (1960)
3.3.1 Mit Christus leiden und siegen
3.3.2 Der Schrei als präemptive Erinnerungsarbeit
3.4 Eine Hinrichtung in Auschwitz und der Schrei Jesu: Dorothee Sölle (1973)
3.4.1 Gott am Galgen
3.4.2 Ein Schrei der Geburt
3.4.3 Der Schrei als Kommunikationskanal
3.5 Jesu Schrei, Paul Celan und Nelly Sachs: Gerhard Marcel Martin (1994)
3.5.1 Die Anschlüsse von Psalm 22
3.5.2 Ein Anschluss zur Shoah
3.6 Gottverlassenheit und das Warschauer Ghetto: Ulrich Luz (2002)
3.6.1 Die These von der jüdischen Psalmenfrömmigkeit
3.6.2 Klage und Anklage
4. Schlussgedanken
Zusammenfassung und Folgerungen
1. Von Generation zu Generation
2. Holocaust-Erinnerung als Intervention
2.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
2.2 Folgerungen
Literaturverzeichnis
Bibelstellenregister
Personenregister
Den Anstoss für die vorliegende Arbeit gab eine Reihe von Bildern, die im Frühling 2001 in etlichen evangelischen und katholischen Gemeinden in Deutschland verbreitet wurden. Auf diesen Bildern sind die Stationen des Kreuzwegs Jesu in verschiedene Holocaust-Landschaften projiziert. Man sieht Jesus mit dem Kreuz auf der Schulter vor der Eingangsmauer von Auschwitz-Birkenau stehen. Er streckt seine Hand über einen Stacheldraht hin zu einer Gruppe verhüllter Frauen. Auf einem anderen Bild sitzt Jesus am Boden und schaut einer Gruppe von Menschen hinterher, die ihr Gepäck und ihre Kinder einen Stacheldraht entlang tragen. Im Vordergrund steht eine alte Frau. Sie ist als Jüdin gekennzeichnet durch den gelben Stern auf ihrem Mantel. Ein Soldat mit einem Maschinengewehr über der Schulter steht hinter ihr.1
Diese Bilder waren Teil des Ökumenischen Kreuzwegs der Jugend, der seit den 1950er Jahren in vielen Gemeinden in Deutschland im Rahmen der Karwoche gefeiert wird. Wie jedes Jahr veröffentlichte das Jugendhaus Düsseldorf Bild-, Text- und Liedmaterial, das den kirchlichen Gruppen thematische Impulse für die konkrete Gestaltung des Kreuzwegs liefern will. Im Jahre 2001 wurde vorgeschlagen, den Kreuzweg in Verbindung mit der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen zu begehen. Und so kam es, dass in jenem Jahr kurz vor Ostern zahlreiche Jugendliche und Erwachsene im Gedenken an Jesu Gang nach Golgatha durch die Strassen ihres Ortes liefen und sich gleichzeitig an die Opfer der NS-Zeit erinnerten.
Das beschriebene Bildmaterial ist beispielhaft für zwei Gedenkkulturen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend miteinander verschränkt haben. Christliche Erinnerungen an die Passion Jesu wurden seit 1945 immer wieder und auf unterschiedliche Weise mit der Erinnerung an die Shoah verknüpft. Jesu Kreuz wurde als hermeneutische Linse für das Gedenken an Auschwitz benutzt und auch umgekehrt wurde Auschwitz als Impuls genommen, um die Passion Jesu neu zu begreifen. Dieses Phänomen wirft disziplinübergreifende Fragen auf. Das Bildmaterial, das für den Ökumenischen Kreuzweg der Jugend publiziert wurde, tangiert sowohl die christliche Religionspädagogik und Liturgik als auch die Forschung zur Holocaust-Gedenkkultur in Deutschland.2
Die Verschränkung zwischen passionsgeschichtlichen Motiven und der Erinnerung an die Shoah sind – wie ich zeigen will – auch ein Thema für die neutestamentliche Wissenschaft. Mich zwangen die Bilder des Ökumenischen Kreuzwegs 2001 dazu, mein eigenes Problembewusstsein in Bezug auf die neutestamentlichen Passionsgeschichten erheblich zu erweitern. Dass die Passionsgeschichten „nach Auschwitz“ neutestamentliche Fragen aufwerfen, ist natürlich nicht neu. Viele Neutestamentlerinnen und Neutestamentler des 20. Jahrhunderts haben sich mit dem Problem des „Antijudaismus“ in den Passionsgeschichten beschäftigt und wurden dabei oft von der eigenen Betroffenheit über die nationalsozialistischen Verbrechen geleitet. Insbesondere die angebliche Schuld des jüdischen Volkes am Tod Jesu wurde in zahlreichen Veröffentlichungen seit 1945 kritisch zur Debatte gestellt.3 Man fragte, inwieweit dieser aus heutiger Sicht unhaltbare und ungerechte Vorwurf verantwortlich gemacht werden muss für die Gewalt gegen Juden und Jüdinnen im christlich geprägten Europa. Mithilfe der historischen Kritik wurde die in allen vier Evangelien anzutreffende Schilderung einer Beteiligung jüdischer Gruppierungen an der Kreuzigung Jesu hinterfragt, und es wurden etliche Versuche unternommen, die damaligen Geschehnisse und Verantwortlichkeiten so gut es geht zu rekonstruieren.
Nun haben die Passionsgeschichten in den vergangenen Jahrzehnten allerdings eine weitere Entwicklung durchgemacht, die meiner Meinung nach auch die neutestamentliche Forschung betrifft. Eine Exegese der Passionsgeschichten nach der Shoah – so lautet meine Ausgangsthese – muss sich mit der unheilvollen Wirkungsgeschichte dieser Texte beschäftigen und ausserdem mit der Tatsache, dass die Passion Jesu jüdische und christliche Formen der Erinnerung an die Shoah zentral mitgeprägt hat und wahrscheinlich auch in Zukunft weiter mitprägen wird. Die Passionsgeschichten waren in den Worten von John Dominic Crossan „der Nährboden des christlichen Antijudaismus“4, und sie sind ausserdemzu einem wichtigen Vehikel der Holocaust-Erinnerung geworden. Daraus ergibt sich die paradoxe Tatsache, dass eine mit Antijudaismus belastete christliche Tradition Menschen dazu anregt, den Opfern der Shoah zu gedenken.5
Jesu Kreuz vor dem Stacheldraht in Auschwitz ist aus mehreren Gründen zu problematisieren. Vor allem wenn es sich wie beim Ökumenischen Kreuzweg um christliches Material handelt, drängen sich Fragen auf: Was bedeutet es, dass ausgerechnet eine mit Antijudaismus belastete neutestamentliche Erzähltradition als Deutungsmuster dient, um die Shoah zu verstehen? Handelt es sich bei der Verbindung von „Auschwitz und Golgatha“ nicht um eine christliche Vereinnahmung jüdischer Leidenserfahrungen? Und ist eine solche Christianisierung der Shoah nicht letztlich eine Trivialisierung des millionenfachen Mordes an jüdischen Menschen?6
Der jüdische Literaturwissenschaftler James E. Young hat überzeugend dargelegt, dass die Christianisierung der Shoah bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar ist.7 Menschen können die Ereignisse der Shoah nicht wahrnehmen und verstehen ohne die Hilfe der Bilder und Tropen, die ihnen ihre jeweilige Kultur oder ihre Religion zur Verfügung stellen. Das bedeutet, dass die Verbindung zwischen der Passion Jesu und der Shoah immer wieder hergestellt werden wird, ganz egal wie problematisch sie ist, schlicht und einfach deswegen, weil die Passion Jesu im Zentrum des christlich-kulturellen Reservoirs zu finden ist. Dies zu verhindern ist unmöglich.
Möglich und nötig ist es jedoch, ein hermeneutisches und methodisches Repertoire zu entwickeln, mit dem passionsgeschichtlich geprägte Formen der Holocaust-Erinnerung kritisch gelesen und verstanden werden können. Die vorliegende Arbeit stellt sich dieser Aufgabe und konzentriert sich dabei auf drei verschiedene Textstellen innerhalb der neutestamentlichen Passionsgeschichten: auf den sogenannte Blutruf aus dem Matthäusevangelium (Mt 27,25), auf die Seligpreisung der Unfruchtbaren im Lukasevangelium (Lk 23,27–31) und auf den Schrei der Gottverlassenheit, der sowohl bei Markus als auch bei Matthäus erzählt wird (Mk 15,34 / Mt 27,46). Jeder dieser passionsgeschichtlichen Verse war und ist ein Teil der Geschichte der Holocaust-Erinnerung. Ich plädiere dafür, dieses Phänomen mit der gleichen Energie und Sorgfalt zu untersuchen, mit der Neutestamentlerinnen und Neutestamentler in den vergangenen Jahrzehnten dem Problem des Antijudaismus nachgegangen sind.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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