9,99 €
Wer sich als erstes verliebt, hat verloren ...
Die Nacht mit Jason sollte eine einmalige Sache sein. Zoé führt keine Beziehungen, und sie verliebt sich nicht - niemals! Doch dann stehen sich die beiden wenige Tage später plötzlich erneut gegenüber, als sie feststellen, dass ihre besten Freunde in dieselbe Wohnung gezogen sind. Und obwohl Zoé den One-Night-Stand am liebsten vergessen würde, kann sie sich nicht gegen das Kribbeln wehren, das Jasons Nähe in ihr hervorruft. Aber ihr Herz wurde schon einmal gebrochen - kann sie es wirklich ein weiteres Mal aufs Spiel setzen?
"Ich finde keine Worte dafür, wie stark und ergreifend dieser Roman ist!" LA FÉE LISEUSE ET LES LIVRES
Band 2 der fesselnden New-Adult-Reihe aus Frankreich!
Die NEVER-Reihe von Morgane Moncomble:
1. Never Too Close
2. Never Too Late
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 562
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Playlist
Zitat
Prolog
Erster Teil
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Zweiter Teil
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
Dritter Teil
30
31
32
33
34
35
36
37
Epilog
Triggerwarnung
Anmerkung der Autorin
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Morgane Moncomble bei LYX
Impressum
MORGANE MONCOMBLE
Never Too Late
ROMAN
Ins Deutsche übertragen vonUlrike Werner-Richter
Als Zoé mit Jason im Bett landet, steht für sie fest, dass es bei dieser einen Nacht bleiben wird. Doch dann begegnen sich die beiden zehn Tage später plötzlich erneut – in der Wohnung ihrer besten Freunde, die gerade zusammengezogen sind. Zoé ist fest entschlossen, sich von Jason fernzuhalten. Egal, wie attraktiv sie ihn findet, und egal, wie sehr ihr sein Humor gefällt, ihre Vergangenheit hat sie gelehrt, ihr Herz zu beschützen, koste es, was es wolle. Sie führt keine Beziehungen, und sie verliebt sich nicht – niemals. Aber je öfter die beiden aufeinandertreffen und je näher sie sich kennenlernen, desto schwerer fällt es ihnen, die Anziehungs-kraft, die zwischen ihnen herrscht, zu ignorieren. Zoé muss feststellen, dass sich hinter Jasons lockerer Art viel mehr verbirgt, als sie zunächst angenommen hat. Und als er ihr einen Deal vorschlägt, zu dem sie unmöglich Nein sagen kann, muss sie sich fragen, ob sie bereit ist, das eine große Versprechen zu brechen, das sie sich selbst gegeben hat …
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für die stärksten, schönsten und intelligentesten Frauen, die ich kenne:
Agathe, Marie, Doriane, Clara, Lucie, Lydia, Roxanne, Andréa, Audrey.
NEIKED ft. Dyo – Sexual
The Spencer Lee Band – The Wolf
Brigitte – Ma Benz
Dua Lipa – Bad Together
Hailee Steinfeld – Capital Letters
G-Eazy, Halsey – Him & I
Selena Gomez – Only You
Hayley Kiyoko – Girls Like Girls
Shawn Mendes – Mercy
OneRepublic – I Lived
DNCE – Body Moves
Meghan Trainor – All About That Bass
Ed Sheeran – Perfect
Nick Jonas ft. Tove Lo – Close
Ariana Grande ft. Future – Everyday
Olivia O’Brien – Fuck Feelings
Neon Trees – Everybody Talks
DNCE – Be Mean
Demi Lovato – Wildfire
Ariana Grande – Into You
Alessia Cara – Scars To Your Beautiful
DNCE ft. Nicki Minaj – Kissing Strangers
Carly Rae Jepsen – Run Away With Me
Beyoncé – Pretty Hurts
Taylor Swift – Shake It Off
ZAYN – TiO
Shawn Mendes – Mutual
»Dein Seelenverwandter kommt nie friedlich in dein Leben. Er kommt, stellt dich infrage und ändert dabei deine Sicht auf bestimmte Dinge: Danach gibt es ein Vorher und ein Nachher. Es handelt sich nicht um die Person, die du dir vorgestellt hast, sondern um einen ganz gewöhnlichen Menschen, dem es gelingt, innerhalb einer Sekunde dein Leben auf den Kopf zu stellen …«
(Anonym)
Soll ich euch mal was völlig Abgedrehtes verraten?
In der Milchstraße gibt es zwischen zweihundert und vierhundert Milliarden Sterne. Verrückt, nicht wahr? Schaut mich nicht so an, ich wusste es auch nicht. Sarah hat es mir beigebracht.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie sich tatsächlich damit auskennt, sie gibt eben gern ein bisschen an. An der Decke ihres Zimmers kleben ungefähr dreißig Sterne. Sie sind aus Kunststoff und leuchten im Dunkeln. Eigentlich gefällt es mir, auch wenn ich sie immer wieder damit aufziehe, dass sie wie ein Kind ist, das im Dunkeln nicht einschlafen kann.
Sarah und ich kennen uns erst seit fünf Monaten, und doch habe ich den Eindruck, dass es schon eine Ewigkeit ist.
Eine kleine Ewigkeit.
Unser Kennenlernen verlief keineswegs romantisch, was ich ein wenig enttäuschend finde. Tiago, mit dem ich befreundet bin, seit wir klein waren, hatte zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Sarah gehörte nicht zu Tiagos Freundeskreis, sondern kam mit ihrer damaligen Freundin Lise. Wir fühlten uns sofort zueinander hingezogen; sie hielt meine Haare, als ich mich im Garten übergeben musste. So etwas schafft natürlich eine gewisse Verbindung.
Inzwischen, fünf Monate später, sind wir unzertrennlich. Sarah ist wie ein frischer Luftzug: Sie flucht, raucht wie ein Schlot und bricht alle nur vorstellbaren Regeln. Eine wahre Rebellin. Manchmal wünschte ich, ich könnte meiner Umgebung gegenüber genauso gleichgültig sein.
Ich habe sie noch nicht in alles eingeweiht, was bei mir zu Hause los ist, aber sie weiß, dass die Situation ziemlich mies ist. Deshalb hat sie mir angeboten, mich unter ihren Sternen zu entspannen, wann immer es nötig sein sollte.
So wie heute.
»Sind Sterne unsterblich?«, frage ich in die Dunkelheit.
Sarah neben mir bewegt sich nicht und denkt über meine Frage nach. Wir liegen beide auf ihrem ungemachten Bett, ich auf dem Rücken, sie auf dem Bauch. Mein Blick ist an die Decke geheftet, während sie mich beobachtet.
Als ich ihren Blick auf mir spüre, bekomme ich Lust, ihr Haar zu streicheln … ihre Lippen mit meinen Fingerspitzen zu berühren … und den Kokosduft ihrer Haut zu riechen.
Aber ich habe Angst, ihre Signale falsch zu deuten. Wenn ich sie küsse, wirft sie mich vielleicht raus. Eigentlich ist sie nicht so, aber man weiß ja nie.
Im Gegensatz zu ihr, die seit ihrem siebten Lebensjahr weiß, dass sie lesbisch ist, hatte ich lange Zeit meine Zweifel. Während der Schulzeit war ich in Schauspieler verknallt, aber auch in Schauspielerinnen – Emma Watson ist die Frau meines Lebens und wird es immer bleiben. Trotzdem habe ich noch nie ein Mädchen getroffen, das mir so gut gefiel, dass ich sicher sein konnte. Bis Sarah kam.
Und ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich mich verhalten soll. Das ist echt blöd, das kann ich euch versichern.
»Nein. Nach einiger Zeit sterben sie, genau wie wir«, flüstert sie und streckt ihre Hand nach mir aus. »Meine Mutter und ich versichern uns immer, dass wir uns bis zu den Sternen lieben. Irgendwie doof, oder?«
»Finde ich eigentlich nicht«, sage ich, nachdem ich darüber nachgedacht habe. »Bei deiner Mutter ist es in Ordnung. Bei einer Freundin wäre es allerdings wirklich doof. Liebe bis in alle Ewigkeit ist Schwachsinn, der nur erfunden wurde, um vergessen zu lassen, dass der Mensch an sich sehr schnell vergisst.«
Sie schweigt einen Moment und presst die Lippen zusammen.
»Wenn du eines Tages eine berühmte Modeschöpferin bist und ich dich hasse, weil du dich in ein echtes Biest verwandelt hast – wirst du mich dann vergessen?«
Ich verkneife mir ein Lächeln. Es ist gemein, aber ich bin glücklich, dass sie mit Lise Schluss gemacht hat. Lise hat Sarah nicht verdient, denn sie hat sie betrogen.
Damit will ich keineswegs behaupten, dass ich auch nur einen Deut besser wäre. Die beschissene Familie, die ich mit mir herumschleppe, macht mir einen Haufen Probleme. Aber ich bin egoistisch genug, um mir zu wünschen, dass Sarah sich für mich entscheidet.
»Ich nehme an, das hängt von dem Eindruck ab, den du hinterlässt«, murmle ich.
Die zärtliche Berührung ihrer Finger, als sie meine Haare zurückstreicht, elektrisiert mich. Ein Schauder läuft über meine Arme bis hin zu meinen Beinen. Mein Herz schlägt so schnell, dass es mir fast zu viel ist.
Ich schaue sie an und sehe sie lächeln. Es ist ein anderes Lächeln als sonst, nicht ihr berühmtes Grinsen, das »Ich zeig’s euch allen« in die Welt hinausposaunt. Dieses hier ist zurückhaltender und weicher. Irgendwie intimer.
Sarah ist wunderschön. Ihr rabenschwarzes Haar ist lang, viel zu lang, und fällt in seidigen Locken über ihren Rücken. Ihr Mund ist von Natur aus rot, und ihre tiefblauen Augen ertränken das Feuer, das in ihr lodert.
»Ich gebe mein Bestes«, sagt sie mit einem Lächeln, das mein Herz zum Beben bringt.
Ich werde schwach.
Meine Lippen legen sich sanft auf ihre. Ich glaube zu sterben. Zuerst reagiert sie überrascht, doch ihr Körper braucht nicht lange, um sich in meinen Armen zu entspannen. Schon bald spüre ich ihre Zungenspitze an meinen Lippen und öffne den Mund, um sie einzulassen. Meine Hand legt sich um ihren Nacken.
Ich bin dabei, ein Mädchen zu küssen.
Nein. Ich bin dabei, Sarah zu küssen.
Ich bekomme eine Gänsehaut auf den Armen. Sarah grinst und holt tief Luft.
»Okay, das hätten wir geschafft.«
»Entschuldige«, sage ich lächelnd und reibe meine Nase an ihrer.
»Oh nein, entschuldige dich bloß nicht! Ich mag es, wenn du die Initiative ergreifst. In Zukunft solltest du nie mehr zögern.«
Also zögere ich nicht mehr. Wir verbringen den ganzen Nachmittag damit, uns auf ihrem Bett zu küssen, bis ich nach Hause muss. Obwohl ich in meine persönliche Hölle zurückkehre, ist mir ganz leicht ums Herz.
Denn dieses Mal weiß ich, dass alles gut wird.
Ich bin nicht mehr allein.
Folge mir, ich laufe weg
»Ich will mal wieder so richtig flachgelegt werden.«
Tiago hört mir nur mit halbem Ohr zu. Er ist viel zu beschäftigt damit, den Kellner hinter der Bar zu beobachten. Ich runzle die Stirn und folge seinen glühenden Blicken. Der Typ ist zweifellos schnuckelig. Allerdings …
»Er ist hetero«, sage ich und nippe an meinem Cocktail.
Endlich schenkt mir mein bester Freund seine ungeteilte Aufmerksamkeit und errötet. In Wahrheit habe ich nicht die geringste Ahnung, und es ist mir auch egal. Ich will nur, dass er aufhört, diesen Kerl anzustarren, und sich endlich auf mein Problem konzentriert. Schließlich habe ich gerade eine echte Krise, verdammt.
»Quatsch! Wie kommst du darauf?«
Ich zucke lässig mit den Schultern.
»Das sieht man doch.«
»Ja klar, weil jeder weiß, dass alle Schwulen Rosa tragen und tuntig reden«, nörgelt er und spricht dabei so gekünstelt, dass ich grinsen muss. »Man kann es nicht auf den ersten Blick sehen, also halt die Klappe. Und außerdem war es nicht er, den ich beobachtet habe.«
Ich packe sein Kinn und zwinge ihn, in die Richtung des gut aussehenden Kellners zu schauen. Dieser ist gerade dabei, eine Gruppe junger Frauen in kurzen Röcken und High Heels zu bedienen. Als er einer von ihnen in den Ausschnitt schielt, verzieht Tiago das Gesicht.
»Okay, aber das hat nichts zu sagen. Vielleicht ist er bi.«
»Vielleicht. Wie auch immer. Jetzt lass uns endlich über mich reden.«
»Du, du, du. Du willst flachgelegt werden, das habe ich kapiert«, wiederholt er leise und starrt in sein Glas. »Das erzählst du mir schon seit zwei Wochen. Wenn du mit jemandem schlafen willst, dann tu es. Oder aber … warte … willst du etwa mit mir schlafen?«
Ich werfe ihm einen abweisenden Blick zu. Auf den ersten Blick mag Tiago zurückhaltend, manchmal sogar unsozial erscheinen, aber wenn man ihn besser kennt, entdeckt man einen witzigen und sehr intelligenten Mann.
Er hat diesen dunklen und bezaubernden Charme, der einen sofort schwach macht. Er ist groß, schlank und hat braune Augen und schokoladenfarbige Haare, die seidiger sind als meine. In der Abschlussklasse habe ich im Sportunterricht ein Mädchen kennengelernt, das zu mir sagte, als es erfuhr, dass ich sowohl Frauen als auch Männer mag: »Ah, dann bist du also bi! Aber warum hast du dann noch nicht mit Tiago geschlafen?«
Die nächste halbe Stunde habe ich damit verbracht, ihr zu erklären, dass Bisexualität nicht bedeutet, dass man sich zu jeder und jedem hingezogen fühlt.
»Natürlich will ich nicht mit dir schlafen, keine Panik. Es ist nur … In der Weihnachtszeit ist es einfach schwerer zu ertragen.«
Jetzt ist es heraus, ich habe es ausgesprochen. Was bin ich doch für ein Jammerlappen! Aber endlich versteht Tiago, worum es mir eigentlich geht und legt seine warme Hand auf meine. Der ohrenbetäubende Lärm einer Pariser Bar am Abend eines 24. Dezember verschwindet, und einen Moment lang befinden sich nur mein bester Freund und ich in diesem Raum. Ich verbiete mir jedoch, mit meinem Schicksal zu hadern. Es ist Zeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, wie es alle anderen auch tun.
Zumindest heute Abend.
»Tut mir wirklich leid … Aber du musst an dich selbst denken, Zoé. Es ist schon zwei Jahre her.«
Ich winke ab. Schließlich bin ich nicht in diese Bar gekommen, um über Sarah zu reden.
Damals trugen wir gerne alberne Weihnachtspullover und tranken Magners in einer irischen Bar, dem Galway in der Gegend von Saint-Michel. Die Kneipe war unser Hauptquartier. Später legten wir uns vor die Kathedrale von Notre-Dame, um die Sterne – die echten – zu betrachten, anschließend gingen wir über den Pont des Arts zum Louvre.
Trotz allem, was geschehen ist, kommt es keinesfalls infrage, guten alten Gewohnheiten untreu zu werden.
»Weißt du was? Heute Abend wirst du flachgelegt«, verspricht Tiago und leert sein Glas in einem Zug. »Du brauchst es dringender als ich.«
Ich schenke ihm ein dankbares Lächeln und trinke meinen Cocktail aus.
Eigentlich wollte ich heute Abend Violette einladen, die ich an unserer Hochschule, der École supérieure des arts et techniques de la mode, kennengelernt habe und mit der ich mir jetzt eine Wohnung teile, aber sie verbringt die Ferien bei ihrem Vater im Jura. Ich mag dieses Mädchen sehr, obwohl unsere Freundschaft damit begann, dass sie ihr Moussaka über meinen Burberry-Pullover kippte.
Damals schwor ich mir, sie für immer zu hassen, aber als sie bei ihrer Entschuldigung irgendwie – ich weiß nicht mehr, wieso – auf ihr Faible für Colin Firth zu sprechen kam, verzieh ich ihr.
»Ich bestelle uns noch zwei Drinks und bin gleich zurück«, sagt Tiago und verschwindet.
Ich verdrehe die Augen und schaue ihm nach. Dieser Mistkerl lässt mich hier sitzen, um den Kellner genauer unter die Lupe zu nehmen, und glaubt anscheinend, dass ich zu blöd bin, um das zu kapieren. Ich warte lange, aber er kommt nicht wieder.
Na ja, vielleicht ist der Kellner tatsächlich bisexuell.
Irgendwann halte ich es auf meinem Platz nicht mehr aus und beschließe, in der Nähe der Toilette auf Tiago zu warten. Vier Frauen stehen bereits Schlange. Mit verschränkten Armen lehne ich mich an die Wand. Es war eine dumme Idee, herzukommen. Ich hätte es besser wissen müssen.
Ich lausche der Musik und singe im Geist mit, bis eine Art Unterhaltung meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.
»… sie am nächsten Tag anzurufen. Ich meine, okay, ich habe es versprochen. Aber jeder weiß doch, dass das nur eine Floskel ist, und ich kann wirklich nichts dafür, wenn sie das nicht kapiert hat.«
Wie bitte? Ich ärgere mich dermaßen, dass ich mich stirnrunzelnd umdrehe. Rechts von mir stehen zwei Typen an die Bar gelehnt. Der, der gerade gesprochen hat – nennen wir ihn Blondie –, wendet mir den Rücken zu, während der andere ihm gegenüber steht, ihm zuhört, unbestimmt nickt und sich offenbar total langweilt.
»Mm-hm«, antwortet er und dreht sein Glas. »Sie muss wirklich dumm sein, dass sie das nicht verstanden hat.«
Ich meine, einen Hauch Ironie aus seiner Stimme zu hören, bin mir aber nicht ganz sicher.
»Am liebsten hätte ich zu ihr gesagt: ›Mädchen, wenn ich verspreche, dich anzurufen, mir aber deine Nummer nicht geben lasse, kommst du dann nicht von ganz allein drauf, dass es ein Problem gibt?‹ Ich verstehe sowieso nicht, warum sie alle die Sache noch vertiefen wollen. Wenn ich eine Frau zwei Stunden nach dem Kennenlernen mit nach Hause nehme, dann ist doch wohl klar, dass ich nur das Eine von ihr will, oder?«
Ich verkneife mir ein nervöses Lachen, löse mich von der Wand und baue mich mit einer Hand an der Hüfte unmittelbar hinter Blondie auf. Eigentlich habe ich gehofft, dass er meine Anwesenheit spüren und sich umdrehen würde, doch es ist sein Gesprächspartner, der meinen wütenden Blick und meine zusammengepressten Lippen bemerkt. Sein Blick schweift von Blondie ab und heftet sich auf mein Gesicht. Provozierend hebe ich eine Augenbraue, aber nachdem die Überraschung vorbei ist, beginnt er breit zu grinsen.
»Ja, schon klar«, sagt er. »Und weiter?«
Dieser Arsch.
»Deshalb kommen Frauen vom Mars und wir von der Venus. Sie wollen Liebe, wir wollen Sex.«
»Ich glaube, es ist genau umgekehrt, Mann«, sagt der Dunkle. »Frauen kommen von der Venus.«
»Wie auch immer. Wichtig ist an dieser Geschichte nur eins: Schlaf bloß nie mit einer Feministin. Du ziehst immer den Kürzeren. Sie wollte nicht mal, dass ich sie von hinten nehme.«
Der andere grinst und verkneift sich ein Lachen, indem er sich die Faust vor den Mund hält.
»Ich werde mich bemühen, deinem Rat zu folgen, Mann.«
Ganz klar: Dieser Depp amüsiert sich. Während Blondie-der-Liebesguru sich darüber auslässt, dass es die Feministinnen sind, die eines Tages die Welt zugrunde richten werden, nutze ich die Gelegenheit, um dem Schwachsinn ein Ende zu setzen:
»Wow. Danke, Einstein. Man merkt, dass du viel über deine Theorie nachgedacht hast, weißt du.«
Überrascht dreht er sich um. Er ist ein gutes Stück größer als ich, aber ich halte die Stellung und schaue ihn bitterböse an. Ich bin schon den ganzen Abend schlecht gelaunt – das passt jetzt.
»Tut mir leid, aber wir unterhalten uns hier von Mann zu Mann.«
»Eine Unterhaltung zwischen sexistischen Idioten, schon kapiert«, korrigiere ich ihn. Das Grinsen des Dunklen wird noch breiter. »Wenn eine Frau, mit der du geschlafen hast, dich nicht mit Beschwerden belästigen soll, weil du sie nicht anrufst, solltest du vielleicht einfach mit deinen leeren Versprechungen aufhören. Du wirst feststellen, das hat eine geradezu magische Wirkung.«
Blondie öffnet den Mund, um ihn sofort wieder zu schließen und erneut zu öffnen, aber ich komme ihm zuvor:
»Nicht alle Frauen streben ausschließlich nach der großen Liebe, und nicht alle Männer wollen ausschließlich Sex; du bist einfach nur ein von seinem Schwanz besessener Idiot.«
Eine Sekunde lang scheint er überrascht zu sein. Wie vermutet schaltet er auf stur und gibt sich aggressiv, was mich allerdings keineswegs erschreckt. Würde er den Mann kennen, mit dem ich aufgewachsen bin, käme er gar nicht erst auf die Idee, mich mit seinem Gangstergehabe einzuschüchtern.
»Mein Schwanz geht dich absolut nichts an, also verzieh dich.«
Ich gebe mich bitterlich enttäuscht.
»Es fällt schwer, die Wahrheit zu hören, nicht wahr? Ganz besonders aus dem Mund einer Frau.«
»Wo zum Teufel liegt dein Problem?«
Der andere schaut mich unverwandt an, kommt näher und legt seinem Kumpel eine Hand auf die Schulter. Mit einem dämlichen Grinsen rät er ihm, lieber aufzugeben. Der Blödmann schwankt davon, der Dunkle bleibt. Wir fordern uns so lange mit Blicken heraus, dass es allmählich peinlich wird. Aber wenn er davon ausgeht, dass ich einen Rückzieher mache, weil er mich so ansieht, als könne er mich allein mit der Kraft seiner Gedanken ausziehen, dann irrt er sich. Es würde mir nämlich sogar gefallen, wenn er nicht ein solcher Idiot wäre.
»Du solltest mit deinem Kumpel gehen.«
»Der da?«, unterbricht er mich und deutet über die Schulter. »Ich kenne den Kerl überhaupt nicht.«
»Wie bitte?«
Er kommt ein Stück näher, damit ich ihn besser hören kann, und lehnt sich völlig entspannt an die Bar.
»Ich war gerade dabei, eine Whisky-Cola zu bestellen, als er anfing, mir die schmutzigen Details seines letzten One-Night-Stands zu erzählen. Ich will nicht lügen – normalerweise liebe ich solche Einzelheiten, aber nur, wenn es um meine eigenen One-Night-Stands geht.«
Ich höre ihm kaum zu und bin viel zu aufgekratzt, um ihm zu antworten. Während meiner Auseinandersetzung mit dem anderen Kerl hat er sich nämlich im Halbdunkel der Bar aufgehalten, aber jetzt steht er im Licht.
Und ich kann einfach nicht anders, ich muss laut lachen. Also das ist jetzt wirklich der Gipfel. Der Mann blickt mich fragend an.
»Du bist Colin Firth«, stelle ich statt einer Antwort fest und zeige mit dem Finger auf seine Brust.
Ein Lächeln erscheint auf seinen sinnlichen Lippen. Die Situation scheint ihn durchaus zu belustigen.
»Ich weiß zwar nicht, welchen Cocktail du getrunken hast, aber ich hätte gern den gleichen.«
Ist Colin Firth der Gott zweifelhafter Begegnungen? Tatsächlich trägt der Typ den scheußlichsten Weihnachtspullover, den ich je gesehen habe. Marineblau, mit rotem Kragen und grün gestreiften Ärmeln; es tut geradezu in den Augen weh. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Auf der Vorderseite ist ein Weihnachtsbaum mit Augen abgebildet – klar, was denn sonst? –, der fröhlich erklärt: »I don’t want your BALLSon me.«
Noch nie habe ich etwas Kitschigeres gesehen. Und natürlich finde ich es super.
»Ach so!«, begreift er endlich. »Ja, entweder musste es der sein oder der mit dem Weihnachtsmann im Tanga.«
»Ausgesprochen schick.«
»Die Wahl war wirklich schwierig. Doch dann kam ich zu dem Schluss, dass ich sowohl in dem einen als auch in dem anderen unglaublich attraktiv aussehen würde, also …«
Ich verschränke die Arme vor der Brust und hebe eine Augenbraue. Ich habe keine Ahnung, ob er Witze macht oder ob er es ernst meint, aber ich beschließe, ihm auf keinen Fall zuzustimmen. Sein Ego hat das offenbar nicht nötig.
»Ist ›unglaublich attraktiv‹ ein Codewort für ›unglaublich dämlich‹?«
Er lacht, und sein Lächeln strahlt über sein halbes Gesicht. Es ist die Art von ansteckendem Lächeln, bei dem einem warm ums Herz wird. Ich betrachte ihn noch eingehend, als ihm ein Typ auf die Schulter klopft und etwas zu ihm sagt, was ich wegen der lauten Musik nicht verstehen kann.
Das erste, was mir auffällt, ist sein Adamsapfel. Er rollt beim Sprechen jedes Mal so deutlich auf und ab, dass es fast hypnotisierend wirkt. Die Bar ist nur sehr dezent beleuchtet, aber ich kann die braune Farbe seiner makellosen Haut, die Linie seines markanten Kinns und seine sinnlichen Lippen gut erkennen. Ich will es gar nicht erst leugnen, weil ich nämlich kläglich scheitern würde: Sein Körper könnte einen dazu bringen, sich dem Teufel anzubieten.
Ganz einfach, dieser Mann ist die personifizierte Unanständigkeit.
Seine braungoldenen Augen sind mandelförmig geschnitten, und ich stelle mir vor, wie ich die Hand durch sein schwarzes Haar gleiten lasse, das an den Seiten kurz und oben lockig ist. Ich weiß nicht, wo er herkommt, aber mir läuft ein wohliger Schauder über den Rücken.
Mann, das gefällt mir überhaupt nicht.
Er winkt seinem Freund zu, dass er auf dem Sprung ist und dreht sich wieder zu mir um. Trotz meiner giftigen Blicke hat das Lächeln sein Gesicht nicht verlassen. Ich mag keine Leute, die ständig lächeln, denn ich habe immer den Eindruck, dass sie falsch sind.
»Entschuldigung, das war ein Bekannter. Ich bin übrigens Jason. Und du bist …?«
»Nicht dein Typ.«
Damit drehe ich mich um und lasse ihn stehen. Natürlich schwenke ich dabei meinen hübschen Arsch und freue mich, dass ich superenge Jeans trage.
Und wenn er zehnmal an einem 24. Dezember in unserem Hauptquartier herumsteht und obendrein einen Weihnachtspulli trägt – mit diesem Kerl schlafe ich ganz bestimmt nicht.
Ich schlafe mit diesem Kerl.
Ja, schon gut, verurteilt mich nicht!
Ich hasse Alkohol. Ich hasse auch sein Lächeln. Es ist viel zu breit für sein Gesicht, und wie viele Zähne hat er überhaupt? Menschlich ist das nicht.
Ich schaue zu Tiago hinüber, der neben uns mit einem Kerl tanzt. Er ist in guten Händen. Genau wie ich. Elektrische Hände, die überall an meinem brennenden Körpers entlang gleiten und jede meiner Kurven so nachzeichnen, wie Botticelli seine nackte Venus gemalt hat.
Besagter Jason bewegt sein Becken in sinnlichen Wellen gegen mich, seine Nase berührt meine Wange. Ich spüre seinen Atem auf meinen Lippen und frage mich, wieso ich plötzlich hoffe, dass er mich küsst. Schlimmer noch: dass er mich auf dem Vordersitz seines Autos nimmt.
Noch vor drei Stunden habe ich diesen Kerl gehasst!
Als ich früher am Abend unser Gespräch beendete, geriet er durchaus nicht aus der Fassung. Ganz im Gegenteil. Er starrte mich aus einiger Entfernung mit einem amüsierten Grinsen an. Dafür zeigte ich ihm den Stinkefinger.
Normal.
Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass die Geste seine Entschlossenheit noch bekräftigen würde – der Kerl muss ein ernsthaftes psychisches Problem haben. Kein Wunder, dass er genau mein Typ ist.
Deshalb habe ich mir dann auch einen Drink ausgeben lassen. Dann zwei. Dann acht. Irgendwann saß ich auf seinem Schoß und wir sprachen darüber, welcher der Avengers den meisten Sexappeal hat (für mich ist es Iron Man, er tendiert mehr zu Thor: »Warum kann ich nicht auch ein eins achtzig großer Blonder sein?«), über unsere Lieblings-Snapchat-Filter (der Hund, ganz klar) sowie den Namen der Bar, die wir gemeinsam eröffnen würden (»Le Bar«).
Ich erinnere mich nicht einmal mehr daran, wie es dazu kam, dass wir so eng miteinander tanzen.
Plötzlich landen seine Hände auf meinen etwas zu rundlichen Hüften und mein ganzer Körper erbebt. Ich seufze, lehne mich an seine feste Brust und meine Finger erkunden die Muskeln seines warmen Bauchs unter dem grauenhaften Pullover. Bei meiner Berührung zittert er und flüstert an meinem Hals:
»Ab heute betrachte ich Mark Darcy offiziell als meinen neuen Gott.«
Sein Duft vermischt sich mit dem Schweiß unserer beiden verschlungenen Körper. Sanft legt er die Lippen auf meinen weichen Hals. Ich schließe die Augen, während seine Zungenspitze meinen Nacken und die sehr empfindliche Stelle unter meinem Ohr erkundet.
Dies und das Gefühl seines Knies zwischen meinen Oberschenkeln bringen mich dazu, jede Zurückhaltung fallen zu lassen.
»Verdammte Kacke.«
Ohne Vorwarnung schmelze ich seinem Mund entgegen. Unter meinem Ansturm schlingt er einen Arm um meine Taille und stöhnt leise auf. Es ist das erotischste Geräusch, das ich je gehört habe. So verrückt es auch klingen mag – ich wüsste gern, welches Geräusch er macht, wenn er kommt.
Seine Lippen sind weich und schmecken nach Whisky, Schweiß und Zimt. Ich wühle meine Finger in sein lockiges Haar und öffne den Mund. Seine Zunge dringt sofort ein und schmiegt sich zärtlich aber selbstbewusst um meine. Mein Herz erglüht, meine Brüste werden schwer, und ich bekomme am ganzen Körper eine Gänsehaut.
Es ist Gott weiß wie lang her, dass mich jemand in einen solchen Zustand versetzt hat.
Der Kuss wird drängender, und ich vergesse völlig, dass wir uns an einem öffentlichen Ort aufhalten. Als Jason wieder Luft holt, hypnotisieren mich seine angeschwollenen und feuchten Lippen. Ich will sie woanders haben, und ich glaube, ich habe diesen Gedanken laut ausgesprochen, denn seine Pupillen weiten sich.
»Verdammt«, flucht er völlig außer Atem. »Vielleicht hältst du mich ja für ein Arschloch, aber im Gegensatz zu dem Idioten vorhin bin ich immer ehrlich zu den Frauen, die ich mit nach Hause nehme. Zwei Dinge solltest du unbedingt wissen: Erstens möchte ich wirklich gern mit dir schlafen. Und zweitens verspreche ich nicht, dass ich anrufe.«
Ich schlucke mit Mühe. Heute Abend werde ich tatsächlich flachgelegt.
»Wir gehen zu dir.«
»Gott sei Dank.«
Er küsst mich hart und nimmt meine Hand. Wir holen unsere Jacken von der Garderobe, und ich sage Tiago kurz Bescheid, dass ich gehe. Dabei tue ich so, als würde ich die Bedeutung seines amüsierten Lächelns nicht verstehen.
Die Fahrt zu Jasons Wohnung kommt mir schier endlos vor.
Weil wir beide viel getrunken haben und verantwortungsbewusste Erwachsene sind, nehmen wir ein Taxi. Auf dem Rücksitz berühren wir uns nicht. Ich spüre jedoch seine verstohlenen Blicke auf meine eng aneinander gepressten Oberschenkel.
Kaum sind wir ausgestiegen, zieht er mich an sich und küsst mich wieder. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie wir es in den fünften Stock schaffen.
Ich lasse die Finger unter seinen Pullover gleiten, während er den Schlüssel ins Schloss steckt. Meine Güte, dieser Kerl hat wirklich Bauchmuskeln wie aus Beton! Ich schiebe meine kalten Hände unter seinen Gürtel und streichle die Ausbuchtung seiner Boxershorts, was ihm ein heiseres Knurren entlockt.
»Los, lass uns reingehen, sonst machen wir es noch hier auf dem Treppenabsatz.«
»Die Wette gilt«, flüstere ich und gehe vor ihm auf die Knie.
Seine Augen leuchten auf, als ich mich an seiner Hose zu schaffen mache, aber er packt mich an den Schultern und richtet mich auf. Meine Initiative scheint ihn zu überraschen.
»Versteh mich nicht falsch: Ich bewundere deine Selbstsicherheit und ich habe wirklich große Lust darauf, deinen Mund dort zu spüren, aber ich will nicht, dass die Nachbarn etwas davon mitbekommen. Ich muss meinen Ruf eines braven jungen Mannes wahren!«
Er schenkt mir ein flirtendes Lächeln und dreht endlich den Schlüssel im Schloss. Ich zucke die Schultern und trete als Erste ein. Es ist stockdunkel, und ich sehe nichts, aber das ist mir egal. Ich werde mit ihm schlafen und dann verschwinden – und das war’s.
»Also nicht der exhibitionistische Typ?«, frage ich.
»Nicht vor Madame Michot«, erklärt er und zwinkert mir zu.
Ich lächle, doch dann stoße ich einen überraschten Schrei aus, weil er mich hochhebt und gegen die geschlossene Tür drückt. Instinktiv spreizte ich die Oberschenkel, um ihn aufzunehmen, schlinge atemlos keuchend die Beine um seinen Rücken.
Wild küsst er meinen Hals und lässt seine Zunge an meiner Kehle entlang bis in mein Dekolleté gleiten. Zitternd vor Erwartung drücke ich meine Brüste an ihn. Er legt seinen Mund auf das zarte Gewebe meines BHs, während er seine Erektion an meinem pochenden Schritt reibt.
Ein heißer Tsunami überwältigt mich, an dem ich fast ersticke. Mein Begehren ist so groß, dass es schmerzt. Die unerfüllte Sehnsucht bringt mich fast zum Weinen.
»Dein Bett«, keuche ich. »Wo ist dein Bett?«
Er pflückt mich von der Tür und trägt mich in einen Raum, der sein Schlafzimmer zu sein scheint. Erregt küsse ich ihn immer wieder … bis er vor lauter Eile ausrutscht.
Mein Gewicht bringt ihn aus der Balance, und wir fallen wie ein Klotz zwischen ein Sofa und einen Couchtisch. Er flucht leise und fragt mich, ob ich mir wehgetan hätte. WasfüreinverdammterIdiot. Ich brumme, dass es mir gut geht und stehe trotz meines schmerzenden Knies auf. Ich verabscheue Eile.
»Ich denke, ich laufe lieber, okay? Scheint mir sicherer.«
Er nickt, fährt mit den Händen durch mein Haar und küsst mein Ohr, als wolle er mich um Verzeihung bitten.
Wir gehen bis zu einem kleinen Raum, der im Dunkeln liegt. Ich löse mich kurz von ihm, um meine Schuhe auszuziehen und …
… quietsche laut auf, als mein Fuß auf etwas Lebendiges und Haariges tritt.
Das Etwas fiept unter meinen Füßen. Mit der Hand vor dem Mund springe ich hastig aufs Bett und schlage hektisch um mich, wie um eine unsichtbare Spinne loszuwerden. Jason aber sieht keineswegs verängstigt, sondern eher besorgt aus.
»Du hast Han Solo getreten!«, beschuldigt er mich.
»Wie bitte?«, frage ich empört, während er sich hinunterbeugt und das Etwas auf den Arm nimmt.
Ich höre ihn flüstern, bin mir aber nicht sicher, ob er mit mir spricht. Endlich knipst er das Licht an, und ich entdecke ein kleines rotes Pelzknäuel, das sich an seinen Hals schmiegt. Ein Kätzchen. Ich habe ein verflixtes Kätzchen getreten.
Erstaunt sehe ich zu, wie Jason das Tier streichelt. Schon bald kommen zwei weitere Katzenbabys dazu und reiben sich an seinen Beinen. Eines ist schwarz, das andere weiß. In was zum Teufel habe ich mich da hineingeritten?
»Du hast Kätzchen«, stelle ich dümmlich fest.
So etwas habe ich nun wirklich nicht erwartet. Er blickt mich an und lächelt mit allen Zähnen.
»Ja, die Katze meiner Schwester hat vor zwei Wochen geworfen. Und ja, ich weiß, dass sie nicht die gleiche Farbe haben. Frag nicht warum, sie sind da ein wenig empfindlich. Aber sie und ich, wir verstehen uns.«
Mir fehlen die Worte. Sprachlos starre ich ihn an, ehe ich mich räuspere.
»Okay … Und wie hast du ihn eben genannt?«
»Der kleine Unglücksrabe, den du beinahe getötet hättest, heißt Han Solo. Der Schwarze ist Darth Vader, und die kleine Weiße hört auf den Namen Leia. Du kannst ruhig runterkommen, sie sind ganz süß. Das einzige Problem, das ich im Moment mit ihnen habe, ist, dass sie überall hinpinkeln, wenn es ihnen gut geht.«
Na großartig.
Ich habe es nicht so mit Filmen, schon gar nicht mit Science-Fiction, aber ich bin nicht völlig ignorant. Verblüfft starre ich ihn an. Aus welchem Universum kommt dieser Typ?
»Du hast deine Kätzchen also nach Figuren aus Star Wars benannt.«
Seine Augen leuchten auf, und er sieht mich an, als hätte ich das Geheimnis des ewigen Lebens entdeckt. Oh Gott.
Ich bin an einen echten Fan geraten.
»Magst du es?!«
»Nein.«
Ich halte es für besser, ihm sofort den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ich bin hergekommen, um flachgelegt zu werden und nicht, um mit Katzen, die alles vollpinkeln, Star Wars zu schauen.
»Ah.«
Er wirkt ein wenig enttäuscht, aber er erholt sich schnell, setzt das verängstigte Kätzchen auf den Boden und sagt ihm, es solle sich verkrümeln.
»Wenn du es vermeiden könntest, meine Katzen zu ermorden, wäre das wirklich toll«, sagt er, kommt zu mir aufs Bett und legt seine Stirn an meine. »Und wenn es absolut nicht anders geht, nimm am besten Leia. Sie kann eine echte Nervensäge sein.«
Ich bringe ihn mit einem Kuss zum Schweigen. Er soll jetzt bloß nicht mehr reden. Ich möchte, dass er der heiße und arrogante Unbekannte bleibt, den ich in einer Bar aufgegabelt habe, und sich nicht in einen süßen, sexy Nerd verwandelt, der Kätzchen in seiner Wohnung hält.
Er scheint zu verstehen, denn er fängt endlich an, mich auszuziehen. Wie jedes Mal, wenn ich mit jemandem schlafen will, schlägt mein Herz schneller bei dem Gedanken, dass er mich nackt sieht. Es gelingt mir, meinen Schuh auf den Lichtschalter zu werfen und uns wieder in Dunkelheit zu tauchen.
Selbst betrunken möchte ich vermeiden, dass er mich nackt sieht. Zum Glück kommt er damit zurecht.
Er braucht unendlich lange, um mich auszuziehen. Meine Blusenknöpfe machen ihn ungeduldig, und irgendwann reißt er einen Knopf ab. Ich ärgere mich echt, denn diese Bluse hat mich ein Vermögen gekostet.
Als er das gleiche Problem mit meiner Jeans hat, lege ich mich auf den Rücken, um ihm zu helfen. Er zieht daran, ohne die Hose über meine Knöchel zu bringen. In diesem Tempo sind wir morgen früh noch nicht fertig.
»Nun zieh endlich, um Himmels willen!«
»Bin dabei, aber danke für den Tipp«, antwortet er. »Warum musstest du auch eine so enge Jeans anziehen.«
»Leck mich. Du bist wirklich der Letzte, der modische Ratschläge geben sollte, Monsieur-Weihnachtsmann-im-Stringtanga«, fauche ich ihn an und ziehe die Jeans selbst aus.
Er wirft sie irgendwo hin und greift nach meinem schwarzen Spitzenhöschen, das leicht an meinen glatten Beinen hinuntergleitet. Auf meinen Oberschenkeln bildet sich Gänsehaut. Endlich schmiegen wir uns nackt aneinander.
Ich lege Jason die Arme um den Hals, während er eine Spur feuchter Küsse über meinen flachen Bauch zieht. Meine Atmung beschleunigt sich. Als er die Lippen auf meine empfindlichste Stelle legt, höre ich ihn flüstern:
»Möge die Macht mit uns sein.«
Oh. Wow.
Ich liege auf dem Rücken und starre zur Decke hinauf. Reglos und stumm tut Jason neben mir das Gleiche. Bisher hat noch keiner von uns gesprochen. Das Licht ist immer noch aus, und das Einzige, was wir hören, ist das Dauerrauschen des Pariser Straßenverkehrs.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Gehen? Hier schlafen und mit ihm frühstücken? Lieber sterbe ich.
Das Beste wäre, so schnell wie möglich zu verschwinden, aber ich will nicht unhöflich erscheinen. Zumindest bin ich schlagartig nüchtern geworden. Ich beiße mir auf die Lippen und wage es, das Schweigen zu brechen.
»Brauchst du Creme oder geht es so?«
»Ich komme schon klar.«
Na gut. Wenn es nicht so peinlich wäre, würde ich laut lachen.
»Es war …«, murmelt er plötzlich, lässt seinen Satz aber unvollendet.
Ich runzle die Stirn. Erwartet er etwa, dass ich diesen Satz ergänze? Scheiße. Ich zögere einen Moment, ehe ich sage:
»… gut?«
»Ja«, bestätigt er. »Es war … sehr gut.«
Ich presse die Lippen zusammen, ohne etwas hinzuzufügen. Es war – irgendetwas. Jedenfalls werde ich mich den Rest meines Lebens daran erinnern, so viel ist sicher.
Nach einiger Zeit schläft Jason neben mir ein, und ich nutze die Gelegenheit, um mich anzuziehen und hastig zu verschwinden. Ich habe nicht die Kraft, einen nächsten Morgen dieses One-Night-Stands zu ertragen, ihm in die Augen zu schauen und ihn anzulügen.
Es war der schlechteste Sex meines Lebens.
Heute ist zwar der Tag nach einem feuchtfröhlichen Abend, trotzdem klingelt der Wecker meines Handys zur gleichen Zeit wie sonst.
Weihnachten, Neujahr, Dreikönig und der ganze andere Mist sind vorbei. Heute Morgen findet meine letzte Zwischenprüfung statt, und ich habe meine Unterlagen seit … tja, drei Wochen nicht mehr angeschaut.
Mit einem kleinen Missverständnis könnte es noch klappen.
Ich nicke zur Beruhigung und wickele mich aus dem Laken, um die Muskeln meines schmerzenden Rückens zu dehnen. Meine Gelenke knacken, und ich fühle, wie etwas Weiches meinen Knöchel berührt.
Meine drei Kätzchen, Han Solo, Leia und Darth Vader, warten auf ihr Futter. Darth Vader schmiegt sich an mich und hofft auf Streicheleinheiten, aber ich bin immer noch sauer auf die drei und werfe ihm einen bösen Blick zu.
»Heute wird nicht geschmust«, bestimme ich und gehe in die Küche.
Seit die Unbekannte mit den rosa Haaren hier war, »bestrafe« ich die Kätzchen, und zwar mit dem Entzug von Streicheleinheiten und ihres Luxus-Lieblingsfutters. Dafür gibt es auch einen guten Grund, denn sie haben einen großen Teil zur Katastrophe dieser denkwürdigen Nacht beigetragen. Die schmerzenden Spuren trage ich noch immer auf meinem Rücken.
Nachdem ich die Tiere gefüttert habe, rasiere ich mich sehr gründlich und nehme eine ziemlich kalte Dusche, die mich sofort auf Trab bringt. Dann schalte ich den Fernseher ein und frühstücke in Unterwäsche auf dem Balkon meiner Wohnung. Davon lasse ich mich auch durch vier Grad Außentemperatur nicht abbringen.
Als ich die Wohnung gekauft habe, schwor mein Vater, dass ich den Balkon niemals benutzen würde. Weil ich ein ziemlicher Dickkopf bin, zwinge ich mich seither, jeden Morgen dort zu frühstücken.
Als ich gerade mit dem Müsli fertig bin, klingelt das Festnetztelefon. Ich werfe einen Blick auf die Nummer und nehme lächelnd ab.
»Hier spricht Jason Delaunay, Drachenjäger und Seepirat«, sagte ich und lehne mich an den Küchentresen. »Was kann ich für Sie tun?«
Wie ich vermutet hatte, antwortet mir eine Kinderstimme. Nur Mathis ruft mich um diese Uhrzeit an.
»Onkel Jason! Jagst du wirklich Drachen?«, fragt mein fünfjähriger Neffe etwas verunsichert. »Aber es gibt doch gar keine!«
Ich gehe in mein Schlafzimmer, öffne meinen Schrank und klemme das Telefon zwischen mein Kinn und meine Schulter. Wie naiv Kinder doch sind!
»Ja klar, was dachtest du denn? Mädchen sind schließlich ganz wild auf Abenteurer. Aber nicht solche wie Indiana Jones«, füge ich hinzu. »Peitschen sind nur was für Erwachsene. Später wirst du das verstehen.«
Am anderen Ende der Leitung herrscht tiefstes Schweigen – ein Zeichen dafür, dass er nachdenkt. Scheiße, ich kann nicht fassen, dass ich so etwas gesagt habe. Ich bin ein schrecklicher Onkel.
»Verrate bloß deiner Mutter nicht, was ich gerade gesagt habe.«
»Okay!«
Ich stelle mir sein stirnrunzelndes, pausbäckiges Gesicht mit dem lockigen braunen Haar und dem kleinen Wirbel vor, der meine Schwester zur Verzweiflung bringt.
»Hast du noch dein Notizbuch ›Onkels Tipps, wie man Mädchen um den Finger wickelt‹?«
»Ja klar! Ich habe es unter meinem Kopfkissen versteckt, da findet Mama es sicher nicht.«
Hmm. Wenn er eines Tages Erwachsenenzeitschriften verstecken will, sollte ich ihm ein besseres Versteck empfehlen. Glücklicherweise bleibt mir bis dahin noch etwas Zeit.
»Sehr gut, Champion«, sage ich stattdessen. »Dann nimm es jetzt und schreib auf, was ich dir gerade gesagt habe.«
»Drachen jagen?«
»Das auch.«
»Aber ich habe noch nie einen gesehen … Neben dem Haus gibt es nur Tauben. Sag mal, klappt das vielleicht auch mit Tauben?«
»Nein, die Tauben lassen wir schön in Ruhe. Und erst recht die komische Sorte, die sich in eurer Gegend herumtreibt. Nicht, dass du noch die Krätze bekommst.«
Ich höre ihn lachen, obwohl er wahrscheinlich nichts verstanden hat. Julies Stimme mischt sich ein und befiehlt Mathis, sein Müsli zu essen.
»Also gut, du Winzling«, sage ich und ziehe Jeans und ein schwarzes T-Shirt an. »Warum rufst du mich eigentlich so früh an? Ich war gerade dabei, mein Schokomüsli zu essen.«
»Isst du auch Schokomüsli?«
»Na klar. Warte … du etwa auch?!«
Innerlich schüttle ich mich vor Lachen.
»Ja, jeden Tag«, bestätigt er schockiert.
»Wow. Das ist ja verrückt, Mann.«
Benoît, Julies Mann, ruft seinem Sohn zu, dass er sich beeilen soll.
Ich höre, wie Mathis den vermutlich letzten Löffel seines Frühstücks verschlingt und mir mit vollem Mund erklärt:
»Ich wollte dir nur Hallo sagen. Ich gebe dir Mama, sie wollte mit dir reden!«
»Tschüs, Mathis.«
Mein Neffe und ich haben eine ganz besondere Beziehung, vielleicht weil er der erste war – seine kleine Schwester Lea folgte ziemlich bald. Ich habe drei große Schwestern, Julie, Jade und Jessica, aber nur die älteste hat Kinder.
Bis jetzt.
Ich sehe zu, dass ich alle zwei Wochen bei Julie vorbeischaue und gebe Mathis Tipps, wie man zu einem Verführer wird, der die Frauen respektiert – seine Mutter behält mich immer im Blick.
»Hallo.«
Meine Schwester übernimmt das Telefon, und ich erkundige mich, was anliegt, während ich den Tisch abräume. Sie vergewissert sich, dass ich unser Essen heute Abend mit Mama und Jade nicht vergessen habe. Ich antworte ihr, dass ich mich unglücklicherweise daran erinnere.
»Es ist wichtig, dass du kommst. Wir sehen dich viel zu selten …«
»Ja, ja, ich weiß, ich bin ein schrecklicher Sohn, und ihr wollt mich alle enterben. Schon gut, wir sehen uns heute Abend.«
»Pff. Ich hab dich lieb, Blödmann.«
»Ich dich auch, Nervensäge.«
Auch wenn es sich nicht unbedingt so anhört, Julie ist meine Lieblingsschwester.
Meine Favoritin. Ich weiß, dass man keine Favoriten haben sollte, aber wenn ihr mich fragt, haben Leute, die das behaupten, schlicht Angst, für unsozial gehalten zu werden.
Und ich? Mir ist es egal.
Zu meiner Verteidigung ist zu sagen, dass Jessica sich nie die Mühe macht, Zeit mit der Familie zu verbringen; irgendwie hat sie die bittere Pille meiner Adoption nie geschluckt. Ein kleiner Bruder aus der Karibik? Nein, danke.
Was Jade angeht, so ist sie ein kaltes und berechnendes Biest, das immer besser sein will als andere. Klar, dass Julie den Sympathie-Wettbewerb mit Abstand gewinnt.
Abgesehen davon ist mein Leben großartig. Ehrlich. Mein Leben ist der Hammer, ich habe absolut keinen Grund zur Klage. Ich habe eine weitestgehend liebevolle und stabile Familie, eine Wohnung mit Aussicht mitten in Paris, ich studiere das, was mir Spaß macht, und mein Sexleben ist erfüllt.
Ich war noch nie so glücklich, am Leben zu sein.
Loan: Ich muss dich um einen Gefallen bitten.
Ich: Nein, ich schlafe nicht mit dir. Oder warte – es kommt drauf an. Bezahlst du mich?
Loan: Bleib mal zwei Minuten ernst. Violette hat eine neue Macke. Sie will einen Freundeskreis wie in Friends (stell bloß keine Fragen).
Ich verdrehe die Augen und versuche, mein Smartphone vor den Blicken der anderen zu verbergen. Das ist typisch Violette. Ich kenne sie noch nicht so lang; mein bester Freund hat sich erst geraume Zeit nach seiner Trennung von Lucie entschieden, sie mir vorzustellen. Wenn ich alles richtig verfolgt habe, waren sie zunächst nur Nachbarn, wohnen aber inzwischen zusammen.
Wir nennen sie Violan, weil sie unzertrennlich sind. Wie Brangelina, nur weniger stilvoll.
Violettes beste Freundin scheint sich dem Duo angeschlossen zu haben, allerdings habe ich sie noch nicht kennengelernt. Ich vermeide es, die WG zu besuchen, denn dort herrscht ständig eine unterdrückte sexuelle Spannung.
»Findest du nicht auch, Jason?«
»Ähm, doch, absolut«, antworte ich abgelenkt.
Ich habe keine Ahnung, was ich gerade bestätigt habe. Meine Mutter sitzt auf dem Ledersofa im Wohnzimmer und erzählt den Mädchen eine Geschichte. Ich lehne an der Wand, in einer Hand ein Glas, in der anderen mein Handy.
Ich: Okay. Und?
Loan: Sie hat darum gebeten, alle Freunde zusammenzutrommeln. Du, ich, sie, Zoé und Ethan.
Ich: Aber in Friends sind es sechs. Wir sind nur zu fünft.
Loan: Ist doch egal, Jason. Beweg einfach deinen Arsch heute Abend hierher.
Ich: Nur wenn ich Monica sein darf. Und du bist mein Chandler ;-)
Loan: Mich schreckt gar nichts mehr.
Mein dämliches Grinsen weckt sofort die Aufmerksamkeit meiner Mutter. Ich blicke auf und muss feststellen, dass sie und meine Schwestern mich anstarren. Sofort fühle ich mich ertappt und höre auf zu lächeln.
»Ich hoffe, es ist eine Frau, die dich so zum Lächeln bringt«, sagt meine Mutter mit erhobenen Augenbrauen. »Meinetwegen auch ein Mann! Solange du glücklich bist, ist es mir egal, weißt du.«
Immer die gleiche Leier. Meine Mutter ist wie eine zerkratzte Schallplatte. Ich stelle mein Glas ab und greife nach meiner Jacke. Es ist Zeit, dass ich mich auf den Weg mache.
»Er heißt Fabien, und ich liebe ihn, Mama.«
Jade verdreht genervt die Augen. Sie hat nicht den geringsten Sinn für Humor. Meine Mutter gibt mir einen Klaps auf die Hand, als ich mich hinunterbeuge, um ihre Stirn zu küssen.
»Hör auf, dich über mich lustig zu machen.«
»Du machst es mir aber auch immer so leicht.«
Sie will wissen, wo ich hingehe, und Julie verkündet, dass das Abendessen fast fertig ist. Ich hasse es, sie im Stich zu lassen, aber …
»Tut mir leid, aber ich kann nicht bleiben. Loan hat mir gerade eine Nachricht geschickt, dass er auf der Autobahn eine Panne gehabt hat.«
Ich weiß nicht einmal, warum ich mich bemühe, eine so überzeugende Lüge zu erfinden, obwohl ich genau weiß, dass sie mir nicht glauben. Meine Mutter lächelt mich zwar an, aber ich kann ihr die Enttäuschung ansehen. In meinem Hals bildet sich ein unangenehmer Kloß, und ich zögere kurz, ob ich nicht doch bleiben soll.
Doch dann fallen mir die ausführlichen Gespräche über Kaiser- und Dammschnitte ein – etwas anderes hat Julie derzeit nicht auf Lager –, und meine Wahl ist rasch getroffen.
»Gut … dann geh halt. Und grüß mir Loan.«
»Mach ich.«
Ich zwinkere ihnen zu, setze meine Mütze auf und verlasse das Haus. Auf dem Weg zu meinem Auto höre ich hinter mir Schritte auf dem Kies. Meine Schwester Jade läuft mir hinterher und streckt mir etwas entgegen.
»Hier«, sagte sie.
Es ist ein Umschlag. Man muss kein Genie sein, um zu begreifen, was das bedeutet. Ich reagiere empört.
»Willst du mich verarschen? Steck es wieder ein.«
»Mama hat darauf bestanden«, raunzt sie. »Mir gefällt das auch nicht, darauf kannst du Gift nehmen. Aber sie ist überzeugt, dass du von ihr oder Papa kein Geld annehmen würdest. Also hat sie mich gebeten, es dir zu geben. Sie macht sich eben Sorgen.«
»Sollte sie aber nicht. Mir geht es wirklich gut.«
»Du bist arbeitslos, Jason.«
»Ich bin nicht arbeitslos, ich studiere, du kleiner Snob«, antworte ich. »Und mittwochs arbeite ich als Schwimmlehrer an einer Schule. Das bringt etwas ein!«
Jade betrachtet mich ungerührt und etwas blasiert. Sie will nur, dass ich die Klappe halte und den verdammten Umschlag annehme – was ich ganz sicher nicht tun werde.
Ich bin es wirklich leid, dass alle Mitleid mit mir haben, weil ich mich entschieden habe, nicht den gleichen Weg einzuschlagen wie Papa. Und es ist auch nicht so, als würde ich Drogen konsumieren, anstatt zur Uni zu gehen – ich weiß nur noch nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Oder eigentlich doch: Ich will reisen.
Meine Familie hält das allerdings für reine Zeitverschwendung.
»Nimm es.«
»Nein«, sage ich lächelnd. »Aber danke.«
Ich zwinkere ihr ein letztes Mal zu und wende mich ab.
Eines Tages werden sie mich verstehen, da bin ich mir sicher.
Auf dem Weg zur WG vibriert mein Telefon. Ich habe drei Nachrichten, zwei von Margot, einer Freundin, und die andere von »What’s her name again?«, aber ich ignoriere sie und nehme den eingehenden Anruf an.
»Hi. Wo bist du?«, will Loan wissen.
Ich spüre sofort, dass er ein wenig beunruhigt ist. Ich verstehe nicht warum, ich mag Violette sehr. Sie ist viel netter als Lucie, die mir immer zu kühl und zu steif vorkam.
Genau wie Jade hatte sie keinen Sinn für Humor. Ich bin ein Mensch, der Freude am Leben hat, und neige deshalb dazu, meine Zeit nicht mit Spaßbremsen zu verschwenden.
Violette ist wirklich lustig. Also genau genommen hat sie einen ziemlichen Schuss.
»Ich bin auf dem Weg.«
»Cool. Aber eines muss klar sein: Finger weg von Zoé. Kapiert? Ich habe keine Lust auf den Streit mit Violette, wenn du mit ihrer besten Freundin schläfst und ihr das Herz brichst. Also sei so nett und behalte dein Ding in der Hose.«
Ich runzle die Stirn, schüttle den Kopf und bin ein bisschen beleidigt. Klar habe ich mich manchmal gefragt, wie Violettes beste Freundin aussehen mag, aber ist das ein Verbrechen?
Wenn sie jedoch außer Konkurrenz läuft, werde ich sicherlich nicht meinen Kopf riskieren und mit ihr schlafen. Ich hätte viel zu viel Angst, dass Violette ihr menschenfressendes Kaninchen losschickt, damit es meinen Schwanz anknabbert.
»Keine Sorge«, beruhige ich ihn und setze den Blinker. »Nach der katastrophalen Erfahrung vor zehn Tagen habe ich nicht vor, so etwas in naher Zukunft zu wiederholen.«
Loan lacht und ich höre, wie er Violette antwortet, dass er den Käse geschnitten und die Nachos herausgenommen hat.
»War es so schlimm?«
»Noch viel schlimmer. Der schlimmste Sex meines Lebens, Mann. Wenn du meinen Rücken sehen könntest …«
»Was ist mit deinem Rücken?«
Ich seufze, schüttle den Kopf (mir gefallen dramatische Pausen) und antworte mit feierlicher Stimme:
»Es ist noch zu früh für mich, um darüber zu reden.«
Loan lacht erneut und sagt mir, ich soll mich beeilen. Als ich auflege, kommen mir die Erinnerungen an diese denkwürdige Nacht wieder in den Sinn. Es ist nicht das erste Mal in den vergangenen zehn Tagen, und es fängt immer gut an: die langen Beine meiner Unbekannten um meine Taille, ihr Blumenduft und ihr kurzgeschnittenes rosa Haar, das sich auf meinen weißen Laken ausbreitet …
Überwältigend.
Mein Körper erinnert sich noch daran, so viel ist sicher. Aber er erinnert sich auch an den Rest:
– zunächst will ich ein bisschen mit meiner Fitness angeben, trage sie und … lasse sie zwischen Tisch und Couch fallen. Okay, ich muss gestehen, dass ich das ziemlich vermasselt habe;
– anschließend hätte sie beinahe meine Kätzchen zertreten, was, wenn ich jetzt darüber nachdenke, vermutlich zu deren späterer Aufregung beigetragen hat;
– zum ersten Mal seit meinem fünfzehnten Lebensjahr brauchte ich gefühlt drei Stunden, um eine Frau auszuziehen – aber warum musste sie auch eine derart enge Jeans tragen?
– schlimmer noch: Ich bekam das Kondom nicht auf. Ich schäme mich, aber es stimmt. In meiner Eile versuchte ich, es wie in einem Porno mit den Zähnen zu öffnen. Das macht was her, versteht ihr? Und natürlich habe ich es dabei zerrissen. Als ich es mit frustriertem Knurren auf den Boden warf, landete es auf dem Kopf von Han Solo.
Darauf bin ich alles andere als stolz.
Glücklicherweise scheint es ihn nicht allzu sehr traumatisiert zu haben. Schließlich hat die Fremde die Sache in die Hand genommen und ein neues Kondom aus der Tasche geholt, während ich mit dem Kater kämpfte, um ihm das zerrissene aus dem Maul zu zerren.
Als es mir endlich gelang, in sie einzudringen – für eine sehr kurze Zeit war es wie das Paradies auf Erden –, benahmen wir uns irgendwie ungeschickt. Ich weiß nicht, was schlimmer war: zu erkennen, dass sie mir etwas vortäuschte, oder Darth Vader, der sich durch ihr Stöhnen alarmiert auf meinen Rücken stürzte und mich wütend kratzte.
Jedenfalls kann ich nur sagen, dass ich für diesen Monat keinen One-Night-Stand mehr in Betracht ziehe.
Vor der Tür von Loan und Violette nehme ich mir kurz Zeit, um mir mit der Hand durch die Haare zu fahren. Mein bester Freund öffnet mit einem Geschirrtuch über der Schulter.
»Hi. Komm rein.«
Ich werfe einen Blick in die zum Wohnzimmer hin offene Küche und entdecke Ethan, der auf einem der hohen Hocker sitzt. Ehe er unser Freund wurde, war er einfach ein Arbeitskollege von Loan – die beiden sind Feuerwehrleute. Aber ganz ehrlich: Seit Loan und Violette sich kennen, verbringe ich mehr Zeit mit Ethan als mit Loan.
»Wurdest du auch herzitiert?«
Er lächelt und zuckt die Schultern.
»Ich sage niemals nein, wenn es um Friends geht.«
Ich deute mit dem Finger auf ihn.
»Ich warne dich, ich habe als erster meinen Anspruch auf Monica angemeldet. Loan ist Chandler. Violette muss natürlich Phoebe sein, du weißt schon, wegen …«, füge ich hinzu und tippe mir mit dem Finger an die Schläfe. »Und du … ähm … Wie wäre es mit Ross?«
Er runzelt die Stirn und wirft mir einen vernichtenden Blick zu.
»Willst du mich verarschen? Ich bin die geborene Rachel!«
Ich lächle und gebe ihm ein High Five. Loan beobachtet uns erstaunt. In diesem Moment kommt Violette lächelnd in einem lila Tüllkleid auf uns zu. Sie sieht aus wie ein zuckersüßes Bonbon.
Sie gibt mir einen Kuss, und ich lege ihr unter Loans skeptischem Blick den Arm um die Schultern. Ich weiß nicht, ob er selbst bemerkt, dass er die Zähne zusammenbeißt.
»Schön, dass wir alle zusammen sind.«
»Ist Zoé immer noch nicht heimgekommen?« fragt Loan, während er sich ihr unmerklich nähert.
Violette befreit sich aus meiner Umarmung, holt die Gläser und bringt sie ins Wohnzimmer. Ethan hilft ihr dabei.
»Nein, aber sie ist unterwe…«
Wie gerufen klopft es an der Tür. Violette verdreht die Augen und beschwert sich, dass Zoé offenbar schon wieder ihre Schlüssel vergessen hat. Weil ich der Tür am nächsten sitze, stehe ich auf, um zu öffnen.
»Lass nur, ich gehe.«
Dreimal dürft ihr raten.
Nur zu, ratet.
Ganz genau: dieses beschissene Karma.
Ich öffne die Tür und mache mich bereit, Zoé zu begrüßen, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken, als ich erkenne, wer da auf der Schwelle steht.
Oh Scheiße.
Rosa Haare, ein Nasen-Piercing und ein Paar unvergessliche Brüste. Nicht zu vergessen die aufgerissenen Augen, die mich voller Entsetzen anstarren. Zoé ist meine Unbekannte.
Für ein paar Sekunden bleibe ich wie vom Donner gerührt stehen und weiß nicht, was ich sagen soll. Sie schließt die Augen und seufzt desillusioniert:
»Erbarmen! Gebt mir den Gnadenstoß.«
Ich weiß nicht, was ich in einem meiner vorigen Leben verbrochen habe, um das zu verdienen.
Jason steht völlig entgeistert an der offenen Tür. Zumindest ist das die Bestätigung, dass er ebenso wenig Ahnung hatte wie ich. Zu seiner Verteidigung wäre zu sagen, dass er meinen Namen nicht kannte. Zwar kannte ich seinen, aber dieser Blödmann ist bestimmt nicht der einzige Jason in Paris. Wie hätte ich ahnen sollen, dass er Loans Jason war?
Ätzend.
»Hi, Hübscher«, zwinge ich mich, höflich zu sein.
Die Situation ist zwar peinlich, aber Violettes Abend zu ruinieren kommt nicht infrage. Sie ist auch so schon ängstlich genug, und auch wenn Jason und ich sexuell nicht kompatibel sind, können wir vielleicht Freunde werden … Wenn wir uns Mühe geben. Und mit viel Alkohol. Wo ist der Alkohol?
Ich gehe an ihm vorbei. Er beobachtet mich stumm. Ich gebe vor, ihn nicht zu kennen, winke den anderen zu und ziehe meinen Mantel aus.
»Zoé, das sind Jason und Ethan. Leute, das ist Zoé«, stellt meine beste Freundin mich vor.
Ethan schenkt mir ein aufrichtiges Lächeln, das mich fast entspannt. Ich stelle fest, dass er genau so ist, wie Violette ihn beschrieben hat: offen und freundlich. Jason sagt immer noch nichts. Mein demonstrativer Blick zwingt ihn, meinem Beispiel zu folgen und seine normale Miene aufzusetzen, was bei ihm dümmliches Lächeln und lüsterner Blick bedeutet.
»Schön, endlich sind wir komplett«, ruft Violette fröhlich. »Bedient euch, Loan hat Nachos gemacht!«
Wir setzen uns alle an den kleinen Tisch, auf dem der Aperitif bereitsteht. Violette schenkt ein, ohne sich auch nur im Geringsten des allgemeinen Unbehagens bewusst zu sein. Loans Oberschenkel zuckt, Ethan betrachtet pfeifend die Wände, und Jason schaut mich an wie beim letzten Mal, als ich nackt unter ihm lag.
Ich werfe ihm einen unfreundlichen Blick zu. Zwischen uns findet ein stiller Austausch statt, der höchstens drei Sekunden dauert.
Schau woanders hin, wenn du nicht willst, dass ich auf dich losgehe!
Tu dir keinen Zwang an …
Ich würde dir am liebsten den Zahnstocher in die Augen stechen.
Oh wow, entspann dich.
Sag mir bloß nicht, ich soll mich beruhigen!
… Psychopathin.
… Nerd.
Empört wendet er den Blick ab. Der weitere Abend vergeht ohne Zwischenfälle. Trotz Jasons schräger Blicke, wenn er denkt, dass ich nicht hinsehe, entspannt sich die Atmosphäre allmählich. Vor allem dank Violette, die drei Viertel des Gesprächs bestreitet. Das ist ihr Ding.
Wenn sie ein wenig zu weit vom Thema abschweift, greift Loan ganz vorsichtig ein, um sie wieder auf den richtigen Weg zu lotsen. Ich erfahre, dass er Jason seit dem Gymnasium kennt. Das überrascht mich, denn die beiden haben absolut nichts gemeinsam; der eine ist laut und selbstbewusst, der andere eher ruhig und viel zurückhaltender. Aber ich schätze, bei Violette und mir verhält es sich ähnlich.
Gegensätze ziehen sich eben an.
Wir beenden den Abend vor einer Wiederholung von The Voice, und ich will gerade das Eis aus dem Froster holen, als ich aus dem Augenwinkel sehe, dass Jason sich nähert. Sofort spanne ich mich an, und das nicht nur, weil es mir peinlich ist.
Ich hatte vergessen, wie sexy er ist.
»Zoé …«, flüstert er mit verträumtem Blick. »Ein schöner Name.«
Ärgerlich stelle ich die Schale mit dem Karamelleis auf die Theke. Ich will ihn gerade abblitzen lassen, als ich sehe, wie Violette mich von der Couch aus anlächelt, und zwar so ermutigend, dass ich ohne nachzudenken nachgebe.
Liebe macht schwach, das sage ich euch.
Ich drehe mich zu Jason um, der neben mir an der Theke lehnt, und lächle heuchlerisch.
»Hör zu … Die Situation ist nun mal peinlich. Wir hatten Sex, du warst nicht gerade in Bestform, und jetzt stellen wir fest, dass unsere besten Freunde zusammen wohnen. Ich gebe zu, das ist unangenehm. Aber wir müssen das unter den Teppich kehren, denn Violette ist meine beste Freundin, und ich liebe sie, auch wenn sie ein bisschen verrückt ist. Also strengen wir uns an und versuchen, uns gegenseitig schätzen zu lernen. Okay? Und tröste dich, ich halte ganz bestimmt den Mund. Schließlich steht auch mein Ruf auf dem Spiel.«
Seht ihr? Ich bin wirklich bereit, mich einzubringen!
Allerdings findet mein Vorschlag keine Resonanz. Jasons Lächeln verschwindet, er runzelt die Stirn und fragt entrüstet:
»Nicht in Bestform? Soll das ein Witz sein?«
Ich hebe eine Augenbraue und verstehe nicht, worauf er hinaus will. Schließlich lacht er, und ich freue mich schon, so erheiternd zu sein, als ich merke, dass er nur so tut.
Violette, die zu weit weg sitzt, um die Einzelheiten unseres Gesprächs zu hören, hat bereits Herzchen in den Augen.
Ganz leise antworte ich Jason, dass er sich keine Vorwürfe machen muss und dass es »das Wichtigste ist, es zu versuchen«.
Das kriegen wir schon hin.
Nur, dass er es mir jetzt wirklich übel nimmt.
»Nichts für ungut, aber ich bin ausgesprochen gut im Bett!«
»Der Schlechteste von allen.«
»Himmel, die Welt steht echt auf dem Kopf!«, sagt er erneut lachend. »Selbst mein erstes Mal war besser, und dabei hat es nur eine Minute und zweiunddreißig Sekunden gedauert. Deine Bemühungen in allen Ehren, aber ehrlich gesagt hast du alles nur noch schlimmer gemacht.«
Daraufhin sage ich ihm, er soll sich verpissen. Da ihn das keineswegs zu stören scheint, füge ich hinzu: »Ich hoffe, dein Rücken tut richtig schön weh, Arschloch.«
Also wirklich, könnt ihr euch das vorstellen? Dieser Kerl kreuzt einfach hier auf und erklärt laut und deutlich, dass ich schlecht im Bett wäre. Für wen zum Teufel hält er sich? Er kann nicht mal ein Kondom auspacken!
Ich glaube, den letzten Satz habe ich laut ausgesprochen, denn er wird knallrot und faucht:
»Ich war gestresst, okay?«
Ich verdrehe die Augen und reiche ihm den Eisbecher.
»Hier, bitte. Für deinen Rücken.«
Damit drehe ich mich um und schließe mich den anderen im Wohnzimmer an. Violette nimmt mich fast sofort beiseite.
»Na? Die Jungs sind cool, oder? Natürlich sind sie das, ich hab nämlich nur coole Freunde. Schließlich bin ich auch cool, egal was die Leute sagen.«
Erinnert ihr euch, wie ich sagte, dass ich sie liebe und ihr nicht wehtun will?
Tja, ihr kleines Herz wird wohl darüber hinwegkommen müssen. Ich habe nicht die Absicht, die nächsten Jahre damit zu verbringen, diesen Widerling jedes Wochenende zu ertragen, nur weil sie denkt, dass ich ihn mag.
»Jason ist ein Idiot. Ich kann ihn nicht ausstehen.«