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Träume können wahr werden, wenn man nur ganz fest an sich glaubt
Lara und ihre Zwillingsschwester Amelia haben bislang alles miteinander geteilt, allem voran ihre Leidenschaft für Akrobatik. Doch seit sich die Highschool ihrem Ende nähert, scheint sich Amelia immer mehr von Lara zu distanzieren. Lara setzt alles daran, ihr größtes Hobby zum Beruf zu machen und trotz der Vorurteile gegenüber ihrem Gewicht und ihrer Selbstzweifel an einer prestigeträchtigen Akrobatikschule angenommen zu werden. Und als ihre Schwester nicht mal mehr mit ihr trainieren möchte, bleibt ihr keine andere Wahl, als sich kurzerhand einen neuen Partner zu suchen: ihren Nachbarn und Klassenkameraden Casey, der ihr Herz gefährlich schnell schlagen lässt ...
"Morgane Moncomble schreibt Hoffnungsgeschichten. Ihre Bücher sind voller Glücksgefühlmomente, Mutmachworte und Lieblingssätze." CINjA von LESE.LIEBE.LEBE
Außerdem von Morgane Moncomble:
1. Never Too Close
2. Never Too Late
3. Bad At Love
4. Back To Us
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 431
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Playlist
Prolog
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Morgane Moncomble bei LYX
Impressum
MORGANE MONCOMBLE
STILL WITH YOU
ROMAN
Ins Deutsche übertragen von Eliane Hagedorn und Barbara Reitz
Die siebzehnjährigen Zwillingsschwestern Lara und Amelia sind unzertrennlich und haben bislang alles gemeinsam gemacht. Besonders eine Leidenschaft teilen die beiden: die Akrobatik. Schon seit sie klein sind, turnen sie zusammen am Luftring. Aber während es für Amelia nur ein Hobby ist, setzt Lara alles daran, ihren großen Traum zu verwirklichen, an einer prestigeträchtigen Akrobatikschule in New York angenommen zu werden. Dabei hat sie jedoch nicht nur mit Vorurteilen wegen ihres Gewichts zu kämpfen, sondern vor allem mit Selbstzweifeln. Und als sich die Highschool ihrem Ende nähert, wartet noch eine viel schwierigere Herausforderung auf sie: Amelia distanziert sich plötzlich und will nicht länger mit ihr trainieren. Lara bleibt keine andere Wahl, als sich kurzerhand einen neuen Partner zu suchen: ihren Nachbarn Casey, der aus einer Akrobatenfamilie stammt. In der Schule ist er ihr Rivale, aber um gemeinsam zu performen, müssen sie zusammenarbeiten. Doch das fällt Lara alles andere als leicht, denn bei jeder von Caseys Berührungen schlägt ihr Herz auf einmal gefährlich schnell …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
An alle Künstler:innen und Fürsprecher:innen, an die etwas Durchgedrehten, die von einer gerechteren Welt träumen: Habt keine Angst zu schreien, um gehört zu werden.
Lauv – Lonely Eyes
SHINee– Who Waits For Love
Billie Eilish & Khalid – Lovely
BTS – My Time
Ava Mara – So Am I (feat. NCT 127)
Christina Aguilera – Show Me How You Burlesque
Jeremy Zucker – always, i’ll care
Eric Nam – How’m I Doing
Bazzi – I. F. L.Y.
BTS – Save Me
Ariana Grande – fake smile
GOT7 – Just Right
Jeremy Zucker – You were good to me
Halsey – Graveyard
José Feliciano – El Tango de Roxanne
Charlie Puth & blackbear – Hard On Yourself
Zac Efron & Zendaya – Rewrite the Stars
BTS – Epiphany
Als ich elf bin, tritt Nana in mein Leben.
Es ist mein erster Zirkusauftritt als Nachwuchsakrobatin. Die tiefblaue Kuppel des Zelts ragt hoch in den Himmel hinauf, bedeckt mit Sternen, zu denen unverhoffte Wünsche aufsteigen. In dem gedämpften Licht kann ich das Publikum jenseits der Manege nicht sehen, doch die beeindruckten Stoßseufzer verraten mir, dass es da ist.
Und das hat seinen Grund: Alle Augen sind auf mich gerichtet.
Konzentriert lasse ich den Reif um mich kreisen wie ein leuchtendes Lasso. Einmal, zweimal, jedes Mal kraftvoller. Dann schwinge ich mich – ein Bein angewinkelt, den Kopf nach hinten geneigt – plötzlich in die Lüfte wie ein Engel, der gen Himmel steigt. Mein ganzer Körper ist angespannt. Die leise Begleitmusik gibt den Rhythmus meiner Bewegungen und meines Herzschlags vor, der in meinen Ohren widerhallt.
Meine nackten Beine in den glitzernden, paillettenbesetzten Leggings gleiten wie Seide über den Stahl. Jetzt springt auch meine Zwillingsschwester und steigt neben mir in den Luftring. Amelia ist mein perfektes Ebenbild: angefangen bei ihrem langen kastanienbraunen Haar bis zu den haselnussbraunen Augen.
Mein Herzschlag beschleunigt sich, während ich, nur von meinen Oberschenkeln gehalten, den Kopf im Nichts wiege.
Frei und stolz öffne ich die Arme weit, und die Zuschauenden klatschen mir verzückt Beifall.
Sie applaudieren mir, Lara Bailey.
Amelia streckt mir den Arm zu unserer ersten Zweierfigur entgegen. Bei den Proben habe ich das schon tausendmal gemacht. Ich bin bereit. Doch an diesem Abend ist es anders.
Zum ersten Mal taucht Nana auf. Ich sehe sie nicht. Es ist eine kaum wahrnehmbare Stimme, die ich erst später in Erinnerung an das Kuscheltier, das ich als Baby so sehr liebte, Nana nennen werde.
Huh … das sieht aber echt gefährlich aus. Weißt du wirklich, was du da tust?, fragt sie.
Ich verstehe nicht auf Anhieb, was los ist. Meine Hände beginnen zu zittern. Mein Herz zerspringt fast. Ein Schweißtropfen läuft mir über die Schläfe. Ich werfe einen Blick hinab ins Nichts unter uns und plötzlich fürchte ich mich. Es gibt zwar ein Netz für den Notfall, aber das ändert nichts.
Je größer meine Angst wird, desto lauter wird die Stimme.
Du fällst bestimmt. Wir fallen. Du reißt uns in den Tod!
Es gibt ja ein Sicherheitsnetz. Alles wird gut gehen. Ich falle nicht. Und selbst wenn. Selbst wenn das passiert, würde ich nicht sterben … stimmt’s?
Hmm. Denk an Tante Bertha, alles war gut, und dann mit einem Mal von heute auf morgen, zack! Geh lieber auf Nummer sicher.
Bei der Erinnerung an meine Tante erstarrt mein Körper. Meine Tante ist gestorben. Was mache ich hier eigentlich? Was, wenn ich nun vor aller Augen abstürzen und zwischen den Netzen hindurchfallen würde?
Schlimmer noch: Was, wenn du Amelia fallen lassen würdest?
Was? Nein, nein, nein …
Ich an deiner Stelle würde bis sechzig zählen und dabei die ungeraden Zahlen überspringen. Man weiß ja nie.
Was? Und wozu soll das gut sein? Alle Blicke sind auf mich gerichtet, ich muss mich bewegen, etwas tun.
Vertrau mir.
Ich gerate in Panik. Was ist hier los? Wie immer scheint meine Schwester meine Gedanken zu lesen und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln, während sie auf meine nächste Bewegung wartet. Ich bin nicht sicher, ob ich sie ausführen kann. Soll ich wirklich bis sechzig zählen? Ich bin nervös und habe das Bedürfnis, es doch zu tun.
Mein Herzschlag hallt zu laut in meinen Ohren wider, ich kann kaum atmen, bekomme keine Luft mehr, gerate in Panik …
»Lara«, flüstert Amelia, »sieh mich an.«
Ich gehorche. Dann wirft sie mir einen Blick zu, den ich sofort verstehe. »Du kannst das. Ich vertraue dir. Wir beide zusammen.«
Pah, Unsinn. Tu, was ich dir gesagt habe, das ist besser.
Voller Angst versuche ich, die Stimme zum Schweigen zu bringen.
Dann reiche ich Amelia entschlossen die Hand, und wie durch einen Zauber verstummt die Stimme. Wir führen unsere Performance reibungslos durch. Als meine Füße erneut den Boden berühren, fällt die Anspannung von mir ab. Ich kann nur mit Mühe verhindern, mich auf den Sand zu übergeben.
Ich habe es geschafft. Ich war phänomenal. Ich bin nicht gestürzt, und das alles habe ich Amelia zu verdanken.
In dieser Nacht entschied ich mich, ihr zu vertrauen.
Solange sie an meiner Seite ist, kann ich alles schaffen. Weil sie meine bessere Hälfte ist.
Und ich? Ich bin auch noch da. Ich bin auch ein Teil von dir. Also, sind wir Freundinnen?
Ich verlasse das Big Top, das große Zirkuszelt, und gehe in das benachbarte, in dem die Logen untergebracht sind. Amelia hüpft vor Freude, freut sich über unseren Erfolg, während in der Manege die Jongliernummer beginnt.
Ich versuche, die Stimme in meinem Kopf zu ignorieren, doch sie will nicht schweigen.
Hallo? Bist du da? Du kannst mich nicht ignorieren, weißt du. Ich bin du.
Ich bin nicht sicher, ob …
Looos, deinen Erfolg heute Abend hast du mir zu verdanken! Glaubst du, ich hätte nicht gehört, dass du gezählt hast, wie ich es dir geraten habe?
Ich spüre die Hitze in meine Wangen steigen, meine Hände zittern. Stimmt. Ich habe tatsächlich gezählt. Nur einmal, für alle Fälle. Das ist nicht schlimm. Das tut meinem Vertrauen zu Amelia keinen Abbruch.
Die Welt da draußen ist gefährlich für ein kleines Mädchen wie dich. Wenn wir Freundinnen werden, beschütze ich dich.
Ich schlucke, fühle mich plötzlich unwohl in meinem roten Trikot. Schließlich gehe ich kein Risiko ein, oder? Im Gegenteil.
»Gut … einverstanden.«
Super! Alles wird gut, du wirst schon sehen. Solange du machst, was ich dir sage, wird alles gut.
Alles wird gut.
Sechs Jahre später
Ihr findet euer Leben traurig? Vor einer Woche dachte ich noch, ich wäre in meinen besten Freund verliebt.
In meinen besten schwulen Freund.
Der jetzt mit meinem anderen besten Freund zusammen ist.
Ja, ich weiß, in diesem Moment fragt man sich wirklich, wie ich so naiv sein konnte, das nicht zu ahnen. Die Blicke, die sie einander in aller Öffentlichkeit zuwerfen, sind wirklich schamlos. Echt, manchmal habe ich den Eindruck, sie vergessen, dass ich auch im Raum bin.
Ehrlich gesagt habe ich mich schneller davon erholt als erwartet … Ich freue mich für sie, auch wenn sie in meiner Gegenwart noch zurückhaltend sind.
Ambrose will es zwar nicht zeigen, aber er hat noch immer Schuldgefühle, weil er mich hat abblitzen lassen. Aber eigentlich habe ich superschnell damit abgeschlossen. Als ich gesehen habe, wie sehr Matthew und Ambrose sich lieben, habe ich schnell kapiert, dass meine Gefühle für Letzteren mit ihren überhaupt nicht vergleichbar sind.
Sie sind wie füreinander geschaffen, das ist ganz offensichtlich, und wer auch immer das Gegenteil behauptet, wird mit Mary und Curie, das heißt mit meinen beiden Fäusten, Bekanntschaft machen.
Und außerdem passt das eigentlich alles recht gut, ich habe ohnehin keine Zeit für einen Freund. Viel zu viel zu tun.
Wenn man vom Teufel spricht … Während ich Dehnübungen an meinem Luftring mache, bekomme ich eine Textnachricht von Matthew. Ich unterbreche mein Aufwärmtraining, blase mir eine rebellische Haarsträhne, die sich aus meinem Knoten gelöst hat, aus dem Gesicht und werfe einen Blick auf die Nachricht.
Ich vermisse dich jetzt schon.
Wie süüüüüß! Aber ich glaube, du hast dich in der Nummer geirrt.
Oh Scheiße. SORRY.
Ich lache belustigt auf, mein Hals ist schweißverklebt, aber ich schicke einen Screenshot der Nachricht an unsere Dreiergruppe. Ambrose antwortet mit einem vor Lachen weinenden Emoji, dann mit dem Affen, der sich die Augen zuhält.
Matthew: Du hättest mich ja nicht gleich verpfeifen müssen, Bailey.
Lara: Ich dachte, ich würde dir wirklich fehlen … Bin zugegebenermaßen etwas enttäuscht.
Ambrose: Du fehlst uns! Sag es ihr, Matthew.
Matthew: Na klar, du fehlst uns schon jetzt. Was sind Athos und Aramis schon ohne D’Artagnan? Zwei arme Musketiere, an die sich niemand erinnert.
Ich weiß, dass es stimmt, aber ich ziehe sie gerne etwas auf. Obwohl ich im Grunde fürchte, die Dinge könnten sich verändern. Trotz unserer Freundschaft waren Matthew und Ambrose immer ein eigenständiges Duo. Schon als wir noch klein waren, erzählten sie sich Witze, die ich nicht verstand. Und nie konnte ich mich durch einen einzigen Blick mit den beiden verständigen, so wie sie es untereinander tun.
Und ich dachte damals, das läge daran, dass ich ein Mädchen bin. Wie sehr ich mich doch getäuscht habe!
»Lara Bailey! Deine Schwester ist da«, ruft meine Mutter von der Haustür aus.
Mein Herz überschlägt sich. Schnell tippe ich eine Antwort »AMELIA IST DA, BYE« und renne, noch immer in Leggings und Bandeau-Top, auf den Flur.
Amelia ist zurück. Meine Zwillingsschwester, mein Ein und Alles, mein Lieblingsmensch, die andere Hälfte meiner selbst ist endlich nach drei Wochen wieder zu Hause.
»Pack deine schmutzige Wäsche in die Maschine«, sagt unsere Mutter, während sie Amelia den Schal abnimmt.
Als ich mich gerade in ihre Arme werfen will, bemerke ich ihre gefärbten Haare. Ich zucke leicht zurück, so als wäre ich nicht sicher, dass sie es wirklich ist.
Aber ja. Ich erkenne alles an ihr, es ist meine Schwester. Und ihre Haare sind … wow … blau! Eigentlich dürfte ich nicht erstaunt sein, denn ich wusste es ja, seit sie mir vor ein paar Tagen ein Foto geschickt hat. Und doch hatte ich gehofft, dass es nicht stimmt. Ich mag es nicht, wenn ich sie nicht erkenne.
»Hallo«, sagt sie mit strahlendem Lächeln. »Das heißt auf Norwegisch ›guten Tag‹. Es ist das Einzige, was ich außer den Worten ›ich habe Hunger‹ gelernt habe. Wetten, dass du das nicht wusstest, du Nerd?«
Typisch Amelia. Nach der ersten Überraschung nehme ich sie in die Arme und drücke sie, so fest ich kann. Es ist, als wäre ich wieder komplett. Ich atme wieder. Ich werde nie verstehen, warum ich es einen ganzen Sommer lang gut ohne meine Eltern aushalte, während mir drei Wochen ohne meine Schwester unerträglich erscheinen.
»Du hast mir gefehlt«, flüstere ich und füge dann hinzu: »Klar wusste ich das.«
Ich höre förmlich, wie sie die Augen verdreht.
»Natürlich.«
Während unseres siebzehnjährigen Lebens waren wir nie länger als achtundvierzig Stunden voneinander getrennt. Mein Vater erzählt gerne, am Tag unserer Geburt sei ich als Erste zur Welt gekommen und hätte laut gebrüllt. Als dann sechs Minuten später Amelia geholt wurde, hätte ich mich sofort beruhigt. Ich konnte es eben noch nie ertragen, von ihr getrennt zu sein.
Seither haben wir eine enge Verbindung.
Es ist das erste Mal, dass sie für einen so langen Zeitraum so weit weggefahren ist – ohne mich. Natürlich war ich nicht gerade begeistert von dieser winterlichen Sprachreise nach Oslo. Als ich meine Bedenken äußerte, antwortete sie nur: »Du musst ja nicht mitkommen, kein Problem.«
In dem Moment begriff ich, dass sie mich nicht wirklich in ihre Pläne einbezogen hatte. Ohne dramatisieren zu wollen, muss ich doch sagen, dass es sich anfühlte, als würde man mir das Herz herausreißen. Gott sei Dank hatte ich während der Weihnachtsferien Ambrose und Matthew. Ich hätte es auf keinen Fall ausgehalten, die Ferien nur mit meiner Mutter zu verbringen.
»Und wie war es? Ist es wirklich so kalt? Hast du viel Wurst gegessen? Hast du den Drehort von Skam besucht? Hast du die Nordlichter gesehen?«
Meine Mutter unterbricht mich, während sie sich den Mantel auszieht: »Jetzt lass sie doch erst mal ankommen, verflixt noch mal.«
Das überhöre ich, trete einen Schritt zurück und greife nach einer von Amelias Haarsträhnen.
»Und, Mom, sagst du gar nichts dazu? Ich weiß, du hast keine Brille auf, aber sie sind blau.«
»Danke, ich bin noch nicht farbenblind«, gibt sie zurück. »Und soweit ich weiß, hast auch du schon sehr zweifelhafte Entscheidungen bezüglich deiner Haare getroffen, ohne dass jemand das kommentiert hätte.«
Ich verziehe das Gesicht, und meine Schwester grinst.
»Dafür habt ihr euch hinter meinem Rücken über mich lustig gemacht!«
Ich ziehe es vor, meine »rothaarige« Phase vom letzten Sommer, den wir in Charleston, South Carolina verbracht haben, zu vergessen. Bedauerlicherweise verfügt meine Familie über Fotobeweise. Ich versuche sie nach und nach zu vernichten.
»Das habe ich aus einer Laune heraus gemacht«, erklärt Amelia schulterzuckend.
Ich runzele die Stirn, und ein seltsames Lächeln huscht über mein Gesicht.
Das ist neu.
»Wir kennen das Wort ›Laune‹ nicht.«
Ein weiteres lässiges Schulterzucken. Auch das ist neu. Wir sind nicht der Typ Mädchen, der so was macht.
Dass wir sehr unterschiedlich sind, weiß ich, seit wir sprechen können. Lara ist die kleine Intellektuelle der Familie, der eine brillante Zukunft bevorsteht, vielleicht etwas zu direkt und rebellisch, was ihr nicht immer guttut, eine Organisationsfanatikerin, auch ein bisschen durchgeknallt – im Allgemeinen bezeichnet man sie als »die Dickere von den beiden«.
Amelia ist der lustige, umgängliche Zwilling, sie ist die Hübsche, die alle Vorteile hat und jedem Konflikt aus dem Weg geht. Sie will nur den Augenblick genießen, die Dinge nehmen, wie sie kommen, und immer positiv bleiben (pah).
Aber zwei Dinge verbinden uns dennoch: 1. Unsere Liebe füreinander. 2. Unsere Leidenschaft für den Zirkus.
»Du kennst das Wort Laune nicht«, berichtigt sie mich. »Ich erzähle dir alles heute Abend. Jetzt lege ich mich erst mal hin, ich bin echt k. o. …«
Ich bin etwas enttäuscht, sage aber nichts. Ich rolle ihren Koffer in ihr Zimmer, während meine Mutter ihr übers Haar streicht und sie zu ihrer reinen, sanften Haut beglückwünscht. Ich höre auch, wie sie ihr sagt, sie hätte abgenommen.
Schon geht’s los. Mir hat sie während der ganzen Ferien erzählt, ich soll mit dem Essen aufpassen. Jedes Mal, wenn ich nach einem Stückchen Schokolade griff, das auf dem Tisch lag, spürte ich ihren missbilligenden Blick. So als wollte sie sagen: »Bist du sicher?« Zur Strafe habe ich mit einem strahlenden Lächeln die ganze Tafel verdrückt.
Ja, ich bin eine Rebellin. Sobald man mir etwas verbietet, tue ich es erst recht.
Das ist einer der Gründe, warum Amelia das Lieblingskind der Familie ist und nicht ich.
Amelia schläft fast vierundzwanzig Stunden. Am Abend nach ihrer Rückkehr gehe ich nach dem Essen in ihr Zimmer, damit sie mir – wie versprochen – von ihren Ferien erzählt und ich ihr von meinen.
Aber als ich mit einer Tüte Chips an ihrer Tür stehe, telefoniert sie mit jemandem. Sie lacht laut, dann scheint sie mich endlich zu bemerken. Ihr Lächeln erstarrt, und sie murmelt »Rachel, warte mal kurz …«, um mir dann einen fragenden Blick zuzuwerfen.
»Brauchst du irgendwas?«
»Wer ist Rachel?«, frage ich und versuche nicht einmal, leise zu reden.
»Eine Freundin … Ich erzähle es dir später, versprochen.«
Am liebsten hätte ich geantwortet: Das hast du schon gestern gesagt. Aber der zögerliche Ton bei dem Wort »Freundin« verschlägt mir förmlich die Sprache. Ist sie etwa mit ihr zusammen? Mit fünfzehn hatte Amelia ihr Coming-out. Seither hatte sie nur eine kurze Beziehung.
Aber den Namen Rachel höre ich an diesem Abend zum ersten Mal. Sie hätte es mir gesagt, wenn sie eine feste Freundin hätte. Ich bin immer die Erste, die so was erfährt.
Ach ja?, fragt Nana. Ich ignoriere sie verärgert.
Also gehe ich in mein Zimmer und sehe noch einmal meine Hausaufgaben durch, bevor ich mich ins Bett lege. Matthew und Ambrose erkundigen sich, wie Amelias Ferien waren, und ich wage nicht, ihnen zu gestehen, dass ich nicht die geringste Ahnung habe.
Ehrlich gesagt, hatte ich mir ihre Rückkehr anders vorgestellt. Ich dachte, ich hätte ihr ebenso gefehlt wie sie mir, aber offensichtlich ist das nicht der Fall.
Beim Einschlafen denke ich an den Schulanfang, aber vor allem an die Fortsetzung der Zirkuskurse, die mir so sehr gefehlt haben. Ich habe während der gesamten Ferien fast nicht mit meinem Ring geübt, aber dafür gibt es einen Grund: Ich war vollauf damit beschäftigt, mein Dossier für die Unieinschreibung auszuarbeiten und dann abzuschicken; meine erste Wahl ist die Columbia University.
Ich frage mich, ob Amelia ihre Unterlagen bereits abgeschickt hat. Momentan erzählt sie mir rein gar nichts. Aber ich weiß sowieso schon, dass wir uns trennen werden müssen. Mit ihrem Notendurchschnitt wird sie nie an der Columbia angenommen. Ich versuche, das zu akzeptieren, selbst wenn es mir schon jetzt Angst macht.
»Gehen wir zusammen zur Schule?«, frage ich sie am nächsten Morgen.
Ich hasse mich für die Unsicherheit in meiner Stimme. Amelia wirft mir über die Müslipackung hinweg einen Blick zu – das erste Mal, dass sie ihn von ihrem Handy hebt, seit sie aus dem Bad gekommen ist. Sie wirkt erstaunt, fast belustigt.
»Na klar, wie immer.«
»Okay, cool.«
Dann widmet sie sich wieder ihrem Handy. Während ich frühstücke, beobachte ich sie und versuche ihr geheimnisvolles Lächeln zu deuten. Schreibt sie mit der mysteriösen Rachel? Meine Mutter, die das Zimmer betritt und skeptisch mein Outfit beäugt, reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich warte auf einen Kommentar, doch sie zieht es vor, nichts zu sagen. Genau wie Amelia trage ich meine Winter-Schuluniform – weiße Bluse unter marineblauem Pullover, Faltenrock und Strumpfhose.
Aber natürlich erinnert Amelias Körper nicht an eine Pornoschauspielerin in einer schlechten Parodie von Oops! I Did It Again.
»Euer Dad hat angerufen, ihr könnt dieses Wochenende nicht zu ihm«, erklärt Mom und schenkt sich eine Tasse Kaffee ein. »Ach, und ich habe heute Abend meinen Pilates-Kurs und komme spät heim. Ich habe Geld fürs Abendessen auf die Küchentheke gelegt.«
Gerade möchte ich ihr sagen, dass wir selbst kochen können, als sie an mich gerichtet hinzufügt: »Lara, im Kühlschrank sind noch grüne Bohnen, die kannst du dünsten und dir dazu Eier machen.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Ah, Amelia darf sich also was zu essen bestellen, und ich soll mir die wässrigen Bohnen reinziehen? Nein danke!
Meine Schwester versteht, dass es Zeit wird einzugreifen und schiebt das Handy in ihre Tasche.
»Wenn wir nicht zu spät kommen wollen, müssen wir jetzt los.«
Ich nicke und folge ihr, meinen Rucksack geschultert, nach draußen. Ich schließe die Tür und gehe die Treppe des Vorbaus hinab. Die Lärmkulisse der New Yorker Straßen empfängt mich. Auf den Bürgersteigen gibt es noch Reste von Schnee und Eis – ein unbedeutendes Detail, das mir aber ein Lächeln entlockt. Ich liebe den Winter.
»Hör ihr gar nicht zu«, beruhigt mich Amelia und schiebt ihren Arm unter meinen. »Hättest du heute Abend Lust auf Burger?«
»Na klar!«
Auf dem Schulweg reden wir über dies und das. Ich nutze die Gelegenheit, um sie endlich zu fragen, wie ihre Ferien waren. Sie erzählt mir, wie toll es war, und auch von all den Leuten, die sie kennengelernt hat und möglichst bald wiedertreffen will.
Ich hingegen berichte ihr, dass Matthew und Ambrose miteinander gehen. Sie verschluckt sich fast und sieht mich mit großen Augen an.
»Wie bitte? Ich bin fünf Minuten mal nicht da, und schon bricht das Chaos aus!«
»Ich weiß«, antworte ich und kann ein Kichern nicht unterdrücken. »Ich war auch total baff, aber wenn man es recht bedenkt …«
»Ja, es ergibt Sinn«, meint sie dann und nickt. »Und wie ist das für dich?«
Amelia war die erste und einzige Person, die wusste, dass ich in Ambrose verknallt war. Wir haben uns alle vier im Alter von sechs Jahren bei unserem ersten Weihnachtsfest in Gettysburg getroffen. Amelia kennt die Jungs zwar auch, hat aber nie zu unserem Trio gehört. Sie blieb meist bei Mom und Dad, als sie noch nicht geschieden waren, während ich lieber draußen mit meinen Freunden spielte.
»Na, mir ist klar geworden, dass ich Ambrose zwar liebe, aber nicht auf diese Weise.«
Tröstend legt sie ihren Kopf an meinen. Ihre Miene verrät, dass sie Mitleid mit mir hat. Ich stelle mir die Worte vor, die auf meiner Stirn stehen: Lara Bailey, siebzehn Jahre, hat noch nie einen Jungen geküsst, geschweige denn mit einem geschlafen oder auch nur seine Hand gehalten.
»Das kommt sicher bald, mach dir nichts draus.«
Ich runzle die Stirn. Auch wenn ich weiß, dass ihre Worte aufmerksam und beruhigend klingen sollen, verärgern sie mich. Es macht mich nicht traurig, Single zu sein. Nein, es gefällt mir. Allein schon bei dem Gedanken an Jungs und einen Freund bekomme ich Kopfschmerzen – eine viel zu große psychische und emotionale Investition. Dafür habe ich weder die Zeit noch die Kraft.
Ich weiß nicht, was daran schlecht sein soll. Habe ich etwas verpasst? Ist die Liebe, vor allem in der Jugend, eine zwingend erforderliche Phase und damit lebensnotwendig?
Das werde ich heute Abend mal googeln.
Als wir die Straße überqueren, frage ich: »Essen wir heute zusammen Mittag?«
»Oh, eigentlich wollte ich …«
»Wir könnten in die Turnhalle gehen und uns etwas warm machen. Während du weg warst, musste ich allein trainieren, das war die Hölle. Wir müssen im Übrigen unsere Performance für die Jahresabschlussfeier besprechen …«
»Apropos«, unterbricht sie mich mit fester Stimme und verlegener Miene. »Genau darüber wollte ich mit dir reden.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch und warte. Sie ringt die Hände und zögert, bis ich schließlich gegenüber der Schule stehen bleibe. Eine Gruppe Schüler und Schülerinnen geht an uns vorbei, einige andere begrüßen sich nach zwei Wochen Ferien lautstark.
»Ich habe beschlossen, mit dem Zirkuskurs aufzuhören.«
Mein Kopf ist plötzlich leer. Die Stille ist so intensiv, dass sie fast an den Wänden meines Gehirns widerhallt. Ich bin außerstande, mich zu bewegen oder zu reagieren.
Das dauert nur eine Sekunde, so lange bis ich begreife, was das bedeutet.
Dann verfliegt mein Lächeln, und ich gerate fast in einen Zustand panischer Angst.
»W… was?«, frage ich mit bebender Stimme.
Sie beißt sich auf die Lippe, rechnet offensichtlich damit, dass ich jeden Moment zusammenbreche, und fährt dann fort: »Ich habe es mir genau überlegt, das Training kostet viel Zeit, und ich möchte mein letztes Schuljahr nutzen, um neue Sachen auszuprobieren, neue Leute kennenzulernen. Es tut mir leid, bitte sei mir nicht böse. Ich bin sicher, dass du bei der Abschlussveranstaltung supertoll sein wirst. Es tut mir leid.«
Ich horche nur halb hin. Amelia hört mit dem Zirkus auf. Das kann nicht sein. Das kann sie mir nicht antun. Dazu hat sie kein Recht. Der Zirkus, das sind wir. Das ist unser Ding. Wir haben schon damit angefangen, als wir klein waren, jede Vorstellung, jede Darbietung habe ich mit ihr gemeinsam bewältigt. Nur selten allein. Nie mit jemand anderem.
Ohne sie bringe ich nichts zustande.
Und da ein Unglück selten allein kommt, mischt sich jetzt nach langem Schweigen auch noch Nana ein.
Heeey … Und wer hält dich fest, wenn sie nicht mehr da ist?
Stimmt, wer wird verhindern, dass ich mit dem Kopf voran abstürze? Und was noch wichtiger ist, wir hatten uns versprochen, eine Zirkusschule zu besuchen, Akrobatinnen zu werden und dann zum Cirque du Soleil zu gehen. Was wird jetzt aus unseren Träumen?
Ich flüstere: »Aber … das ist doch unsere Passion.«
Ich bin den Tränen nahe. Ich halte sie mit aller Kraft und trotz gebrochenem Herzen zurück. Ich hasse mich dafür, dass ich Amelia hier und jetzt egoistisch finde. Sie hat das Recht, ihre Meinung zu ändern. Es wäre egoistisch von mir, sie zu zwingen, weil ich weitermachen möchte. Und dennoch … dennoch empfinde ich genau das.
»Es ist deine Passion, Lara«, sagt sie traurig. »Nicht meine.«
Soweit ich mich erinnern kann, wollte ich immer Akrobatin werden. Ich weiß sogar noch den Tag, an dem unsere Eltern Amelia und mich zum ersten Mal mit in den Zirkus genommen haben. Es ist vielleicht meine früheste Erinnerung. Ich war erst vier Jahre alt, und dennoch sehe ich ganz klar die Clowns, die Dressurpferde, den Feuerreifen und die Jongleure und Jongleurinnen vor mir.
Vor allem aber war ich von der eleganten Frau beeindruckt, die fünf Meter über dem Boden in der Luft schwebte, die Gliedmaßen in ein rotes Tuch verwickelt.
Alle Blicke waren auf sie gerichtet.
Zwei Jahre später haben meine Eltern mich in einen Zirkuskurs für Kinder eingeschrieben. Das war der Startschuss für mich. Seither habe ich nie mehr damit aufgehört. Dort wurden verschiedene Kurse angeboten: Clownskunst, Foot Freestyle, Parkour, Jonglieren, Tanz, Seiltanz … Ich habe alles ausprobiert.
Im Laufe der Zeit habe ich mich auf Luftakrobatik spezialisiert, vor allem auf den Luftring. Heute kann ich nicht mehr ohne leben. Ich kann mir ganz einfach nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu machen.
Ich bin dafür geboren.
Ich weiß, dass für mich die Columbia University vorgesehen ist, um die Architektentradition der Familie fortzuführen – so wünscht es sich zumindest mein Vater. Gerne wiederholt er unermüdlich: »Sein intellektuelles Potenzial nicht vollständig auszuschöpfen, wäre eine ungeheuerliche Verschwendung.« Aber niemand hat mich je gefragt, was icheigentlich machen will.
Und die Wahrheit ist, dass ich von einer Welt träume, in der ich meine Darbietungen unter einer riesigen, sternenübersäten Kuppel präsentieren und die Kinder begeistern kann.
Dann werden alle Augen auf mich gerichtet sein.
Amelia ist mir ganz selbstverständlich auf diesem Weg gefolgt. Ich dachte immer, sie würde den Zirkus genauso lieben wie ich. Aber anscheinend stimmt das nicht. Für sie war es nur ein Hobby, ein Zeitvertreib … Schlimmer noch, sie wollte mir nur eine Freude machen.
»Wusste ich doch, dass ich dich hier finde«, sagt plötzlich eine Stimme in der großen Sporthalle.
Ich wende den Kopf zu Chhavi, meiner einzigen wirklichen Schulfreundin. Obwohl ich eher eine Einzelgängerin bin, war ich in der Klasse immer beliebt, wahrscheinlich, weil ich zu allen nett bin. Aber dennoch sind das keine Freundschaften. Außer das mit Chhavi. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mit einer sarkastischen Gothic-Rebellin anfreunden würde, die nichts ernst nimmt, etwas zu viel flirtet und düstere Zeichnungen auf Tumblr postet.
Aber alles ist möglich! Wir haben zum ersten Mal miteinander gesprochen, als ich sie dabei überraschte, wie sie im Unterricht ein Porträt von mir skizzierte.
Ich habe sie gefragt, warum sie mich gemalt hätte, und sie sagte nur: »Weil ich dich ungewöhnlich finde. Und ist es nicht die Aufgabe einer jeden Künstlerin, die schönen Dinge zu verewigen?« Diese Art des Denkens hat mir sofort gefallen, selbst wenn dieses Porträt Albträume bei mir ausgelöst hat.
Aber die Schönste ist sie selbst. Auf Hindi bedeutet ihr Name »Schönheit« und »Herrlichkeit« – das hat sie wörtlich so in ihrer Bio auf Twitter geschrieben –, und dieser Name passt weiß Gott zu ihr. Ihre braune Haut ist klar und makellos, darum beneide ich sie wirklich, und die schokobraunen Augen sind riesig. Ein Mädchen, das aus einem Disney-Film stammen könnte … und das Prinzessinnengewand gegen einen plissierten Minirock, Netzstrümpfe, eine Lederjacke und dunkelroten Lippenstift eingetauscht hat.
Wenn man es recht bedenkt, hat ihre Mutter gut daran getan, sie auf eine Privatschule zu schicken, in der eine Schuluniform vorgeschrieben ist.
»Wie waren die Ferien?«, fragt sie und setzt sich, ihr Skizzenbuch in der Hand, neben mich auf einen der Ränge. »He, ist dein Hund gestorben, oder was ist los?«
Ich werfe einen Blick auf meine Uhr, massiere meine Finger und rechne. In zehn Minuten fängt die nächste Stunde an, und ich habe in der Pause noch nichts gegessen. Ich habe Amelia gesagt, ich müsse üben, und sie hat mir erleichtert zugelächelt und erklärt, sie würde sowieso »ihre Freundinnen treffen«.
»Amelia hört mit dem Luftring auf.«
Chhavi reagiert nicht sofort, sie gibt nur ein ungerührtes »Oh« von sich. Also wende ich mich zu ihr um und sehe die Antwort auf ihrem Gesicht geschrieben. Dennoch frage ich: »Wusstest du das?«
»Woher sollte ich es wissen? Ich bin nicht mit deiner Schwester befreundet. Aber … ehrlich gesagt, war es vorhersehbar. Sie liebt den Zirkus offensichtlich nicht so sehr.«
Ich verziehe den Mund zu einem gequälten Lächeln. Ich bin also die Einzige, der das nicht aufgefallen ist. Wie egoistisch ich doch bin. Dabei sagt mein Vater es mir oft genug: Ich höre und sehe nur das, was ich sehen will.
»Was soll ich jetzt machen?«
»Wie meinst du das? Ich verstehe nicht, inwiefern das dein Problem ist.«
»Für die Jahresabschlussfeier. Es werden Scouts von Circadio da sein, und jeder weiß, was das bedeutet. Das ist eine Art Vorturnen, nichts anderes. Und meine Performance war mit Amelia geplant …«
Chhavi zuckt mit den Schultern. Ich hasse diese Angewohnheit, die alle Leute haben. Was genau soll das eigentlich ausdrücken?
»Lara, du bist sehr begabt«, sagt sie mit einem Seufzer. »Das wissen wir alle und du am besten. Mach doch eine Solonummer.«
Ja, aber das mag ich nicht. Es macht mir Angst. Das verstehen die anderen nicht. Amelia ist mein Talisman, meine Retterin. Und wenn bei einer Einzeldarbietung die ganze Magie nicht mehr da ist? Und wenn … und wenn ich abstürzen und sterben würde?
Das habe ich doch von Anfang an gesagt!, mischt sich Nana ein. Aber du willst ja nie auf mich hören.
Als ich mir kurz die Szene vorstelle, schlägt mein Herz schneller. Ich fröstele vor Entsetzen. Vielleicht ist das ein Zeichen von oben … Vielleicht ist es keine gute Idee, hinter dem Rücken meiner Eltern zu versuchen bei Circadio aufgenommen zu werden … Ich sollte mich mit der Columbia zufriedengeben, und fertig. Dem ursprünglichen Plan folgen. Mit den unmöglichen Träumereien aufhören. Das ist zu gefährlich.
Ja. Ganz genau. Gut so. Ach, und bist du sicher, dass du das essen willst?
Ich werfe einen fragenden Blick auf mein Thunfisch-Sandwich. Warum, wo liegt das Problem?
Hm … Was, wenn du allergisch wärst?
Ich bin nicht allergisch, ich liebe Thunfisch.
Das glaubst du.
Ich habe ja schon Thunfisch gegessen und bin nicht dran gestorben. Nerv nicht.
Und wenn du inzwischen eine Thunfischallergie entwickelt hast? Man kann nie wissen! So viele Dinge verändern sich von heute auf morgen. Willst du das Risiko wirklich eingehen?
…
Das habe ich mir auch gedacht.
Die Pausenglocke reißt mich aus meinen Ängsten. Ich knurre verärgert und packe das Sandwich genervt in meine Tasche.
»Mach dir nicht zu viele Gedanken«, beruhigt mich Chhavi, als sie aufsteht. »Los, komm.«
Während wir zu unserem Klassenraum gehen, versuche ich, ihren Rat zu befolgen. Wie immer dramatisiere ich alles. Wenn ich wieder zu Hause bin, mache ich Listen, und alles wird gut. Ich kann …
Grunz, grunz. Reflexartig drehe ich mich nach dem Geräusch um und bereue es sofort. Cody und Tyler – die beiden einzigen Arschlöcher, die mich dauernd belästigen – gehen neben mir her und geben weiterhin Grunzlaute von sich. Mein Blick wandert zu ihnen. Offensichtlich finden sie sich selbst urkomisch.
Ich verdrehe überheblich die Augen. Sehr reif. Ihre Witze haben sich wohl seit dem ersten Schuljahr nicht weiterentwickelt.
»Bravo, Tyler, das ist der Laut, den das Schwein von sich gibt«, kommentiere ich applaudierend und mit einem milden Lächeln. »Du bekommst ein Fleißkärtchen mit Stern.«
Tyler verliert seine Selbstsicherheit und läuft vor Scham rot an. Meine Trigonometrie-Bücher an die Brust gedrückt ignoriere ich ihn einfach. Solche Bemerkungen trafen mich sehr, als ich zwölf war und schon einen deutlich entwickelten Busenansatz hatte, doch dann habe ich begriffen, dass ich viel zu intelligent bin, als dass sie mir etwas anhaben könnten.
Seither prallt so was förmlich an mir ab.
»Hey, ist ja nicht unsere Schuld, wenn du dich angesprochen fühlst.«
Ich will ihn gerade darauf hinweisen, dass sein Hosenstall offen ist, als ich plötzlich gegen etwas stoße, das mir förmlich die Sprache verschlägt. Erneut höre ich Tyler und Cody lachen. Ich entschuldige mich, hebe den Kopf und blicke in vertraute Augen.
Eines flaschengrün. Das andere zimtbraun.
Und dazu gehört eine Person.
Casey Thomas.
Besser bekannt als mein Nachbar und seit Kurzem auch mein Frenemy. Casey ist ein Jahr älter als wir. Ich kenne ihn, weil er seit jeher gegenüber von uns wohnt, aber ich habe vorher nie mit ihm gesprochen. Aus für mich noch immer dubiosen Gründen ist er letztes Jahr sitzen geblieben. Darum ist er jetzt in unserer Klasse und hat meinem Ruf als Intellektuelle geschadet. Es ist ganz einfach, die Highschool funktioniert wie eine Mini-Gesellschaft: Jeder hat eine Rolle. Meine ist es, Klassenbeste zu sein. Klassensprecherin, Miss-ich-weiß-alles, Bücherwurm, kurz – das Mädchen, das alle insgeheim verabscheuen. Und das passt mir gut.
Doch dann kommt plötzlich Casey daher und macht mir meinen Platz streitig. Bei der ersten Klassenarbeit des Jahres war er um drei Punkte besser als ich. Eine persönliche Kampfansage an mich. Ihr werdet euch fragen, warum ich so ein Drama daraus mache, wo ich doch lieber bei Circadio aufgenommen werden als zur Columbia gehen will.
Es ist eine Frage der Ehre, okay?
Casey hat mein Spiel durchschaut, und ich bin sicher, dass er sich darauf eingelassen hat, trotz seiner zur Schau gestellten Gleichgültigkeit, die sagen will: »Ich bin etwas Besseres.«
Dennoch unterhalten wir nach außen hin eine freundliche Beziehung … wir sind ja schließlich keine Tiere.
»Entschuldigung«, murmele ich. »Ich war mit den Gedanken woanders.«
Er antwortet nicht, bedenkt aber Tyler und Cody mit einem eiskalten Blick und hebt mein Buch auf, das mir bei dem Zusammenstoß heruntergefallen ist. Es ist Tess von den d’Urbervilles. Er überfliegt den Titel. Ich strecke die Hand aus, um es wieder an mich zu nehmen, doch er sieht mir in die Augen und sagt: »Ich habe es letztes Jahr gelesen. Am Ende stirbt sie.«
Empört öffne ich den Mund, aber er lässt mir keine Zeit für eine bissige Antwort, sondern geht, den Rucksack lässig über der Schulter, ins Klassenzimmer. Chhavi, die die Szene beobachtet hat, blickt ihm hinterher und lässt dann ihre Kaugummiblase platzen.
»Bin ich die Einzige, die das supersexy fand?«
Ich halte mich zurück, ihr zu sagen, dass sie sehr wohl die Einzige ist. Der Typ hat mir allen Ernstes das Ende des Romans versaut. Das tut man nicht, und das weiß er ganz genau.
»Wenn ich ihn mir jetzt genauer ansehe, muss ich sagen, dass Casey wirklich supercool aussieht«, fügt Chhavi hinzu. »Sein Freund hat echt Glück.«
Ich sage es nur ungern, aber ich persönlich fand Casey immer schon süß. Wahrscheinlich, weil ich ein Faible für intelligente, unverstandene Einzelgänger habe. Seine ungewöhnlichen Augen dürften auch dazu beigetragen haben.
»Wenn du mit ›cool‹ arrogant meinst, bin ich ganz deiner Meinung.«
Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu und gehe zu meinem Platz in der ersten Reihe. Ungerührt stellt er seinen Rucksack auf den Boden. Sein kupferfarbenes Haar fällt ihm perfekt in die Stirn und verdeckt die Augen mit den langen Wimpern und die Sommersprossen, die seine Wangen übersäen wie Sternenstaub. Seine Schuluniform ist makellos und sein Körperbau schlank und groß.
Er ist … zu perfekt.
Dass er das Jahr wiederholen musste, ist für mich ein größeres Mysterium als alles andere. Es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber er ist der Intelligenteste in dieser Klasse – nach mir natürlich. Er ist kultiviert, denkt logisch und hat ein beeindruckendes Gedächtnis. Ein Roboter – und das sage ich mit aller Bewunderung, die ich für diese Spezies hege.
»Er ist wegen seiner vielen Fehlstunden durchgefallen«, hieß es letztes Jahr. »Er schwänzte tagelang, und wenn er da war, schlief er an seinem Tisch ein. Er selbst wollte das Jahr wiederholen.«
Ich habe Mühe zu glauben, dass es sich um dieselbe Person handelt. Ich erinnere mich an die Gerüchte, die es über ihn gab. Sie fingen an, als jemand erfahren hat, dass er mit einem Jungen von einer anderen Highschool ging.
Unzählige Male habe ich das Wort »Homo« auf seinem Spind gesehen. Er hat nie etwas unternommen oder gesagt. Nach und nach schwand das Interesse, und man wandte sich anderen Dingen zu: Er war doch nicht interessant genug.
Und das einfach nur, weil er sie nicht beachtete. Es war ihm egal. Er lebte einfach sein Leben weiter, ohne etwas beweisen zu wollen. Ich habe lange seine Fähigkeit bewundert, die Blicke der anderen zu ignorieren. Ich bin dazu nicht in der Lage.
Die Wahrheit ist: Casey Thomas ist ein einziges Rätsel für mich.
Und es gibt nichts, was ich so sehr hasse, wie etwas nicht zu begreifen.
Die Schule hat mir gefehlt.
Oder besser gesagt, die unablässigen Sticheleien und vernichtenden Blicke von Lara Bailey. Mein kleiner Bruder Chris glaubt, ich hätte ein Problem. Vielleicht bin ich ja wirklich sadomasochistisch veranlagt. Aber ich muss sagen, dass dieser stille Wettbewerb seit September das einzig Erfreuliche in meinem Leben ist.
Okay, das ist zum Heulen traurig.
Weihnachten war eine Katastrophe. Das erste seit Chris’ Genesung. Ich habe alles getan, damit es perfekte Feiertage werden. Den ganzen Sommer über habe ich gearbeitet, um ihm das schenken zu können, was er sich wünschte. Meine Eltern meinten, ich täte zu viel, aber ich habe eher das Gefühl, dass es nicht genug ist.
Wie hätte es auch anders sein können, nachdem ich nichts tun konnte, als mein kleiner Bruder um sein Leben kämpfte?
Zwölf Jahre alt und Speiseröhrenkrebs.
Darauf waren wir nicht vorbereitet. Aber das ist man nie.
»Casey, mein Liebling«, sagt meine Mutter zu mir, als ich am Wohnzimmertisch meine Hausaufgaben mache.
Ich nehme einen meiner Kopfhörer heraus und blicke zu ihr auf.
»Du musst auch dienstags und freitags aushelfen«, erklärt sie, ohne mich auch nur anzusehen.
Ich versuche meinen Ärger zu verbergen, damit sie ihn nicht als Egoismus oder Undankbarkeit deutet. Ich arbeite immer gerne im Amnesia, es ist mein zweites Zuhause, aber manchmal brauche ich etwas frische Luft.
»Ich helfe doch schon samstags. Ich habe viele Hausaufgaben, und ich habe Chris versprochen, ihn beim Lernen zu unterstützen …«
»Er kommt schon klar«, unterbricht sie mich mit einem bedauernden und zugleich beruhigenden Lächeln. »Wir haben keine andere Wahl, Casey. Du musst deine Hausaufgaben eben an einem anderen Tag machen. Du schaffst das alles, ich glaub an dich.«
Ich würde ihr gerne sagen, dass ich an den anderen Tagen in der Schule bin. Dass ich keine Zeit habe. Dass ich mich auch gerne mal mit Freunden verabreden würde. Dass ich nicht immer alles schaffen will. Aber das ist unmöglich. Denn die Familie geht vor.
Oder besser gesagt, das Familiengeschäft.
Sie wirft mir einen fragenden Blick zu, und ich antworte mit einem ermutigenden Lächeln.
»Geht klar, Mom. Ich werde schon die Zeit finden.«
Sie geht um den Tisch herum, legt die Arme um mich und drückt mir einen Kuss auf das zerzauste Haar. Ich genieße die Umarmung und bin froh, dass ich ihr eine Freude machen kann.
»Mein Sohn, mein Retter.«
»Das ist doch selbstverständlich«, sage ich, ehe sie geht.
Und das ist es auch. Glaube ich. Manchmal nervt es mich, aber dann habe ich immer ein schlechtes Gewissen, weil ich so egoistisch bin. Ich werfe mir vor, ein schlechter Sohn zu sein, und beschließe zu tun, was sie von mir erwartet.
Das bin ich ihnen schließlich schuldig.
Meine Eltern haben mit nichts angefangen. Sie haben allen mahnenden Worten getrotzt, um, nachdem sie Chris und mich bekommen hatten, ihr eigenes Geschäft zu eröffnen: ein kleines Varieté mitten in New York. Ihrer beider Traum, auch wenn ihre Eltern sie sehr unterstützt haben.
So wie meine Großmutter – die lange und ereignisreiche Jahre im Crazy Horse in Paris verbracht hatte –, war meine Mutter Tänzerin, als sie meinen Vater, einen sehr jungen Trapezkünstler, kennenlernte. Zwischen den beiden hat es sofort gefunkt. Kurz darauf wurde ich geboren. Das Varieté ist ihr Leben. Und schnell wurde es auch meins. Wie hätte es auch anders sein können? Schließlich bin ich dort groß geworden.
Schon mit sieben Jahren lief ich hinter den Kulissen herum und brachte den Tänzerinnen ihre Kostüme. Es stimmt, dass mich das beeindruckte, aber ich hatte nie Lust auf diesen Beruf. Darum habe ich meine Eltern vor einigen Jahren gebeten, mich vom Zirkuskurs abzumelden.
Das Thema ist noch immer tabu. Ich habe ihnen gesagt, dass ich kein Akrobat werden und auch das Varieté nicht übernehmen will. Ich will lange studieren, eine Doktorarbeit schreiben, reisen und mir unnütze Fragen über die menschliche Existenz stellen, auf die es keine Antwort gibt.
Das ist gar nicht gut angekommen. Sie versuchen noch, mich umzustimmen, und das bedrückt mich. Sie glauben zu wissen, was das Beste für mich ist, und manchmal … manchmal bringen sie mich dazu, es wie sie zu sehen.
»Weißt du, sie hat recht.«
Ich drehe mich zu Chris um, der aus seinem Zimmer kommt und sich vor dem Kamin die Hände reibt.
»Ich komme auch allein klar. Du musst mir nicht immer helfen. Du tust schon genug für mich.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch und drehe mich lässig auf meinem Hocker um.
»Glaubst du, ich wäre nie zwölf gewesen? Du suchst nur einen Vorwand, um deine Hausaufgaben nicht machen zu müssen.«
»Überhaupt nicht«, ruft er empört aus.
Angesichts seiner geröteten Wangen muss ich lachen. Er ist wirklich süß. Noch ein Kind und doch schon fast ein Jugendlicher. Mein Blick fällt auf sein rotes Haar und die Sommersprossen, die – so wie bei mir auch – die Nase sprenkeln. Wir sehen uns sehr ähnlich. Keiner von uns könnte die Verwandtschaft leugnen.
»Ich mache mir schon Vorwürfe«, brummt er. »Du hast überhaupt keine Zeit mehr für dich. Nach der Chemo und der Geschichte mit Dean … Ich wünsche mir, dass es in diesem Jahr anders für dich läuft.«
»Kümmer dich nicht um solche Sachen«, sage ich und zerzause sein Haar. »Es ist schon anders. Ich bin jung, attraktiv und Single … Siehst du, alles gut in der besten aller Welten.«
Er bedenkt mich mit einem ungläubigen Blick, offenbar hat er nicht angebissen. Ich verziehe das Gesicht. Zumindest habe ich es versucht.
»Stimmt es?«, flüstert er plötzlich, so als würde er befürchten, jemand könne uns hören.
»Was denn?«
Sein Blick wird ernst, dann beunruhigt. Dann murmelt er leise: »Dass das Varieté pleite ist.«
Ich fröstele. Er sieht mich aus großen, besorgten Augen an. Sie sind voller Fragen, die ich leider nicht beantworten kann, wenn ich ihn nicht noch mehr beunruhigen will. Ich musste schnell erwachsen werden, um meine Eltern zu unterstützen, aber es ist mir wichtig, dass Chris noch lange ein Kind bleiben darf.
»Natürlich nicht«, lüge ich. »Ich muss ihnen helfen, weil das Geschäft so gut läuft, mach dir keine Sorgen.«
Er atmet erleichtert auf und nickt. Chris hatte das Glück, dem elterlichen Druck zu entgehen. Er hat, genau wie ich, als kleines Kind mit dem Zirkus angefangen, aber es stellte sich heraus, dass er völlig untalentiert ist.
Ich hätte mir auch gewünscht, nicht begabt zu sein. Dann hätte ich ohne Bedauern und Gewissensbisse das machen können, was ich will.
»Ich lasse dich arbeiten«, sagt Chris und wendet sich ab. »Yale wartet auf dich!«
Yale braucht mich weiß Gott nicht. Ich hingegen brauche diese Uni. Nachdenklich senke ich den Blick auf mein Yale-Sweatshirt. Yale ist mein Traum, aber auch mein einziger Ausweg.
Dann könnte ich nicht nur machen, was ich möchte, sondern später auch meine Eltern finanziell unterstützen, und so das Varieté retten. Das wäre für alle ein Gewinn.
Aber Mom und Dad müssen mich lassen …
Am Donnerstag bin ich zum ersten Mal in meinem Leben allein im Luftakrobatik-Kurs. Ich fühle mich nicht wohl ohne Amelia. Ich bleibe still im Hintergrund, wie ein angeheiratetes Familienmitglied. Zu Beginn der Stunde, als alle sich aufwärmen, tritt Mrs Zhang an mich heran, um mir zuzuflüstern:
»Kommt deine Schwester nicht mehr?«
Mürrisch verziehe ich das Gesicht, während ich einen Spagat mache.
»Nein.«
Sie runzelt die Stirn, verkneift sich wohl die Fragen, die ihr auf der Zunge brennen. Ich mag Mrs Zhang sehr. Sie ist exzentrisch und ein bisschen crazy, vor allem aber äußerst talentiert. Ich war immer schon ihr Liebling, hauptsächlich wohl, weil ich sie als kleines Mädchen so bewundert habe. Aber auch weil ich schon am längsten dabei bin.
»Du wirst schon allein zurechtkommen«, beruhigt sie mich und tätschelt meine Schulter.
Hoffen wir’s. Abseits von den anderen, dehne ich schweigend Arme und Beine. Der Kurs zieht sich ewig in die Länge. Meine Gedanken sind woanders. Ich kann mich nicht konzentrieren, mache Anfängerfehler an meinem Luftring, setze die Füße an der falschen Stelle ein, biege den Rücken im falschen Winkel, rutsche zu oft mit den Händen ab. Ich schäme mich derart, dass meine Wangen zu glühen beginnen.
So als hätte ich durch den Verlust von Amelia auch mein ganzes Talent verloren. Wie ist das nur möglich?
Die anderen beäugen mich heimlich – neugierig, aber sichtlich aufgeregt darüber, mich scheitern zu sehen. Endlich mal.
»Denkt ab jetzt über die Performance nach, die ihr zur Jahresabschlussfeier auf der Bühne präsentieren wollt«, ermahnt uns Mrs Zhang am Ende der Stunde. »Jede dauert drei Minuten, egal ob es eine Solonummer oder eine Gruppendarbietung ist.«
Ich raffe schnell meine Sachen zusammen und ergreife die Flucht – aus Angst, sie könnte mich zurückhalten, um mit mir zu diskutieren.
Ich trage noch den Gymnastikanzug unter meiner Daunenjacke und meiner Jogginghose, sodass die Kälte mich mit voller Wucht erwischt, als ich nach draußen trete. Ich laufe schnell, die Kopfhörer übergestülpt, meine Gedanken ein großes Durcheinander. Der Kurs heute Morgen war eine einzige Katastrophe.
Amelia kann nicht einfach aufhören. Nicht so – von heute auf morgen. Uns bleibt nur noch ein Jahr! Sie kann mich nicht im wichtigsten Augenblick meines Lebens einfach hängen lassen. Meine Zukunft steht auf dem Spiel. Sie hat nicht das Recht, mir das anzutun, wo sie doch nur noch ein paar Monate durchhalten muss. Das kann ich nicht akzeptieren.
Ich werde sie mir noch mal vorknöpfen. Es kommt einfach nicht infrage, dass ich allein auftrete.
Zu Hause empfängt mich meine Mutter im Wickelkleid mit vorgebundener Schürze.
»Wir essen gleich«, sagt sie und umarmt mich. »Geh schnell duschen.«
Ich ziehe meinen Mantel aus, sodass sie mein leichtes Outfit sehen kann.
»Willst du dir den Tod holen, oder was?«, schimpft sie. »Und warum trägst du noch immer diese Kluft?«
Um einen neutralen Tonfall bemüht, antworte ich: »Das ist meine Sportkleidung.«
Kopfschüttelnd nimmt sie mir den Mantel ab. Und dieselbe alte Leier beginnt.
»Sie dürfen euch nicht zwingen, so was Hautenges zu tragen, das alles enthüllt. Sie denken nicht an die armen Mädchen, die sich unwohl in ihrer Haut fühlen. Du könntest vielleicht versuchen, einen kleinen Samtrock darüber zu tragen … du weißt schon, wie beim Eiskunstlauf … um deine Schenkel zu kaschieren?«
Ich schaue ihr geradewegs in die Augen. Ich bin diese Art von Bemerkungen gewohnt, und normalerweise begnüge ich mich damit, ganz einfach brav zu nicken, aber heute hat sie den falschen Moment erwischt.
»Warum sollte ich meine Schenkel verbergen?«, frage ich gereizt und etwas angriffslustig.
»Ich sage das nur in deinem Interesse! Ich will nicht, dass du dich auf der Bühne neben all diesen hübschen Mädchen unwohl fühlst …«
Das ist typisch für meine Mutter. Hübsch ist gleichbedeutend mit schlank. Nur weil ich dick bin, fühle ich mich zwangsläufig unwohl in meiner Haut. Nur weil ich mehr Kilos auf den Rippen habe, will ich sie natürlich verbergen. Das ist sicher der Grund, weshalb sie, seit ich mich mit dreizehn geweigert habe, all diese abgedrehten Diäten zu machen, nie mehr zu meinen Vorstellungen gekommen ist.
Weil es für sie zu schwer zu ertragen war, zuzusehen, wie ich mich bei meinem Auftritt demütige.
»Ich fühle mich sehr wohl so, wie ich bin«, sage ich mit einem breiten Lächeln. »Danke für deine Anteilnahme.«
Daraufhin verschwinde ich im Flur. Mein Herz klopft zum Zerspringen, ich kann nichts dafür. Amelia hätte mich verteidigt, wenn sie da gewesen wäre.
Aber sie ist seit einiger Zeit nie mehr zur Stelle.
Nachdem ich sie nirgendwo gefunden habe, muss ich daraus schließen, dass sie noch nicht zu Hause ist. Frustriert stelle ich meine Sachen auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch ab. Ich betrachte mich im Spiegel gegenüber und versuche mich so zu sehen, wie meine Mutter mich sieht, was mir für einen kurzen Augenblick sogar gelingt.
Dann fasse ich mich wieder. Die Fettpolster, die ich immer schon gehabt habe. Unmöglich sie zu übersehen. Ich weiß nicht, warum ich sie unsichtbar machen sollte. Sie sind da, an meinen Armen, an meinen Hüften, meinen Schenkeln, meinem Bauch …
Ich empfinde sie nicht als abstoßend. Sie sind ein Teil von mir. Mir geht es gut. Ich treibe Sport. Ich bin dick, ja. Und ich finde mich schön, was seltsamerweise das Schlimmste all meiner Vergehen zu sein scheint. Warum nervt es die Leute, dass Menschen wie ich sich, im Gegensatz zu ihnen, nichts daraus machen?
Als müsste man sich verstecken und elend fühlen, um es ihnen recht zu machen. Das wäre ihrer Meinung nach wohl das normalste Verhalten.
Sie können mich alle mal kreuzweise. Ich stecke voller Vitalität, bin schön, sexy, ein wahres Energiebündel. Ich kann alles machen, alles in Angriff nehmen, und mein Gewicht wird mich nicht daran hindern. Weder daran, Akrobatin zu werden, noch einen Freund zu haben oder glücklich zu sein.
Ich greife nach meinem Pyjama, will duschen gehen, als mein Blick aus dem Fenster schweift. Ein blauer Punkt erregt meine Aufmerksamkeit. Ich sehe Amelia am Ende einer Reihe von Brownstone-Häusern, halb verdeckt von einem Baum.
Ich will sie schon rufen, als sich neben ihr eine zweite Silhouette abzeichnet. Ohne ihr jemals begegnet zu sein, weiß ich sofort, um wen es sich handelt.
Ohne Vorwarnung beugt sich Rachel zu meiner Schwester und küsst sie auf den Mund. Sehr lange. Ich bin wie erstarrt. Mit hochroten Wangen wende ich den Blick ab.
Ich hatte von Anfang an recht.
Amelia und Rachel sind ein Paar. Wie lange schon? Keine Ahnung. Ich weiß es nicht, denn anders als ich früher glaubte, bin ich nicht die Erste, die solche Dinge erfährt.
Ich dachte immer, sie würde mir alles erzählen, so wie ich auch, aber das stimmt nicht. Ich bin die Einzige, die sich mitteilt. Amelia begnügt sich damit, mir zuzuhören, ohne die Aufmerksamkeit jemals auf sich zu lenken. Um so ihre Geheimnisse für sich zu behalten.
Mein ganzes Leben lang zählte nur Amelia.
Was umgekehrt nicht der Fall war.
Ich bin nie schlank gewesen. Ich weiß nicht, wie es ist, einen flachen Bauch zu haben. Meiner ist ganz rund, weich und seidig. Ich war ein pausbäckiges Baby. Wie alle Babys, nehme ich mal an.
Nur dass sich beim Größerwerden nichts daran geändert hat.