NEXUS - Yuval Noah Harari - E-Book

NEXUS E-Book

Yuval Noah Harari

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Beschreibung

Das neue Buch des Bestsellerautors: Wie Informationsnetzwerke unsere Welt geschaffen haben und sie jetzt zu zerstören drohen

In den letzten 100 000 Jahren hat die Menschheit enorme Macht erlangt. Doch trotz all unserer Entdeckungen, Erfindungen und Eroberungen befinden wir uns heute in einer existenziellen Krise. Die Welt steht am Rande des ökologischen Zusammenbruchs. Zuhauf werden Falschinformationen verbreitet. Und wir stürzen uns kopfüber in das Zeitalter der künstlichen Intelligenz – ein neues Informationsnetzwerk, das uns auszulöschen droht. Wenn wir so klug sind, warum sind wir dann so selbstzerstörerisch?

»Nexus« zeigt, wie der Informationsfluss uns und unsere Welt geformt hat. Yuval Noah Harari nimmt uns mit von der Steinzeit und biblischen Zeiten über die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen, den Stalinismus und den Nationalsozialismus bis zum Wiederaufleben des Populismus in der heutigen Zeit. Dabei lenkt er unseren Blick auf die komplexe Beziehung zwischen Information und Wahrheit, Bürokratie und Mythologie, Weisheit und Macht. Er erkundet, wie verschiedene Gesellschaften und politische Systeme Informationen genutzt haben, um ihre Ziele zu erreichen – zum Guten wie zum Schlechten. Und er befasst sich mit den drängenden Entscheidungen, vor denen wir heute stehen, da nicht-menschliche Intelligenz unsere Existenz bedroht.

Informationen sind nicht der Rohstoff, aus dem die Wahrheit ist, aber auch nicht einfach nur eine Waffe. »Nexus« erkundet den hoffnungsvollen Mittelweg zwischen diesen Extremen und zeigt, wie sich unser gemeinsames Menschsein wiederentdecken lässt.

»Der große Denker unserer Zeit« – The Times über 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert

»Interessant und provokativ« – Barack Obama über Eine kurze Geschichte der Menschheit

»Einer meiner Lieblingsschriftsteller und -denker« – Natalie Portman über Eine kurze Geschichte der Menschheit

»Fegt die Spinnweben aus dem Gehirn... Strahlt Kraft und Klarheit aus« – Sunday Times über Eine kurze Geschichte der Menschheit

»Es hat meine Sicht auf unsere Spezies und unsere Welt verändert« – Guardian über Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Seitenzahl: 824

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Das neue Buch des Bestsellerautors: Wie Informationsnetzwerke unsere Welt geschaffen haben und sie jetzt zu zerstören drohen

In den vergangenen 100 000 Jahren hat die Menschheit gewaltige Macht erworben. Doch trotz all unserer Entdeckungen, Erfindungen und Eroberungen stecken wir heute in einer existenziellen Krise. Die Welt steht am Rande des ökologischen Zusammenbruchs, zuhauf werden Falschinformationen verbreitet und mit der künstlichen Intelligenz befeuern wir ein neues Informationsnetzwerk, das uns auszulöschen droht. Wenn wir so weise sind, warum sind wir dann so selbstzerstörerisch? Nexus erzählt, wie der Informationsfluss uns und unsere Welt geformt hat, von der Steinzeit über die Erfindung des Buchdrucks bis zum Aufstieg der Massenmedien und dem Wiederaufleben des Populismus in der heutigen Zeit. Yuval Noah Harari lenkt unseren Blick auf die komplexe Beziehung zwischen Information und Wahrheit, Bürokratie und Mythologie, Weisheit und Macht. Er beschreibt, wie Systeme wie das Römische Reich oder die Katholische Kirche Information genutzt haben, um ihre Ziele zu erreichen – zum Guten wie zum Schlechten. Und er befasst sich mit den drängenden Entscheidungen, vor denen wir heute stehen, da nicht-menschliche Intelligenz unsere Existenz bedroht. Information ist zwar nicht der Rohstoff der Wahrheit, doch sie ist auch keine bloße Waffe. Nexus erkundet den Mittelweg zwischen diesen Extremen und zeigt, wie sich unser gemeinsames Menschsein wiederentdecken lässt.

Yuval Noah Harari ist Historiker, Philosoph und Autor der Weltbestseller Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert sowie der mehrteiligen Graphic Novel Sapiens und der illustrierten Kinderbuchreihe Unstoppable Us. Er gilt als einer der einflussreichsten Intellektuellen weltweit. 1976 in Israel geboren, promovierte Harari in Oxford und lehrt derzeit Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem, außerdem ist er Distinguished Research Fellow am Centre for the Study of Existential Risk der University of Cambridge. Gemeinsam mit seinem Ehemann Itzik Yahav gründete er »Sapienship« – eine in den Bereichen Bildung und Storytelling engagierte Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die öffentliche Debatte zur Bewältigung der aktuellen globalen Herausforderungen voranzutreiben.

»Der große Denker unserer Zeit« – The Times

»Interessant und provokativ« – Barack Obama über Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit

www.penguin-verlag.de

YUVAL NOAH HARARI

Nexus

Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn

Die Originalausgabe erscheint 2024 unter dem Titel Nexus. A Brief History of Information Networks from the Stone Age to AI bei Random House, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2024 Yuval Noah Harari

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München,

nach einem Entwurf von © Suzanne Dean

Umschlagabbildung: Hector, die Brieftaube von Kaiser Napoleon III,

mit freundlicher Genehmigung von Tallandier/Bridgeman Images

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32478-0V001

www.penguin-verlag.de

Für Itzik in Liebe und für alle, die die Weisheit lieben.

Auf einem Weg der tausend Träume suchen wir die Wirklichkeit.

Inhalt

Prolog

TEIL I MENSCHLICHENETZWERKE

1 Was ist Information?

2 Erzählungen – Verbindung ohne Grenzen

3 Dokumente – Der Biss des Papiertigers

4 Irrtümer – Die Fantasie der Unfehlbarkeit

5 Entscheidungen – Eine kurze Geschichte von Demokratie und Totalitarismus

TEILIIDASANORGANISCHENETZWERK

6 Die neuen Mitglieder – Warum sich Computer von Druckerpressen unterscheiden

7 Unerbittlich – Das Netzwerk ist immer im Dienst

8 Fehlbar – Das Netzwerk liegt häufig falsch

TEILIIICOMPUTERPOLITIK

9 Demokratien – Können wir noch ein Gespräch führen?

10 Totalitarismus – Alle Macht den Algorithmen?

11 Der Silicon Curtain – Globales Imperium oder globale Spaltung?

Epilog

Dank

Anmerkungen

Prolog

Wir nennen unsere Spezies Homo sapiens – der weise Mensch. Es ist jedoch fraglich, welche Ehre wir diesem Namen machen.

In den vergangenen 100 000 Jahren haben wir gewaltige Macht erworben. Allein die Auflistung all unserer Entdeckungen, Erfindungen und Eroberungen würde viele Bücher füllen. Doch Macht ist nicht gleich Weisheit, und nach 100 000 Jahren der Entdeckungen, Erfindungen und Eroberungen hat sich die Menschheit in eine existenzielle Krise manövriert. Wir stehen am Rande eines ökologischen Zusammenbruchs, verschuldet durch den Missbrauch unserer Macht. Wir entwickeln neue Technologien wie die künstliche Intelligenz (KI), die das Potenzial haben, sich unserer Kontrolle zu entziehen und uns zu versklaven oder gar zu vernichten. Doch die Menschheit tut sich nicht etwa zusammen, um diesen Bedrohungen geschlossen entgegenzutreten, sondern die internationalen Spannungen nehmen zu, die globale Zusammenarbeit wird immer schwieriger, Länder horten Vernichtungswaffen, und ein neuer Weltkrieg scheint nicht mehr undenkbar.

Wenn wir so weise sind, warum sind wir dann so selbstzerstörerisch?

Die gewaltigen Mengen von Information, die wir über alles – von DNA-Molekülen bis hin zu Galaxien – angehäuft haben, geben uns auf einer tieferen Ebene keine Antwort auf die großen Fragen des Lebens: Wer sind wir? Wonach sollten wir streben? Was ist ein gutes Leben, und wie sollten wir es leben? Trotz der atemberaubenden Informationsfülle, die wir zur Verfügung haben, sind wir genauso anfällig für Fantasie und Täuschung wie unsere Vorfahren. Nationalsozialismus und Stalinismus sind nur zwei jüngere Beispiele für den Massenwahn, dem auch moderne Gesellschaften erliegen können. Niemand würde bezweifeln, dass wir Menschen heute über viel mehr Information und Macht verfügen als in der Steinzeit, doch es ist keineswegs ausgemacht, dass wir uns und unsere Rolle im Universum heute sehr viel besser verstehen.

Warum fällt es uns so leicht, immer mehr Information und Macht anzuhäufen, und warum fällt es uns so schwer, weiser zu werden? Unsere Vorfahren gelangten immer wieder zu dem Schluss, dass wir eine fatale Schwäche haben, die uns dazu verführt, Kräfte zu erwerben, die wir nicht mehr beherrschen können. Der griechische Mythos des Phaethon berichtet von einem Jungen, der erfährt, dass er der Sohn des Sonnengottes Helios ist. Um seine göttliche Herkunft unter Beweis zu stellen, verlangt er von seinem Vater, den Sonnenwagen lenken zu dürfen. Helios warnt seinen Sohn, dass kein Sterblicher die himmlischen Pferde zügeln kann, die den Wagen ziehen. Doch Phaethon bleibt hartnäckig, und schließlich gibt der Vater nach. Nachdem Phaethon den Himmel hinaufgefahren ist, verliert er tatsächlich die Kontrolle über den Wagen. Die Sonne kommt vom Kurs ab, versengt alle Vegetation, tötet zahllose Lebewesen und droht, die Erde selbst zu verbrennen. Da schreitet Zeus ein und schleudert seinen Donner nach dem Wagen. Der arrogante Mensch stürzt vom Himmel wie eine leuchtende Sternschnuppe. Die Götter behaupten ihre Herrschaft über den Himmel und retten die Welt.

Zwei Jahrtausende später, als die Industrielle Revolution ihre ersten Gehversuche unternahm und Maschinen den Menschen zu ersetzen begannen, schrieb Johann Wolfgang von Goethe ein ähnlich warnendes Gedicht mit dem Titel »Der Zauberlehrling«. Goethes Ballade (die Sie möglicherweise in Walt Disneys Fassung mit Micky Maus kennen) erzählt, wie ein alter Zauberer seinen jungen Lehrling in seiner Werkstatt allein lässt und ihm aufträgt, in seiner Abwesenheit ein paar Arbeiten zu erledigen. Unter anderem soll der Junge Wasser vom Fluss holen, doch um sich die Arbeit ein wenig zu erleichtern, befielt er einem Hexenbesen, das Wasser für ihn zu tragen. Weil der Lehrling jedoch den Zauberspruch nicht kennt, mit dem er dem Besen wieder Einhalt gebieten kann, schleppt dieser unermüdlich immer mehr Wasser heran und droht die Werkstatt zu überfluten. In seiner Verzweiflung nimmt der Junge ein Beil und spaltet den Besen, doch nun schleppen zwei Besen noch mehr Wasser heran. Als der Zauberer endlich nach Hause kommt, fleht ihn der Lehrling um Hilfe an:

Herr, die Not ist groß!

Die ich rief, die Geister

Werd’ ich nun nicht los.

Der Meister beendet den Spuk umgehend und gebietet der Flut Einhalt. Die Lektion für den Lehrling und die Menschheit ist klar: Rufe nie Mächte herbei, die du nicht beherrschen kannst.

Was bedeuten diese beiden Geschichten von Phaethon und dem Zauberlehrling für uns im 21. Jahrhundert? Wir Menschen haben uns ganz offensichtlich geweigert, die Warnung zu hören. Wir haben das Klima des Planeten aus dem Gleichgewicht gebracht und Milliarden von Hexenbesen, Drohnen, Chatbots und anderen algorithmischen Geistern beschworen, die sich unserer Kontrolle entziehen und eine Flut unbeabsichtigter Folgen entfesseln könnten.

Was also sollen wir tun? Darauf gibt keine der beiden Geschichten eine Antwort, außer, dass wir auf einen Gott oder Zauberer warten müssen, der uns rettet. Das ist natürlich eine gefährliche Botschaft. Sie hält uns dazu an, die Verantwortung abzuwälzen und auf höhere Mächte zu hoffen. Schlimmer noch: Sie vergisst, dass Götter und Zauberer selbst menschliche Erfindungen sind – genau wie Sonnenwagen, Hexenbesen und Algorithmen. Unsere Marotte, mächtige Dinge zu erschaffen, die sich in unvorhergesehener Weise verhalten, ist älter als die Dampfmaschine oder die künstliche Intelligenz. Propheten und Theologen haben immer wieder mächtige Geister beschworen, die Liebe und Freude bringen sollten und am Ende die Welt in Blut getaucht haben.

Der Mythos von Phaethon und Goethes Zauberlehrling können uns keine sinnvollen Antworten geben, weil sie missverstehen, woher wir Menschen unsere Macht beziehen. In beiden Erzählungen erhält ein einzelner Mensch große Macht und erliegt prompt seinem Hochmut und seiner Gier. Das heißt, unsere mit Mängeln behaftete individuelle Psyche bringt uns dazu, Macht zu missbrauchen. Doch diese holzschnittartige Analyse übersieht, dass Macht nie das Resultat der Initiative von Einzelnen ist. Macht ergibt sich immer aus der Zusammenarbeit einer Vielzahl von Menschen.

Daher ist es auch nicht unsere individuelle Psyche, die für Machtmissbrauch verantwortlich ist. Menschen sind schließlich nicht nur zu Gier, Hochmut und Grausamkeit fähig, sondern auch zu Liebe, Mitgefühl, Demut und Freude. Es stimmt zwar, dass die schlimmsten Exemplare unserer Spezies von Gier und Grausamkeit beherrscht werden und deshalb ihre Macht missbrauchen. Doch warum sollten Gesellschaften gerade diesen Menschen Macht anvertrauen? Im Jahr 1933 waren die meisten Deutschen keine Psychopathen. Warum stimmten sie also für Hitler?

Wenn wir dazu neigen, Kräfte heraufzubeschwören, die wir nicht beherrschen, dann hat dies nichts mit unserer Psyche zu tun, sondern mit unserer einmaligen Art und Weise, in großen Gruppen zu kooperieren. Die zentrale These dieses Buches ist, dass die Menschheit gewaltige Macht erwirbt, indem sie kooperative Netzwerke aufbaut, dass jedoch die Konstruktionsweise dieser Netze dem unklugen Gebrauch dieser Macht Vorschub leistet.

Konkret handelt es sich um ein Informationsproblem. Information ist das Garn, das diese Netzwerke zusammenhält. Doch über Zehntausende von Jahren knüpften Sapiens ihre großen Netzwerke mithilfe von Fiktionen, Fantasien und Trugbildern – über Götter, Hexenbesen, KI und vieles mehr. Für sich genommen sind Menschen in der Regel daran interessiert, die Wahrheit über sich und die Welt herauszufinden, doch große Netzwerke arbeiten mit Fiktionen und Illusionen, um ihre Mitglieder an sich zu binden und für Ordnung zu sorgen. So kam es zu Nationalsozialismus und Stalinismus. Beides waren extrem mächtige Netzwerke, die durch außergewöhnlich verworrene Ideen zusammengehalten wurden. Wie George Orwell schon sagte: »Ignoranz ist Stärke.«

Die Tatsache, dass die Regime der Nationalsozialisten und Stalinisten von grausamen Fantasien und schamlosen Lügen zusammengehalten wurden, macht sie nicht zu einer historischen Ausnahme, und sie ist auch nicht der Grund für ihren Untergang. Nationalsozialismus und Stalinismus gehören zu den stärksten je von Menschen geschaffenen Netzwerken. Ende 1941 und Anfang 1942 standen die Achsenmächte kurz davor, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Stalin ging schließlich als Sieger aus dem Krieg hervor,[1] und in den 1950er und 1960er Jahren hatten er und seine Nachfolger sogar gute Chancen, den Kalten Krieg zu gewinnen. Anfang der 1990er Jahre gewannen die freiheitlichen Demokratien die Oberhand, doch aus heutiger Sicht scheint dieser Sieg nur vorübergehend gewesen zu sein. Im 21. Jahrhundert könnte ein totalitäres Regime dort erfolgreich sein, wo Hitler und Stalin scheiterten, und ein allmächtiges Netzwerk schaffen, das verhindert, dass künftige Generationen auch nur versuchen, seine Lügen und Fiktionen zu entlarven. Wir sollten nicht annehmen, dass auf Wahnvorstellungen basierende Netzwerke automatisch zum Scheitern verurteilt sind. Wenn wir ihren Sieg abwenden wollen, müssen wir einige Anstrengungen auf uns nehmen.

Das naive Informationsverständnis

Es fällt uns schwer, zu verstehen, wie stark auf Wahnvorstellungen basierende Netzwerke sein können, weil wir einem Irrtum darüber aufsitzen, wie große Informationsnetzwerke – ob wahnhaft oder nicht – ganz allgemein funktionieren. Schuld an diesem Irrtum ist etwas, was ich hier als »naives Informationsverständnis« bezeichne. Während Geschichten wie der Mythos von Phaethon und das Gedicht vom Zauberlehrling ein allzu pessimistisches Bild von unserer Psyche zeichnen, steht das naive Informationsverständnis für eine allzu optimistische Sicht großer menschlicher Netzwerke.

Dieses naive Verständnis geht davon aus, dass große Netzwerke mehr Information sammeln und verarbeiten können als Einzelpersonen und auf diese Weise Fortschritte auf Gebieten wie Medizin, Physik, Wirtschaft und so weiter ermöglichen; deshalb sind diese Netzwerke nicht nur mächtig, sondern auch weise. Wenn zum Beispiel Pharmakonzerne und wissenschaftliche Einrichtungen Information über Erreger sammeln, können sie wirkungsvollere Medikamente entwickeln und bessere Entscheidungen über deren Einsatz treffen. Diese Sicht geht davon aus, dass eine ausreichende Menge an Information zur Wahrheit führt und dass Wahrheit wiederum der Macht und der Weisheit dienlich ist. Unwissenheit hat dagegen keine Zukunft. In Momenten der Krise können zwar auf Wahnvorstellungen und Lügen gegründete Netzwerke entstehen, doch langfristig haben sie keine Chance gegen scharfsichtige und aufrichtige Gegenspieler. Das naive Informationsverständnis geht davon aus, dass es sich bei den auf Wahnvorstellungen basierenden Netzwerken um Ausreißer handelt und dass große Netzwerke in aller Regel weise mit Macht umgehen.

Das naive Informationsverständnis

Natürlich räumt auch das naive Informationsverständnis ein, dass auf dem Weg von der Information zur Wahrheit einiges schiefgehen kann. So können uns zum Beispiel beim Erwerb und der Verarbeitung der Information nicht beabsichtigte Fehler unterlaufen. Oder unlautere und von Hass und Gier motivierte Akteure können wichtige Fakten zurückhalten oder versuchen, uns zu täuschen. Daher kommt es durchaus vor, dass Information nicht zur Wahrheit führt, sondern zum Irrtum. Aufgrund unvollständiger Daten, fehlerhafter Auswertung oder gezielter Desinformation können selbst Experten die wahren Ursachen einer Krankheit falsch benennen.

Das naive Informationsverständnis geht davon aus, dass sich die meisten Probleme beim Erwerb und der Verarbeitung von Information beheben lassen, indem man einfach mehr Information sammelt und verarbeitet. Wir seien zwar nie vor Irrtümern gefeit, doch in den meisten Fällen bedeute mehr Information auch größere Richtigkeit. Ein Mediziner, der die Ursachen einer Epidemie aus der Untersuchung eines einzigen Patienten ermitteln will, hat vermutlich weniger Erfolg als Tausende Mediziner, die die Daten von Millionen von Patienten erheben. Und wenn sich die Ärzte verschwören und die Wahrheit verschweigen, fliegt diese Täuschung auf, sobald die Presse und eine größere Öffentlichkeit Zugang zu medizinischer Information erhalten. Je größer ein Netzwerk, desto näher kommt es der Wahrheit, so das naive Informationsverständnis.

Doch selbst wenn wir die Information korrekt auswerten und wichtige Wahrheiten herausziehen, ist noch lange nicht sichergestellt, dass wir die Möglichkeiten, die sich für uns daraus ergeben, auch weise nutzen. Weisheit bedeutet nach allgemeinem Verständnis, »richtige Entscheidungen zu treffen«, doch was »richtig« ist, hängt von Werturteilen ab, die sich je nach Land, Kultur oder Ideologie unterscheiden können. Wissenschaftler, die einen neuen Krankheitserreger entdecken, könnten mit dieser Information einen Impfstoff entwickeln, um Menschen zu schützen. Aber wenn die Wissenschaftler und ihre politischen Auftraggeber eine rassistische Ideologie vertreten, die behauptet, dass einige »Rassen« minderwertig sind und ausgerottet werden müssen, dann könnte dieses neue medizinische Wissen auch zur Entwicklung eines biologischen Kampfstoffs verwendet werden, mit dem Millionen Menschen getötet werden könnten.

Auch in diesem Fall glaubt das naive Informationsverständnis, dass mehr Information mindestens teilweise eine Lösung bietet. Dieses naive Verständnis glaubt, dass unterschiedliche Werte bei genauerem Hinsehen auf fehlende Information oder gezielte Desinformation zurückzuführen sind. Demnach wären Rassisten ganz einfach schlecht informierte Menschen, die die Fakten der Biologie und Geschichte nicht kennen. Sie halten »Rasse« irrtümlich für eine biologische Tatsache und sind Opfer einer Hirnwäsche durch verlogene Verschwörungserzählungen. Rassismus lässt sich also bekämpfen, indem man die Menschen über biologische und historische Tatsachen aufklärt. Das braucht zwar seine Zeit, doch auf dem freien Markt der Information wird sich die Wahrheit früher oder später durchsetzen.

Dieses naive Informationsverständnis ist natürlich subtiler und intelligenter, als sich hier in ein paar Absätzen darstellen lässt. Doch seine Grundannahme ist, dass Information im Wesentlichen eine gute Sache ist, und je mehr wir davon haben, desto besser. Wenn wir genug Information und Zeit zur Verfügung haben, finden wir früher oder später die Wahrheit über alles heraus, seien es Virusinfektionen oder rassistische Vorurteile. Auf diese Weise vergrößern wir nicht nur unsere Macht, sondern auch die Weisheit, die nötig ist, um guten Gebrauch von ihr zu machen.

Das naive Informationsverständnis rechtfertigt die Entwicklung immer leistungsfähigerer Informationstechnologien und ist die inoffizielle Ideologie des Computer- und Internetzeitalters. Im Juni 1989, wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Eisernen Vorhangs, erklärte der amerikanische Präsident Ronald Reagan: »Der Goliath der totalitären Herrschaft wird durch den David des Mikrochips schnell zu Fall gebracht werden.« Und weiter: »Der größte aller Big Brothers ist zunehmend machtlos gegenüber der Kommunikationstechnologie … Information ist die Atemluft des modernen Zeitalters … Sie sickert durch stahldrahtgesicherte Mauern. Sie schwebt über verminte Grenzen hinweg. Der Elektronenstrahl dringt durch den Eisernen Vorhang, als sei er aus Stoff.«[2] Ein ähnlicher Geist sprach aus der Rede, die der amerikanische Präsident Barack Obama im November 2009 in Shanghai hielt: »Ich glaube an die Technik und an die Offenheit, wenn es um Informationsströme geht. Ich glaube, je freier Information fließt, desto stärker wird eine Gesellschaft.«[3]

Unternehmer und Konzerne haben oft ähnlich rosige Ansichten zum Thema Information zum Ausdruck gebracht. Schon 1858 hieß es in der Zeitung The New Englander in einem Kommentar zur Erfindung des Telegrafen: »Alte Vorurteile und Feindseligkeiten können unmöglich weiter Bestand haben, wenn ein solches Instrument für den Gedankenaustausch zwischen allen Ländern der Erde geschaffen wurde.«[4] Fast zwei Jahrhunderte und zwei Weltkriege später verkündete Mark Zuckerberg, Facebook habe es sich zum Ziel gesetzt, »den Menschen den Austausch zu erleichtern, um die Welt offener zu machen und die Völkerverständigung zu fördern«.[5]

In seinem Buch Die nächste Stufe der Evolution aus dem Jahr 2024 gibt der Zukunftsforscher und Unternehmer Ray Kurzweil einen Überblick über die Geschichte der Informationstechnologie und kommt zu dem Schluss: »Fakt ist, dass der exponentielle Fortschritt der Technologie fast jeden Aspekt unseres Lebens verbessert.« Im Rückblick auf die Geschichte der Menschheit führt er Beispiele wie die Erfindung der Druckerpresse an, um zu belegen, dass die Informationstechnologie an sich »in nahezu allen Bereichen des menschlichen Lebens einen positiven Selbstverstärkungseffekt in Gang bringt, zum Beispiel bei Alphabetisierung, Bildung, Wohlstand, Hygiene, Gesundheit, Demokratisierung und Reduzierung von Gewalt«.[6]

Das Leitbild von Google bringt das naive Informationsverständnis vielleicht am besten auf den Punkt: »Unsere Mission ist es, die Information dieser Welt zu organisieren und allgemein zugänglich und nutzbar zu machen.« Auf Goethes Warnung antwortet Google, dass ein einziger Lehrling mit dem Zauberbuch des Hexenmeisters zwar großen Schaden anrichten kann, dass jedoch viele Lehrlinge mit freiem Zugang zur geballten Information der Welt die Hexenbesen nicht nur nutzbringend einsetzen, sondern auch den weisen Umgang mit ihnen lernen werden.

Google versus Goethe

In der Tat gibt es viele Fälle, in denen mehr Information unser Verständnis der Welt verbessert und uns einen weiseren Umgang mit unserer Macht ermöglicht hat. Ein Beispiel ist der dramatische Rückgang der Kindersterblichkeit. Johann Wolfgang von Goethe war das älteste von sieben Geschwistern, doch nur er und seine Schwester Cornelia erlebten ihren siebten Geburtstag. Ihr Bruder Hermann Jacob wurde im Alter von sechs Jahren von einer Krankheit hinweggerafft, ihre Schwester Catharina Elisabeth mit sechs, ihre Schwester Johanna Maria mit zwei Jahren und ihr Bruder Georg Adolf mit acht Monaten; ein fünftes, namenloses Kind kam tot zur Welt. Im Alter von 26 Jahren erlag auch Cornelia einer schweren Krankheit, womit Johann Wolfgang der einzige Überlebende der Kinderschar war.[7]

Goethe selbst hatte später fünf Kinder, die mit Ausnahme seines ältesten Sohnes August allesamt innerhalb der ersten beiden Wochen nach der Geburt starben. Ursache war vermutlich eine Unverträglichkeit der Blutgruppen Goethes und seiner Frau Christiane, aufgrund derer die Mutter nach der ersten erfolgreichen Geburt Antikörper gegen das Blut des Fötus entwickelt. Diese sogenannte Rhesus-Unverträglichkeit lässt sich heute so gut behandeln, dass die Sterblichkeit weniger als 2 Prozent beträgt, doch in den 1790er Jahren lag sie bei 50 Prozent, und für die vier jüngeren Kinder Goethes war sie das Todesurteil.[8]

Bei den Goethes – einer wohlhabenden Familie des 18. Jahrhunderts – lag die Überlebensrate der Kinder damit bei traurigen 25 Prozent: Nur drei von zwölf Kindern erreichten das Erwachsenenalter. Doch diese betrübliche Zahl war keine Ausnahme. Um das Jahr 1797, als Goethe seinen »Zauberlehrling« schrieb, erlebten in Deutschland nur schätzungsweise 50 Prozent der Kinder das fünfzehnte Lebensjahr,[9] und in den meisten Teilen der Welt war es vermutlich nicht besser.[10] Im Jahr 2020 erreichten dagegen 95,6 Prozent aller Kinder weltweit das fünfzehnte Lebensjahr,[11] in Deutschland waren es 99,5 Prozent.[12] Diese gewaltige Leistung wäre undenkbar gewesen ohne die Sammlung, Auswertung und Weitergabe gewaltiger Mengen von medizinischen Daten zum Beispiel über Blutgruppen. In diesem Fall hat das naive Informationsverständnis also recht.

Doch das ist nur ein Teil des Bildes, und in der modernen Geschichte geht es nicht nur um die Verringerung der Kindersterblichkeit. Die heutigen Generationen haben den größten Zuwachs bei der Menge und Geschwindigkeit der Informationsproduktion erlebt. Auf jedem Handy befindet sich heute mehr Information als in der antiken Bibliothek von Alexandria,[13] und die Geräte ermöglichen den Nutzern den sofortigen Kontakt zu Milliarden anderen Nutzern aus aller Welt. Doch obwohl diese Unmengen an Information mit atemberaubender Geschwindigkeit zirkulieren, ist die Menschheit der Selbstauslöschung heute näher denn je.

Trotz – oder gerade wegen – dieser Datenmengen stoßen wir nach wie vor Treibhausgase in die Atmosphäre aus, verschmutzen Flüsse und Meere, roden Wälder, zerstören Lebensräume, löschen ungezählte Arten aus und gefährden die ökologischen Grundlagen unserer Spezies. Daneben produzieren wir immer mächtigere Massenvernichtungswaffen, von Atombomben bis hin zu apokalyptischen Viren. Unseren Politikern mangelt es nicht an Information über diese Gefahren, doch statt gemeinsam nach Lösungen zu suchen, kommen sie dem Weltkrieg immer näher.

Würde noch mehr Information die Lage verbessern oder verschlechtern? Das werden wir bald herausfinden. Zahllose Konzerne und Regierungen befinden sich in einem Wettlauf um die Entwicklung der mächtigsten aller bisherigen Informationstechnologien: die künstliche Intelligenz. Unternehmer wie der amerikanische Investor Marc Andreessen sind der Ansicht, dass die künstliche Intelligenz endlich sämtliche Probleme der Menschheit lösen wird. In einem Artikel vom 6. Juni 2023 erklärte er, warum KI die Welt retten wird. Der Artikel ist gespickt mit kühnen Verheißungen wie: »Ich bringe euch die frohe Kunde: Die künstliche Intelligenz wird die Welt nicht zerstören, sondern retten.« Und: »Künstliche Intelligenz kann alles, was uns am Herzen liegt, besser machen.« Er schließt mit dem Satz: »Die Entwicklung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz ist alles andere als eine Gefahr, vor der wir uns fürchten müssen – es ist vielmehr eine moralische Pflicht, die wir uns, unseren Kindern und der Zukunft gegenüber haben.«[14]

Ray Kurzweil stimmt dem zu und behauptet in Die nächste Stufe der Evolution: »Künstliche Intelligenz ist die Schlüsseltechnologie, mit deren Hilfe wir die drängenden Aufgaben lösen werden, vor denen wir stehen, darunter der Sieg über Krankheit, Armut, Umweltzerstörung und all unsere menschlichen Schwächen. Wir haben die moralische Verpflichtung, die Versprechen dieser neuen Technologien wahr zu machen.« Kurzweil ist sich zwar der Gefahren dieser Technik bewusst und geht ausführlich darauf ein, doch er ist überzeugt, dass sie sich erfolgreich entschärfen lassen.[15]

Andere sind da skeptischer. Nicht nur Philosophen und Sozialwissenschaftler, sondern auch viele führende KI-Experten wie Yoshua Bengio, Geoffrey Hinton, Sam Altman, Elon Musk und Mustafa Suleyman haben die Öffentlichkeit gewarnt, dass die KI unsere Zivilisation zerstören könnte.[16] In einem Artikel aus dem Jahr 2024 warnten Bengio, Hinton und andere Experten: »… unkontrollierte Entwicklung der künstlichen Intelligenz kann den Verlust von zahlreichen Leben und der Biosphäre sowie die Verdrängung oder gar Auslöschung der Menschheit zur Folge haben.«[17] Bei einer Umfrage unter 2778 KI-Forschern, die im Jahr zuvor durchgeführt wurde, gab mehr als ein Drittel an, sie schätzten die Wahrscheinlichkeit einer Auslöschung der Menschheit durch fortschrittliche künstliche Intelligenz auf über 10 Prozent.[18] Ebenfalls 2023 unterzeichneten fast dreißig Nationen – darunter China, die Vereinigten Staaten und Großbritannien – die Bletchley Declaration, die einräumte, dass »die KI-Modelle mit ihren herausragenden Fähigkeiten die Gefahr bergen, beabsichtigt oder unbeabsichtigt schweren oder gar katastrophalen Schaden anzurichten«.[19] Mit apokalyptischen Formulierungen wie diesen wollen Experten und Regierungen keine Hollywoodfantasien von rebellierenden Robotern beschwören, die durch die Straßen laufen und Menschen erschießen. Ein solches Szenario ist unwahrscheinlich und lenkt nur von den wahren Gefahren ab. Experten warnen vielmehr vor zwei anderen Möglichkeiten.

Erstens könnte KI bestehende Konflikte weiter verschärfen und die Menschheit spalten. Ähnlich wie der Eiserne Vorhang, der im 20. Jahrhundert die rivalisierenden Blöcke trennte, könnte im 21. Jahrhundert ein Silicon Curtain – ein Siliziumvorhang aus Mikrochips und Computerprogrammen statt Stacheldraht – die Welt in einem neuen globalen Konflikt teilen. Da der neue Rüstungswettlauf um künstliche Intelligenz Waffen mit immer größerem Vernichtungspotenzial hervorbringt, könnte schon ein kleiner Funke einen fatalen Flächenbrand entzünden.

Und zweitens könnte sich dieser Silicon Curtain zwischen uns Menschen und unsere neuen, künstlich intelligenten Herrscher legen. Egal, wo wir leben, könnten wir in ein Gespinst von undurchschaubaren Algorithmen verstrickt werden, die unser Leben bestimmen, unsere Politik und Kultur umkrempeln und uns selbst bis in unseren Körper und unsere Psyche hinein umstrukturieren, während wir die Kräfte, die uns kontrollieren, nicht mehr durchschauen und noch viel weniger beherrschen. Sollte es einem totalitären Netzwerk des 21. Jahrhunderts gelingen, die Welt zu erobern, dann wird es möglicherweise nicht von einem menschlichen Diktator gelenkt, sondern von einer nicht-menschlichen Intelligenz. Wer China, Russland oder die post-demokratischen Vereinigten Staaten als Hauptgefahr für einen totalitären Albtraum erachtet, hat die Gefahr nicht verstanden. Die wahre Bedrohung für Chinesen, Russen, Amerikaner und die gesamte Menschheit ist das totalitäre Potenzial der nicht-menschlichen Intelligenz.

Angesichts der Dimension der Gefahr geht die künstliche Intelligenz uns alle an. Nicht jeder von uns kann KI-Experte werden, doch wir sollten nie vergessen, dass KI die erste Technologie der Geschichte ist, die eigenständig Entscheidungen treffen und Ideen hervorbringen kann. Alle früheren menschlichen Erfindungen haben den Menschen gestärkt, denn egal, wie mächtig ein Instrument war, blieb die Entscheidung über seinen Einsatz in unserer Hand. Messer und Bomben entscheiden nicht selbst, wen sie töten. Sie sind »dumme« Werkzeuge, denn sie verfügen nicht über die Intelligenz, die erforderlich ist, um selbstständig Information zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen. KI ist dagegen in der Lage, Information ohne menschliches Zutun zu verarbeiten und so den Menschen bei der Entscheidungsfindung überflüssig zu machen. KI ist kein Werkzeug, KI ist ein Akteur.

Dank dieser Kontrolle über die Information kann die künstliche Intelligenz auch eigenständig neue Ideen generieren, von der Musik bis zur Medizin. Grammofone haben unsere Musik abgespielt, Mikroskope haben uns die Geheimnisse unserer Zellen vor Augen geführt, doch Grammofone können keine neuen Sinfonien komponieren und Mikroskope keine neuen Medikamente erfinden. Die künstliche Intelligenz ist dagegen in der Lage, selbst Kunst hervorzubringen und Entdeckungen zu machen. In den kommenden Jahrzehnten wird sie vermutlich sogar lernen, neue Lebensformen zu erschaffen, entweder durch die Programmierung von genetischem Code oder durch die Erfindung eines anorganischen Codes, der nicht-organische Wesen belebt.

Schon heute, in der Frühphase der KI-Entwicklung, treffen Computer Entscheidungen über uns – ob wir eine Hypothek oder eine Stelle bekommen oder ob wir ins Gefängnis gehen müssen. Diese Entwicklung wird sich nur weiter verstärken und beschleunigen und es uns schwerer machen, unser eigenes Leben zu verstehen. Können wir darauf vertrauen, dass Computeralgorithmen weise Entscheidungen treffen und bessere Arbeit machen? Die Gefahren sind viel größer als bei einem Hexenbesen, dem wir auftragen, Wasser für uns zu holen. Dabei spielen wir nicht nur mit der Existenz der Menschheit. KI hat das Zeug, nicht nur den Lauf der Geschichte unserer Spezies zu verändern, sondern die Evolution des gesamten Lebens.

Information als Waffe

In meinem 2016 erschienen Buch Homo Deus schildere ich einige der Gefahren, die der Menschheit durch die neuen Informationstechnologien drohen. Ich erkläre, warum der wahre Held der Menschheitsgeschichte schon immer die Information war und nicht Homo sapiens, und dass Wissenschaftler nicht nur die Geschichte, sondern auch Biologie, Politik und Wirtschaft als Informationsströme verstehen. Tiere, Staaten und Märkte sind nichts anderes als Informationsnetzwerke, die Daten aus der Umwelt aufnehmen, Entscheidungen treffen und Daten zurückgeben. Wir hoffen zwar, dass uns bessere Informationstechnologien gesünder, glücklicher und mächtiger machen werden, doch in Homo Deus warne ich, dass sie uns im Gegenteil Macht nehmen und unsere körperliche und seelische Gesundheit zerstören können. Wenn wir uns nicht in Acht nehmen, könnten wir uns im Informationsfluss auflösen wie ein Klumpen Lehm in einem reißenden Strom, und die Menschheit könnte nicht mehr gewesen sein als ein leises Kräuseln im Datenstrom.

In den Jahren seit der Veröffentlichung von Homo Deus haben sich die Veränderungen weiter beschleunigt, und die Menschheit hat tatsächlich einen Teil ihrer Macht an Algorithmen verloren. Viele der Szenarien, die im Jahr 2016 noch wie Science-Fiction klangen – zum Beispiel, dass Algorithmen Kunst hervorbringen, sich als Menschen ausgeben, wesentliche Lebensentscheidungen für uns treffen und mehr über uns wissen könnten als wir selbst –, sind im Jahr 2024 Alltag geworden.

Vieles hat sich seit 2016 verändert. Die ökologische Krise hat sich weiter zugespitzt, internationale Spannungen haben sich verschärft, und eine Welle des Populismus hat selbst robuste Demokratien unterspült. Der Populismus stellt auch das naive Informationsverständnis vor eine radikale Herausforderung. Populistische Führer wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro und populistische Bewegungen und Verschwörungstheorien wie QAnon und die Querdenker behaupten, dass traditionelle Einrichtungen, die ihre Autorität aus der Verarbeitung von Information und der Suche nach Wahrheit beziehen, schlicht lügen. Beamte, Richter, Ärzte, Journalisten und Experten seien nichts weiter als elitäre Klüngel, die in Wirklichkeit gar kein Interesse an der Wahrheit hätten und stattdessen gezielt Desinformation verbreiteten, um sich auf Kosten »des Volkes« Macht und Privilegien zu verschaffen. Politiker wie Donald Trump und Bewegungen wie QAnon erlebten ihren Aufstieg zwar in einem konkreten politischen Kontext, der spezifisch für die Vereinigten Staaten der 2010er Jahre ist. Doch der Populismus mit seiner Ablehnung des Establishments ist viel älter als Trump und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen der Vergangenheit und Zukunft relevant. Vereinfacht gesagt, betrachtet der Populismus Information als Waffe.[20]

Das populistische Informationsverständnis

Extremere Spielarten des Populismus behaupten, dass es so etwas wie Wahrheit gar nicht gibt und dass jeder »seine eigene Wahrheit« hat, die er benutzt, um sich gegenüber seinen Widersachern einen Vorteil zu verschaffen. Wenn man dieser Sichtweise folgt, ist Macht die einzige Realität. Soziale Interaktionen sind nichts als Machtkämpfe, denn Menschen sind ausschließlich an Macht interessiert. Die Behauptung, man sei an etwas anderem interessiert – zum Beispiel an Wahrheit oder Gerechtigkeit –, wäre demzufolge nichts als eine Masche, um sich selbst mehr Macht zu verschaffen.

Wo und wann immer sich der Populismus mit der Ansicht durchsetzt, dass Information eine Waffe ist, wird die Sprache selbst ausgehöhlt. Substantive wie »Tatsache« oder Adjektive wie »korrekt« oder »wahrhaftig« verlieren an Bedeutung und verweisen nicht mehr auf eine gemeinsame objektive Wirklichkeit. Die Verwendung von Begriffen wie »Tatsache« oder »Wahrheit« provoziert bei einigen dann sofort die Nachfrage: »Wessen Tatsachen oder wessen Wahrheit meinen Sie?«

Dieses machtzentrierte und skeptische Informationsverständnis ist nicht neu und wurde nicht von Impfgegnern, Klimaleugnern oder Anhängern von Bolsonaro oder Trump erfunden. Solche Ansichten wurden lange vor 2016 verbreitet, sogar von einigen der klügsten Denker der Menschheit.[21] Michel Foucault, Edward Said und andere Intellektuelle der radikalen Linken behaupteten beispielsweise Ende des 20. Jahrhunderts, wissenschaftliche Einrichtungen wie die Klinik und die Universität suchten nicht nach universellen Wahrheiten, sondern nutzten ihre Macht vielmehr, um festzulegen, was als Wahrheit gelten dürfe, und zwar im Dienste der kapitalistischen und kolonialistischen Eliten. Diese radikale Kritik ging gelegentlich so weit, zu behaupten, »wissenschaftliche Tatsachen« seien nichts anderes als kapitalistische oder kolonialistische »Diskurse«, die Machthabenden seien gar nicht an der Wahrheit interessiert und würden eigene Fehler weder eingestehen noch korrigieren.[22]

Diese konkrete Linie des linken Denkens geht zurück auf das 19. Jahrhundert und Karl Marx, der behauptete, Macht sei die einzige Realität, Information sei eine Waffe und Eliten, die vorgeblich der Wahrheit und Gerechtigkeit dienten, handelten in Wirklichkeit nur im Dienste der Privilegien ihrer Klasse. Im Kommunistischen Manifest schrieb er 1848: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf.« Diese binäre Interpretation der Geschichte versteht jede menschliche Interaktion als Machtkampf zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Auf jede Aussage müssen wir also nicht fragen: »Was wird da gesagt? Stimmt das?«, sondern: »Wer sagt das? Wessen Privilegien dient es?«

Rechte Populisten wie Trump oder Bolsonaro haben zwar vermutlich weder Foucault noch Marx gelesen und präsentieren sich als entschiedene Gegner des Marxismus. In der Tat haben ihre Äußerungen zu politischen Themen wie Besteuerung oder Sozialstaat wenig mit Marxisten gemein. Doch ihr grundlegendes Verständnis von Gesellschaft und Information ist dem von Marx verblüffend nahe, denn auch sie sehen in allen menschlichen Interaktionen einen Machtkampf zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. So behauptete zum Beispiel Trump bei seiner Amtseinführung im Januar 2017: »Eine kleine Gruppe in der Hauptstadt unseres Landes hat den Lohn des Staates geerntet, und das Volk hat den Preis bezahlt.«[23] Formeln wie diese gehören zum Handwerkszeug des Populismus, den der Politikwissenschaftler Cas Mudde beschreibt als »Ideologie, derzufolge die Gesellschaft in zwei homogene und antagonistische Gruppen gespalten ist, ›das wahre Volk‹ und ›die korrupte Elite‹«.[24] So wie Marxisten behaupteten, die Medien seien nichts anderes als das Sprachrohr der kapitalistischen Klasse und wissenschaftliche Einrichtungen wie Universitäten verbreiteten Desinformation, um die kapitalistische Herrschaft zu zementieren, werfen Populisten denselben Einrichtungen vor, sie arbeiteten im Dienste »der korrupten Eliten« auf Kosten »des Volkes«.

Die Populisten von heute leiden unter denselben Widersprüchen wie die radikalen Gegner des Establishments in früheren Generationen. Wenn Macht die einzige Realität und Information nur eine Waffe ist, was sagt das dann über die Populisten selbst aus? Sind auch sie nur an der Macht interessiert? Lügen sie uns an, um sich Macht zu verschaffen?

Populisten versuchen, diesem Dilemma auf zwei unterschiedlichen Wegen zu entgehen. Einige populistische Bewegungen bedienen sich bei den Idealen der modernen Wissenschaft und der Tradition des skeptischen Empirismus. Sie raten den Menschen, keiner Institution und keiner Autoritätsperson Glauben zu schenken – auch nicht den selbst ernannten populistischen Parteien und Politikern. Stattdessen sollten sie ihre eigenen Nachforschungen anstellen und nur ihren eigenen Beobachtungen trauen.[25] Dieser radikal empirischen Position zufolge kann man großen Institutionen wie Parteien, Gerichten und Universitäten nicht vertrauen, doch Einzelne können durch persönlichen Einsatz die Wahrheit selbst herausfinden.

Dieser Ansatz mag wissenschaftlich klingen und Freigeister ansprechen, doch er lässt die Frage offen, wie menschliche Gemeinschaften zusammenarbeiten können, um zum Beispiel ein Gesundheitswesen aufzubauen oder Umweltschutzgesetze zu verabschieden, die große Organisationen voraussetzen. Ist ein Einzelner in der Lage, die Forschungsarbeit zu leisten, die nötig ist, um herauszufinden, ob sich das Klima der Erde erwärmt, und um Lösungen dafür zu finden? Wie soll ein einzelner Mensch Klimadaten aus der ganzen Welt zusammentragen, von verlässlichen Daten aus früheren Jahrhunderten ganz zu schweigen? Nur der eigenen Forschung zu vertrauen, mag wissenschaftlich klingen, doch in der Praxis ist es dasselbe wie die Behauptung, dass es keine objektive Wahrheit gibt. Wie wir in Kapitel 4 sehen werden, ist Wissenschaft ein gemeinschaftliches und institutionelles Projekt und keine Suche des Einzelnen.

Der zweite Ausweg aus dem populistischen Dilemma besteht darin, das moderne Wissenschaftsideal – die Suche nach der Wahrheit mithilfe der Forschung – aufzugeben und stattdessen auf göttliche Offenbarung oder Mystik zu vertrauen. Traditionelle Religionen wie das Christentum, der Islam und der Hinduismus beschreiben den Menschen als nicht vertrauenswürdiges, machthungriges Wesen, das nur dank der Intervention einer göttlichen Intelligenz zur Wahrheit findet. Seit den 2010er Jahren identifizieren sich populistische Parteien von Brasilien bis zur Türkei und von den Vereinigten Staaten bis nach Indien verstärkt mit traditionellen Religionen. Sie äußern radikale Zweifel an modernen Institutionen und bekunden ihr volles Vertrauen in heilige Schriften. Diese Populisten erklären, dass die Artikel in Tageszeitungen wie der New York Times oder in Fachzeitschriften wie Science nur eine Masche der Elite seien, die sich mehr Macht verschaffen wolle, und dass die Wahrheit einzig und allein in der Bibel, im Koran oder in den Veden zu finden sei.[26]

Eine Variation dieses Themas ist die Aufforderung an die Menschen, ihr ganzes Vertrauen in charismatische Führer wie Trump oder Bolsonaro zu setzen, die von ihren Anhängern entweder als Gesandte Gottes dargestellt werden[27] oder als Führer mit einer mystischen Verbindung zum »Volk«. Gewöhnliche Politiker würden lügen, um sich persönliche Macht zu verschaffen, doch diese Führer seien das unfehlbare Sprachrohr des Volkes, das alle Lügen entlarve.[28] Ein regelmäßig wiederkehrender Widerspruch des Populismus ist, dass er einerseits vor machthungrigen Eliten warnt und andererseits dazu auffordert, alle Macht einem einzelnen machthungrigen Mann anzuvertrauen.

In Kapitel 5 werden wir uns den Populismus genauer ansehen, doch an dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass Populisten das Vertrauen der Öffentlichkeit in große Institutionen und internationale Zusammenarbeit just in dem Moment untergraben, in dem sich die Menschheit existenzbedrohenden Gefahren wie dem ökologischen Kollaps, einem Weltkrieg oder der Entfesselung der Technologie gegenübersieht. Statt komplexen menschlichen Institutionen zu vertrauen, geben uns Populisten denselben Rat wie der Mythos des Phaethon oder der »Zauberlehrling«: »Vertraut darauf, dass Gott oder der alte Hexenmeister eingreift und alles wieder richtet.« Wenn wir uns an diesen Rat halten, befinden wir uns vermutlich bald unter der Knute von Machtmenschen der übelsten Sorte und als Nächstes unter der Knute der neuen KI-Herrscher. Oder wir befinden uns gar nirgends mehr, weil die Bedingungen auf der Erde kein menschliches Leben mehr zulassen.

Wenn wir unsere Macht nicht an charismatische Führer oder die undurchschaubare künstliche Intelligenz abgeben wollen, müssen wir zunächst besser verstehen, was Information ist, wie sie uns beim Aufbau von Netzwerken hilft und wie sie mit Wahrheit und Macht zusammenhängt. Populisten sind dem naiven Informationsverständnis gegenüber zu Recht skeptisch, doch sie irren, wenn sie glauben, dass Macht die einzige Realität und Information immer eine Waffe ist. Information ist zwar nicht der Rohstoff der Wahrheit, doch sie ist auch keine bloße Waffe. Zwischen diesen beiden Extremen ist genug Raum für ein differenziertes und optimistischeres Verständnis menschlicher Informationsnetzwerke und unserer Fähigkeit zu einem weisen Umgang mit Macht. Diese Mitte will dieses Buch erkunden.

Wie es weitergeht

Der erste Teil dieses Buches gibt einen Überblick über die historische Entwicklung von menschlichen Informationsnetzwerken. Er bietet keine Chronologie der Abfolge von Informationstechnologien wie Schrift, Druckerpresse und Rundfunk. Stattdessen geht er anhand von ausgewählten Beispielen den zentralen Widersprüchen nach, denen sich Menschen zu allen Zeiten beim Aufbau von Informationsnetzwerken gegenübergesehen haben, und untersucht, wie die verschiedenen Antworten auf diese Widersprüche ganz unterschiedliche Gesellschaften hervorgebracht haben. Dabei zeigt sich, dass viele der Konflikte, die wir als ideologische oder politische Auseinandersetzungen verstehen, in Wirklichkeit nichts anderes sind als das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Arten von Informationsnetzwerken.

Zu Beginn des ersten Teils untersuche ich zwei Grundbausteine großer menschlicher Informationsnetzwerke: Mythologie und Bürokratie. In Kapitel 2 und 3 beschreibe ich, wie sich diese Informationsnetzwerke – von antiken Königreichen bis hin zu modernen Staaten – immer auf Mythen und Bürokraten gestützt haben. So waren zum Beispiel die Erzählungen der Bibel wesentlich für die christliche Kirche, doch es hätte nie eine Bibel gegeben, wenn die Bürokraten der Kirche diese Erzählungen nicht sorgfältig ausgewählt, aufbereitet und verbreitet hätten. Es ist allerdings ein Dilemma aller menschlichen Informationsnetzwerke, dass die Mythenmacher und Bürokraten tendenziell in entgegengesetzte Richtungen ziehen. Institutionen und Gesellschaften definieren sich oft über das Gleichgewicht, das sie zwischen den widerstreitenden Bedürfnissen von Mythenerzählern und Bürokraten herstellen. Die christliche Kirche spaltete sich in rivalisierende Gruppen wie Katholiken und Protestanten auf, die jeweils unterschiedliche Antworten auf das Dilemma fanden.

In Kapitel 4 geht es um das Problem von falscher Information und die Vor- und Nachteile von Selbstkorrekturmechanismen, zum Beispiel unabhängigen Gerichten oder Fachzeitschriften mit externen Gutachtern. Institutionen mit schwacher Selbstkorrektur, zum Beispiel die Katholische Kirche, werden Institutionen mit starker Selbstkorrektur wie den Naturwissenschaften gegenübergestellt. Schwache Selbstkorrektur kann zu historischen Katastrophen wie der Hexenverfolgung im frühneuzeitlichen Europa führen, während starke Selbstkorrektur das Netz von innen heraus destabilisieren kann. Nach der schieren Langlebigkeit, Verbreitung und Macht zu urteilen, war die Katholische Kirche vielleicht die erfolgreichste Institution der Geschichte, trotz – oder vielleicht auch wegen – der relativen Schwäche ihrer Selbstkorrekturmechanismen.

Kapitel 5 beschließt den historischen Überblick mit einem weiteren Gegensatz, nämlich dem zwischen zentralisierten und dezentralisierten Informationsnetzwerken. In demokratischen Systemen fließt die Information frei durch zahlreiche unabhängige Kanäle, während totalitäre Systeme versuchen, die Information in einer Hand zu konzentrieren. Jede dieser Optionen hat ihre Stärken und Schwächen. Wenn wir politische Systeme wie die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion hinsichtlich des Informationsflusses verstehen, erklärt dies vieles über ihre unterschiedliche Entwicklung.

Der historische Teil des Buches ist wesentlich für das Verständnis von aktuellen Entwicklungen und Zukunftsszenarien. Der Aufstieg der KI ist vermutlich die größte Informationsrevolution in der Geschichte der Menschheit. »Geschichte« ist nicht die Beschäftigung mit der Vergangenheit, sondern die Beschäftigung mit Veränderung. Die Geschichte zeigt uns, was unverändert bleibt, was sich verändert und wie sich die Dinge verändern. Das ist für die Informationsrevolution genauso relevant wie für jeden anderen historischen Umbruch. Wenn wir verstehen, wie die Bibel in den Rang eines unfehlbaren Textes erhoben wurde, hilft uns dies, die aktuellen Unfehlbarkeitsansprüche der künstlichen Intelligenz besser einzuordnen. Die Beschäftigung mit den Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit und den stalinistischen Säuberungen ist eine krasse Warnung vor dem, was schiefgehen kann, wenn wir der künstlichen Intelligenz zu viel Kontrolle über die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts einräumen. Ein tiefes Verständnis der Geschichte ist auch Voraussetzung, um zu verstehen, was an der KI tatsächlich neu ist, inwiefern sich diese Technik grundsätzlich von der Druckerpresse und dem Radioapparat unterscheidet und wie sich eine künftige KI-Diktatur konkret von allem unterscheiden könnte, was wir bislang erlebt haben.

Ich behaupte nicht, dass uns die Beschäftigung mit der Vergangenheit in die Lage versetzt, die Zukunft vorherzusehen. Wie ich auf den kommenden Seiten immer wieder betonen werde, ist die Geschichte nicht vorherbestimmt, und die Zukunft wird von den Entscheidungen geprägt werden, die wir in den kommenden Jahren treffen. In diesem Buch geht es mir darum, zu zeigen, dass wir mit informierten Entscheidungen das Schlimmste verhindern können. Wenn wir die Zukunft nicht gestalten könnten, warum sollten wir dann unsere Zeit damit verschwenden, uns Gedanken über sie zu machen?

Aufbauend auf der historischen Grundlage des ersten Teils, untersucht der zweite – »Das anorganische Netzwerk« – das neue Informationsnetzwerk, das wir heute schaffen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Auswirkungen des Aufstiegs der künstlichen Intelligenz. Kapitel 6 bis 8 erörtern aktuelle Beispiele aus aller Welt – zum Beispiel die Rolle von Social-Media-Algorithmen bei der Anstachelung ethnischer Gewalt in Myanmar in den Jahren 2016 und 2017 –, um deutlich zu machen, inwieweit sich die KI von sämtlichen früheren Informationstechnologien unterscheidet. Die Beispiele stammen überwiegend aus den 2010er, nicht aus den 2020er Jahren, weil wir auf diese Ereignisse bereits eine gewisse historische Perspektive gewonnen haben.

Teil 2 zeigt, dass wir heute eine ganz neue Art von Informationsnetzwerk aufbauen, ohne innezuhalten und uns über mögliche Konsequenzen Gedanken zu machen. Im Vordergrund steht der Wandel von organischen zu anorganischen Informationsnetzwerken. Das Römische Reich, die Katholische Kirche und die Sowjetunion verwendeten menschliche Gehirne, um Information zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen. Die Mikroprozessoren, die das neue Informationsnetzwerk beherrschen, funktionieren radikal anders. Sie kennen keine der Einschränkungen, die die Biochemie den menschlichen Gehirnzellen auferlegt. Mikroprozessoren ermöglichen Spione, die nie schlafen, Geldgeber, die nie vergessen, und Tyrannen, die nie sterben. Wie verändert dies die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Politik?

Der dritte und letzte Teil des Buches – »Computerpolitik« – geht der Frage nach, wie unterschiedliche Gesellschaften mit den Gefahren und Chancen des anorganischen Informationsnetzwerks umgehen könnten. Haben kohlenstoffbasierte Lebensformen wie wir eine Chance, das neue Informationsnetzwerk zu verstehen und zu beherrschen? Die Geschichte ist nicht vorherbestimmt, und wir Sapiens haben es wenigstens noch ein paar Jahre lang in der Hand, unsere Zukunft zu gestalten.

Daher beschäftigt sich Kapitel 9 mit der Frage, wie Demokratien mit dem anorganischen Netzwerk umgehen könnten. Wie können zum Beispiel Politiker aus Fleisch und Blut Finanzentscheidungen treffen, wenn das Finanzsystem zunehmend von künstlicher Intelligenz beherrscht wird und die Institution des Geldes an sich von undurchschaubaren Algorithmen abhängig ist? Wie können wir in Demokratien öffentliche Debatten führen – sei es über Geld oder Geschlecht –, wenn wir nicht mehr wissen, ob wir mit einem anderen Menschen diskutieren oder mit einem Chatbot, der sich als Mensch ausgibt?

Kapitel 10 geht den möglichen Auswirkungen des anorganischen Netzwerks auf den Totalitarismus nach. Diktatoren würden sich zwar darüber freuen, wenn sie öffentliche Debatten abschaffen könnten, doch die künstliche Intelligenz bereitet ihnen andere Sorgen. Autokratien basieren darauf, ihre eigenen Bürger zu terrorisieren und zu zensieren. Aber wie kann ein menschlicher Diktator die KI terrorisieren, ihre undurchschaubaren Prozesse zensieren oder sie daran hindern, die Macht an sich zu reißen?

Kapitel 11 fragt schließlich, welche Auswirkungen das neue Informationsnetzwerk auf das globale Machtgleichgewicht zwischen demokratischen und autokratischen Gesellschaften haben könnte. Wird die künstliche Intelligenz den Ausschlag in die eine oder andere Richtung geben? Wird sich die Welt in verfeindete Blöcke aufspalten, deren Rivalität uns zu noch leichterer Beute für eine entfesselte KI macht? Oder können wir uns zum Schutz unserer gemeinsamen Interessen zusammentun?

Ehe wir uns jedoch mit der Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Zukunft von Informationsnetzwerken beschäftigen, müssen wir mit einer trügerisch einfachen Frage beginnen: Was genau ist Information?

TEIL 1MENSCHLICHE NETZWERKE

KAPITEL 1Was ist Information?

Grundlegende Konzepte zu definieren, ist immer knifflig. Da alles Folgende auf ihnen aufbaut, bauen sie scheinbar selbst auf nichts auf. Daher ringen zum Beispiel Physiker mit der Definition von Materie und Energie, Biologen können nicht sagen, was Leben ist, und Philosophen haben ihre liebe Not mit der Definition der Wirklichkeit.

Information gilt vielen Philosophen und Biologen, aber auch einigen Physikern inzwischen als Grundbaustein der Wirklichkeit, noch grundlegender als Materie und Energie.[1] Kein Wunder, dass über die Definition von Information heftig debattiert wird, genauso wie über ihre Beziehung zur Evolution des Lebens oder zu grundlegenden physikalischen Konzepten wie Entropie, den Gesetzen der Thermodynamik oder der Unschärferelation der Quantenphysik.[2] Dieses Buch unternimmt keinen Versuch, diese Diskussion zu klären oder auch nur nachzuzeichnen, und es will auch keine umfassende Definition der Information vorlegen, die in der Physik, der Biologie und allen anderen Wissensgebieten anwendbar wäre. Da es sich um ein historisches Werk handelt, das die Zukunft und Vergangenheit menschlicher Gesellschaften untersucht, konzentriert es sich auf die Definition und Rolle der Information in der Geschichte.

Im Alltagsgebrauch hängt Information mit menschengemachten Symbolen zusammen, zum Beispiel gesprochenen oder geschriebenen Worten. Zur Veranschaulichung wollen wir uns die Geschichte von Cher Ami und dem verschollenen Bataillon ansehen. Als die US-Armee im Oktober 1918 in den Ersten Weltkrieg eingriff, um die deutschen Truppen aus Nordfrankreich zurückzudrängen, geriet ein Bataillon mit mehr als 500 amerikanischen Soldaten hinter die deutschen Linien. Die Artillerie versuchte, ihnen Feuerschutz zu geben, doch dabei nahm sie die falsche Stellung ins Visier und beschoss die eigenen Leute. Der Kommandant des Bataillons, Major Charles Whittlesey, wollte die Einsatzleitung über den Irrtum informieren, doch kein menschlicher Kurier kam durch die deutschen Reihen. In seiner Verzweiflung griff Whittlesey zu Cher Ami, einer Brieftaube der Armee. Auf einen Papierschnipsel schrieb er: »Wir sind an der Straße parallel 276.4. Wir werden von unserer eigenen Artillerie beschossen. Stellt um Himmels willen das Feuer ein.« Der Zettel wurde in eine Kapsel an Cher Amis rechtem Fuß gesteckt, und damit flog die Taube los. John Nell, einer der Soldaten, erinnerte sich Jahre später: »Uns war klar, das war unsere letzte Chance. Wenn diese einsame und verängstigte Taube nicht in ihren Schlag zurückfand, dann war unser Schicksal besiegelt.«

Zeugen beschrieben später, Cher Ami sei in heftigen Beschuss hineingeflogen. Eine Granate explodierte direkt unter ihr, tötete fünf Männer und verletzte sie schwer. Ein Splitter durchschlug ihre Brust, und ihr rechter Fuß hing nur noch an einer Sehne. Doch sie schaffte es. In rund 45 Minuten flog die Taube zur vierzig Kilometer entfernten Kommandozentrale der Division, mit der Kapsel und der Botschaft an den Überresten ihres rechten Beines. Die Einzelheiten sind nicht ganz klar, doch die Artillerie korrigierte ihr Ziel, und mit einem amerikanischen Entlastungsangriff konnte das eingeschlossene Bataillon gerettet werden. Cher Ami wurde von Armeeärzten behandelt, als Held in die Vereinigten Staaten geschickt und in zahlreichen Artikeln, Geschichten, Kinderbüchern, Gedichten und sogar Filmen gefeiert. Die Taube hatte keine Vorstellung davon, welche Information sie transportierte, doch die Symbole, die mit Tinte auf das Stück Papier geschrieben wurden, das sie trug, bewahrten Hunderte Männer vor Tod oder Gefangenschaft.[3]

Information muss jedoch nicht aus menschengemachten Symbolen bestehen. Im biblischen Mythos der Sintflut erfuhr Noah, dass das Wasser zurückging, als eine Taube, die er von der Arche losgeschickt hatte, mit einem Olivenzweig im Schnabel zurückkehrte. Dann zeichnete Gott einen Regenbogen in die Wolken als himmlisches Zeichen seines Versprechens, nie wieder eine Flut zu schicken. Tauben, Olivenzweige und Regenbogen gelten seither als Symbole für Frieden und Toleranz.

Auch weiter entfernte Objekte können Information sein. Astronomen erfahren aus der Form und Bewegung von Galaxien Entscheidendes über die Geschichte des Universums. Seefahrern zeigt der Polarstern, wo Norden ist. Und für Astrologen sind die Sterne eine kosmische Sprache, die Information über die Zukunft einzelner Menschen und ganzer Gesellschaften vermittelt.

Ob man etwas als »Information« versteht, ist natürlich eine Frage der Perspektive. Astronomen oder Astrologen können im Sternzeichen Waage zwar eine Information sehen, doch diese fernen Himmelskörper sind mehr als nur ein Schwarzes Brett für menschliche Beobachter. Vielleicht gibt es außerirdische Zivilisationen, die keine Ahnung haben, welche Information wir aus ihrer Heimat beziehen und welche Geschichten wir uns über sie erzählen. Und ein Stück Papier mit ein paar Tintenklecksen kann zwar lebenswichtige Information für eine Armeeeinheit sein, aber genauso gut kann es auch eine Mahlzeit für eine Termitenfamilie sein. Jedes Objekt kann Information sein – oder auch nicht. Deshalb ist Information so schwer zu definieren.

Die Ambivalenz der Information spielte eine wichtige Rolle in den Annalen der Kriegsspionage, wenn Agenten heimlich Information weitergeben mussten. Nordfrankreich war nicht der einzige Schauplatz des Ersten Weltkriegs. Von 1915 bis 1918 kämpften britische und osmanische Truppen um die Kontrolle des Nahen Ostens. Nachdem die Briten einen Angriff der Osmanen auf die Halbinsel Sinai und den Suezkanal abgewehrt hatten, rückten sie auf das Osmanische Reich vor, wurden jedoch bis Oktober 1917 von einer befestigten Linie zwischen Be’er Scheva und Gaza aufgehalten. Versuche eines Durchbruchs wurden in der Ersten und Zweiten Schlacht von Gaza (26. März und 17. bis 19. April 1917) zurückgeschlagen. Gleichzeitig richteten die pro-britischen Juden in Palästina ein Spionagenetz mit dem Codenamen NILI ein, um die Briten über osmanische Truppenbewegungen zu informieren. Zur Kommunikation verwendeten sie unter anderem Fensterläden. Sarah Aaronsohn, eine der NILI-Kommandeure, wohnte in einem Haus mit Blick aufs Mittelmeer. Sie sendete Signale an britische Schiffe, indem sie einen bestimmten Fensterladen nach einem verabredeten Code öffnete und schloss. Viele Menschen sahen die Fensterläden, darunter auch osmanische Soldaten, doch nur die NILI-Agenten und ihre britischen Kontaktleute wussten, dass es sich um wichtige militärische Information handelte.[4] Wann also ist ein Fensterladen nur ein Fensterladen, und wann ist er Information?

Durch ein Missgeschick flog der Spionagering schließlich auf. Die NILI-Agenten kommunizierten nämlich nicht nur mit Fensterläden, sondern auch mit Brieftauben. Am 3. September 1917 kam eine der Tauben vom Kurs ab und landete ausgerechnet im Haus eines osmanischen Offiziers. Der fand die kodierte Nachricht, konnte sie aber nicht entziffern. Doch die Taube selbst war Information genug, denn ihre Existenz verriet den Osmanen, dass direkt vor ihrer Nase ein Spionagering tätig war. Wie Marshall McLuhan gesagt hätte: Die Taube war die Botschaft. Als die NILI-Agenten vom Verlust der Taube erfuhren, töteten und begruben sie die übrigen Tauben sofort, denn der Besitz einer Brieftaube wäre nun eine belastende Information gewesen. Doch das Taubenmassaker konnte die Agenten nicht retten. Binnen eines Monats wurde der Spionagering enttarnt, einige Angehörige wurden hingerichtet, und Sarah Aaronsohn beging Selbstmord, um nicht unter Folter Geheimnisse zu verraten.[5] Wann ist eine Taube nur eine Taube, und wann ist sie Information?

Information lässt sich also nicht über konkrete materielle Objekte definieren. Jedes Objekt – ein Stern, ein Fensterladen oder eine Taube – kann im richtigen Kontext Information sein. Aber welcher Kontext macht solche Objekte zu Information? Dem naiven Informationsverständnis zufolge werden Objekte im Zusammenhang mit der Suche nach Wahrheit zu Information. Ein Objekt ist dann Information, wenn jemand versucht, die Wahrheit zu ermitteln. Dieses Verständnis stellt eine Verbindung zwischen Information und Wahrheit her und geht davon aus, dass die wesentliche Aufgabe der Information darin besteht, die Wirklichkeit darzustellen. Es gibt eine Wirklichkeit, und Information stellt diese Wirklichkeit dar, weshalb wir sie verwenden können, um die Wirklichkeit zu verstehen. So sollte zum Beispiel die Information, die NILI an die Briten weitergab, die Wirklichkeit der osmanischen Truppenbewegungen darstellen. Wenn die Osmanen in Gaza – dem Zentrum ihrer Verteidigungslinie – 10 000 Soldaten zusammenzogen, dann war ein Stück Papier, das »10 000« und »Gaza« darstellte, eine wichtige Information, die den Briten helfen konnte, die Schlacht zu gewinnen. Wenn sich aber tatsächlich 20 000 osmanische Soldaten in der Stadt befanden, dann stellte dieses Stück Papier die Wirklichkeit nicht korrekt dar und konnte die Briten zu einem folgenschweren militärischen Fehler veranlassen.

Anders ausgedrückt: Information ist dem naiven Verständnis zufolge ein Versuch, die Wirklichkeit darzustellen, und wenn dieser Versuch gelingt, dann nennen wir es Wahrheit. Auch wenn ich in diesem Buch dem naiven Informationsverständnis in vielen Punkten widerspreche, stimme ich zu, dass Wahrheit eine korrekte Darstellung der Wirklichkeit ist. Allerdings würde ich behaupten, dass der größte Teil der Information eben kein Versuch ist, die Wirklichkeit darzustellen, und dass Information ganz anders definiert werden muss. In der menschlichen Gesellschaft, genau wie in anderen biologischen und physikalischen Systemen, stellt Information gar nichts dar.

Ich möchte etwas näher auf diese komplexe und entscheidende Behauptung eingehen, denn sie ist die theoretische Grundlage für dieses Buch.

Was ist Wahrheit?

In diesem Buch verstehe ich »Wahrheit« als etwas, das bestimmte Aspekte der Wirklichkeit korrekt darstellt. Hinter dieser Vorstellung von Wahrheit steht die Annahme, dass es eine universelle Wirklichkeit gibt. Alles, was im Universum existiert und je existiert hat – vom Polarstern über die NILI-Tauben bis hin zu Internetseiten über Astrologie –, ist Teil dieser einen Wirklichkeit. Deshalb ist die Suche nach Wahrheit ein universelles Projekt. Auch wenn verschiedene Menschen, Nationen oder Kulturen widersprüchliche Überzeugungen und Vorstellungen haben, können sie keine widersprüchlichen Wahrheiten haben, denn alle sind Teil einer einzigen und gemeinsamen Wirklichkeit. Wer den Universalismus ablehnt, lehnt die Wahrheit ab.

Trotzdem sind Wahrheit und Wirklichkeit zwei verschiedene Dinge, denn egal, wie wahrheitsgemäß eine Beschreibung ist, kann sie die Wirklichkeit nie in all ihren Aspekten darstellen. Wenn ein NILI-Agent schrieb, dass sich 10 000 osmanische Soldaten in Gaza aufhielten, und tatsächlich 10 000 Soldaten in der Stadt waren, dann verwies dies korrekt auf einen Aspekt der Wirklichkeit, doch es vernachlässigte zahllose andere Aspekte. Der Akt des Zählens von Dingen – ob Äpfel, Orangen oder Soldaten – richtet den Blick notwendigerweise auf die Ähnlichkeiten zwischen diesen Dingen und vernachlässigt die Unterschiede.[6] Die Aussage, dass sich 10 000 osmanische Soldaten in Gaza aufhielten, sagte zum Beispiel nichts darüber aus, wie viele erfahrene Veteranen und wie viele junge Rekruten darunter waren. Tausend Grünschnäbel und 9000 alte Haudegen ergeben eine ganz andere militärische Wirklichkeit als 9000 unerfahrene und tausend kampferprobte Soldaten.

Die Soldaten unterschieden sich noch in zahlreichen weiteren Aspekten voneinander. Die einen waren gesund, die anderen krank. Die einen waren türkischer Herkunft, die anderen Araber, Kurden oder Juden. Einige waren mutig, andere feige. Jeder Soldat ist ein ganz einmaliger Mensch mit Eltern und Freunden, Ängsten und Hoffnungen. Kriegsdichter wie Wilfred Owen versuchten, diesen Aspekt der militärischen Wirklichkeit darzustellen, der sich allein mit Zahlen nicht erfassen lässt. Heißt das, dass die Aussage »10 000 Soldaten« immer eine falsche Darstellung der Wirklichkeit ist und dass wir die einmalige Geschichte und Persönlichkeit jedes einzelnen Soldaten beschreiben müssen, um die militärische Lage rund um die Stadt Gaza im Jahr 1917 zu erfassen?

Der Versuch, die Wirklichkeit darzustellen, wird weiter erschwert durch die Tatsache, dass die Wirklichkeit zahlreiche Perspektiven zulässt. Heutige Israelis, Palästinenser, Türken und Briten haben einen jeweils eigenen Blick auf den britischen Einmarsch ins Osmanische Reich, den Spionagering NILI und die Aktivitäten von Sarah Aaronsohn. Das heißt nicht, dass es sich hier um eigene Wirklichkeiten handelt oder dass es keine historischen Tatsachen gibt. Es gibt nur eine Wirklichkeit, doch die ist komplex.

Zur Wirklichkeit gehört eine objektive Ebene mit objektiven Tatsachen, die unabhängig sind von den Überzeugungen von Menschen; etwa die Tatsache, dass sich Sarah Aaronsohn am 9. Oktober 1917 mit einer Pistole selbst das Leben nahm. Die Aussage »Sarah Aaronsohn kam am 15. Mai 1919 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben« ist falsch.

Zur Wirklichkeit gehört aber auch eine subjektive Ebene mit subjektiven Tatsachen, zum Beispiel den Überzeugungen und Empfindungen der Beteiligten. Doch auch hier lassen sich Tatsachen und Irrtümer unterscheiden. Es ist zum Beispiel eine Tatsache, dass Sarah Aaronsohn für die Israelis eine Heldin des Vaterlands ist. Drei Wochen nach ihrem Selbstmord gelang es den Briten dank NILI-Informationen, die osmanischen Linien in der Schlacht von Be’er Scheva und der Dritten Schlacht von Gaza (31. Oktober und 1. bis 2. November 1917) zu durchbrechen. Am 2. November 1917 erklärte der britische Außenminister Arthur Balfour in der nach ihm benannten Balfour-Deklaration, die britische Regierung betrachte »die Einrichtung einer nationalen Heimat für die Juden in Palästina mit Wohlwollen«. Das Verdienst dafür schreibt Israel heute unter anderem Sarah Aaronsohn zu und bewundert sie für ihr Opfer. Es ist ebenfalls eine Tatsache, dass die Palästinenser diese Angelegenheit anders bewerten. Wenn sie überhaupt von Aaronsohn gehört haben, dann empfinden sie keine Bewunderung für sie, sondern sehen eine imperialistische Agentin in ihr. Aber auch wenn wir es hier mit subjektiven Ansichten und Empfindungen zu tun haben, können wir Wahrheit und Irrtum unterscheiden. Denn Ansichten und Empfindungen sind genauso Teil der universellen Wirklichkeit wie Sterne und Tauben. Die Aussage »Sarah Aaronsohn wird wegen ihrer Rolle beim Sieg über das Osmanische Reich von allen bewundert« wäre falsch und würde der Wirklichkeit widersprechen.

Doch nicht nur die nationale Herkunft hat Einfluss auf die Sichtweise der Menschen. Es könnte durchaus sein, dass israelische Männer und israelische Frauen Aaronsohn unterschiedlich beurteilen, genau wie Rechte und Linke oder orthodoxe und säkulare Juden. Da das jüdische Gesetz den Selbstmord verbietet, fällt es Orthodoxen schwer, Aaronsohns Tat als heldenhaft zu verstehen (daher wurde ihr auch die Beisetzung in der geweihten Erde des jüdischen Friedhofs verweigert). Letztlich hat jeder Mensch eine andere Sicht auf die Welt, die von der Mischung aus unterschiedlichen Persönlichkeiten und Erfahrungen bestimmt wird. Heißt das, dass wir alle erdenklichen Perspektiven einbeziehen müssen, wenn wir die Wirklichkeit beschreiben wollen, und dass eine wahrhaftige Biografie von Sarah Aaronsohn darauf eingehen muss, was jeder einzelne Israeli und Palästinenser von ihr hält?

Wenn wir so weit gehen wollten, müssten wir die Welt im Maßstab 1:1 darstellen, wie in der berühmten Kurzgeschichte »Von der Strenge der Wissenschaft« von Jorge Luis Borges (1946). In dieser Geschichte berichtet Borges von einem fiktiven archaischen Reich, das immer genauere Karten von seinem Territorium anfertigen wollte, bis es schließlich bei einer Karte im Maßstab 1:1 ankam. Es war eine Karte, »die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm in jedem Punkt deckte«. Nachfolgende Generationen vernachlässigten die Karte, und sie zerfiel; nur »in den Wüsten des Westens haben sich bis heute zerstückelte Ruinen der Karte erhalten, von Tieren behaust und von Bettlern«.[7] Man sollte meinen, eine Karte im Maßstab 1:1 sei die ultimative Darstellung der Wirklichkeit, doch sie ist gar keine Darstellung mehr, sondern die Wirklichkeit selbst.

Das bedeutet, dass selbst die wahrhaftigste Darstellung der Wirklichkeit niemals in der Lage ist, die Wirklichkeit vollständig zu erfassen. Es gibt immer Aspekte, die vergessen oder verzerrt werden. Die Wahrheit ist also keine 1:1-Darstellung der Wirklichkeit. Sie ist vielmehr etwas, was unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit lenkt und dabei andere übergeht. Keine Darstellung der Wirklichkeit ist hundertprozentig korrekt, aber man kann trotzdem sagen, dass einige Darstellungen wahrhaftiger sind als andere.

Was Information tut

Das naive Informationsverständnis begreift also Information als den Versuch, die Wirklichkeit darzustellen. Es ist sich bewusst, dass bestimmte Information die Wirklichkeit nur ungenügend darstellt, übergeht diesen Punkt aber als bedauerlichen Fall von Fehl- oder Desinformation. Fehlinformation ist ein unbeabsichtigter Fehler, der sich einstellt, wenn wir versuchen, die Wirklichkeit darzustellen, und uns dabei irren. Desinformation ist dagegen eine bewusste Lüge, also der gezielte Versuch, unsere Sicht der Wirklichkeit zu verfälschen.

Das naive Informationsverständnis geht auch davon aus, dass die Lösung für die von Fehl- oder Desinformation verursachten Probleme darin besteht, mehr Information zu suchen. Dieser Gedanke, auch als »Recht auf Gegenrede« bekannt, wird mit dem amerikanischen Verfassungsrichter Louis D. Brandeis in Verbindung gebracht, der in der Urteilsbegründung zu Whitney v. California