21 Lektionen für das 21. Jahrhundert - Yuval Noah Harari - E-Book

21 Lektionen für das 21. Jahrhundert E-Book

Yuval Noah Harari

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Beschreibung

Yuval Noah Harari ist der Weltstar unter den Historikern. In «Eine kurze Geschichte der Menschheit» erzählte er vom Aufstieg des Homo Sapiens zum Herrn der Welt. In «Homo Deus» ging es um die Zukunft unserer Spezies. Sein neues Buch schaut auf das Hier und Jetzt und konfrontiert uns mit den drängenden Fragen unserer Zeit. Wie unterscheiden wir Wahrheit und Fiktion im Zeitalter der Fake News? Was sollen wir unseren Kindern beibringen? Wie können wir in unserer unübersichtlichen Welt moralisch handeln? Wie bewahren wir Freiheit und Gleichheit im 21. Jahrhundert? Seit Jahrtausenden hat die Menschheit über den Fragen gebrütet, wer wir sind und was wir mit unserem Leben anfangen sollen. Doch jetzt setzen uns die heraufziehende ökologische Krise, die wachsende Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und der Aufstieg neuer disruptiver Technologien unter Zeitdruck. Bald schon wird irgendjemand darüber entscheiden müssen, wie wir die Macht nutzen, die künstliche Intelligenz und Biotechnologie bereit halten. Dieses Buch will möglichst viele Menschen dazu anregen, sich an den großen Debatten unserer Zeit zu beteiligen, damit die Antworten nicht von den blinden Kräften des Marktes gegeben werden.

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Yuval Noah Harari

21 Lektionen

für das21. Jahrhundert

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn

C.H. Beck

Zum Buch

Vom Autor der Weltbestseller «Eine kurze Geschichte der Menschheit» und «Homo Deus»

Wie bewahren wir Freiheit und Gleichheit im 21. Jahrhundert?

Wie können wir in unserer unübersichtlichen Welt moralisch handeln?

Ist Gott zurück?

Was sollen wir unseren Kindern beibringen?

Yuval Noah Harari, einer der aufregendsten Denker der Gegenwart, erzählte in seinen ersten beiden Büchern vom Aufstieg des Homo Sapiens zum Herrn der Welt und von der Zukunft unserer Spezies. Nun schaut er auf das Hier und Jetzt und widmet sich den drängenden Fragen unserer Zeit. Mit seinen 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert lädt er dazu ein, in einer Zeit voller Lärm und Ungewissheit über Werte, Bedeutung und persönliches Engagement nachzudenken. In einer Welt, die überschwemmt wird mit bedeutungslosen Informationen, ist Klarheit Macht. Doch die meisten von uns können sich kaum den Luxus leisten, sich mit den drängenden Fragen der Gegenwart zu beschäftigen, weil wir Dringenderes zu erledigen haben. Leider gewährt die Geschichte keinen Rabatt. Wenn über die Zukunft der Menschheit in unserer Abwesenheit entschieden wird, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, unsere Kinder zu ernähren und mit Kleidung zu versorgen, werden wir und sie dennoch nicht von den Folgen verschont bleiben. Dieses Buch versorgt nicht mit Kleidung oder Nahrung. Aber es hilft, die Dinge klarer zu sehen, und es ebnet das globale Spielfeld etwas ein. Wenn es auch nur ein paar mehr von uns in die Lage versetzt, sich an der Diskussion über die Zukunft unserer Spezies zu beteiligen, so hat es seine Aufgabe erfüllt.

Über den Autor

Yuval Noah Harari wurde 1976 in Haifa, Israel, geboren. Er promovierte 2002 an der Oxford University. Aktuell lehrt er Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem mit einem Schwerpunkt auf Weltgeschichte. Seine Bücher «Eine kurze Geschichte der Menschheit» und «Homo Deus» wurden zu Weltbestsellern. Mehr Informationen unter: http://www.ynharari.com/de/.

Inhalt

Einleitung

I: Die technologische Herausforderung

1: Desillusionierung – Das Ende der Geschichte wurde vertagt

Erst Mücken totschlagen, dann Gedanken

Der liberale Phönix

2: Arbeit – Wenn du erwachsen bist, hast du vielleicht keinen Job

Mozart in der Maschine

Neue Jobs?

Von der Ausbeutung zur Bedeutungslosigkeit

Was heißt allgemein?

Was heißt Grundsicherung?

3: Freiheit – Big Data is watching you

Hören Sie auf den Algorithmus

Das Drama der Entscheidungsfindung

Das philosophische Auto

Digitale Diktaturen

Künstliche Intelligenz und natürliche Dummheit

4: Gleichheit – Wem die Daten gehören, dem gehört die Zukunft

Wem gehören die Daten?

II: Die politische Herausforderung

5: Gemeinschaft – Menschen haben Körper

Online versus offline

6: Zivilisation – Es gibt nur eine Zivilisation auf der Welt

Germanen und Gorillas

Die Olympischen Spiele im Mittelalter

Ein Dollar, um sie alle zu regieren

7: Nationalismus – Globale Probleme verlangen globale Antworten

Die atomare Herausforderung

Die ökologische Herausforderung

Die technologische Herausforderung

Raumschiff Erde

8: Religion – Gott steht jetzt im Dienste der Nation

Technische Probleme: christliche Landwirtschaft

Politische Probleme: muslimische Ökonomie

Identitätsprobleme: die Linien im Sand

Der Handlanger des Nationalismus

9: Zuwanderung – Manche Kulturen sind womöglich besser als andere

Vom Rassismus zum Kulturalismus

III: Verzweiflung und Hoffnung

10: Terrorismus – Keine Panik

Die Karten neu mischen

Eine kleine Münze in einem großen leeren Topf

Der Terror wird atomar

11: Krieg – Unterschätze nie die menschliche Dummheit

Aus Sicht des Kremls

Die verlorene Kunst, Kriege zu gewinnen

Die Torheit der Regierenden

12: Demut – Du bist nicht der Nabel der Welt

Freuds Mutter

Moral vor der Bibel

Die Geburt der Bigotterie

Jüdische Physik, christliche Theologie

13: Gott – Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen

Moral ohne Gott

14: Säkularismus – Finde dich mit deinem Schatten ab

Das säkulare Ideal

War Stalin säkular?

Den Schatten anerkennen

IV: Wahrheit

15: Nichtwissen – Du weißt weniger, als du glaubst

Das schwarze Loch der Macht

16: Gerechtigkeit – Unser Gerechtigkeitsempfinden könnte veraltet sein

Flüsse stehlen

Schrumpfen oder leugnen?

17: Postfaktisch – Manche Fake News halten ewig

Die postfaktische Spezies

Einmal eine Lüge, immer die Wahrheit

Raus aus der Gehirnwaschmaschine

18: Science-Fiction – Die Zukunft ist nicht das, was man im Kino sieht

Leben in einer Schachtel

Disney verliert den Glauben an den freien Willen

V: Resilienz

19: Bildung – Veränderung ist die einzige Konstante

The heat is on

Menschen hacken

20: Sinn – Das Leben ist keine Erzählung

Das Gewicht des Dachs

Hokuspokus und die Glaubensindustrie

Das Identitätsportfolio

Der Supermarkt in Helsingør

Keine Geschichte

Der Realitätstest

21: Meditation – Einfach nur wahrnehmen

Von beiden Seiten graben

Anhang

Danksagung

Anmerkungen

1. Desillusionierung

2. Arbeit

3. Freiheit

4. Gleichheit

5. Gemeinschaft

6. Zivilisation

7. Nationalismus

8. Religion

9. Zuwanderung

10. Terrorismus

11. Krieg

12. Demut

13. Gott

14. Säkularismus

15. Nichtwissen

16. Gerechtigkeit

17. Postfaktisch

18. Science-Fiction

19. Bildung

20. Sinn

21. Meditation

Register

Meinem Mann Itzik, meiner Mutter Pnina und meiner Großmutter Fanny für ihre Liebe und für ihre Unterstützung über all die Jahre

Einleitung

In einer Welt, die überflutet wird von bedeutungslosen Informationen, ist Klarheit Macht. Theoretisch kann sich jeder an der Diskussion über die Zukunft der Menschheit beteiligen, aber es ist ziemlich schwer, dabei den Durchblick zu behalten. Häufig bemerken wir noch nicht einmal, dass eine Debatte im Gange ist oder welches dabei die Kernfragen sind. Milliarden von uns können sich gar nicht den Luxus erlauben, sich näher damit zu befassen, weil wir dringlichere Dinge zu tun haben: Wir müssen arbeiten gehen, wir müssen uns um die Kinder oder um unsere alt werdenden Eltern kümmern. Leider gewährt die Geschichte keinen Rabatt. Wenn über die Zukunft der Menschheit in unserer Abwesenheit entschieden wird, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, unsere Kinder zu ernähren und mit Kleidung zu versorgen, werden wir und sie dennoch nicht von den Folgen verschont bleiben. Das ist ausgesprochen unfair; aber wer will behaupten, die Geschichte sei fair?

Als Historiker kann ich den Menschen weder Essen noch Kleidung geben – aber ich kann versuchen, ihnen ein wenig Klarheit zu verschaffen, und damit einen Beitrag dazu leisten, das globale Spielfeld etwas einzuebnen. Wenn das auch nur ein paar mehr Menschen in die Lage versetzt, sich an der Diskussion über die Zukunft unserer Spezies zu beteiligen, so habe ich meine Aufgabe erfüllt.

Mein erstes Buch, Eine kurze Geschichte der Menschheit, befasste sich mit der menschlichen Vergangenheit und fragte danach, wie ein unbedeutender Affe zum Herrscher über den Planeten Erde werden konnte. Homo Deus, mein zweites Buch, erkundete die langfristige Zukunft des Lebens und dachte darüber nach, inwiefern Menschen irgendwann zu Göttern werden könnten und wie die eigentliche Bestimmung von Intelligenz und Bewusstsein aussehen könnte.

In diesem Buch will ich das Hier und Jetzt in den Blick nehmen. Mein Fokus richtet sich auf das aktuelle Geschehen und auf die unmittelbare Zukunft menschlicher Gesellschaften. Was geschieht jetzt gerade? Was sind heute die größten Herausforderungen und Möglichkeiten? Worauf sollten wir achten? Was sollten wir unseren Kindern beibringen?

Natürlich haben sieben Milliarden Menschen sieben Milliarden Absichten und Vorstellungen, und wie schon erwähnt ist das Nachdenken über das große Ganze ein relativ seltener Luxus. Eine alleinstehende Mutter, die in einem Slum von Mumbai unter großen Mühen zwei Kinder großzieht, hat vor allem eines im Kopf, nämlich die nächste Mahlzeit; Flüchtlinge auf einem Boot irgendwo im Mittelmeer suchen den Horizont nach irgendeinem Anzeichen von Land ab; und ein Sterbender in einem überfüllten Londoner Krankenhaus sammelt all seine noch verbliebene Kraft für den nächsten Atemzug. Sie alle haben weit dringlichere Probleme als den Klimawandel oder die Krise der liberalen Demokratie. Kein Buch kann all dem gerecht werden, und Menschen in solchen Situationen kann ich keine Lehren mit auf den Weg geben. Ich kann allenfalls hoffen, von ihnen zu lernen.

Meine Agenda ist eine globale. Ich richte den Blick auf die zentralen Faktoren, die Gesellschaften überall auf der Welt prägen und die vermutlich die Zukunft unseres gesamten Planeten beeinflussen werden. Die Sorge um den Klimawandel mag Menschen, bei denen es um Leben und Tod geht, fern liegen, aber er könnte irgendwann die Slums in Mumbai unbewohnbar machen, riesige neue Flüchtlingsströme über das Mittelmeer schicken und zu einer weltweiten Krise im Gesundheitswesen führen.

Die Wirklichkeit besteht aus vielen Fäden, und dieses Buch versucht, verschiedene Aspekte unserer globalen Gegenwart zu erfassen, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Anders als Eine kurze Geschichte der Menschheit und Homo Deus ist dieses Buch nicht als historische Erzählung angelegt, sondern als eine Sammlung von Lektionen. Diese Lektionen münden nicht in einfache Antworten. Sie wollen zum Weiterdenken anregen und dem Leser dabei helfen, sich an einigen der zentralen Debatten unserer Zeit zu beteiligen.

Dieses Buch ist denn auch im Gespräch mit der Öffentlichkeit entstanden. Viele der Kapitel sind eine Reaktion auf Fragen, die mir von Lesern, Journalisten und Kollegen gestellt wurden. Frühere Versionen einiger Abschnitte wurden bereits in anderer Form veröffentlicht, was mir die Möglichkeit bot, Reaktionen darauf zu erhalten und meine Argumente zu schärfen. Einige Abschnitte konzentrieren sich auf die Technologie, einige auf Politik, einige auf Religion und einige auf Kunst. Manche Kapitel feiern die menschliche Weisheit, andere betonen die zentrale Rolle menschlicher Dummheit. Doch die übergreifende Frage ist stets die gleiche: Was geschieht heute in der Welt und welche tiefere Bedeutung steckt in den Ereignissen?

Wofür steht der Aufstieg von Donald Trump? Wie sollen wir mit der seuchenartigen Ausbreitung von Fake News umgehen? Warum steckt die liberale Demokratie in der Krise? Ist Gott wieder da? Stehen wir vor einem neuen Weltkrieg? Welche Zivilisation beherrscht die Welt – der Westen, China oder der Islam? Sollte Europa seine Grenzen für Zuwanderer offen halten? Kann der Nationalismus die Probleme von Ungleichheit und Klimawandel lösen? Wie sollen wir auf den Terror reagieren?

Zwar nimmt dieses Buch eine globale Perspektive ein, aber die persönliche Ebene will ich dabei keineswegs vernachlässigen. Im Gegenteil, ich will bewusst zeigen, wie eng die Verbindungen zwischen den großen Umwälzungen unserer Zeit und dem Innenleben des Einzelnen sind. So ist beispielsweise der Terror ein globales politisches Problem und zugleich ein innerer psychologischer Mechanismus. Terror funktioniert, indem er tief in uns drinnen den Angstknopf drückt und die private Vorstellungskraft von Millionen Individuen in Geiselhaft nimmt. Ähnlich spielt sich die Krise der liberalen Demokratie nicht nur in Parlamenten und Wahllokalen ab, sondern auch in Nervenzellen und Synapsen. Es ist ein Gemeinplatz, wonach das Private politisch ist. Doch in einer Zeit, in der Wissenschaftler, Unternehmen und Regierungen lernen, wie man das menschliche Gehirn «hackt», klingt diese Binsenweisheit düsterer denn je. Entsprechend finden sich hier im Buch Beobachtungen über das Verhalten von Individuen genauso wie von ganzen Gesellschaften.

Eine globale Welt setzt unser persönliches Verhalten und unsere individuelle Moral auf beispiellose Weise unter Druck. Jeder von uns ist in unzählige Spinnennetze eingewoben, die einerseits unsere Bewegungsfreiheit einschränken, gleichzeitig aber noch die geringste unserer Zuckungen an weit entfernte Orte übermitteln. Unsere Alltagsroutinen beeinflussen das Leben von Menschen und Tieren auf der anderen Seite des Erdballs, und manche persönlichen Gesten können ganz unerwartet die gesamte Welt in Brand setzen, wie die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi in Tunesien, die den arabischen Frühling auslöste, oder die Frauen, die ihre Erfahrungen des sexuellen Missbrauchs öffentlich machten und die #MeToo-Bewegung in Gang setzten.

Diese globale Dimension unseres persönlichen Lebens bedeutet, dass es wichtiger denn je ist, unsere religiösen und politischen Voreingenommenheiten, unsere rassen- und geschlechtsspezifischen Privilegien und unsere unwissentliche Komplizenschaft bei der institutionellen Unterdrückung sichtbar zu machen. Aber ist das ein realistisches Unterfangen? Wie kann ich festen moralischen Boden finden in einer Welt, die meinen Horizont weit übersteigt, die sich vollständig menschlicher Kontrolle entzieht und die alle Götter und Ideologien misstrauisch beäugt?

***

Das Buch beginnt mit einem Überblick über das aktuelle politische und technologische Dilemma. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hatte es den Anschein, als hätten die großen ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Faschismus, Kommunismus und Liberalismus mit dem überwältigenden Sieg des Liberalismus ein Ende gefunden. Demokratische Politik, Menschenrechte und freie Marktwirtschaft schienen dazu bestimmt, die gesamte Welt zu erobern. Doch wie so oft nahm die Geschichte eine unerwartete Wendung, und nach dem Zusammenbruch von Faschismus und Kommunismus befindet sich heute der Liberalismus in der Bredouille. Wohin also steuern wir?

Diese Frage ist besonders dringlich, weil der Liberalismus genau zu der Zeit an Glaubwürdigkeit verliert, da die doppelte Revolution in der Informationstechnologie und in der Biotechnologie uns vor die größten Herausforderungen stellt, mit denen unsere Spezies je konfrontiert war. Die Verschmelzung von Infotech und Biotech könnte schon bald Milliarden von Menschen aus dem Arbeitsmarkt drängen und sowohl Freiheit wie Gleichheit untergraben. Big-Data-Algorithmen könnten digitale Diktaturen schaffen, in denen sich die gesamte Macht in den Händen einer winzigen Elite konzentriert, während die meisten Menschen nicht unter Ausbeutung zu leiden haben, sondern unter etwas viel Schlimmerem – unter Bedeutungslosigkeit.

Diese Verschmelzung von Informationstechnologie und Biotechnologie habe ich in meinem vorangegangenen Buch Homo Deus ausführlich geschildert. Doch während sich dieses Buch auf die langfristigen Aussichten konzentrierte – und die Perspektive von Jahrhunderten und sogar Jahrtausenden einnahm –, befasst sich das vorliegende Buch stärker mit den unmittelbaren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Krisen. Mich interessiert hier weniger, ob es irgendwann zur Schaffung anorganischen Lebens kommt, mir geht es vielmehr um die Gefahren für den Wohlfahrtsstaat und für bestimmte Institutionen wie die Europäische Union. Das Buch will beileibe nicht sämtliche Auswirkungen der neuen Technologien darstellen. Auch wenn sie zahlreiche wunderbare Versprechen bereithalten, geht es mir hier in erster Linie darum, die Bedrohungen und Gefahren sichtbar zu machen. Da die Unternehmen und Unternehmer, welche die technologische Revolution anführen, naturgemäß dazu neigen, ein Loblied auf ihre Schöpfungen zu singen, bleibt es Soziologen, Philosophen und Historikern wie mir überlassen, Alarm zu schlagen und zu erläutern, inwiefern die Dinge auch ganz schrecklich schiefgehen können.

Nachdem ich die Herausforderungen, vor denen wir stehen, skizziert habe, untersuche ich im zweiten Teil des Buches ein breites Spektrum potenzieller Antworten. Könnten Facebook-Ingenieure mithilfe künstlicher Intelligenz eine globale Gemeinschaft schaffen, die menschliche Freiheit und Gleichheit bewahrt? Besteht die Antwort vielleicht darin, den Prozess der Globalisierung umzukehren und dem Nationalstaat wieder mehr Macht zu geben? Oder müssen wir sogar noch weiter zurückgehen und Hoffnung und Weisheit aus den Quellen alter religiöser Traditionen schöpfen?

Im dritten Teil des Buches sehen wir, dass die technologischen Herausforderungen zwar beispiellos und die politischen Meinungsverschiedenheiten immens sind, die Menschheit die Situation aber trotzdem meistern kann, wenn wir unsere Ängste unter Kontrolle halten und mit Blick auf unsere Ansichten ein wenig mehr Demut zeigen. Dieser Teil fragt danach, wie wir mit der Bedrohung des Terrors, mit der Gefahr eines globalen Krieges und mit den Vorurteilen und dem Hass, die solche Konflikte befeuern, umgehen können.

Der vierte Teil beschäftigt sich mit dem Begriff des Postfaktischen und fragt danach, inwieweit wir globale Entwicklungen noch verstehen und Fehlverhalten von Gerechtigkeit unterscheiden können. Ist Homo sapiens in der Lage, die Welt, die er geschaffen hat, zu verstehen? Gibt es noch immer eine klare Grenze, welche die Realität von der Fiktion trennt?

Im fünften und letzten Teil führe ich die unterschiedlichen Fäden zusammen und werfe einen allgemeineren Blick auf das Leben in einem Zeitalter der Verunsicherung, in dem die alten Erzählungen zusammengebrochen sind und bislang noch keine neue Erzählung entstanden ist, die sie ersetzen könnte. Wer sind wir? Was sollten wir im Leben tun? Welche Fertigkeiten brauchen wir? Angesichts all dessen, was wir über die Wissenschaft, über Gott, über die Politik und über Religion wissen und nicht wissen – was können wir heute über den Sinn des Lebens sagen?

Das mag ein wenig überambitioniert klingen, aber Homo sapiens kann nicht warten. Der Philosophie, der Religion und der Wissenschaft läuft die Zeit davon. Die Menschen diskutieren seit Jahrtausenden über den Sinn des Lebens. Wir können diese Debatte nicht endlos fortsetzen. Die sich anbahnende ökologische Krise, die wachsende Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und das Aufkommen neuer, disruptiver Technologien werden das nicht erlauben. Wichtiger noch: Künstliche Intelligenz und Biotechnologie verschaffen der Menschheit die Macht, das Leben zu verändern und zu manipulieren. Schon sehr bald wird irgendjemand entscheiden müssen, wie wir diese Macht nutzen – und zwar auf der Basis irgendeiner impliziten oder expliziten Erzählung über den Sinn des Lebens. Philosophen sind sehr geduldige Menschen, doch Ingenieure sind weit weniger geduldig, und am allerwenigsten Geduld haben Investoren. Wenn wir nicht wissen, was wir mit der Macht, Leben zu manipulieren, anfangen sollen, werden die Marktkräfte nicht ein Jahrtausend lang warten, bis wir eine Antwort darauf gefunden haben. Die unsichtbare Hand des Marktes wird uns ihre eigene, blinde Antwort aufzwingen. Wenn wir nicht wollen, dass die Zukunft des Lebens den Quartalsberichten von Unternehmen anvertraut wird, brauchen wir eine klare Vorstellung davon, was das Leben überhaupt ausmacht.

Im abschließenden Kapitel finden sich ein paar persönliche Bemerkungen, ich spreche dort als ein Sapiens zu einem anderen, bevor sich der Vorhang über unserer Spezies schließt und ein völlig neues Stück beginnt.

***

Bevor ich mich auf diese intellektuelle Reise begebe, möchte ich noch auf einen wichtigen Punkt eingehen. Ein Großteil des Buches handelt von den Defiziten der liberalen Weltsicht und des demokratischen Systems. Das hat nichts damit zu tun, dass ich der Meinung wäre, die freiheitliche Demokratie sei besonders problematisch; ich glaube vielmehr, dass es sich um das erfolgreichste und wandlungsfähigste politische Modell handelt, das die Menschen bislang entwickelt haben, um mit den Herausforderungen der modernen Welt fertig zu werden. Zwar mag es nicht für jede Gesellschaft in jedem Entwicklungsstadium angemessen sein, aber es hat in mehr Gesellschaften und in mehr Situationen seinen Wert bewiesen als all seine Alternativen. Wenn wir also die neuen Herausforderungen, vor denen wir stehen, näher in Augenschein nehmen, müssen wir die Grenzen der liberalen Demokratie verstehen und danach fragen, wie wir ihre bestehenden Institutionen anpassen und verbessern können.

Leider ist es im gegenwärtigen politischen Klima so, dass jedes kritische Nachdenken über Liberalismus und Demokratie gerne von Autokraten und den verschiedensten illiberalen Bewegungen aufgegriffen und missbraucht wird, also von Leuten, deren einziges Interesse darin besteht, die freiheitliche Demokratie zu diskreditieren, und denen es in keinster Weise um eine offene Diskussion über die Zukunft der Menschheit geht. Zwar reden sie nur allzu gern über die Probleme der freiheitlichen Demokratie, aber Kritik, die sich gegen sie selbst richtet, ertragen und erdulden sie so gut wie nie.

Als Autor musste ich deshalb eine schwierige Entscheidung treffen. Sollte ich offen aussprechen, was ich denke, und damit Gefahr laufen, dass meine Worte aus dem Kontext gerissen und dazu genutzt werden, aufstrebende Autokratien zu rechtfertigen? Oder sollte ich mich selbst zensieren? Es ist ein Kernmerkmal illiberaler Regime, dass sie sogar außerhalb ihrer Grenzen die freie Meinungsäußerung erschweren. Aufgrund der Ausbreitung solcher Regime wird es immer gefährlicher, kritisch über die Zukunft unserer Spezies nachzudenken.

Nachdem ich ein wenig in mich gegangen bin, habe ich mich dazu entschlossen, die freie Diskussion über die Selbstzensur zu stellen. Ohne Kritik am liberalen Modell können wir seine Mängel nicht beheben oder darüber hinausgelangen. Aber bitte bedenken Sie, dass dieses Buch nur geschrieben werden konnte, weil die Menschen immer noch relativ frei denken können, was sie wollen, und sich so äußern können, wie sie das möchten. Wenn Sie dieses Buch schätzen, sollten Sie auch die Meinungsfreiheit schätzen und hochhalten.

I

Die technologische Herausforderung

Die Menschheit verliert den Glauben an die liberale Erzählung, welche die Weltpolitik in den letzten Jahrzehnten bestimmte, genau in dem Augenblick, da die Verschmelzung von Informationstechnologie und Biotechnologie uns vor die größten Herausforderungen stellt, mit denen die Menschheit je konfrontiert war.

1

Desillusionierung

Das Ende der Geschichte wurde vertagt

Die Menschen denken eher in Geschichten als in Fakten, Zahlen oder Gleichungen, und je einfacher die Geschichte ist, desto besser. Jede Person, jede Gruppe und jede Nation hat ihre eigenen Erzählungen und Mythen. Doch im Verlauf des 20. Jahrhunderts formulierten die globalen Eliten in New York, London, Berlin und Moskau drei große Erzählungen, die für sich in Anspruch nahmen, die gesamte Vergangenheit zu erklären und die Zukunft der ganzen Welt vorherzusagen: die faschistische Erzählung, die kommunistische Erzählung und die liberale Erzählung. Der Zweite Weltkrieg machte der faschistischen Erzählung den Garaus, und von Ende der 1940er Jahre bis Ende der 1980er Jahre wurde die Welt zum Schlachtfeld zwischen nur noch zwei Erzählungen: Kommunismus und Liberalismus. Dann fiel die kommunistische Erzählung in sich zusammen, und übrig blieb die liberale Erzählung als bestimmender Leitfaden für die menschliche Vergangenheit und als unverzichtbares Handbuch für die Zukunft der Welt – oder zumindest glaubte die liberale Elite das.

Die liberale Erzählung feiert den Wert und die Macht der Freiheit. Sie behauptet, die Menschheit habe seit Jahrtausenden unter repressiven Regimen gelebt, die den Menschen kaum politische Rechte, ökonomische Chancen oder persönliche Freiheiten gewährten und die die Bewegungsfreiheit von Individuen, Ideen und Waren hochgradig einschränkten. Doch die Menschen kämpften für ihre Freiheit, und Schritt für Schritt gewann diese an Boden. An die Stelle brutaler Diktaturen traten demokratische Regierungen. Das freie Unternehmertum überwand alle ökonomischen Schranken. Die Menschen lernten, selbstständig zu denken und ihrem Herzen zu folgen, statt blind bigotten Priestern und engstirnigen Traditionen zu gehorchen. Offene Straßen, feste Brücken und betriebsame Flughäfen ersetzten Mauern, Gräben und Stacheldraht.

Die liberale Erzählung gesteht durchaus zu, dass auf der Welt nicht alles zum Besten steht und dass es noch immer viele Hürden zu überwinden gilt. Ein Großteil unseres Planeten wird von Tyrannen beherrscht, und selbst in den freiheitlichsten Ländern leiden viele Bürger unter Armut, Gewalt und Unterdrückung. Aber zumindest wissen wir, was wir tun müssen, um diese Probleme zu meistern: den Menschen mehr Freiheit gewähren. Wir müssen die Menschenrechte schützen, wir müssen jedem das Wahlrecht zugestehen, freie Märkte etablieren und dafür sorgen, dass Individuen, Ideen und Waren sich überall auf der Welt so problemlos wie möglich bewegen können. Dieses liberale Patentrezept, das, leicht verändert, George W. Bush und Barack Obama gleichermaßen übernommen haben, lautet: Wenn wir unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme nur immer weiter liberalisieren und globalisieren, werden wir Frieden und Wohlstand für alle schaffen.[1]

Länder, die sich diesem unaufhaltsamen Marsch in Richtung Fortschritt anschließen, werden mit Frieden und Wohlstand belohnt werden. Länder, die sich dem Unausweichlichen zu widersetzen versuchen, werden die Folgen zu tragen haben, bis auch sie das Licht sehen, ihre Grenzen öffnen und ihre Gesellschaften, ihre Politik und ihre Märkte liberalisieren. Das mag dauern, doch am Ende werden selbst Nordkorea, der Irak und El Salvador aussehen wie Dänemark oder Iowa.

In den 1990er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde diese Erzählung zu einem globalen Mantra. Zahlreiche Regierungen von Brasilien bis Indien übernahmen liberale Rezepte, um sich dem unaufhaltsamen Gang der Geschichte anzuschließen. Diejenigen, die das nicht taten, wirkten wie Fossile aus einer längst vergangenen Zeit. 1997 rügte der amerikanische Präsident Bill Clinton die chinesische Regierung voller Selbstgewissheit, mit ihrer Weigerung, die eigene Politik zu liberalisieren, stelle sie sich «auf die falsche Seite der Geschichte».[2]

Doch seit der globalen Finanzkrise von 2008 haben die Menschen überall auf der Welt zunehmend den Glauben an die liberale Erzählung verloren. Mauern und Firewalls sind wieder en vogue. Der Widerstand gegen Zuwanderung und Freihandelsabkommen wächst. Vorgeblich demokratische Regierungen höhlen die Unabhängigkeit des Justizsystems aus, schränken die Pressefreiheit ein und betrachten jegliche Form von Opposition als Verrat. Machthaber in Ländern wie der Türkei und Russland experimentieren mit neuen Formen von illiberaler Demokratie und unverblümter Diktatur. Heute würde vermutlich kaum jemand voller Zuversicht erklären, die Kommunistische Partei Chinas stehe auf der falschen Seite der Geschichte.

Das Jahr 2016 – das durch das Brexit-Votum in Großbritannien und den Aufstieg Donald Trumps in den Vereinigten Staaten gekennzeichnet war – markierte den Moment, da diese Woge der Desillusionierung die liberalen Kernstaaten Westeuropas und Nordamerikas erreichte. Hatten Amerikaner und Europäer noch vor ein paar Jahren versucht, den Irak und Libyen mit vorgehaltener Waffe zu liberalisieren, so betrachten nun viele Menschen in Kentucky und Yorkshire die liberale Vision als entweder nicht wünschenswert oder nicht zu verwirklichen. Einige entdeckten eine Vorliebe für die alte hierarchische Welt und wollen schlicht ihre durch Rasse, Nation oder Geschlecht bedingten Privilegien nicht aufgeben. Andere sind (ob zu Recht oder zu Unrecht) zu dem Schluss gekommen, dass Liberalisierung und Globalisierung nur eine groß angelegte Masche sind, um einer winzigen Elite auf Kosten der Massen Macht und Wohlstand zu verschaffen.

1938 konnten die Menschen aus drei globalen Erzählungen wählen, 1968 waren es nur noch zwei, und 1998 schien eine einzige Erzählung die Oberhand behalten zu haben; 2018 sind wir bei null angelangt. Kein Wunder, dass die liberalen Eliten, die in den letzten Jahrzehnten einen Großteil der Welt beherrschten, in einen Zustand des Schocks und der Orientierungslosigkeit verfallen sind. Nichts ist beruhigender als eine überzeugende Erzählung. Alles ist völlig klar. Plötzlich keine solche Erzählung mehr zu haben ist furchterregend. Nichts ergibt mehr einen Sinn. Nicht unähnlich der sowjetischen Elite in den 1980er Jahren, begreifen die Liberalen nicht, wie die Geschichte von ihrem vorbestimmten Kurs abweichen konnte, und es fehlt ihnen an einem alternativen Prisma, um die Wirklichkeit zu interpretieren. Die Orientierungslosigkeit sorgt dafür, dass sie in apokalyptischen Kategorien denken, so als könne die Tatsache, dass die Geschichte nicht an das avisierte glückliche Ende gelangte, nur bedeuten, dass der Weltuntergang unmittelbar bevorsteht. Der Kopf ist unfähig, einen Realitätscheck durchzuführen, und verbeißt sich in Katastrophenszenarien. Wie jemand, der glaubt, schlimme Kopfschmerzen seien das Zeichen für einen Gehirntumor im Endstadium, fürchten viele Liberale, der Brexit und der Aufstieg von Donald Trump seien Vorboten des Endes menschlicher Zivilisation.

Erst Mücken totschlagen, dann Gedanken

Dieses Gefühl der Orientierungslosigkeit und des drohenden Untergangs wird noch verschärft durch das sich beschleunigende Tempo der technologischen Disruption. Das liberale politische System war während des industriellen Zeitalters darauf ausgerichtet, eine Welt der Dampfmaschinen, der Ölraffinerien und der Fernsehgeräte zu verwalten. Es tut sich schwer mit den Revolutionen, die sich gerade in der Informationstechnologie und der Biotechnologie vollziehen.

Politiker wie Wähler sind kaum in der Lage, die neuen Technologien zu verstehen, geschweige denn ihr explosives Potenzial in den Griff zu bekommen. Seit den 1990er Jahren hat das Internet die Welt vermutlich stärker verändert als jeder andere Faktor, doch gelenkt wurde die Internet-Revolution von Technikern und weniger von politischen Parteien. Haben Sie je über das Internet abgestimmt? Das demokratische System ist noch immer damit beschäftigt zu begreifen, von was es da getroffen wurde, und es ist schlecht gerüstet, um mit den nächsten Erschütterungen wie dem Aufstieg der künstlichen Intelligenz und der Blockchain-Revolution fertig zu werden.

Schon heute haben Computer das Finanzsystem so kompliziert gemacht, dass kaum ein Mensch es noch versteht. Da künstliche Intelligenz immer besser wird, können wir schon bald einen Punkt erreichen, an dem es überhaupt kein Mensch mehr begreift. Welche Folgen hat das für den politischen Prozess? Können Sie sich eine Regierung vorstellen, die demütig darauf wartet, bis ein Algorithmus ihren Haushalt oder ihre neue Steuerreform billigt? Derweil könnten Peer-to-peer-Blockchain-Netzwerke und Kryptowährungen wie Bitcoin das Geldsystem völlig umkrempeln, sodass radikale Steuerreformen unvermeidlich sind. So könnte es beispielsweise unmöglich oder bedeutungslos werden, Dollar zu besteuern, denn die meisten Transaktionen werden keinen eindeutigen Austausch einer Landeswährung oder überhaupt irgendeiner Währung beinhalten. Regierungen könnten somit gezwungen sein, völlig neue Steuern zu erfinden – vielleicht eine Steuer auf Informationen (sie werden sowohl wichtigste Währung in der Wirtschaft als auch das Einzige sein, das in zahlreichen Transaktionen getauscht wird). Wird es dem politischen System gelingen, mit dieser Krise fertig zu werden, bevor ihm das Geld ausgeht?

Noch wichtiger ist: Die Zwillingsrevolution in Informationstechnologie und Biotechnologie könnte nicht nur Volkswirtschaften und Gesellschaften umgestalten, sondern auch unseren Körper und unseren Geist. In der Vergangenheit haben wir Menschen gelernt, die Welt außerhalb von uns zu beherrschen, doch über die Welt in uns drinnen hatten wir nur ganz wenig Kontrolle. Wir wussten, wie man einen Damm baut und einen Flusslauf stoppt, aber wir wussten nicht, wie man das Altern des Körpers aufhält. Wir wussten, wie man ein Bewässerungssystem anlegt, aber wir hatten keinerlei Vorstellung davon, wie man ein Gehirn entwirft. Wenn uns Mücken um die Ohren sirrten und unseren Schlaf störten, wussten wir, wie man sie totschlägt; aber wenn in unserem Kopf ein Gedanke umherschwirrte und uns nachts wach hielt, wussten die meisten von uns nicht, wie man ihn loswerden sollte.

Die Revolutionen in Biotechnologie und Informationstechnologie werden uns die Kontrolle über die Welt in uns verschaffen und uns in die Lage versetzen, Leben zu manipulieren und herzustellen. Wir werden lernen, wie man Gehirne entwirft, Leben verlängert und Gedanken nach Belieben loswird. Niemand weiß, welche Folgen das haben wird. Die Menschen waren schon immer weitaus besser darin, Instrumente zu erfinden, als sie klug zu nutzen. Es ist leichter, einen Flusslauf zu regulieren, indem man einen Damm baut, als all die komplexen Folgen vorherzusagen, die das für das allgemeine Ökosystem haben wird. Und ganz ähnlich wird es leichter sein, unsere Gedankenströme umzulenken, als zu prognostizieren, was das mit unserer persönlichen Psyche oder unseren Gesellschaftssystemen anstellen wird.

In der Vergangenheit haben wir die Macht erlangt, die Welt um uns herum zu manipulieren und den gesamten Planeten umzugestalten, aber weil wir die Komplexität der globalen Ökologie nicht verstanden haben, haben die Veränderungen, die wir vornahmen, das gesamte Ökosystem unabwendbar zerstört, und heute stehen wir vor einem ökologischen Kollaps. In diesem Jahrhundert werden uns Biotechnologie und Informationstechnologie die Macht verschaffen, die Welt in uns zu manipulieren und uns selbst umzugestalten, aber weil wir die Komplexität unseres Geistes nicht begreifen, könnten die Veränderungen, die wir vornehmen werden, unser mentales System derart aus dem Gleichgewicht bringen, dass es womöglich ebenfalls zusammenbricht.

Die Revolutionen in Biotechnologie und Informationstechnologie werden von Ingenieuren, Unternehmern und Wissenschaftlern vorangetrieben, die sich der politischen Implikationen ihrer Entscheidungen selten bewusst sind und die mit Sicherheit niemanden repräsentieren. Können Parlamente und Parteien die Sache selbst in die Hand nehmen? Gegenwärtig hat es nicht den Anschein. Die technologische Disruption schafft es nicht einmal als vorrangiges Thema auf die politische Agenda. So spielte sie während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs 2016 vor allem im Rahmen von Hillary Clintons E-Mail-Debakel eine Rolle,[3] und trotz allen Geredes über Arbeitsplatzverluste befasste sich keiner der Kandidaten mit den potenziellen Auswirkungen der Automatisierung. Donald Trump warnte die Wähler davor, dass ihnen Mexikaner und Chinesen ihre Arbeit wegnehmen würden und dass sie deshalb eine Mauer an der mexikanischen Grenze bauen müssten.[4] Dagegen warnte er die Wähler nie davor, dass ihnen Algorithmen ihre Arbeitsplätze klauen würden, und er schlug auch nicht vor, an der Grenze zu Kalifornien eine Firewall zu errichten.

Das könnte einer der Gründe (wenn auch nicht der einzige) sein, warum selbst Wähler im Herzen des liberalen Westens den Glauben an die freiheitliche Erzählung und an den demokratischen Prozess verlieren. Mag sein, dass einfache Menschen von künstlicher Intelligenz und Biotechnologie nichts verstehen, aber sie spüren, dass die Zukunft an ihnen vorbeigeht. 1938 war die Situation der einfachen Leute in der UdSSR, in Deutschland oder den USA womöglich reichlich düster, aber man hat dem Mann auf der Straße fortwährend erklärt, er sei das Wichtigste auf der Welt und ihm gehöre die Zukunft (vorausgesetzt natürlich, dass es sich um einen «gewöhnlichen Menschen» und nicht um einen Juden oder einen Afrikaner handelte). Der Normalbürger blickte auf die Wahlplakate – auf denen üblicherweise Bergleute, Stahlarbeiter und Hausfrauen in heldenhaften Posen abgebildet waren – und sah dort sich selbst: «Dort auf dem Plakat, das bin ich! Ich bin der Held der Zukunft!»[5]

2018 fühlt sich der gemeine Mensch zunehmend bedeutungslos. Bei TED-Talks, in staatlichen Denkfabriken und auf Hightech-Konferenzen wirft man aufgeregt mit jeder Menge geheimnisvoller Wörter um sich – Globalisierung, Blockchain, Genmanipulation, künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen –, und die einfachen Leute dürfen mit einigem Recht vermuten, dass keines dieser Wörter etwas mit ihnen zu tun hat. Die liberale Erzählung war die Erzählung der einfachen Menschen. Wie kann sie in einer Welt der Cyborgs und der vernetzten Algorithmen ihre Relevanz behalten?

Im 20. Jahrhundert begehrten die Massen gegen ihre Ausbeutung auf und versuchten ihre wichtige wirtschaftliche Rolle in politische Macht zu übersetzen. Heute fürchten die Massen die Bedeutungslosigkeit, sie wollen die ihnen noch verbliebene politische Macht unbedingt nutzen, bevor es zu spät ist. Der Brexit und die Wahl von Donald Trump könnten somit Ausdruck einer Entwicklung sein, die der traditioneller sozialistischer Revolutionen genau gegenläufig ist. Die Revolutionen in Russland, China und Kuba wurden von Menschen gemacht, die für die Wirtschaft wichtig waren, denen es aber an politischer Macht fehlte; 2016 fanden Trump und der Brexit bei vielen Menschen Unterstützung, die nach wie vor politische Macht hatten, aber befürchteten, ökonomisch wertlos zu werden. Möglicherweise werden populistische Revolten im 21. Jahrhundert nicht gegen eine Wirtschaftselite aufbegehren, welche die Menschen ausbeutet, sondern gegen eine solche, welche die Menschen schlicht nicht mehr braucht.[6] Kann gut sein, dass die Menschen diese Schlacht verlieren. Denn es ist viel schwerer, gegen Bedeutungslosigkeit zu kämpfen als gegen Ausbeutung.

Der liberale Phönix

Es ist nicht das erste Mal, dass die liberale Erzählung mit einer Vertrauenskrise zu kämpfen hat. Seit sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weltweiten Einfluss erlangte, hat sie regelmäßig wiederkehrende Krisen erlebt. Das erste Zeitalter der Globalisierung und Liberalisierung endete im Blutbad des Ersten Weltkriegs, als imperiale Machtpolitik den globalen Fortschritt abrupt beendete. In den Tagen nach der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo zeigte sich, dass die Großmächte deutlich stärker an den Imperialismus als an den Liberalismus glaubten, und statt die Welt durch freien und friedlichen Handel zu einen, waren sie vor allem damit beschäftigt, sich mit brutaler Gewalt ein möglichst großes Stück vom Erdball zu sichern. Doch der Liberalismus überlebte diesen Franz-Ferdinand-Moment und ging stärker denn je aus dem Mahlstrom des Krieges hervor: Er versprach, dies sei der «war to end all wars» gewesen, der Krieg, der alle Kriege beenden werde. Vermeintlich hatte das beispiellose Gemetzel die Menschheit gelehrt, welch fürchterlichen Preis der Imperialismus forderte, und nun waren die Menschen endlich bereit, eine neue Weltordnung zu schaffen, die auf den Grundsätzen von Freiheit und Frieden beruhte.

Dann folgte der Hitler-Moment, als in den 1930er und frühen 1940er Jahren der Faschismus eine Zeit lang unwiderstehlich erschien. Der Sieg über diese Bedrohung leitete nur die nächste ein. Während des Che-Guevara-Moments zwischen den 1950er und 1970er Jahren hatte es erneut den Anschein, als liege der Liberalismus in den letzten Zügen und als gehöre die Zukunft dem Kommunismus. Am Ende aber war es der Kommunismus, der zusammenbrach. Der Supermarkt erwies sich als weitaus stärker als der Gulag. Wichtiger noch: Die liberale Erzählung erwies sich als deutlich geschmeidiger und dynamischer als all ihre Widersacher. Sie triumphierte über den Imperialismus, den Faschismus und den Kommunismus, indem sie einige von deren besten Ideen und Praktiken übernahm. Insbesondere lernte die liberale Erzählung vom Kommunismus, die Reichweite der Empathie zu vergrößern und neben der Freiheit auch der Gleichheit einen hohen Wert beizumessen. Zu Beginn ging es der liberalen Erzählung vor allem um die Freiheiten und Privilegien europäischer Männer aus der Mittelschicht, und sie schien blind zu sein für die Nöte von Menschen aus der Arbeiterklasse, von Frauen, Minderheiten und allen, die nicht westlich waren. Als die siegreichen Mächte Großbritannien und Frankreich 1918 aufgeregt von der Freiheit redeten, dachten sie dabei nicht an die Untertanen ihrer Weltreiche. So wurden beispielsweise indische Forderungen nach Selbstbestimmung 1919 mit dem Massaker von Amritsar beantwortet, bei dem die britische Armee Hunderte unbewaffnete Demonstranten niedermetzelte.

Selbst im Gefolge des Zweiten Weltkriegs taten sich westliche Liberale weiter schwer, ihre angeblich universellen Werte auch auf nichtwestliche Menschen anzuwenden. Als die Niederländer 1945 nach fünf Jahren brutaler NS-Besatzung befreit wurden, stellten sie als Erstes eine Armee auf und schickten sie um die halbe Welt, um ihre ehemalige Kolonie Indonesien zurückzuerobern. Während die Niederländer ihre eigene Unabhängigkeit 1940 nach kaum mehr als viertägigem Kampf aufgegeben hatten, kämpften sie mehr als vier lange und bittere Jahre, um die indonesischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterdrücken. Kein Wunder, dass zahlreiche nationale Befreiungsbewegungen überall auf der Welt ihre Hoffnungen auf das kommunistische Moskau und Peking richteten und weniger auf die selbst erklärten Verfechter der Freiheit im Westen.

Nach und nach jedoch erweiterte die liberale Erzählung ihre Horizonte, und zumindest theoretisch verfocht sie nun die Freiheiten und Rechte ausnahmslos aller Menschen. Während sich der Kreis der Freiheit erweiterte, erkannte die liberale Erzählung auch, wie bedeutsam Sozialstaatsprogramme kommunistischer Art waren. Freiheit ist nicht viel wert, wenn sie nicht mit irgendeiner Form von sozialem Sicherungsnetz gepaart ist. Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten verbanden Demokratie und Menschenrechte mit staatlich finanzierter Bildung und Gesundheitsversorgung. Selbst die ultrakapitalistischen USA kamen zu der Einsicht, dass der Schutz der Freiheit zumindest ein gewisses Maß an staatlichen Sozialleistungen erfordert. Hungernde Kinder haben keine Freiheiten.

Anfang der 1990er Jahre verkündeten Philosophen und Politiker gleichermaßen das «Ende der Geschichte» und glaubten voller Zuversicht, all die großen politischen und wirtschaftlichen Fragen der Vergangenheit seien geklärt und das generalüberholte liberale Paket aus Demokratie, Menschenrechten, freien Märkten und staatlichen Sozialleistungen sei als einzige Möglichkeit übrig geblieben. Dieses Paket schien dazu bestimmt, sich auf die gesamte Welt auszubreiten, alle Hindernisse zu überwinden, alle nationalen Grenzen hinwegzufegen und die Menschheit in eine einzige freie Weltgemeinschaft zu verwandeln.[7]

Doch die Geschichte ging nicht zu Ende, und nach dem Franz-Ferdinand-Moment, dem Hitler-Moment und dem Che-Guevara-Moment stecken wir nun mitten im Trump-Moment. Dieses Mal jedoch hat es die liberale Erzählung nicht mit einem in sich geschlossenen ideologischen Widersacher wie dem Imperialismus, dem Faschismus oder dem Kommunismus zu tun. Der Trump-Moment ist deutlich nihilistischer.

Hatten die großen Bewegungen des 20. Jahrhunderts allesamt eine Vision für die gesamte menschliche Spezies – ob nun die Weltherrschaft, die Revolution oder die Befreiung –, so hat Donald Trump nichts dergleichen zu bieten. Im Gegenteil: Seine Hauptbotschaft lautet, es sei nicht Amerikas Aufgabe, irgendeine globale Vision zu formulieren und zu verfolgen. Auch die britischen Brexit-Befürworter haben keinen wirklichen Plan für die Zukunft des Unvereinigten Königreichs – die Zukunft Europas und der Welt übersteigt ihren Horizont bei Weitem. Die meisten Menschen, die für Trump und den Brexit stimmten, lehnten das liberale Paket nicht zur Gänze ab – sie hatten vornehmlich das Vertrauen in die Globalisierung verloren. Sie glauben nach wie vor an Demokratie, freie Märkte, Menschenrechte und soziale Verantwortung, aber sie sind auch der Ansicht, dass diese hübschen Ideen an der Grenze haltmachen sollten. Tatsächlich glauben sie, Freiheit und Wohlstand in Yorkshire oder Kentucky ließen sich am besten dadurch bewahren, dass man einen Grenzwall errichtet und gegenüber Ausländern eine illiberale Politik verfolgt.

Die aufstrebende chinesische Supermacht stellt fast so etwas wie ein Spiegelbild dar. Sie hütet sich davor, ihre Politik im Inneren zu liberalisieren, vertritt jedoch gegenüber dem Rest der Welt einen deutlich liberaleren Ansatz. Tatsächlich wirkt Xi Jinping, wenn es um Freihandel und internationale Zusammenarbeit geht, wie Obamas eigentlicher Nachfolger. China hat seinen Marxismus-Leninismus in die hinteren Reihen verbannt und scheint mit der liberalen internationalen Ordnung recht glücklich zu sein.

Das wiederauferstandene Russland betrachtet sich in weitaus stärkerem Maße als Rivalen der globalen liberalen Ordnung, doch obwohl es seine militärische Macht zurückgewonnen hat, ist es ideologisch bankrott. Wladimir Putin ist in Russland, aber auch bei verschiedenen rechten oder rechtspopulistischen Bewegungen vor allem in Europa ohne Zweifel populär, doch er verfügt über keine Weltanschauung, die für arbeitslose Spanier, unzufriedene Brasilianer oder wohlmeinende Studenten in Cambridge irgendwie attraktiv sein könnte.

Russland bietet ein Gegenmodell zur freiheitlichen Demokratie, doch dieses Modell stellt keine kohärente politische Ideologie dar. Vielmehr handelt es sich um eine politische Praxis, bei der eine Reihe von Oligarchen einen Großteil des Reichtums und der Macht eines Landes monopolisieren und anschließend ihre Kontrolle über die Medien nutzen, um ihre Aktivitäten zu verheimlichen und ihre Herrschaft zu zementieren. Demokratie basiert auf Abraham Lincolns Grundsatz, der da lautet: «Es gelingt wohl, alle Menschen einige Zeit und einige Menschen allezeit, aber niemals alle Menschen alle Zeit zum Narren zu halten.» Ist eine Regierung korrupt und gelingt es ihr nicht, das Leben der Menschen zu verbessern, werden irgendwann genügend Bürger das bemerken und die Regierung durch eine andere ersetzen. Doch die staatliche Kontrolle über die Medien untergräbt Lincolns Logik, denn sie verhindert, dass die Bürger die Wahrheit erfahren. Durch ihr Monopol über die Medien kann die herrschende Oligarchie ihre Misserfolge immer wieder anderen in die Schuhe schieben und die Aufmerksamkeit auf äußere Bedrohungen lenken – seien sie realer oder lediglich imaginärer Natur.

Lebt man unter einer solchen Oligarchie, gibt es immer die eine oder andere Krise, die Vorrang vor so langweiligen Dingen wie Gesundheitsversorgung und Umweltverschmutzung hat. Wenn die Nation von einer Invasion von außen oder teuflischer Unterwanderung bedroht ist, wer hat dann schon Zeit, sich um überfüllte Krankenhäuser und vergiftete Flüsse Gedanken zu machen? Indem sie einen unablässigen Strom an Krisen erzeugt, kann eine korrupte Oligarchie ihre Herrschaft unbegrenzt verlängern.[8]

Doch dieses oligarchische Modell mag zwar in der Praxis überdauern, aber wirklich attraktiv ist es für niemanden. Anders als andere Ideologien, die ihre Vision stolz herausstellen, sind herrschende Oligarchien nicht stolz auf ihre Praktiken und nutzen deshalb gerne andere Ideologien als Deckmäntelchen. So gibt Russland vor, eine Demokratie zu sein, und seine Führung behauptet, den Werten des russischen Nationalismus und des orthodoxen Christentums und nicht denen der Oligarchie verpflichtet zu sein. Rechtsextremisten in Frankreich und Großbritannien mögen durchaus auf russische Unterstützung hoffen und ihre Bewunderung für Putin zum Ausdruck bringen, aber selbst ihre Wähler würden nicht in einem Land leben wollen, das tatsächlich das russische Modell nachahmt – also in einem Land mit endemischer Korruption, nicht oder nur schlecht funktionierenden Dienstleistungen, fehlender Rechtsstaatlichkeit und empörender Ungleichheit. Einigen Indikatoren zufolge gehört Russland zu den ungleichsten Ländern auf der Welt, dort konzentrieren sich 87 Prozent des Reichtums in den Händen der wohlhabendsten 10 Prozent.[9] Wie viele Anhänger des Front National aus der Arbeiterklasse würden dieses Modell der Wohlstandsverteilung für Frankreich übernehmen wollen?

Menschen stimmen mit den Füßen ab. Bei meinen Reisen durch die Welt habe ich in vielen Ländern zahlreiche Menschen getroffen, die in die USA, nach Deutschland, nach Kanada oder nach Australien auswandern wollen. Ich habe ein paar getroffen, die nach China oder Japan wollen. Aber ich bin noch keinem einzigen Menschen begegnet, der davon träumt, nach Russland zu emigrieren.

Was den «globalen Islam» angeht, so ist er vor allem für diejenigen attraktiv, die in seinem Schoße geboren wurden. Er mag so manchen in Syrien und im Irak und vielleicht sogar entfremdete muslimische Jugendliche in Deutschland und Großbritannien ansprechen, aber es ist nur schwer vorstellbar, dass sich Griechenland oder Südafrika – ganz zu schweigen von Kanada oder Südkorea – einem globalen Kalifat anschließen, um ihre Probleme zu lösen. Auch in diesem Fall stimmen die Menschen mit den Füßen ab. Für jeden jungen Muslim aus Deutschland, der in den Nahen Osten reist, um dort unter einer islamischen Theokratie zu leben, würden vermutlich hundert junge Menschen aus dem Nahen Osten lieber den umgekehrten Weg nehmen und im liberalen Deutschland ein neues Leben beginnen.

Das könnte glauben machen, die gegenwärtige Vertrauenskrise sei weniger schwerwiegend als ihre Vorläufer. Jeder Liberale, der durch die Ereignisse der letzten paar Jahre zur Verzweiflung getrieben wurde, sollte sich einfach daran erinnern, um wie vieles schlimmer es 1918, 1938 oder 1968 stand. Letztlich wird die Menschheit die liberale Erzählung nicht aufgeben, denn es gibt keine Alternative. Die Menschen mögen dem System einen wütenden Schlag in die Magengrube versetzen, aber da sie nirgendwo anders hin können, werden sie schließlich zurückkehren.

Vielleicht verzichten die Menschen aber auch ganz auf eine globale Sinnstiftung welcher Art auch immer und suchen stattdessen Zuflucht bei lokalen nationalistischen und religiösen Erzählungen. Im 20. Jahrhundert waren nationalistische Bewegungen ein extrem wichtiger politischer Faktor, doch es fehlte ihnen an einer stimmigen Vision für die Zukunft der Welt, sie hatten nichts anderes zu bieten als die Aufteilung des Erdballs in unabhängige Nationalstaaten. Und so kämpften indonesische Nationalisten gegen die niederländische Herrschaft, vietnamesische Nationalisten wollten ein freies Vietnam, aber es gab keine indonesische oder vietnamesische Erzählung für die Menschheit insgesamt. Als es an der Zeit war zu erläutern, in welchem Verhältnis Indonesien, Vietnam und all die anderen freien Nationen stehen und wie die Menschen mit globalen Problemen wie der Gefahr eines Atomkriegs umgehen sollten, wandten sich Nationalisten durchweg entweder liberalen oder kommunistischen Vorstellungen zu. Wenn aber heute Liberalismus und Kommunismus diskreditiert sind, sollten die Menschen dann vielleicht die Vorstellung aufgeben, dass es überhaupt eine einzige globale Erzählung geben könnte? Waren sie denn nicht alle – selbst der Kommunismus – das Produkt des westlichen Imperialismus? Warum sollten Dorfbewohner in Vietnam auf die Kopfgeburt eines Deutschen aus Trier und eines Industriellen aus Manchester vertrauen? Vielleicht sollte jedes Land einen eigenen, ideosynkratischen Pfad einschlagen, der von den eigenen altehrwürdigen Traditionen bestimmt ist? Vielleicht sollten auch die Menschen im Westen zumindest für eine Weile davon absehen, die Welt regieren zu wollen, und sich stattdessen auf ihre eigenen Angelegenheiten und deren Veränderung konzentrieren?

Das ist vermutlich das, was gerade geschieht, denn das Vakuum, das nach dem Zusammenbruch des Liberalismus entstanden ist, wird nach und nach mit nostalgischen Träumereien von irgendeiner lokalen goldenen Vergangenheit gefüllt. Donald Trump verband seine Forderungen nach einem amerikanischen Isolationismus mit dem Versprechen, Amerika wieder «great» zu machen – gerade so als seien die USA der 1980er oder der 1950er Jahre eine vollkommene Gesellschaft gewesen, die die Amerikaner nunmehr im 21. Jahrhundert irgendwie wiederherstellen sollten. Die Brexit-Befürworter träumen davon, Großbritannien zu einer unabhängigen Macht zu machen, als lebten sie noch immer in den Zeiten von Königin Viktoria und als sei die «splendid isolation» eine ernstzunehmende Strategie für das Zeitalter des Internets und der globalen Erwärmung. Chinesische Eliten haben ihre heimischen imperialen und konfuzianischen Vermächtnisse entdeckt, und zwar als Ergänzung oder gar als Ersatz für die zweifelhafte marxistische Ideologie, die sie aus dem Westen importierten. In Russland besteht Putins offizielle Vision nicht darin, eine korrupte Oligarchie zu errichten, sondern das alte Zarenreich zu neuem Leben zu erwecken. Ein Jahrhundert nach der bolschewistischen Revolution verspricht er eine Rückkehr in die glorreiche Zarenzeit, mit einer autokratischen Regierung, die sich auf russischen Nationalismus und orthodoxe Frömmigkeit stützt und ihre Macht von der Ostsee bis zum Kaukasus ausdehnt.

Ähnlichen nostalgischen Träumen, die nationalistische Neigungen mit religiösen Traditionen vermengen, hängen auch die Regime in Indien, Polen, der Türkei und zahlreichen anderen Ländern nach. Nirgends sind diese Träumereien extremer als im Nahen und Mittleren Osten, wo Islamisten das System, das der Prophet Mohammed vor 1400 Jahren in der Stadt Medina errichtete, kopieren wollen, während fundamentalistische Juden in Israel sogar die Islamisten noch übertreffen und davon fantasieren, in die biblischen Zeiten vor 2500 Jahren zurückzukehren. Angehörige der israelischen Regierungskoalition sprechen offen von ihrer Hoffnung, die Grenzen des modernen Israel so auszudehnen, dass sie wieder weitgehend denen des biblischen Israel entsprechen, dem biblischen Gesetz wieder Geltung zu verschaffen und sogar den antiken Jahwe-Tempel in Jerusalem dort wieder aufzubauen, wo heute die al-Aqsa-Moschee steht.[10]

Die liberalen Eliten blicken mit Schrecken auf diese Entwicklungen und hoffen, die Menschheit werde rechtzeitig auf den liberalen Pfad zurückfinden, um eine Katastrophe abzuwenden. In seiner letzten Rede vor den Vereinten Nationen im September 2016 warnte Präsident Obama seine Zuhörer davor, «sich in eine Welt zurückzuziehen, die scharf geteilt ist und unweigerlich zu alten Gräben und Konflikten zwischen Nationen, Völkern, Rassen und Religionen führen wird». Stattdessen, so betonte er, blieben «die Prinzipien offener Märkte und verantwortlichen Regierens, von Demokratie, Menschenrechten und Völkerrecht … die beste Grundlage für menschlichen Fortschritt in diesem Jahrhundert».[11]

Zu Recht verwies Obama darauf, dass das liberale Paket trotz zahlreicher Defizite eine deutlich bessere Bilanz aufzuweisen hat als jede seiner Alternativen. Die meisten Menschen genossen nie mehr Frieden oder Wohlstand als unter der Ägide der liberalen Ordnung des frühen 21. Jahrhunderts. Zum ersten Mal in der Geschichte sterben weniger Menschen an Infektionskrankheiten als an Altersschwäche, weniger Menschen sterben an Hunger als an Fettsucht, und durch Gewalt kommen weniger Menschen ums Leben als durch Unfälle. Doch der Liberalismus hat keine offenkundigen Antworten auf die größten Probleme, vor denen wir stehen: den ökologischen Kollaps und die technologische Disruption. Der Liberalismus vertraute traditionell auf das Wirtschaftswachstum, um wie durch Zauberhand schwierige gesellschaftliche und politische Konflikte zu lösen. Der Liberalismus versöhnte das Proletariat mit der Bourgeoisie, die Gläubigen mit den Atheisten, die Einheimischen mit den Zuwanderern und die Europäer mit den Asiaten, indem er jedem ein größeres Stück vom Kuchen versprach. Solange der Kuchen ständig größer wurde, war das möglich. Doch das Wirtschaftswachstum wird das globale Ökosystem nicht retten – im Gegenteil, es ist die Ursache für die ökologische Krise. Und Wirtschaftswachstum wird auch nicht die technologische Disruption lösen – denn es beruht auf der Erfindung von immer mehr disruptiven Technologien.

Die liberale Erzählung und die Logik der freien Marktwirtschaft ermutigen die Menschen zu großen Erwartungen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts kam jede Generation – ob in Houston, Shanghai, Istanbul oder São Paulo – in den Genuss von besserer Bildung, besserer Gesundheitsversorgung und höheren Einkommen als die jeweilige Vorgängergeneration. In den kommenden Jahrzehnten jedoch dürfte die jüngere Generation dank einer Kombination aus technologischer Disruption und ökologischer Kernschmelze froh sein, wenn es ihr nicht deutlich schlechter geht als ihren Vorgängern.

Wir stehen folglich vor der Aufgabe, eine aktualisierte Erzählung für die Welt zu schaffen. So wie die Umwälzungen der industriellen Revolution die neuen Ideologien des 20. Jahrhunderts gebaren, so werden die kommenden Revolutionen in Biotechnologie und Informationstechnologie wahrscheinlich frische Visionen erfordern. Die nächsten Jahrzehnte könnten deshalb gekennzeichnet sein durch intensives Insichgehen und durch die Formulierung neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle. Könnte sich der Liberalismus noch einmal neu erfinden, wie er das im Gefolge der Krisen der 1930er und 1960er Jahre getan hat, und attraktiver als je zuvor neu erstehen? Könnten traditionelle Religion und Nationalismus die Antworten liefern, die Liberale nicht haben, und könnten sie mithilfe alter Weisheit eine zeitgemäße Weltsicht liefern? Oder wäre es vielleicht an der Zeit, einen sauberen Schnitt mit der Vergangenheit zu vollziehen und eine völlig neue Erzählung zu schaffen, die nicht nur über alte Götter und Nationen hinausgeht, sondern auch über die modernen Grundwerte der Freiheit und Gleichheit?

Gegenwärtig ist die Menschheit weit davon entfernt, in diesen Fragen zu einem Konsens zu finden. Wir befinden uns noch immer im nihilistischen Moment der Desillusionierung und des Zorns – die Menschen haben den Glauben an die alten Erzählungen verloren, verfügen aber noch über keine neuen. Was also tun? Der erste Schritt besteht darin, die Untergangsprophezeiungen herunterzudimmen und vom Panikmodus in den der Verunsicherung umzuschalten. Panik ist eine Form von Hybris. Sie geht mit dem selbstgefälligen Gefühl einher, dass man genau weiß, wohin die Welt steuert – nämlich Richtung Abgrund. Verunsicherung ist demütiger und damit hellsichtiger. Wenn Sie das Gefühl haben, schreiend durch die Straßen rennen und «Die Apokalypse ist nah!» rufen zu müssen, versuchen Sie sich einzureden: «Nein, das stimmt nicht, die Wahrheit ist, dass ich einfach nicht verstehe, was auf der Welt passiert.»

Die folgenden Kapitel versuchen, einige der irritierenden neuen Möglichkeiten, vor denen wir stehen, deutlicher sichtbar zu machen und zu zeigen, welche Wege wir einschlagen könnten. Doch bevor wir potenzielle Lösungen für die missliche Lage der Menschheit erkunden, müssen wir genauer begreifen, welche Herausforderung die Technologie darstellt. Die Revolutionen in der Informationstechnologie und in der Biotechnologie stecken noch immer in den Kinderschuhen, und es ist umstritten, in welchem Ausmaß sie wirklich für die heutige Krise des Liberalismus verantwortlich sind. Die meisten Menschen in Birmingham, Istanbul, Sankt Petersburg und Mumbai sind sich des Aufkommens der künstlichen Intelligenz und ihrer potenziellen Wirkung auf ihr Leben, wenn überhaupt, nur undeutlich bewusst. Es steht jedoch unzweifelhaft fest, dass die technologischen Revolutionen in den nächsten Jahrzehnten an Dynamik gewinnen und die Menschheit mit den härtesten Prüfungen, vor denen sie je stand, konfrontieren werden. Jede Erzählung, die bei den Menschen Gehör finden will, wird vor allem an ihrer Fähigkeit gemessen werden, mit dieser Zwillingsrevolution in Informationstechnologie und Biotechnologie umzugehen. Wenn der Liberalismus, der Nationalismus, der Islam oder irgendein neuartiger Glaube die Welt des Jahres 2050 prägen will, so wird er künstliche Intelligenz, Big-Data-Algorithmen und Bioengineering nicht nur erklären müssen – er sollte sie auch in ein neues, sinnvolles Narrativ integrieren können.

Um zu begreifen, welcher Art diese technologische Herausforderung ist, sollte man am besten beim Arbeitsmarkt beginnen. Seit 2015 reise ich durch die Welt und unterhalte mich mit Regierungsvertretern, Wirtschaftsleuten, Gesellschaftsaktivisten und Schulkindern über die Lage der Menschheit. Wann immer sie des ganzes Geredes von künstlicher Intelligenz, Big-Data-Algorithmen und Bioengineering überdrüssig waren, musste ich üblicherweise nur ein Zauberwort erwähnen, um ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen: Jobs. Die technologische Revolution könnte schon bald Milliarden Menschen aus dem Arbeitsmarkt drängen und eine massenhafte neue Klasse der Nutzlosen schaffen, mit der Folge von gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen, für die keine der bestehenden Ideologien ein Rezept hat. All das Gerede über Technologie und Ideologie mag reichlich abstrakt und abseitig klingen, aber die ganz reale Aussicht massenhafter Arbeitslosigkeit – oder persönlicher Arbeitslosigkeit – lässt niemanden gleichgültig.

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Arbeit

Wenn du erwachsen bist, hast du vielleicht keinen Job

Wir haben keine Ahnung, wie der Arbeitsmarkt im Jahr 2050 aussehen wird. Allgemein geht man davon aus, dass maschinelles Lernen und Robotik so gut wie jedes Metier verändern werden, von der Joghurtproduktion bis zum Yogaunterricht. Unterschiedliche Ansichten jedoch herrschen darüber, welcher Art diese Veränderungen sein werden und wann mit ihnen zu rechnen ist. Einige glauben, binnen eines oder zweier Jahrzehnte würden Milliarden von Menschen ökonomisch überflüssig. Andere sind der Meinung, selbst auf lange Sicht werde die Automatisierung neue Jobs und größeren Wohlstand für alle schaffen.

Stehen wir also am Rande einer furchterregenden Umwälzung, oder sind solche Prognosen nur ein weiteres Beispiel für eine Maschinenstürmer-Hysterie, die jeder Grundlage entbehrt? Das ist schwer zu entscheiden. Befürchtungen, die Automatisierung werde zu Massenarbeitslosigkeit führen, reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück, und bislang haben sie sich nie bewahrheitet. Seit Beginn der industriellen Revolution wurde für jeden Arbeitsplatz, der an eine Maschine verloren ging, mindestens ein neuer Job geschaffen, und der durchschnittliche Lebensstandard ist drastisch gestiegen.[1] Gleichwohl gibt es gute Gründe zu der Annahme, dass es dieses Mal anders ist und dass maschinelles Lernen ein echter «Game Changer» sein wird.

Die Menschen verfügen über zwei Arten von Fähigkeiten – körperliche und kognitive. In der Vergangenheit konkurrierten Maschinen und Menschen hauptsächlich bei den groben körperlichen Fähigkeiten, während die Menschen in Sachen Kognition den Maschinen stets weit überlegen blieben. Als daher die körperliche Arbeit in der Landwirtschaft und in der Industrie automatisiert wurde, entstanden neue Dienstleistungsjobs, die kognitive Fertigkeiten verlangten, über welche allein Menschen verfügten: Lernen, Analysieren, Kommunizieren und vor allem Verstehen menschlicher Emotionen. Doch die künstliche Intelligenz übertrifft die Menschen nun allmählich auch in immer mehr dieser Fertigkeiten, darunter auch im Verständnis menschlicher Emotionen.[2] Nun kennen wir aber kein drittes Tätigkeitsfeld – jenseits des körperlichen und des kognitiven –, auf dem die Menschen stets einen sicheren Vorsprung haben werden.

Wir müssen dabei berücksichtigen, dass die KI-Revolution nicht nur mit Computern zu tun hat, die immer schneller und schlauer werden. Befeuert wird sie von bahnbrechenden Neuerungen in den Bio- wie in den Gesellschaftswissenschaften. Je genauer wir die biochemischen Mechanismen verstehen, die menschlichen Emotionen, Wünschen und Entscheidungen zugrunde liegen, desto besser können Computer menschliches Verhalten analysieren, menschliche Entscheidungen vorhersagen und menschliche Fahrer, Bankangestellte und Anwälte ersetzen.

In den letzten Jahrzehnten versetzte die Forschung in Bereichen wie der Neurowissenschaft und der Verhaltensökonomie Wissenschaftler in die Lage, Menschen zu «hacken» und insbesondere deutlich besser zu verstehen, wie sie Entscheidungen treffen. Wie sich herausstellte, entspringen diese in fast allen Bereichen, vom Essen bis zum Ehepartner, nicht irgendeinem mysteriösen freien Willen, sondern Milliarden von Nervenzellen, die in Sekundenbruchteilen Wahrscheinlichkeiten berechnen. Die vielgepriesene «menschliche Intuition» ist in Wirklichkeit «Mustererkennung».[3] Gute Fahrer, Bankangestellte und Anwälte haben kein magisches Gespür für Verkehr, Investitionen oder Verhandlungen – vielmehr erspähen sie, indem sie wiederkehrende Muster erkennen, besonders gut gedankenlose Fußgänger, ungeeignete Kreditnehmer und schamlose Betrüger. Wie sich ebenfalls herausstellte, sind die biochemischen Algorithmen des menschlichen Gehirns alles andere als vollkommen. Sie beruhen auf Entscheidungsregeln, Abkürzungen und veralteten Kreisläufen, die eher für die afrikanische Savanne als für den Großstadtdschungel geeignet sind. Kein Wunder also, dass selbst gute Fahrer, Bankangestellte und Anwälte manchmal dämliche Fehler begehen.

Das bedeutet, dass künstliche Intelligenz die Menschen selbst bei Aufgaben, die angeblich Intuition erfordern, überflügeln kann. Wenn Sie glauben, KI müsse in Sachen geheimer Ahnung mit der menschlichen Seele konkurrieren – dann klingt das unmöglich. Aber wenn KI bei Wahrscheinlichkeitsrechnung und Mustererkennung mit neuronalen Netzwerken konkurriert – dann hört sich das weit weniger gewagt an.

Insbesondere kann künstliche Intelligenz bei Jobs besser abschneiden, die ein Gespür und Empathie für andere Menschen verlangen. Viele Arbeitsbereiche – etwa ein Fahrzeug durch eine Straße voller Fußgänger zu steuern, fremden Menschen Geld zu leihen und einen Geschäftsabschluss auszuhandeln – erfordern die Fähigkeit, die Emotionen und Wünsche anderer Menschen richtig einzuschätzen. Wird dieses Kind da gleich auf die Straße rennen? Will der Mann dort drüben im Anzug an mein Geld und damit verschwinden? Meint der Anwalt der Gegenseite seine Drohungen ernst oder blufft er nur? Solange man glaubte, solche Emotionen und Wünsche würden von einem immateriellen Geist erzeugt, schien es offenkundig, dass Computer nie in der Lage sein würden, menschliche Fahrer, Bankangestellte und Anwälte zu ersetzen. Denn wie kann ein Computer den von Gott geschaffenen menschlichen Geist verstehen? Wenn diese Emotionen und Wünsche jedoch in Wirklichkeit nichts anderes als biochemische Algorithmen sind, gibt es keinerlei Grund, warum Computer diese nicht entschlüsseln sollten – und zwar weit besser als jeder Homo sapiens.

Ein Fahrer, der die Absichten eines Fußgängers erahnt, ein Bankangestellter, der die Kreditwürdigkeit eines potenziellen Schuldners bewertet, und ein Anwalt, der die Stimmung am Verhandlungstisch einschätzt, vertrauen dabei nicht auf Zauberkräfte. Vielmehr erkennen ihre Gehirne, für sie unbewusst, biochemische Muster, indem sie Gesichtsausdrücke, Stimmlagen, Handbewegungen und sogar Körpergerüche analysieren. Eine künstliche Intelligenz, die mit den richtigen Sensoren ausgestattet ist, könnte all das viel genauer und zuverlässiger tun als jeder Mensch.

Insofern resultieren die drohenden Arbeitsplatzverluste nicht nur aus dem Aufstieg der Informationstechnologie. Sie sind vielmehr eine Folge des Zusammenfließens von Informationstechnologie und Biotechnologie. Der Weg vom fMRT-Scanner zum Arbeitsmarkt ist lang und beschwerlich, aber er lässt sich trotzdem binnen weniger Jahrzehnte zurücklegen. Was Hirnforscher heute über Amygdala und Kleinhirn erfahren, könnte es Computern ermöglichen, im Jahr 2050 menschliche Psychiater und Leibwächter auszustechen.

Künstliche Intelligenz steht nicht nur bereit, Menschen zu «hacken» und sie bei einstmals spezifisch menschlichen Fertigkeiten zu übertreffen. Sie verfügt auch über spezifisch nichtmenschliche Fähigkeiten, die dafür sorgen, dass der Unterschied zwischen einer künstlichen Intelligenz und einem menschlichen Arbeiter mehr als nur ein gradueller ist. Zwei besonders wichtige nichtmenschliche Fähigkeiten, über die künstliche Intelligenz verfügt, sind die Konnektivität und die Aktualisierbarkeit.

Da Menschen Individuen sind, ist es schwierig, sie miteinander zu verbinden und sicherzustellen, dass sie alle auf dem neuesten Stand sind. Computer hingegen sind keine Individuen und lassen sich ganz einfach in ein einziges flexibles Netzwerk integrieren. Es geht also nicht um die Ersetzung von Millionen individueller menschlicher Arbeitskräfte durch Millionen individueller Roboter und Computer. Vielmehr werden individuelle Menschen vermutlich durch ein integriertes Netzwerk ersetzt werden. Denkt man über die Automatisierung nach, so ist es deshalb falsch, wenn man die Fähigkeiten eines einzelnen menschlichen Fahrers mit denen eines einzelnen selbstfahrenden Autos oder die eines einzelnen menschlichen Arztes mit denen eines einzelnen KI-Arztes vergleicht. Vielmehr sollten wir die Fähigkeiten einer Ansammlung menschlicher Individuen mit den Fähigkeiten eines integrierten Netzwerks vergleichen.

So sind beispielsweise viele Fahrer nicht mit den sich ständig ändernden Verkehrsregeln vertraut und verstoßen häufig dagegen. Da zudem jedes Fahrzeug ein autonomes Gebilde ist, könnte es sein, dass, wenn sich zwei Fahrzeuge gleichzeitig einer Kreuzung nähern, die Fahrer ihre Absichten falsch kommunizieren und zusammenstoßen. Selbstfahrende Autos hingegen können alle miteinander verbunden sein. Wenn zwei solche Fahrzeuge sich derselben Kreuzung nähern, handelt es sich nicht wirklich um zwei getrennte Einheiten – sie sind vielmehr Teil eines einzigen Algorithmus. Die Chancen, dass sie falsch kommunizieren und zusammenstoßen, sind deshalb viel geringer. Und wenn das Verkehrsministerium beschließt, irgendeine Verkehrsregel zu ändern, lassen sich alle selbstfahrenden Autos problemlos zum genau selben Zeitpunkt updaten, und sofern sich kein Programmfehler einschleicht, werden sie alle die neue Regel haargenau befolgen.[4]

Ähnlich ist es im Gesundheitsbereich: Wenn die Weltgesundheitsorganisation eine neue Krankheit entdeckt oder wenn ein Labor einen neuen medizinischen Wirkstoff herstellt, so ist es fast unmöglich, alle menschlichen Ärzte auf der Welt bei diesen Entwicklungen auf den neuesten Stand zu bringen. Wenn Sie hingegen zehn Milliarden KI-Ärzte auf der Welt haben – von denen jeder die Gesundheit eines einzigen Menschen überwacht –, kann man sie alle in Sekundenbruchteilen updaten, und sie können alle untereinander ihre Erfahrungen mit der neuen Krankheit oder dem neuen Wirkstoff kommunizieren. Diese potenziellen Vorzüge von Konnektivität und Aktualisierbarkeit sind so enorm, dass es zumindest in einigen Arbeitsbereichen sinnvoll sein könnte, sämtliche Menschen durch Computer zu ersetzen, selbst wenn auf individueller Ebene manche weiterhin besser arbeiten als die Maschinen.

Nun könnten Sie einwenden, durch den Übergang von individuellen Menschen zu einem Computernetzwerk würden wir die Vorzüge der Individualität verlieren. Wenn beispielsweise ein menschlicher Arzt eine falsche Diagnose stellt, dann tötet er nicht alle Patienten auf der Welt und blockiert nicht die Entwicklung aller neuen Medikamente. Wenn hingegen sämtliche Ärzte in Wirklichkeit nur ein einziges System sind und dieses System einen Fehler macht, könnten die Folgen katastrophal sein. Tatsächlich jedoch kann ein integriertes Computersystem die Vorzüge der Konnektivität maximieren, ohne die Vorzüge der Individualität zu verlieren. Man kann zahlreiche alternative Algorithmen über das gleiche Netzwerk laufen lassen, sodass ein Patient in einem entlegenen Urwalddorf mittels Smartphone Zugang nicht nur zu einem einzigen zuverlässigen Arzt hat, sondern tatsächlich zu 100 verschiedenen KI