Nicht einen Schritt weiter nach Osten - Mary Elise Sarotte - E-Book

Nicht einen Schritt weiter nach Osten E-Book

Mary Elise Sarotte

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Beschreibung

Not one inch eastwards – nicht einen Schritt weiter nach Osten. Mit diesen Worten schlug US-Außenminister James Baker Gorbatschow im Rahmen der Verhandlungen um die deutsche Wiedervereinigung einen hypothetischen Handel vor: Ihr gebt euren Teil Deutschlands frei, wir verrücken die Nato nicht nach Osten. Seitdem ranken sich um dieses Gespräch zahlreiche Legenden und Kontroversen. Gab es ein Versprechen des Westens, sich nicht auszudehnen? Und wie kam es zu der heute so umstrittenen Nato-Osterweiterung? Mary Elise Sarotte hat Unmengen von Archivmaterial durchforstet, um eine der großen politischen Streitfragen unserer Zeit zu klären. In ihrem grundlegenden Buch führt sie in das entscheidende Jahrzehnt zwischen dem Mauerfall und dem Aufstieg Putins. Dabei zeigt sie, warum es nicht zu einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa kam und wie damals die Saat gelegt wurde für die Spannungen, die unsere heutige Welt bestimmen. Nach dem Ende des Kalten Krieges träumten viele von einem «gemeinsamen Haus Europa», vom «Ende der Geschichte» und vom Anbruch eines friedlichen Zeitalters. Doch schon bald verdüsterte sich das Bild. Die Sowjetunion zerfiel im Dezember 1991 und hinterließ ein Machtvakuum. Moskaus blutiger Krieg in Tschetschenien verunsicherte seit 1994 Beobachter im Westen, vor allem aber auch in den Nachfolgestaaten des Warschauer Paktes. So setzten sich in Washington schließlich die Befürworter der Nato-Osterweiterung durch. Am Ende war Europa erneut von einer klaren Trennlinie durchzogen, die Mitglieder von Nicht-Mitgliedern trennte. Nur lag diese Linie jetzt einige hundert Kilometer weiter östlich. Wer es in die Nato geschafft hatte, befand sich in Sicherheit. Doch insbesondere für die Ukraine wurde es dadurch schwieriger, sich aus dem russischen Orbit zu lösen. Mary Elise Sarotte erzählt, wie die Entscheidung für die Nato-Osterweiterung zustande kam, und fragt, ob es Alternativen gegeben hätte. Dabei zeigt sie, wie spannend Geschichte sein kann, wenn man es versteht, sie packend zu erzählen.

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Mary Elise Sarotte

Nicht einen Schritt weiter nach Osten

Amerika, Russland und die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung

Aus dem Englischen von Martin Richter

C.H.BECK

Zum Buch

Not one inch eastwards – nicht einen Schritt weiter nach Osten. Mit diesen Worten schlug US-Außenminister James Baker Gorbatschow im Rahmen der Verhandlungen um die deutsche Wiedervereinigung einen hypothetischen Handel vor: Ihr gebt euren Teil Deutschlands frei, wir verrücken die Nato nicht nach Osten. Seitdem ranken sich um dieses Gespräch zahlreiche Legenden und Kontroversen. Gab es ein Versprechen des Westens, sich nicht auszudehnen? Und wie kam es zu der heute so umstrittenen Nato-Osterweiterung? Mary Elise Sarotte hat Unmengen von Archivmaterial durchforstet, um eine der großen politischen Streitfragen unserer Zeit zu klären. In ihrem grundlegenden Buch führt sie in das entscheidende Jahrzehnt zwischen dem Mauerfall und dem Aufstieg Putins. Dabei zeigt sie, warum es nicht zu einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa kam und wie damals die Saat gelegt wurde für die Spannungen, die unsere heutige Welt bestimmen.

Über die Autorin

MARY ELISE SAROTTE hat den Kravis-Lehrstuhl für Geschichte an der Johns Hopkins University inne und gehört dem Center for European Studies in Harvard und dem Council on Foreign Relations an. Die amerikanische Originalausgabe von «Not One Inch» wurde in der Süddeutschen Zeitung von Jürgen Osterhammel als eines der besten Bücher des Jahres 2022 bezeichnet.

INHALT

Vorwort zur deutschen Ausgabe: Genealogie der Gegenwart

Einleitung: Einander ausschließende Optionen

TEIL I: Ernte und Sturm – 1989–92

1. Zwei Abende in Dresden

Der Kampf um die Gründung der NATO

Abschied vom Warschauer Pakt

Ohne Atomwaffen keine NATO

2. Zum Teufel damit

Übersetzungsdifferenzen

«Nicht einen Schritt weiter nach Osten»

Grünes Licht

Blitzdiplomatie

Camp David

3. Überschreitung der Grenzlinie

«Ein gewaltiges Pokerspiel»

Das Gipfeltreffen von Washington und das Helsinki-Prinzip

«Sich quer auf die Gleise legen»

Kampf im September

4. Vergessen und Chance

Hussein loswerden – und Gorbatschow?

«Wer kontrolliert die Atomwaffen?»

Jelzin schafft die Sowjetunion ab

«Der Schmerz ist groß»

TEIL II: Aufklaren – 1993–94

5. Die Quadratur des Dreiecks

Beratung für den Provinzler

Die russischen und ukrainischen Ecken

Die Visegrád-Ecke

Blutvergießen in Moskau

Partnerschaft für den Frieden

6. Aufstieg und Fall

Die Wichtigkeit, keine Linie zu ziehen

Die Partnerschaft wird im Keim erstickt

Neo-Eindämmung

Wutausbrüche in Brüssel und Budapest

TEIL III: Frost – 1995–99

7. Eine schreckliche Verantwortung

«Ich glaube, Russland kann gekauft werden»

Kosten pro Quadratmeter

Der Gipfel von Madrid 1997 und der Schritt nach Osten

8. Die Umrisse der Zukunft

«Wer wird unser Partner in Russland sein?»

Amtsenthebungsverfahren

Neue Mitglieder, neue Aufgaben

Putins Beförderung

Jelzins Rücktritt

Schluss: Die neue Zeit

Anhang

Anmerkung zu Namen und Orten

Abkürzungen

Anmerkungen

Vorwort zur deutschen Ausgabe: Genealogie der Gegenwart

Einleitung: Einander ausschließende Optionen

1. Zwei Abende in Dresden

2. Zum Teufel damit

3. Überschreitung der Grenzlinie

4. Vergessen und Chance

5. Die Quadratur des Dreiecks

6. Aufstieg und Fall

7. Eine schreckliche Verantwortung

8. Die Umrisse der Zukunft

Schluss: Die neue Zeit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Interviews

Primärquellen aus Archiven und persönlichen Sammlungen von Beteiligten

Belgien

Deutschland

Estland

Großbritannien

Polen

Russland

USA

Primärquellen, die bei wissenschaftlichen Tagungen zugänglich gemacht wurden

Primärquellen, Ausgewählte veröffentlichte Sammlungen

Ausgewählte Darstellungen von Beteiligten einschließlich veröffentlichter Interviews

Ausgewählte Sekundärliteratur

Register

Karten

In Erinnerung an Dagmar und Ernst Richter

ἔννους τὰ καινὰ τοῖς πάλαι τεκμαίρεται «ein besonnener Mann prüft das Neue mit Hilfe des Alten» Sophokles, König Ödipus, Zl. 916

Vorwort zur deutschen Ausgabe: Genealogie der Gegenwart

Lange vor Beginn seiner Invasion der Ukraine 2022 war klar geworden, dass Russlands Präsident Wladimir Putin die Anwendung von physischer und virtueller Gewalt aus den geringsten Gründen genoss – auch zur «Feier» von Jubiläen und seines Geburtstags. Die Menschenrechtsaktivistin und Journalisten Anna Politkowskaja wurde auf dem Heimweg vom Einkaufen am 7. Oktober 2006 aus kurzer Entfernung niedergeschossen – an Putins Geburtstag. Die Verbreitung von gestohlenen Emails aus dem Präsidentschaftswahlkampf von Hillary Clinton fand am 7. Oktober 2016 statt – ebenfalls an Putins Geburtstag. Die Cyberattacken zur Unterstützung von Donald Trump im US-Wahlkampf geschahen 2016 – 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Es ist unklar, aber auch nebensächlich, ob Putin diese Handlungen selbst anordnete oder nur seinen Untergebenen zu erkennen gab, er wünsche zu wichtigen Terminen reale und virtuelle Angriffe als Ehrung. Und seine Beteiligung an der jüngsten dieser gewaltsamen «Feiern» war unbestreitbar. Kurz vor seinem 70. Geburtstag versuchte Putin sich 2022 selbst mehr als 100.000 Quadratkilometer der Ukraine zu schenken. Bei einer Massenveranstaltung auf dem Roten Platz in Moskau verkündete er die Annexion ukrainischer Gebiete, die das russische Militär nicht einmal kontrollierte.

Dieses Verhaltensmuster hat viele große und kleine Auswirkungen gehabt. Zu letzteren gehört mein Entschluss, die englische Version dieses Buches Ende 2021 zu veröffentlichen. Bis dahin hatte ich einen Großteil der vergangenen zwei Jahrzehnte damit verbracht, um die Freigabe von Dokumenten zur Geschichte der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland zu kämpfen. Nach vielen Jahren frustrierender Ablehnungen trugen meine Anstrengungen, Zugang zu diesem Material zu bekommen, Früchte – vor allem 2018, als meine Berufung dazu führte, fast alle Protokolle der Treffen zwischen US-Präsident Bill Clinton und dem russischen Präsidenten Boris Jelzin freizugeben.

Während der Stapel freigegebener Dokumente auf meinem Schreibtisch und meinem Computer wuchs, fragte ich mich, wann ich die Ergebnisse meiner Forschung veröffentlichen solle. Ich erkannte, dass Putin angesichts seiner Gewohnheit, wichtige Jahrestage durch Gewalt zu begehen, das Jahr 2021–22, 30 Jahre nach dem sowjetischen Zusammenbruch und seinen chaotischen Auswirkungen, wohl nicht unbeachtet vorübergehen lassen würde.

Besonders verabscheute Putin die Trennung der Ukraine von der Sowjetunion nach einer Volksabstimmung am 1. Dezember 1991. Obwohl ich nicht ahnte, dass er so weit gehen würde, Kyiv in drei Tagen erobern zu wollen, war ich überzeugt, es werde irgendwelche von Moskau inspirierten gewaltsamen Aktionen um die Zeit dieser 30. Jahrestage geben. Ich verpflichtete mich deshalb, mein Buch im Dezember 2021 in den USA und im Februar 2022 in England erscheinen zu lassen.

Ich schloss das Manuskript im Sommer 2021 ab. Während das Buch aber seinen langsamen Weg zur Veröffentlichung nahm, versuchte ich eine schnellere Art zu finden, um Alarm zu schlagen. Ich schickte einen Artikel mit dem Titel «Todbringender Jahrestag einer Scheidung» an diverse Zeitungsredakteure. Er beleuchtete, wie Putin sowohl vom Untergang der Sowjetunion als auch von der ukrainischen Befreiung von der Kontrolle Moskaus besessen war. Der Artikel endete folgendermaßen: Putin «handelt wie ein Mann, der drei Jahrzehnte nach einer bitteren Trennung noch nicht losgelassen hat und sich zurückholen will, was er für sein rechtmäßiges Eigentum hält. Putin will sein Imperium zurück.»

Mein Versuch, Alarm zu schlagen, schlug fehl. Alle Redakteure lehnten einen Kommentar ab, der ihnen übermäßig pessimistisch vorkam. Schließlich war ich der Ablehnungen müde und schickte ihn niemandem mehr. Neben diesem Scheitern gab es aber auch einen Lichtblick. Der Verlag C.H.Beck glaubte an das Buch und erwarb die deutschen Rechte.

Dann kam der Schrecken des 24. Februar 2022. Meine Bewunderung für die ukrainische Reaktion auf die unsäglichen russischen Handlungen an jenem Tag und seitdem ist grenzenlos. Die Ukrainer und ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj haben erstaunlichen Mut und Wiederstandsfähigkeit angesichts einer großen Übermacht gezeigt.

Die wichtigsten Folgen dieser tragischen Ereignisse erlebten die Ukrainer. Zu den weniger wichtigen Folgen des 24. Februar 2022 gehörte das plötzliche Überquellen meines Emailkontos mit Nachrichten von Redakteuren, die meinen Artikel nun doch drucken wollten. Seitdem habe ich eine gewaltige Zahl von Anfragen nach Kommentaren erhalten.

Weil C.H.Beck schon früh an dieses Buch glaubte, werde ich dem Verlag und meinem Lektor Dr. Detlef Felken stets dankbar sein. Ich bin Beck noch aus drei anderen Gründen dankbar: zunächst für die Chance, ein Buch in Deutschland zu veröffentlichen, wo ich zu verschiedenen Zeiten insgesamt über vier Jahre gelebt habe. Mein wichtigster Aufenthalt war als Austauschstudentin im damaligen West-Berlin 1989.

Zweitens bin ich dankbar für die Bereitschaft des Verlags, den Text des Buches weitgehend beizubehalten, abgesehen von einigen Kürzungen vor allem im Anmerkungsteil. Die deutsche Ausgabe ist also die gekürzte, aber nicht neu geschriebene Version des Buches, das zum 30. Jahrestag des Endes der Sowjetunion erschien.

Ich habe weitergehende Änderungen im Text vermieden, weil sein Wert gerade daher rührt, dass er nicht in großer Eile nach dem Februar 2022 geschrieben wurde. Diese Studie ist vielmehr das Resultat vieler Jahre historischer Forschung. Ich habe dafür Hunderte von Interviews geführt und wertvolle authentische Primärquellen in verschiedenen Sprachen in den Archiven mehrerer Länder konsultiert. Das Ergebnis ist eine «Genealogie der Gegenwart». Da ein Verständnis der Gegenwart aus dem Erkennen der Vergangenheit erwächst, wie es das sophokleische Motto ausdrückt, hilft uns dieses Buch detailliert und differenziert zu verstehen, wie wir in unsere heutige Lage geraten sind.

Am wichtigsten in diesem Buch sind daher nicht meine Stärken oder Schwächen als Autorin – die die Leser selbst bewerten werden –, sondern die dabei verfolgte Methode. Diese Studie zeigt nach meiner Auffassung den enormen Wert historischer Methodik als Weg zur Deutung der heutigen Welt. Anders gesagt, dieses Buch ist ein Beispiel dafür, wie historische Methoden uns helfen, den Ursprung gegenwärtiger Krisen zu bestimmen. Sie zeigt, dass eine detaillierte, genaue historische Erzählung zwar nicht exakt die Zukunft vorhersagen, aber auf große Veränderungen am Horizont hindeuten kann.

Eine solche Erzählung kann uns in die Lage versetzen, uns auf ein Spektrum wahrscheinlicher Ausgänge vorzubereiten – auch tragischer und gewaltsamer. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Text macht klar, in welchem Maße die NATO-Erweiterung der 1990er Jahre die Ukraine im Stich ließ. Diese Entwicklung in Kombination mit Putins Entscheidung Anfang des 21. Jahrhunderts, die üble Praxis der Veränderung europäischer Grenzen durch Gewalt wiederaufzunehmen, machte jeden Staat und jede internationale Organisation verletzlich, die ein weitergehendes Interesse an der Ukraine hatten. Wie die hier vorgestellten Belege zeigen, war diese Verletzlichkeit führenden Politikern in den 1990er Jahren bereits ganz klar, doch tragischerweise wurde diese Erkenntnis nicht in politische Maßnahmen übersetzt, die die gegenwärtige Katastrophe womöglich abgemildert hätten.

***

Wenn der Wert dieses Texts darin besteht, dass er vor dem Konflikt erschien, so besteht der Wert dieses Vorworts darin, dass es mir Gelegenheit gibt, die Bedeutung meiner Erkenntnisse nach der Invasion vom Februar 2022 anzusprechen. Tatsächlich ist der dritte Grund für meinen Dank an C.H.Beck die Möglichkeit, der deutschen Ausgabe trotz beschränkten Raums diesen neuen Abschnitt hinzufügen zu können. Obwohl es noch zu früh ist, um die ganze Tragweite der Tragödie von 2022 zu ermessen, erlaubt mir dieses neue Vorwort, dem Buch eine Art Ouvertüre zu geben, die die Hauptargumente zusammenfasst und ihre Bedeutung im Licht der Invasion bewertet.

Einen Großteil meiner Zeit seit der Invasion vom Februar 2022 habe ich damit verbracht, eine solche Zusammenfassung und Bewertung in zahllosen Besprechungs- und Konferenzräumen in verschiedenen Zeitzonen zu geben. Manche dieser Räume waren online bei Teams und Zoom, andere waren große, überfüllte Vortragssäle, wieder andere kleine, abhörsichere, vor russischen Ohren hoffentlich geschützte Regierungsbüros. Sicherlich waren meine Erfahrungen in diesen Räumen viel unwichtiger als die der Ukrainer. Ihr nicht erlahmender Mut angesichts unaussprechlicher Gewalt hat meine ganze Bewunderung. Doch diese pausenlosen Besprechungen und Vorträge haben mein Leben seit Beginn der Invasion auf ihre Art surreal gemacht.

Plötzlich will anscheinend jeder einen präzisen Bericht über die Geschichte der Auflösung der Sowjetunion nach 1989 und den Beginn der NATO-Erweiterung, um die es in diesem Buch geht, hören, weil Putin genau diese Ereignisse weiterhin instrumentalisiert, um seine Gewalt zu rechtfertigen. Die Orte, die ich besuche, wechseln mit schwindelerregendem Tempo, aber die Fragen bleiben meist dieselben: Was sagen die Dokumente über die Geschichte der 1990er Jahre, die Putin nun als Waffe einzusetzen versucht? Obwohl meine detaillierten Antworten und die Belege in den folgenden Kapiteln stehen, lohnt es sich, hier kurz die Antworten zusammenzufassen, die ich Regierungsbeamten, Offizieren, Studenten, Zuhörern meiner öffentlichen Vorträge und anderen gebe.

Die Idee, es werde keine Erweiterung der NATO nach dem Kalten Krieg geben (d.h. das Konzept einer Bremse für die Bewegung der NATO nach Osten nach dem Mauerfall), entstand als Gedankenspiel während der diplomatischen Kontakte, die 1990 zur deutschen Wiedervereinigung führten. Die Belege zeigen – im Gegensatz zu späteren Behauptungen des letzten sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow –, dass US-Außenminister James Baker und sein bundesdeutscher Kollege Hans-Dietrich Genscher das spekulative Konzept einer potenziellen Nichterweiterung miteinander und mit einer Reihe hoher Politiker einschließlich Gorbatschow diskutierten. Im Februar 1990 legte Bakers Chef und langjähriger Freund, Präsident George H.W.Bush, seinem Minister aber nah, mit solchen Erörterungen aufzuhören. Bush hielt die hypothetische Idee eines Versprechens, das eine künftige Bewegung der NATO nach Osten blockierte, für unnötig und unklug.

Baker gehorchte und informierte das Auswärtige Amt in Bonn, man solle Formulierungen dieser Art fallenlassen. Trotzdem hielt Genscher die Idee am Leben. Er deutete weiterhin an, die NATO werde entweder die Erweiterung stoppen oder in einer größeren Organisation «aufgehen». Diplomaten der unteren Ebenen – häufig, aber nicht nur aus der Bundesrepublik – wiederholten Genschers Gedanken in ihren Kontakten mit sowjetischen Kollegen. Manche taten es anscheinend in der irrtümlichen Überzeugung, dies sei immer noch offizielle Politik, andere anscheinend als Hilfsmittel in den Verhandlungen, doch in beiden Fällen war diese Ansicht nicht mehr die ihrer Regierungschefs.

Genschers Hartnäckigkeit führte zu einer Reihe interner Zusammenstöße, sowohl zwischen ihm und Kanzler Kohl – der von Bush überzeugt worden war, ein Versprechen der Nichterweiterung sei unerwünscht – und zwischen der Bundesrepublik und ihren Verbündeten. Hart auf hart kam es im September 1990 in Moskau, als die Formulierung des Abschlussvertrags zur deutschen Einheit immer noch nicht feststand, während bereits die Politiker zur Unterzeichnungszeremonie eintrafen.

Vertreter Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten, die vor dem 12. September 1990 ununterbrochen in Moskau konferierten, bestanden darauf, der Abschlussvertrag müsse drei Ziele erreichen: 1) der NATO explizit erlauben, die Sicherheitsgarantie von Artikel 5 auf Ostdeutschland auszudehnen, also über die Grenzlinie des Kalten Kriegs hinaus; 2) es deutschen und nichtdeutschen Truppen erlauben, diese Linie ebenfalls zu überschreiten, sobald die Rote Armee abgezogen war; und 3) beide Ziele ohne das explizite Verbot einer künftigen Bewegung nach Osten erreichen.

Genscher meinte, der Westen fordere angesichts des zwischen Ost und West ausgebrochenen Friedens zuviel. Er glaubte, diese Forderungen gefährdeten in letzter Minute die Vereinigung seines Landes, und verschwand wiederholt zu kurzfristig anberaumten Gesprächen mit seinen sowjetischen Kollegen. Seine westlichen Verbündeten mussten auf ihn warten, fragten sich, auf welcher Seite er stehe und was er für die Wiedervereinigung anbieten werde, da seine Heimatstadt in Ostdeutschland lag.

Erst durch eine dramatische Episode mitten in der Nacht, als Genscher in Bakers Hotel stürmte und darauf bestand, die Mitarbeiter des Außenministers sollten ihn wecken, beendete den Stillstand. Die beiden kamen überein, den Vertrag durch eine «vereinbarte Protokollnotiz» zu ergänzen. Sie legte fest, dass ausländische (d.h. nichtdeutsche) NATO-Truppen die frühere innerdeutsche Grenzlinie überschreiten durften, sofern dies nicht eine Verlegung genannt wurde. Was als solche definiert wurde, sollte bei der Regierung des vereinten Deutschlands liegen.

Alle Seiten stimmten dieser Formulierung zu. Der Vertreter Moskaus unterzeichnete den Vertrag, und die Sowjetunion ratifizierte ihn. Die sowjetische Führung kassierte auch die damit verbundene finanzielle Unterstützung, die während der Verhandlungen für ihre Unterschrift und die Ratifizierung zugesagt worden war. Doch obwohl die Sache damit abgeschlossen schien, belastete die Erinnerung an die früheren spekulativen Äußerungen über eine Nichterweiterung die Beziehungen des Westens zu Russland für den Rest der 1990er Jahre (und darüber hinaus).

Die unerwartete Auflösung der Sowjetunion am 25. Dezember 1991 und die atemberaubend schnelle Entstehung zahlreicher Nachfolgestaaten erzeugte neue Unsicherheiten. Inmitten dieser Debatte stimmten die NATO-Mitgliedsländer und Russland (als Nachfolger der UdSSR) in einem Schlüsselpunkt überein: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 bezog sich nur auf Deutschland. Das Problem lag darin, dass sie nicht einig waren, was dies bedeutete.

Die NATO-Verbündeten waren der Auffassung, dass der Vertrag eine Erweiterung auf Länder östlich von Deutschland erlaube, weil er den Präzedenzfall gesetzt habe, Sicherheitsgarantie und ausländische Truppen über die Grenzlinie des Kalten Krieges vorzuschieben. Außerdem war der Vertrag, der die weitere Vergrößerung nicht ausschloss, von Moskau unterschrieben und ratifiziert worden. Russland dagegen war der Auffassung, der Vertrag verbiete die Erweiterung östlich von Deutschland, und zwar wegen zwei Faktoren. Der eine waren die spekulativen Äußerungen über ein solches Verbot während der Verhandlungen Anfang 1990, der andere die Sätze im Vertrag, die ausdrücklich eine begrenzte Aktivität der Allianz auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erlaubten, wobei die Implikation war, dass solche Sätze für andere Länder fehlten.

Es folgten viele Runden kontroverser Gespräche, um den russischen Widerstand gegen die NATO-Erweiterung in Mittel- und Osteuropa abzumildern. Das Ergebnis war die NATO-Russland-Grundakte von 1997. Durch dieses Abkommen versuchte der Westen die russischen Bedenken so weit zu beschwichtigen, dass die Erweiterung weitergehen konnte, ohne den gegenseitigen Beziehungen weiteren Schaden zuzufügen. Auch dieses Dokument wurde aber zum Zankapfel, als Jelzin der Grundakte Befugnisse zuschrieb, die sie nicht besaß.

Gleich nach der Unterzeichnung verkündete er, die Grundakte verbiete es der NATO, irgendwelche militärische Infrastruktur des früheren Warschauer Pakts in Mittel- und Osteuropa zu benutzen. Das stimmte nicht. Doch diese neue Kontroverse, zusammen mit Spannungen wegen des Eingreifens der Allianz im Kosovo 1999 – was von der Mehrheit der Russen aller Gesellschaftsschichten abgelehnt wurde –, untergrub das westliche Verhältnis zu Russland weiter. Erbitterung über diese anhaltende Kontroverse höhlte auch Jelzins Verhältnis zu US-Präsident Bill Clinton aus. Es hatte mit schulterklopfender Bonhomie begonnen, war aber zum Zeitpunkt von Jelzins plötzlichem Rücktritt am 31. Dezember 1999, als er Putin zum amtierenden Präsidenten machte, schon in alkoholbefeuerte Animosität abgesunken.

Bei seiner Amtsübernahme begann Putin nicht gleich mit der Kritik dieser vergangenen Ereignisse, aber so wie das Ausmaß der Gewalt zunahm, die er im Lauf seiner zwei Jahrzehnte an der Macht einzusetzen bereit war, wuchs auch der Nutzen dieser Ereignisse, um die Gewalt zu rechtfertigen. Beschwerden über die NATO spielten in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, seiner Rede zur Annexion der Krim 2014 und seinen Äußerungen 2021 vor der Invasion der Ukraine eine Rolle.

Im Dezember 2021 versuchte Putin sogar, bestimmte Konflikte aus der Geschichte der NATO-Erweiterung der 1990er Jahre neu auszukämpfen, doch diesmal mit Russland als Sieger. Er ließ zwei «Vertragsentwürfe» – eigentlich Ultimaten – an die US-Regierung und an die NATO schicken, die im Kern besagten: Unterschreibt oder ich greife die Ukraine an. Im «Vertrag», der am 17. Dezember 2021 an die NATO ging, bestand Putin ausdrücklich darauf, die Truppen der Allianz müssten auf ihre Standorte vom 27. Mai 1997 zurückkehren. Damit meinte er ihre Standorte am Tag der Unterzeichnung der Grundakte. Mit anderen Worten, Putin versuchte Jelzins falsche Behauptung, die Grundakte verbiete es der NATO, Infrastruktur des früheren Warschauer Pakts ins Bündnis zu integrieren, nachträglich durchzusetzen. Dies ist nur einer der vielen historischen Konflikte (die im Haupttext ausführlich beleuchtet werden), die Putin zugunsten Russlands «neu auskämpfen» will. Er scheint während der Corona-Pandemie viel Zeit damit verbracht zu haben, über der Geschichte vor und nach 1989 zu grübeln und bei Archivaren Kopien von Dokumenten anzufordern, und nun will er korrigieren, was er als historisches Unrecht ansieht.

Die Ereignisse, von denen Putin besessen ist, sind keine undurchdringlichen Mysterien. Vielmehr sind zahlreiche und ausführliche Belege zu ihnen öffentlich zugänglich – viele wegen der Bemühungen um ihre Freigabe durch mich und andere Forscher –, und zahlreiche lebende Zeugen erinnern sich an sie. Wegen dieser Belege ist eine Analyse der Ereignisse auf ernsthafte, historische Weise möglich, statt Putins Versuch, diese Geschichte als Waffe einzusetzen, einfach hinzunehmen. In gewisser Weise ist dieses Buch eine Art Abrüstung. Wenn Putin ein Zerrbild der Geschichte als Waffe benutzt, so ist die Widerlegung seiner Behauptungen eine begrenzte, aber mögliche Art, ihn zu entwaffnen. Anders gesagt, seit der Invasion hat dieses Buch Bedeutung als ernsthafte und präzise Darstellung jener Geschichte angenommen, die Putin zur Rechtfertigung unsäglicher Gewalttaten benutzt hat.

***

Neben einer detaillierten Erzählung der entscheidenden Ereignisse, die Putin jetzt so in Rage versetzen, enthält dieses Buch auch eine allgemeinere Argumentation über die NATO-Erweiterung und ihre Folgen. Es ist wichtig, hier klar zu sagen, dass das Buch und seine Autorin nicht gegen die Vergrößerung der atlantischen Allianz nach dem Kalten Krieg sind. Leser, die alle Fehlentwicklungen seit 1989 der NATO zuschreiben wollen, müssen anderswo suchen. Meiner Meinung nach hatten die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas nach dem Ende des Kalten Kriegs jedes Recht, den Beitritt zum Bündnis anzustreben, ebenso wie die NATO jedes Recht hatte, sie aufzunehmen. In der Schlussakte von Helsinki (und anderen Dokumenten) hatte Moskau zugestimmt, dass Länder ihre eigenen Sicherheitsallianzen wählen könnten.

Es gab aber ein Problem damit, wie die NATO-Erweiterung vor sich ging. Wie im Folgenden beschrieben, untergrub die Art, wie die Allianz neue Mitglieder aufnahm – nach vielen Debatten über alternative Formen der Vergrößerung –, unnötigerweise die Beziehungen zu Moskau in einem entscheidenden, wertvollen Moment der atomaren Abrüstung. Und die Art der Vergrößerung ließ auch die neuen Demokratien auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion im Stich, darunter die Ukraine.

Schlimmer noch, diese potenziellen Probleme waren, wie schon angedeutet, damals bekannt. Es lohnt sich, eine längere Passage aus den Berichten zu zitieren, in denen Thomas Pickering, damals US-Botschafter in Moskau, 1993 vor den Risiken einer NATO-Erweiterung des Alles oder Nichts warnte. Pickering schrieb, Washington müsse sich bewusst sein, dass «wir vor einer ‹Beschleunigung der Geschichte› stehen, in der Amerika und seine Verbündeten schnelle Entscheidungen über die Entwicklung grundlegender europäischer Sicherheitsstrukturen treffen müssen.» Infolgedessen riet er «sowohl im Interesse der Allianz, als auch um die noch empfindliche amerikanisch-russische Partnerschaft nicht zu gefährden», von «Entweder/oder-Fragen über die NATO-Mitgliedschaft» ab. Statt Ländern die Wahl zwischen der Sicherheitsgarantie nach Artikel 5 oder gar nichts zu geben, empfahl Pickering: «Wir sollten eine ‹fortschreitende Annäherung› an die Allianz für jene östlichen Staaten anstreben, die sowohl interessiert als auch fähig sind, daran teilzunehmen.»

Mit anderen Worten, statt einem Alles-oder-Nichts-Prozess der Vergrößerung sollte Washington eine Strategie der bedingten und variablen Vergrößerung anstreben, wie die neue Partnerschaft für den Frieden, die (unter anderem) von Mitgliedern der US-Vertretung bei der NATO und dem Pentagon vorgeschlagen worden war. Ein Ansatz der fortschreitenden Erweiterung würde die Sorgen von Mittel- und Osteuropäern aufnehmen und zugleich die Risken für die neue Kooperation mit Moskau – vor allem bei der atomaren Abrüstung – so gering wie möglich halten. Das Resultat würde «den Grad der Sicherheit für alle erhöhen», also für die USA, das atlantische Bündnis und Europa als Ganzes.[1]

Die Alternative, «eine Politik der Neo-Eindämmung, … wird praktisch jede nützliche und produktive Maßnahme zurückwerfen und untergraben, die wir gegenüber Jelzins Russland entwickelt haben.» Jelzins Rolle «und die seines Außenministers beim Koordinieren unserer [gemeinsamen] außenpolitischen Ansätze wird als Verrat dargestellt werden, und das nicht ganz grundlos.» Westliche «Hilfe, Investitionen und Unterstützung demokratischer und wirtschaftlicher Reformen wird bestenfalls als eigennütziges Eindringen gesehen werden, schlimmstenfalls als Versuche, Russland auf unfaire Art zu behindern und zu lähmen.» Letzten Endes «könnten wir uns hier echten Ärger einhandeln.»[2]

Pickering kritisierte natürlich die US-Politik, aber es ist genauso klar, dass die Russen ihre eigenen Fehler während des entscheidenden Zeitfensters nach 1989 machten. Am tragischsten war vielleicht Jelzins Entschluss, wieder Blutvergießen als politisches Instrument zu benutzen, zuerst durch den Panzerangriff auf das russische Parlament 1993, dann durch die Autorisierung des brutalen Tschetschenien-Kriegs – eines traurigen Vorläufers des heutigen Kriegs in der Ukraine. Wegen dieser Entscheidungen und wegen der enormen Korruption, die die Einführung der Marktwirtschaft begleitete, scheiterte Jelzin daran, eine dauerhafte Demokratie in Russland zu schaffen. Die bedauerliche Kombination all dieser Ereignisse, die im Buch detailliert beschrieben sind, beendete den Augenblick der Hoffnung auf die Zusammenarbeit der Supermächte nach dem Ende des Kalten Kriegs.

***

Zum Schluss einige persönliche Bemerkungen. Mein Dank für all die Personen und Institutionen, die in der Originalversion des Buches genannt sind, bleibt unvermindert bestehen. Ich habe auch bei der Vorbereitung der deutschen Fassung neue Dankesschulden hinzugefügt, und es ist eine Freude, sie hier abzutragen. Ich bin der American Academy in Berlin dafür dankbar, mich während dieser Arbeit als Fellow aufgenommen zu haben. Ana Ramic, Johana Gallup, Viktor Darnedde und vor allem Daniel Benjamin arbeiten jeden Tag intensiv daran, transatlantische Bindungen zu fördern, und ihre Arbeit ist in dieser Zeit des Konflikts wichtiger denn je.

Beim Verlag C.H.Beck danke ich Eva Detig, Dr. Anja Schoene und Dr. Sebastian Ullrich.

Schließlich bin ich meinem deutschen Übersetzer Martin Richter sehr dankbar, der nicht nur an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt hat, sondern auch zu einer Familie gehört, der ich seit vielen Jahren verbunden bin. Als ich zuerst als Austauschstudentin ins damalige West-Berlin kam, kannte ich dort niemanden. Um die Zahl der Menschen, die ich kannte, von Null auf Zwei zu bringen, sprach ich eine junge Frau und einen jungen Mann an, die vor mir in der Schlange vor dem Universitätsbüro für ausländische Studenten warteten. Sie unterhielten sich fließend in amerikanischem Englisch, so dass ich annahm, auch sie seien gerade aus den Staaten gekommen.

Die Frau kam tatsächlich gerade von der Howard University in Washington, aber zu meiner Überraschung war ihr Gesprächspartner nicht nur Deutscher, sondern auch West-Berliner. Sie kannten sich von seinem Studienaufenthalt in Howard im Jahr zuvor. Dadurch sprach er so fließend Englisch, dass ich ihn für einen Amerikaner gehalten hatte.

Dieser junge Mann, Ernst-Georg Richter, hatte einen Bruder, Martin Richter, der ebenfalls sehr gut English sprach, allerdings mit britischem Akzent wegen seines Studienaufenthalts in England. Als wir uns anfreundeten, lernte ich auch ihre wundervollen Eltern kennen, Dagmar und Ernst Richter, die einer jungen Amerikanerin, die sich in Berlin zurechtzufinden suchte, großzügig ihre Gastfreundschaft anboten. Ihr Leben war eng mit der Geschichte der Stadt verbunden, denn nach dem Mauerbau 1961 hatten sie rasch geheiratet, weil sie befürchteten, im Fall einer eskalierenden politischen Krise oder eines Krieges voneinander getrennt zu werden. Der Teilung der Stadt setzten sie die Verbindung von zwei Menschen entgegen.

Meine Freundschaft mit Familie Richter besteht bis heute. Im Lauf der Jahre ist Ernst-Georg Journalist, Reiseschriftsteller und Autor des Romans Das Kongo-Komplott geworden, und Martin hat als Übersetzer unter anderem Bücher von Historikern wie Paul Kennedy und Timothy Snyder ins Deutsche übertragen. Sobald klar war, dass C.H.Beck mein Buch herausbringen wollte, wünschte ich mir, Martin solle es übersetzen.

Unsere Arbeit an dieser Übersetzung hilft mir jetzt, eine Dankesschuld in einer Zeit der Trauer abzutragen. Ihr Grund ist nicht nur der andauernde Krieg, sondern auch persönlich. Im Jahr 2021 starben Dagmar und Ernst Richter, ohne dass ich sie im Pandemie-Jahr noch einmal sehen konnte. Als kleines Zeichen des Dankes für das, was sie auf ihre ganz persönliche Weise für die weltbürgerliche Erziehung ihrer Söhne und für unsere transatlantische Freundschaft taten, widme ich dieses Buch ihrem Andenken.

Einleitung: Einander ausschließende Optionen

«Es ist … das besondere Merkmal einer tiefen Wahrheit, daß ihre Negation auch eine tiefe Wahrheit ist.»

Max Delbrück

Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Der Kampf um die Zukunft Europas nach dem Kalten Krieg trat mit diesen Worten in seine entscheidende Phase ein. Sie wurden im Februar 1990 von US-Außenminister James Baker gegenüber dem sowjetischen Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow ausgesprochen. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 hatte inzwischen den Zugriff Moskaus auf Mitteleuropa sehr geschwächt. Dank des Sieges der UdSSR über das NS-Regime im Zweiten Weltkrieg waren auch Jahrzehnte später noch Hunderttausende sowjetischer Soldaten in Ostdeutschland stationiert, was durch das Viermächtestatut abgesichert war. Um Gorbatschow zu überzeugen, diese militärische und juristische Macht aufzugeben, schlug Baker einen hypothetischen Handel vor: Was wäre, wenn ihr euren Teil Deutschlands freigeben würdet, und wir zustimmen, dass die NATO «sich nicht einen Schritt weiter nach Osten von ihrer jetzigen Position verschiebt?»[1]

Aus diesem Gedankenaustausch entstand fast sofort eine Kontroverse, zunächst hinter verschlossenen Türen, dann öffentlich. Wichtiger war aber das folgende Jahrzehnt, als diese Worte weitreichende neue Bedeutungen annahmen. Gorbatschow gab seinen Teil Deutschlands frei, doch unterwegs überdachte Washington seine Optionen neu, nicht zuletzt nach der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991. Die Vereinigten Staaten erkannten, dass sie nicht nur gewinnen, sondern entscheidend gewinnen könnten. Kein Fußbreit europäischer Erde brauchte für die NATO tabu zu sein. Washington konnte das Bündnis dabei anführen, einen Weg für zahlreiche neue Mitglieder zu öffnen, die unbedingt beitreten wollten. In den 1990er Jahren tat die NATO genau das, und es führte am 12. März 1999 zur Erweiterung in Mittel- und Osteuropa bis an die polnisch-russische Grenze. Doch am 31. Dezember desselben Jahres kam in Moskau Wladimir Putin an die Macht. Während die NATO weiter wuchs, entschied er sich schließlich dafür, Gewalt anzuwenden, um sicherzustellen, dass kein weiterer Fußbreit Erde beitreten würde. Das Spiel des schrittweisen Vorrückens endete mit einem Patt.

Zwischen dem Fall der Mauer und dem Aufstieg Putins wurde die Animosität zwischen Moskau und Washington über die NATO-Erweiterung ein zentrales Element für die Entstehung einer politischen Ordnung nach dem Kalten Krieg, die der vorigen Ordnung recht ähnlich sah – und für das Scheitern der Hoffnungen auf eine Zusammenarbeit von Vancouver bis Wladiwostok. Um den Ablauf und die Gründe aufzuzeigen, untersucht dieses Buch den Konflikt zwischen Russland und den USA vor dem Hintergrund der sich ständig wandelnden politischen Landschaft der 1990er Jahre. Dieses Jahrzehnt erlebte den erstaunlichen Zusammenbruch eines Imperiums über Nacht, während zahlreiche neue Staaten in Eurasien entstanden; es brachte visionäre Staatsführer hervor, deren Weg manchmal vom Gefängnis in den Präsidentenpalast führte, und die Nobelpreise und weltweite Bewunderung gewannen. Es definierte die Grenzen des Möglichen für Demokratisierung, Abrüstung, Marktwirtschaft und die Grundsätze einer liberalen internationalen Ordnung neu, es öffnete aber auch die Tür für neue Formen des Autoritarismus, der Entdemokratisierung und ethnischen Säuberung.

Die widerspenstige Geschichte der Neunziger im Zusammenhang zu erzählen, ist schwierig, aber notwendig. Ohne einen narrativen Faden ist die Chance, die Liste von Akteuren, Konzepten und Schauplätzen zu überblicken, fast gleich null. Dieser Faden ist im vorliegenden Buch der Konflikt um die NATO-Erweiterung. Es erzählt nicht die Geschichte des Bündnisses, sondern der strategischen Entscheidungen, die amerikanische und russische Staatsführer während des ein Jahrzehnt dauernden Konflikts um den Beginn seiner Ausweitung auf Mittel- und Osteuropa trafen, und des angesammelten Gewichts dieser Entscheidungen für die Welt von heute. Das Buch konzentriert sich zunächst auf das Tauziehen 1989 über die Zukunft des wiedervereinigten Deutschlands, das für Washington rasch zu einem Kampf um die Erhaltung des atlantischen Bündnisses wurde. Dann wird das Blickfeld ausgeweitet, um zu analysieren, wie der Erfolg Amerikas Chancen für die mutigen Führungsfiguren der neuen europäischen Demokratien schuf, aber auch Herausforderungen für das Verhältnis des Westens zu den ehemaligen Sowjetrepubliken – vor allem für die westlichen Anstrengungen, ihren nuklearen Kater zu kurieren, wie ein US-Verteidigungsminister es einmal nannte. In einer weiteren Ausweitung zeigt das Buch, wie die Durchführung der NATO-Erweiterung zu einem Verlust an Optionen für die transatlantischen Beziehungen im 21. Jahrhundert führte.

Durchgehend fragt das Buch, wie und warum die beiden US-Präsidenten George H.W. Bush und Bill Clinton – zusammen mit ihren europäischen Kollegen Tony Blair, Jacques Chirac, Václav Havel, Helmut Kohl, John Major, François Mitterrand, Gerhard Schröder, Margaret Thatcher, Lech Wałęsa sowie den baltischen Regierungschefs und den NATO-Generalsekretären Manfred Wörner und Javier Solana – die Erweiterung anstießen, die das Bündnis schließlich auf 30 Mitglieder brachte. Diese Leistung war für amerikanische Strategen ein großer Erfolg. Sie rettete viele (wenn auch nicht alle) der neuen Demokratien vor der Existenz in einer sicherheitspolitischen Grauzone zwischen Ost und West. Mit Washingtons Hilfe erreichten über 100 Millionen Mittel- und Osteuropäer den verdienten Erfolg ihrer Bemühungen um die NATO-Mitgliedschaft. Und während ihrer Erweiterung half die Allianz dabei, blutige Konflikte auf dem Balkan zu beenden.

Heute erstreckt sich die NATO vom nordamerikanischen Kontinent, Island und Grönland über Großbritannien, Europa und den Balkan, einen Raum mit fast einer Milliarde Menschen. Alle ihre Mitglieder besitzen die in Artikel 5 des Gründungsvertrags formulierte Garantie, «daß ein bewaffneter Angriff gegen eine[s] oder mehrere von ihnen … als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird.»[2] Seit dem Erlangen dieser Garantie sind die neuen Mitglieder der Allianz tatsächlich von großen bewaffneten Angriffen verschont geblieben, während es Kämpfe über einige frühere innersowjetische Grenzen hinweg gab. Die militärische Macht und Abschreckungsfähigkeit Amerikas bleiben das Fundament der Stärke des Bündnisses.

Doch der Erfolg hatte einen Preis. Es ist keine Kleinigkeit, die Sicherheit von fast einer Milliarde Menschen zu garantieren. In den 1990er Jahren waren zwei amerikanische Präsidenten so darauf fixiert, Artikel 5 nach Osten auszuweiten, dass sie nicht genug über die Folgen nachdachten, falls sie dieses Ziel erreichten. Präsident Bush sagte zu der Idee, Washington könne mit Moskau einen Kompromiss über die Zukunft der NATO schließen: «Zum Teufel damit.» Präsident Clinton war sich sicher, Russland lasse sich «kaufen».[3] Eine vielversprechende alternative Form der Erweiterung in Form einer Partnerschaft, die eine neue Trennlinie quer durch Europa vermieden hätte, scheiterte am Widerstand der Hardliner. Diese härtere Haltung führte zu Resultaten, verdeckte aber Optionen, die vielleicht die Zusammenarbeit gestärkt, das Wiedererstarken des amerikanisch-russischen Konflikts weniger wahrscheinlich gemacht und auf lange Sicht Washingtons Interessen besser gedient hätten.

Anders gesagt: Die NATO-Erweiterung war eine gerechtfertigte Reaktion auf die Herausforderungen der 1990er Jahre und die Bitten der neuen mittel- und osteuropäischen Demokratien. Das Problem lag darin, wie sie ablief. Der Mauerfall 1989 hatte für kurze Zeit das Potenzial für eine neue kooperative Ordnung nach dem Kalten Krieg geschaffen. Ein Jahrzehnt später blieb die Grenze zwischen dem Europa der NATO-Mitglieder und dem der Nichtmitglieder aber eine klar abgegrenzte Frontlinie. Die Ukraine und andere postsowjetische Staaten stagnierten in einer Grauzone, die nukleare Konkurrenz lebte wieder auf, und frühe Hoffnungen auf Zusammenarbeit waren verblasst – und die Art, wie die Erweiterung zustande kam, hatte dazu beigetragen.

Vielleicht überrascht es nicht, dass das Resultat umstritten sein würde, denn während der ganzen 1990er Jahre hatten amerikanische Präsidenten mit einer Spannung zwischen zwei Prioritäten zu kämpfen. Sie konnten entweder Mittel- und Osteuropa einschließlich postsowjetischer Republiken wie der baltischen Staaten und der Ukraine die Möglichkeit geben, ihr Schicksal endlich selbst zu bestimmen, egal wie die Wirkung auf Moskau sein mochte, oder sie konnten die Zusammenarbeit mit der zerbrechlichen neuen Demokratie in Russland fördern, besonders im Interesse der nuklearen Abrüstung. Das Problem für Washington lag darin, herauszufinden, welches dieser Ziele Vorrang haben solle. Die richtige Antwort war: beide.

Wie der Genetiker und Nobelpreisträger Max Delbrück schreibt: «Es ist … das besondere Merkmal einer tiefen Wahrheit, daß ihre Negation auch eine tiefe Wahrheit ist.»[4] Licht ist ein Partikel, Licht ist eine Welle. In geopolitische Begriffe übersetzt, beleuchtet diese Einsicht die Spannung zwischen zwei zwingenden Wahrheiten oder strategischen Imperativen, vor denen die USA nach dem Ende des Kalten Krieges standen: Washingtons oberste Priorität sollten die zuvor von Moskau beherrschten Völker sein; Washingtons oberste Priorität sollte Moskau sein.

Wenn die Wahl zwischen zwei so gewichtigen Imperativen liegt, ist es klug, sie nicht zu überstürzen – und das geschieht am besten, indem man vermeidet, zu früh auf eine Entscheidung zu drängen. Es ist die Aufgabe politischer Entscheidungsträger, den klugen Schritt und den besten Zeitpunkt zu suchen. Im Washington der frühen 1990er Jahre gab es einige, die das taten.

Strategen im Außenministerium unter Präsident Bush und, wichtiger noch, im Verteidigungsministerium unter Präsident Clinton erstellten politische Pläne, die beide strategische Imperative einbezogen und Washington Spielraum beim Timing unwiderruflicher Entscheidungen gaben. Sie setzten eine Strategie schrittweiser Sicherheitspartnerschaft um, die europäischen wie postsowjetischen Staaten offenstand und sich schließlich in der Partnerschaft für den Frieden (PfP) verkörperte. Durch diese Partnerschaft konnten NATO-Beitrittskandidaten Erfahrung in der Zusammenarbeit mit dem Westen sammeln und mit der Zeit die vollständige Sicherheitsgarantie von Artikel 5 erwerben. Ein so breit anwendbarer, schrittweiser Ansatz verlangte von Washington nicht, entweder eine neue Linie durch das Europa nach 1989 zu ziehen oder die Ukraine und die meisten anderen postsowjetischen Republiken sich selbst zu überlassen. Er hätte vielleicht auch dabei geholfen, eine neue demokratische Ordnung in Mittel- und Osteuropa zu befestigen, denn spätere Ereignisse zeigten, dass die Aussicht auf die schrittweise Aufnahme in erwünschte Institutionen – nicht die Mitgliedschaft selbst – Reformen am wirksamsten verfestigt.

Obwohl Washington aber den klugen Schritt suchte, drängte es zu früh auf die Entscheidung – und die amerikanische Entscheidung verband sich schließlich auf schicksalhafte Weise mit den tragischen Entscheidungen Russlands. Sobald Präsident Boris Jelzin sich Ende 1993 und 1994 entschloss, das Blut seiner Gegner in Moskau und Tschetschenien zu vergießen, und die antireformerischen Extremisten den Sieg bei den Parlamentswahlen im Dezember 1993 errangen, wurde es viel schwieriger, die Vision einer Partnerschaft, die sowohl Moskau als auch die früher von ihm beherrschten Völker umfasste, aufrechtzuerhalten. Eine explodierende Inflation in Russland als Teil des Übergangs zur Marktwirtschaft intensivierte nur das Gefühl zerbrechender Hoffnungen. Das Blutvergießen auf dem Balkan machte alle Fragen der europäischen Sicherheit noch drängender und schuf neue Spannungen zwischen Washington und Moskau über die Frage, wie der Gewalt zu begegnen sei. Innenpolitische Entwicklungen in den USA – vor allem der große Sieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen zum Kongress 1994 – beeinflussten ebenfalls die Außenpolitik und trieben Clinton zu einer konfrontativeren Strategie der NATO-Erweiterung.

Gewiefte Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats (NSC) und des Außenministeriums machten sich diese Ereignisse und die dringenden Bitten mittel- und osteuropäischer Länder um die volle Sicherheitsgarantie nach Artikel 5 zunutze, um das Pentagon bei der Konstruktion der geopolitischen Ordnung nach dem Kalten Krieg auszustechen. Militärische Planer hatten eine überraschend kleine Rolle bei der politischen Planung in den Jahren nach dem Mauerfall gespielt – unter Bush beklagte sich das Pentagon, es werde zwar konsultiert, habe aber keinen echten «Input» – und wurden unter Clinton schließlich erneut auf den Rücksitz verbannt.[5] Amerikanische Befürworter einer entschlosseneren Erweiterung, die betonten, Mittel- und Osteuropa hätten zu viel historisches Unrecht erlitten und zu lange auf die Ankunft im Westen gewartet, änderten die Methode der NATO-Ausweitung. Statt den schrittweisen Beitritt zahlreicher Staaten zu betreiben, ließen sie das Bündnis das volle Gewicht von Artikel 5 auf wenige Staaten ausdehnen. Obwohl ihre Motive ehrenwert waren, beschleunigte ihr Vorgehen das Tempo und zog eine neue Linie zwischen den Staaten des ehemaligen Ostblocks, die Artikel 5 errungen hatten, und den übrigen. Eine Folge war, dass die amerikanischen Optionen für den Umgang mit unvorhergesehenen Ereignissen nach dem Kalten Krieg – nämlich durch die Schaffung eines Spektrums von Beziehungen zu solchen Staaten, speziell Georgien und der Ukraine – sich drastisch verminderten, während Putin in Russland aufstieg.

Manche Beobachter waren sich damals der Kosten bewusst, zu früh auf eine Entscheidung zu drängen. George Kennan, der frühere US-Botschafter in Moskau, der in den 1940er Jahren die amerikanische Eindämmungsstrategie entworfen hatte, argumentierte, die NATO-Erweiterung erschwere es, die neue Zusammenarbeit mit Moskau zu schützen. Sogar Baker erkannte später in seinen Memoiren: «Nahezu jede Errungenschaft trägt bereits den Samen eines künftigen Problems in sich.»[6] Diese Samen setzten sich in den Beziehungen zwischen den verbliebenen nuklearen Supermächten USA und Russland fest.

Trotz des Endes des Kalten Kriegs besitzen diese beiden Länder immer noch über 90 Prozent der atomaren Sprengköpfe auf der Welt und die Fähigkeit, fast jedes Lebewesen auf der Erde zu töten. Diese Bedrohung macht das Verständnis für den Niedergang ihrer Beziehung in den 1990er Jahren zu einer zentralen Geschichte für unser Zeitalter, weil er die beste Chance einer dauerhaften Zusammenarbeit zunichtemachte. Kalte Kriege dauern lange, darum sind Zeiten des Tauwetters kostbar. Keines der beiden Länder nutzte in den 1990er Jahren dieses Tauwetter maximal aus. Nachdem sie unerwarteterweise von der Drohung eines Atomkriegs befreit worden waren, konnten sie diese Befreiung nicht nutzen.

Die amerikanischen und russischen Entscheidungen in diesem entscheidenden Jahrzehnt hatten weitreichende Auswirkungen. Das Zeitfenster für eine umfassende strategische nukleare Abrüstung – die wichtigste Öffnung seit dem Anbruch des Atomzeitalters – schloss sich relativ schnell. Am Ende der 1990er Jahre zeigten Geheimdienstberichte den Beginn eines erneuten atomaren Wettrüstens. Bald darauf entstanden andere Formen der Konkurrenz, nicht zuletzt der Ausstieg aus zäh errungenen Rüstungskontrollverträgen. Die permissive Atmosphäre der heutigen Welt, in der es kaum noch solche Verträge gibt, bedeutet, dass beide Seiten nicht nur die Rolle nuklearer, sondern auch konventioneller Fähigkeiten neu bewerten. Im Europa der letzten Jahre haben sich sowohl der amerikanische Truppenrückzug als auch der Abzug russischer Truppen nach Osten umgekehrt. Wachsende Spannungen haben auch Fragen über wirtschaftliche, nicht nur militärische Sicherheit aufgeworfen. Mit den Worten des Historikers Adam Tooze zeigt die erneute russische Aggression, dass die «Leugnung der offensichtlichen Verbindung zwischen Handel und Sicherheitspolitik» nach dem Kalten Krieg ein schwerer Fehler war, der durch «den Wiederaufstieg von Putins Russland» offensichtlich wurde. Obwohl sein Bruttonationaleinkommen nicht viel größer war als das Spaniens, nutzte Russland nach dem Ende des Geists der Kooperation «seine militärischen Mittel zur Veränderung des geopolitischen Gleichgewichts in Westasien und dem Nahen Osten» und seine Cyber-Fähigkeiten zur Attacke auf Regierungen und Firmen auf der ganzen Welt.[7]

Angesichts der tiefgreifenden Konsequenzen ist es entscheidend, die Ursache zu verstehen: Warum verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Moskau und Washington nach einer Periode so großer Hoffnungen so stark? Diese Verschlechterung war umso erstaunlicher, als Russland und die USA in den 1990er Jahren für kurze Zeit ein enges Verhältnis gepflegt hatten. Ein Zeichen dafür war 1991 Jelzins Reaktion auf Bakers Bitte, das am sorgsamsten gehütete Staatsgeheimnis mitzuteilen: Einzelheiten darüber, wie Moskau nukleare Angriffe durchführen würde. Der russische Präsident teilte sie bereitwillig mit, um sich bei Baker anzubiedern und amerikanische Hilfe in seinem Machtkampf mit Gorbatschow zu erhalten, aber auch, weil er Vertrauen hatte. Moskau und Washington begannen eine kurze, aber außergewöhnliche Zusammenarbeit beim Kampf gegen die Verbreitung von Atomwaffen. Eine weitere Maßnahme kam 1997, als Jelzin Clinton vorschlug: «Was wäre, wenn wir nicht mehr dauernd den Finger neben dem Knopf haben?» Der US-Präsident antwortete: «Wenn wir in den nächsten vier Jahren das Richtige tun, brauchen wir über dieses Problem vielleicht nicht mehr so viel nachzudenken.»[8]

Am Ende der 1990er Jahre war das Vertrauen aber fast völlig verschwunden. Putin teilte in seinen widerwilligen Gesprächen mit Clinton und dessen oberstem Russland-Berater Strobe Talbott wenig mit. Statt Atomgeheimnisse mit den Amerikanern zu teilen, erzählte er ihnen von den schlimmen Auswirkungen der reduzierten russischen Macht: In ehemals sowjetischen Regionen spielten Terroristen jetzt Fußball mit den abgeschlagenen Köpfen ihrer Geiseln. Die Idee, dass Putin Clinton über Abschussprotokolle informieren würde, war lachhaft.

Was war geschehen? Oder um diese gewaltige Frage in besser handhabbare Teile aufzulösen: Warum entschieden die USA, die NATO nach dem Kalten Krieg zu erweitern; wie beeinflussten die amerikanische Entscheidung und gleichzeitige russische Entscheidungen einander, und entstand aus dieser Interaktion der schicksalhafte Niedergang ihrer Beziehungen? Gab es praktikable Alternativen zu ihren Entscheidungen? Was waren die Kosten der Erweiterung, und wie prägte sie die Ära zwischen Kaltem Krieg und Corona-Pandemie? Wenn wir uns schließlich der Erkenntnis des italienischen Philosophen Benedetto Croce bewusst sind, dass alle Geschichte letztlich Zeitgeschichte ist, die mit einem Blick auf heutige Fragen geschrieben wird, stellt sich die Frage: Wenn wir den Zeithorizont erweitern, wie kann die Kenntnis dieser Geschichte Versuche leiten, eine bessere Zukunft zu schaffen?

Diese Fragen werden im Lauf der Erzählung und im Schlusskapitel detailliert beantwortet, aber es lohnt sich, das Argument hier kurz vorzustellen. Die NATO-Erweiterung bewirkte nicht für sich allein die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und Russland. Wichtige Ereignisse haben mehr als eine Ursache. Geschichte ist nur selten monokausal, vielleicht niemals. Amerikanische und russische Entscheidungen interagierten miteinander und mit der innenpolitischen Situation beider Länder, addierten sich mit der Zeit und bewirkten so den Niedergang. Auch Missverständnisse spielten eine Rolle; die früheren US-Botschafter Alexander Vershbow und Daniel Fried haben dazu geschrieben: «Sowohl die Bush- wie die Clinton-Regierung hegten einige falsche Grundannahmen über das postsowjetische Russland.» Beide verstanden nicht, wie sehr die Befreiung Mittel- und Osteuropas für Moskau wie ein imperialer Zusammenbruch aussah.[9]

Man kann aber nur schwer die Realität leugnen, dass die NATO-Erweiterung die Lasten für die junge und zerbrechliche Demokratie in Russland vermehrte, als sie am dringendsten Freunde brauchte. 1997 sagte Talbott zu Chirac: «Die russische Seite ist völlig durch den Wind.» Er sage das nicht respektlos, sondern erkenne an, dass die Russen «eines der größten Traumata ihrer Geschichte durchlaufen haben, mit mehr plötzlichen Veränderungen ihrer inneren Ordnung, Außenbeziehungen und Ideologie» als jedes andere Land, «das keinen großen Krieg verloren hat.» Das Ergebnis war nach den Worten der Historikerin Margaret MacMillan, dass die Welt nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion «an einem Scheideweg … mit konkurrierenden Visionen der Zukunft stand», nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sicherheitspolitisch. Die Erweiterung der Allianz wurde ein zentraler Faktor im folgenden Wettstreit zwischen mehreren Visionen der Zukunft.[10] Die Geschichte der NATO-Erweiterung und der neuen Zeit der Wirren in Russland verflochten sich miteinander, während die beste Chance auf dauerhafte Kooperation zwischen den atomaren Supermächten schrumpfte und so den wertvollen Moment des Optimismus nach dem Ende des Kalten Kriegs zerstörte.

Ich spürte selbst etwas von jenem Optimismus als junge Amerikanerin während meines Auslandsstudiums in West-Berlin 1989. Seitdem habe ich das politische Erbe der Ereignisse zu verstehen versucht, die ich als Zaungast miterlebte. Aber wie kann ich oder sonst jemand, der nicht direkt an den politischen Entscheidungen auf höchster Ebene beteiligt war, behaupten, die Geschichte der NATO-Erweiterung zu kennen? Die Antwort ist, dass die Interaktionen zwischen Regierungschefs und Staaten und dann die mit ihren eigenen Beratern, Genossen, Parlamenten und Völkern Berge an Papier produzieren, die im Allgemeinen geheim bleiben. Als aber die Berliner Mauer zusammenbrach, brach auch die Fähigkeit der Staaten des Warschauer Pakts zusammen, ihre Dokumente und Geheimnisse unter Verschluss zu halten. Ich begann in den 1990er Jahren mit der Erforschung dieser Quellen, vor allem in den Archiven der Stasi. Ich begann auch Interviews zu führen und Bücher und Artikel über den Kalten Krieg und sein heutiges Erbe zu schreiben, darunter The Collapse: The Accidental Opening of the Berlin Wall und 1989: The Struggle to Create Post Cold-War Europe.

Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts begann ich zu untersuchen, ob ich die Freigabe und Veröffentlichung der entsprechenden westlichen Dokumente – von denen die meisten immer noch gesperrt waren – erreichen könne. In gewissem Sinne schuf ich mein eigenes Archiv auf der Basis von freigegebenen Dokumenten aus sechs Ländern und profitierte auch von der Öffnung von Archiven und der Bemühung um Freigabe von Dokumenten durch andere Forscher. Dies dauerte viele Jahre, weil es zahlreiche Institutionen waren und weil ich viele Personen und Institutionen überzeugen musste, mir Zugang zu gewähren. Wenn einfache Bitten scheiterten, wurde eine Berufung nötig, was den Vorgang weiter verlängerte. Mein Buch beruht auf der Analyse dieser Quellen.

Einige Forschungsdurchbrüche und Publikationen sollen hier erwähnt werden. 2007 erlaubte James Baker mir großzügigerweise den Zugang zur Sammlung seiner Papiere, die er der Princeton University geschenkt hatte, darunter Dokumente über die entscheidenden Treffen in Moskau 1990. 2008 halfen mir hart arbeitende Mitarbeiter der George H.W. Bush Presidential Library, Hunderte von Anträgen auf Einsicht in Dokumente zu stellen, was nicht nur mir, sondern auch anderen Forschern neue Wege eröffnete. 2009 hatte ich Erfolg mit meinem 2005 abgelehnten Antrag auf Einsicht von Dokumenten des Auswärtigen Amts, nachdem der Ex-Außenminister Joschka Fischer und andere so freundlich waren, das Ministerium zum Überdenken der Entscheidung zu bewegen. 2014 beschloss die NATO, ihre sogenannte Direktive über die Veröffentlichung von NATO-Informationen umzusetzen, worauf ich mit Hilfe von Mitarbeitern in Brüssel die Archive des Bündnisses ein Stück weit öffnen konnte. Die vielleicht größte Herausforderung war aber die Freigabe der Protokolle von Clintons Gesprächen mit Jelzin durch die William J. Clinton Presidential Library, bei denen ich nach Ablehnungen 2015 und 2016 drei Jahre für die Berufungen brauchte. Mit Hilfe von Archivaren und anderen, die für Transparenz eintraten, hatte ich 2018 schließlich Erfolg und öffnete eine so reiche Sammlung (einschließlich Verweisen auf Putin), dass der russische Präsidentensprecher Dmitri Peskow gegen die Freigabe von «Dokumenten über gegenwärtige Politiker» durch die Bibliothek protestierte, womit er vor allem seinen Chef meinte.[11]

Aber nicht alles ist schriftlich fixiert. Ich habe sehr von der Bereitschaft von über 100 an diesen Ereignissen beteiligten Personen profitiert, mit mir darüber zu sprechen; ihre Namen erscheinen in der Bibliographie, und ich bin ihnen zu Dank verpflichtet. Angesichts der Grenzen des menschlichen Gedächtnisses – nach Jahrzehnten ist es verständlicherweise schwer, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern –, habe ich diese Interviews auch wenn möglich mit den Archivquellen verglichen. Bei Widersprüchen habe ich mich an die schriftlichen Dokumente der Zeit gehalten. Mit anderen Worten, ich bin in diesem Buch einer Hierarchie der Dokumente gefolgt. Quellen, die zum Zeitpunkt der Ereignisse entstanden und seitdem sicher aufbewahrt wurden – was Historiker Primärquellen nennen –, sind als Beleg wertvoller als Kommentare oder Interviews, die Jahre oder Jahrzehnte später entstanden. Um die Äußerungen über das umstrittene Thema der NATO-Erweiterung so genau wie möglich wiederzugeben, habe ich Zitate weiter unterteilt in solche, die aus Primärquellen stammen und im Haupttext in doppelten Anführungszeichen stehen, und solchen, die ich von anderen übernehme (also Zitate von Zitaten) und durch doppelte und dann einzelne Anführungszeichen markiert habe. Die Quellen für alle Zitate sind in den Anmerkungen genannt.

Zusammengenommen bieten diese Quellen ein reiches Bild der Vergangenheit. Der Historiker John Lewis Gaddis hat geschrieben: «Das direkte Miterleben von Ereignissen ist nicht zwingend der beste Weg zu ihrem Verständnis, weil das eigene Blickfeld nicht über die Grenzen der eigenen Sinne hinausreicht.» Teilnehmer an Ereignissen stehen auf dem Boden, in einer Menge mit vielen anderen, unter vielfältigem Druck. Obwohl ich einige der Ereignisse als Zaungast erlebt habe, erkannte ich erst nach dem Abschluss meines Dissertationsstudiums in Geschichte an der Yale University, wie viel mir entgangen war. Historiker sind wie Beobachter aus größerer Entfernung, sie sehen weniger Einzelheiten, aber das Blickfeld ist größer. Wie Gaddis sagt: «Der Historiker vergangener Ereignisse ist einfach dadurch viel besser dran als ihr Zeitgenosse, weil er einen weiteren Horizont hat.»[12]

Dass persönliche Beteiligung sogar problematisch für spätere historische Einschätzungen werden kann, zeigt sich in Kommentaren von und über zwei Männer, die den Kampf um die NATO-Erweiterung anstießen: Gorbatschow und Baker. Der frühere sowjetische Präsident machte jahrelang Schlagzeilen mit heftigen Aussagen, Baker habe ihm versprochen, das Bündnis werde sich niemals ausdehnen. Gorbatschows Ansichten sind wichtig, weil er 1989 auf Gewalt verzichtete, um die zerfallende sowjetische Macht zu retten, und dadurch die Tür für alles spätere aufstieß. Diese Zurückhaltung trug ihm zurecht den Nobelpreis ein, doch sie trug auch zu seinem Sturz bei, nachdem das atlantische Bündnis sich über die Grenze des Kalten Kriegs hinaus auszudehnen begann.

Als er 2014 über die Erweiterung befragt wurde, klang seine Version anders. Er sagte einem Interviewer, die Erweiterung des Bündnisses sei nicht sein Fehler, weil die Frage in seiner Amtszeit nie akut geworden sei: «Das Thema der ‹NATO-Erweiterung› wurde gar nicht diskutiert und in diesen Jahren nicht angesprochen.» Er sprach von sich in der dritten Person und schob die Schuld seinen Nachfolgern zu: «Stellen Sie Gorbatschow und die damalige sowjetische Führung nicht als naive Menschen dar, die der Westen um den Finger wickelte. Wenn es Naivität gab, kam sie später, als das Thema aktuell wurde.» Er wiederholte auch: «Kein einziges osteuropäisches Land sprach die Frage an, nicht einmal nach dem Ende des Warschauer Pakts 1991», und «westliche Staatschefs sprachen sie auch nicht an.»[13] Zahlreiche Kommentatoren haben Gorbatschows Behauptungen, die NATO-Erweiterung sei während seiner Amtszeit nicht diskutiert worden, und wenn doch, dann nur mit Bezug auf Ostdeutschland, nicht auf Mittel- und Osteuropa, unkritisch wiederholt, oftmals wörtlich. Doch seine Behauptungen stimmen nicht mit früheren Äußerungen überein, wie dieser vom Mai 1990: «Ich habe zu Baker gesagt: Uns ist Ihre wohlwollende Haltung gegenüber der von einigen Vertretern osteuropäischer Länder geäußerten Absicht bekannt, den Warschauer Pakt zu verlassen, um später in die NATO einzutreten.»[14]

Dokumente von anderen führenden Politikern erzählen eine ähnliche Geschichte – noch vor 1990. Am 24. November 1989, nur zwei Wochen nach dem Mauerfall, dachte Präsident Bush bereits strategisch über die Zukunft Europas nach. An diesem Tag sagte er zur britischen Premierministerin Thatcher: «Lassen wir Ostdeutschland beiseite. Was ist, wenn osteuropäische Länder den Warschauer Pakt verlassen wollen. Die NATO muss bleiben.» Mit anderen Worten, wenn diese Länder einen Austritt aus dem Pakt erwogen, ihrem unfreiwilligen Militärbündnis mit Moskau, dann stellte sich die offensichtliche Frage – die Bush intuitiv ahnte –, was sie danach tun würden. Thatcher glaubte, es sei am sinnvollsten, «den Warschauer Pakt zu erhalten», den sie später als «Feigenblatt für Gorbatschow» beschrieb, aber Bush ließ sich nicht überzeugen.[15]

Vielmehr gab es vom 2.–4. Februar 1990 Konsultationen zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Außenministerium sowie dem Kanzleramt darüber, ob sich die Frage einer «territorialen Absicherung» der NATO für «Osteuropa» stellen könne – eine Entwicklung, die Moskau offensichtlich ablehnen würde. Am 6. Februar diskutierten der bundesdeutsche und der britische Außenminister, ob Gorbatschow darauf bestehen würde, dass «Ungarn nicht Teil» der Allianz werde. Am 8. Februar, dem Tag vor seinem Treffen mit Gorbatschow, informierte Baker Bush, er habe mit tschechoslowakischen Politikern über die NATO gesprochen, und «die Durchführung der deutschen Vereinigung innerhalb der NATO könnte für diese Mitteleuropäer sehr wichtig sein.» Vom 20. bis 27. Februar besuchte der stellvertretende US-Außenminister Eagleburger Ungarn, Polen und weitere Länder in der Region und diskutierte mit dem ungarischen Außenminister, «wie eine neue NATO einen politischen Schirm für Mittel- und Osteuropa bilden könnte.»[16] Am 3. März besuchte der tschechoslowakische Außenminister das NATO-Hauptquartier in Brüssel. Am 12. März gaben Bakers Mitarbeiter eine frühe Einschätzung der potenziellen Rolle des Bündnisses in Mittel- und Osteuropa. Am 17. März kritisierten die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen offen den Widerstand Moskaus gegen eine NATO-Erweiterung nach Osten über die Grenze des Kalten Kriegs hinaus. Am 21. März besuchte auch der polnische Außenminister das NATO-Hauptquartier. Im Sommer und Herbst machten viele mittel- und osteuropäische Politiker ähnliche Besuche oder empfingen den NATO-Generalsekretär. 1991 spekulierte Bush mit Wörner sogar über mögliche Beziehungen der NATO zu den baltischen Staaten.

Dieses Interesse am Bündnis existierte zudem parallel zum Interesse an der Europäischen Gemeinschaft, wie der förmliche Aufnahmeantrag Ungarns zeigt, der am 16. November 1989 gestellt wurde – nur eine Woche nach dem Mauerfall. Ungarn und andere reformwillige Staaten signalisierten 1989 auch der Bundesrepublik, ihr Hauptgrund, den Warschauer Pakt noch nicht zu verlassen (und der EG noch nicht beizutreten), sei taktischer Natur. Weil sie wussten, dass dessen Fortbestand eine «Existenzfrage» für Gorbatschow war, wollten sie den Pakt und Gorbatschows Position nicht zu früh untergraben, sonst könne dies zu seinem Sturz durch sowjetische Reaktionäre führen, was «den Reformprozeß in ganz Mittel- und Osteuropa» beenden und Moskaus Kontrolle über die Region bekräftigen würde.[17] Dennoch war das Ende des Pakts in Sicht, und die Erkundung künftiger Optionen hatte begonnen. Kurz gesagt, im Gegensatz zu Gorbatschows oft zitierter Aussage begann der Kampf um die Zukunft Mittel- und Osteuropas in westlichen Institutionen wie EG und NATO mit dem Fall der Mauer.

Wie Gorbatschow musste auch Baker sein Amt verlassen, und auch er unternahm später große Anstrengungen, das Bild seiner Amtszeit zu bestimmen. Nachdem der Minister durch Bushs Niederlage bei der Wahl 1992 wieder zum Privatmann wurde, stellte er ein Recherche- und Autorenteam an, um ihm beim Schreiben seiner Memoiren zu helfen. Einer von ihnen war Andrew Carpendale, ein Bewunderer Bakers, der im Außenministerium unter ihm gearbeitet hatte, sein Hauptredenschreiber geworden war und an den dramatischen Ereignissen jener Jahre teilgenommen hatte. Als Bush aber zahlreiche Passagen des Manuskripts, das sein Team erstellt hatte, strich oder umschrieb, besonders über 1990–91, sah Carpendale sich gezwungen, seinem Chef zu widersprechen. Am 23. Januar 1995 schrieb er: «Ich möchte meinen entschiedenen Widerspruch gegen einige der umfangreichen Änderungen ausdrücken, die Sie vorgenommen haben.» Er warnte Baker: «Sie allein tragen die Verantwortung, wenn die Rezension im New York Times Book Review etwa so beginnt: ‹In seinen bewegten und gut lesbaren Memoiren gelingt James Baker III. als Autor, was ihm in über zwölf Jahren in Washington so gut gelang: seine Erfolge zu verherrlichen, jedes Zeichen von Scheitern zu vermeiden und die Wahrheit zu umgehen.›»[18]

Carpendales Vorhersage war hellsichtig. Neun Monate später kam die Rezensentin der New York Times zu dem Schluss, dass «der Mann, der berühmt dafür war, die Botschaft der Woche zu manipulieren, jetzt sein Bild in der Geschichte manipuliert.»[19] Winston Churchill hatte einmal gestanden, er könne sein positives Bild in der Geschichte sichern, indem er «diese Geschichte selbst schreibe.»[20] Politische Akteure wollen verständlicherweise ihre Geschichte erzählen, aber Geschichte muss mehr sein als Autobiographie, vor allem wenn die Folgen ihres Handelns so weit reichen. Wenn wir stattdessen alle verfügbaren Quellen hinzuziehen, um einen leidenschaftslosen Blick auf den Beginn der NATO-Erweiterung nach dem Kalten Krieg zu werfen, bringt das ein reiches Ergebnis: Wir sehen, wie ihre Erfolge und Misserfolge die heutigen Probleme der atlantischen Welt schufen, und wir können daraus Lehren ziehen, wie man sich auf eine unsichere Zukunft vorbereiten soll.

Diese Geschichte mag kompliziert sein, doch der Aufbau meines Buches ist einfach. Es untersucht das Jahrzehnt der NATO-Veränderung in drei Teilen. Jeder integriert die wichtigsten historischen Ereignisse in eine analytische Erzählung.

Teil I reicht von 1989–92 und beginnt mit dem Fall der Mauer, zur Freude der meisten Menschen, aber zum Schrecken von Putin und sowjetischen Politikern, die glauben, ihr Sieg im Zweiten Weltkrieg habe ihnen das bleibende Recht auf die Beherrschung Mittel- und Osteuropas gegeben. Bundeskanzler Kohl benutzt immer wieder eine Metapher, um das Handeln seiner westlichen Kollegen zu beeinflussen: Bringt die Ernte ein, bevor der Sturm kommt. Er meint, dass der Westen sich 1990 beeilen muss, die Gewinne seines Erfolgs im Kalten Krieg zu sichern, bevor Hardliner in Moskau Front gegen Gorbatschow machen. In diesem Geist gelingt Bush und Kohl in nur 329 Tagen die deutsche Wiedervereinigung und die Ausweitung der NATO über ihre frühere Grenze hinaus auf Ostdeutschland. Bald darauf bricht tatsächlich ein Machtkampf in Moskau aus, genau wie Kohl vorhersagte; doch der Sturm ist noch stärker als er erwartete. Der Putschversuch und seine Folgen fegen bis Ende 1991 nicht nur Gorbatschow, sondern den ganzen Sowjetstaat weg und schaffen Gelegenheiten für das atlantische Bündnis, sich weiter nach Osten auszudehnen. Es erzeugt aber auch neue Risiken, als das sowjetische Atomwaffenarsenal in zahlreiche unerfahrene Hände fällt. Und noch während Washington diese Herausforderungen zu meistern versucht, wählen die Amerikaner 1992 die Regierung Bush ab und setzen den jungen Gouverneur von Arkansas auf den geopolitischen Schleudersitz.

Teil II, 1993–94, erkundet das Aufklaren der amerikanisch-russischen Beziehungen nach diesem Sturm und das dadurch zutage tretende Potenzial. Trotz der Umwälzung in Moskau gewinnen die Reaktionäre nicht wieder die Kontrolle, wie von Kohl befürchtet. Stattdessen gibt es bemerkenswerterweise eine wertvolle zweite Chance zur Zusammenarbeit. Die Macht fällt einem Staatschef zu, der ebenfalls bereit ist, Reformen durchzuführen und mit dem Westen zu kooperieren – Jelzin, der 1993 rasch Übereinstimmung mit Clinton herstellt. «Boris und Bill», wie sie genannt werden, entwickeln das engste Verhältnis, das je zwischen einem russischen und einem amerikanischen Staatschef bestand, und Clinton besucht Moskau schließlich öfter als jeder US-Präsident vor oder nach ihm. Um diese Übereinstimmung zu schützen, aber auch um zugleich auf die Bitten der Mittel- und Osteuropäer nach NATO-Mitgliedschaft und auf das Blutvergießen auf dem Balkan zu reagieren, unterstützt Clinton den Plan einer schrittweisen Partnerschaft für ganz Europa, der weitgehend von seinem in Polen geborenen Vorsitzenden der Vereinigten Generalstabschefs, General John Shalikashvili, stammt. Doch die Ereignisse von Ende 1993 und 1994 – Jelzins tragische Gewaltanwendung gegen Gegner in Moskau und Tschetschenien, das Wiedererstarken der Republikanischen Partei und geschicktes Manövrieren von Washingtoner Insidern – wirken zusammen, um Clinton zum Aufgeben der Partnerschaftslösung zu bewegen.

Teil III, 1995–99, stellt dar, wie Clinton eine aggressivere Haltung bei der NATO-Erweiterung einnimmt, während die «Boris und Bill»-Beziehung in alkoholgeschwängerten Tiraden Jelzins und der harten Haltung des US-Präsidenten beim militärischen Eingreifen im Kosovo versinkt. Gleichzeitig sind Mittel- und Osteuropäer zu Recht begeistert, als der Countdown für ihren NATO-Beitritt beginnt. Die Westeuropäer entscheiden unter sich, dass Russland niemals der EU beitreten wird. Und Frost fällt auf das amerikanisch-russische Verhältnis, als Clinton plötzlich vor der Frage steht, ob er im Amt überleben wird, als die Enthüllung seiner Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky im Weißen Haus Schlagzeilen macht, während Putin gerade in Moskau die Leiter zur Macht erklimmt. Nachdem Moskau wie Washington daran gescheitert sind, im Tauwetter nach dem Kalten Krieg eine bleibende Zusammenarbeit zu schaffen, gewinnen doch noch die reaktionären Kräfte in Russland, die Kohl 1990 gefürchtet hatte.

Das Schlusskapitel tritt einen Schritt von der Erzählung zurück und untersucht, wie der jeweilige US-Präsident die in den drei Abschnitten beschriebenen Entscheidungen über die Zukunft der NATO trifft und wie diese Entscheidungen mit denen Russlands interagieren. Im Grunde betätigt der amerikanische Präsident das politische Gegenstück eines Sperrhebels – ein Werkzeug, dass nur die Bewegung in eine Richtung erlaubt –, und Russland reagiert. Jede Drehung schließt andere Möglichkeiten aus und macht es unmöglich, den Kurs zu ändern und eine andere Richtung einzuschlagen. Mit der Abfolge der Entscheidungen akkumulieren sich die Auswirkungen. Zunächst schließt Bush als Teil des größeren Ziels der deutschen Vereinigung alle Optionen außer einer atlantischen Allianz, die Artikel 5 über die Grenzlinie des Kalten Kriegs hinausträgt, für die transatlantische Sicherheit aus. Als nächstes schließt Clinton die von seiner eigenen Regierung vorgeschlagene Option einer schrittweisen Partnerschaft als Mittel zum Erreichen dieser Erweiterung aus. Schließlich schließt Clinton Optionen aus, Standort oder Zahl der neuen Verbündeten oder Tempo und Rechte ihres Beitritts zu begrenzen. Dieser präsidentiale Sperrhebel bewegt die Dinge zur atlantischen Allianz. Obwohl die NATO viele Mitglieder mit jeweils eigenen Optionen hat, bedeutet die militärische Dominanz der USA, dass es letztlich auf die amerikanische Position ankommt, wenn es um Artikel 5 des NATO-Vertrags geht. Das war in den 1990er Jahren ebenso wahr wie heute. Und die Drehungen des Sperrhebels haben bleibende Konsequenzen, nicht zuletzt darin, dass sie spätere US-Regierungen einschränken, die zu Beginn ihrer Amtszeit nicht mehr alle Optionen für das Organisieren der transatlantischen Sicherheit oder das Verhältnis zu postsowjetischen Staaten besitzen.

Zum Schluss betrachtet das Buch die heutigen Nachwirkungen dieser Ereignisse. Mittel- und Osteuropäer werden NATO-Mitglieder, entdecken aber, dass die Mitgliedschaft nicht automatisch ihre hart errungenen demokratischen Errungenschaften zementiert. Washington gewinnt den Kampf mit Moskau um die NATO in den 1990er Jahren, doch die Art, wie die USA