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Nach dem Longseller »Das bleibt in der Familie« das neue Buch zu transgenerationalen Übertragungen der Expertin Wie wir die wichtigste Aufgabe unseres Lebens lösen Warum fühlen wir uns gegenüber unseren Eltern auch als Erwachsene so ohnmächtig? Warum werden wir im Austausch mit ihnen häufig wieder zum Kind? Viele Menschen sind mit ihren Eltern heillos verstrickt: Schuldgefühle und Enttäuschungen bestimmen aufgrund zu hoher gegenseitiger Erwartungen die Beziehung. Doch irgendwann ist es für uns alle an der Zeit, Abschied zu nehmen. Damit gemeint ist nicht der Bruch mit den Eltern, sondern die Ablösung von elterlichen Erwartungen und Aufträgen. Diese emotionale Abnabelung ist ein lebenslanger Prozess und eine der schwierigsten Aufgaben unseres Lebens. Denn erst, wenn wir unangemessene Abhängigkeits- und Schuldgefühle aktiv bearbeiten, können wir uns gesund von unseren Eltern lösen und glücklichere Beziehungen sowie ein eigenständiges Leben führen. »Ablösung von den Eltern bedeutet keinen Verlust, sondern einen Gewinn: Die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben.« Ärger über zu viel elterliche Einmischung, obwohl wir schon längst unser eigenes Leben führen, Enttäuschung über fehlende Unterstützung, ständige Schuldgefühle oder scheinbar unlösbare Konflikte – all das können Anzeichen dafür sein, dass wir mit den Eltern noch verstrickt sind. Aber es gibt einen Ausweg aus frustrierenden Eltern-Kind-Beziehungen: unsere bewusste Ablösung. Ablösung bedeutet einerseits, weniger abhängig von den Eltern und deren Zustimmung zu werden und andererseits, unrealistische Erwartungen an sie aufzugeben. Wir lernen, auf unsere Bedürfnisse und unsere Grenzen zu achten und Schritt für Schritt Verantwortung für unser eigenes Leben zu übernehmen. Dieses Buch hilft, unbewusste Verstrickungen zu erkennen und sich aus ihnen zu lösen. So können sich letztendlich all unsere Beziehungen zum Positiven verändern. Denn je reifer und geklärter das Verhältnis zu unseren Eltern ist, desto unbeschwerter wird auch jede andere Beziehung, die wir führen. Sich gesund abzulösen ist nicht immer einfach, lohnt sich aber unbedingt: Es ist der einzige Weg zu einem freien, selbstbestimmten Leben.
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Cover & Impressum
Motto
Vorwort
Einleitung
Die größte Aufgabe unseres Lebens
EINS
Was ist gesunde Ablösung, und wie geht das?
Phasen der Ablösung
Von einem, der nicht auszog
Regression – zurück in die Kindheit fallen
In finanzieller Abhängigkeit verharren
Partnerwahl – bösartiger Keil oder angenehmer Puffer?
Was symbiotische Eltern-Kind-Beziehungen für Partnerschaften bedeuten
Ablösung ist keine Einbahnstraße
ZWEI
Elterliche Erwartungen und Verpflichtungen hinterfragen: Was bin ich meinen Eltern wirklich schuldig?
Zwischen Schuld und Schuldgefühlen
Wie Schuldgefühle entstehen
Warum wir familiäre Gesetze und unser Schweigen brechen müssen, um unsere Schuldgefühle zu verringern
Unangemessene Aufträge erkennen und zurückweisen
Warum es uns schwerfällt, die Erwartungen der Eltern zu enttäuschen
Überrundungsschuld: Darf es mir besser gehen als meinen Eltern?
Überlebendenschuld: Warum wir unsere Eltern nicht retten können, indem wir ihnen ins Unglück folgen
Was möchte ich meinen Eltern noch geben?
DREI
Kindliche Erwartungen an Eltern hinterfragen: Was sind meine Eltern mir noch schuldig?
Was wünsche ich mir noch von meinen Eltern?
Wie wir unrealistische Hoffnungen aufgeben
Warum Eltern nicht alles toll finden müssen, was wir entscheiden
Die Realität akzeptieren und den Eltern die Macht nehmen
VIER
Erwachsen auf die Eltern blicken
Benennen, was war und was ist
Wieso sind Erinnerungen an unsere Eltern oft verzerrt?
Spaltung – zwischen Idealisieren und Verteufeln
Was Geschwisterkonflikte mit mangelnder Ablösung von den Eltern zu tun haben können
Kinder von psychisch kranken Eltern – warum sie spalten und schweigen
Das innere Schweigen brechen
Was weit vor uns geschah – das emotionale Erbe unserer Eltern
Die Eltern im Ganzen sehen – eine Annäherung
FÜNF
Inneren Frieden finden
Müssen wir unseren Eltern verzeihen?
Die zwei Seiten des Mitgefühls
Die Gegenwart gestalten – neue Regeln, neue Grenzen, neue Rollen
Gesunde Grenzen setzen
Neue Rollen – Wenn schlechte Eltern gute Großeltern werden
Was, wenn die Eltern keinen Frieden wollen?
Dürfen wir den Kontakt zu unseren Eltern abbrechen?
Der Tod der Eltern – Verlust und Befreiung zugleich
SECHS
Und wenn ich noch gute Eltern brauche? Sich selbst eine gute Mutter und ein guter Vater sein
Das Einmaleins der Selbstfürsorge oder mit sich selbst schwanger gehen
Glaubenssätze erkennen und verändern
Den eigenen Selbstwerttopf füllen
Sich selbst beeltern – die inneren Kinder erkennen und versorgen
Eigenverantwortung – der Schlüssel zum Erwachsenwerden
Auszug aus dem Opferland
Das goldene Buch oder dieses eine, wilde und kostbare Leben
*Epilog: Wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert – auch die zu unseren Eltern
Danksagung
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
»Erwachsenwerden hatte große Ähnlichkeit mit dem lateinischen ›Ave atque vale‹ (›Sei gegrüßt und lebe wohl!‹), es war zugleich Anfang und Schlusspunkt, ein Willkommensgruß, der in Wahrheit ein langer Abschied war.«
James Wood, Upstate
»Es gab keine, keine, keine Pflicht für erwachte Menschen als die eine:sich selber zu suchen, in sich fest zu werden,den eigenen Weg vorwärts zu tasten,einerlei wohin er führte.«
Hermann Hesse, Demian
In Gegenwart meiner Eltern[1] fühle ich mich oft wie ein kleines Kind und werde von Gefühlen überwältigt.
Ich fühle mich für meine Eltern verantwortlich.
Ich bin ständig enttäuscht von meinen Eltern, weil sie nicht so sind, wie ich sie gerne hätte.
Ich kann meinen Eltern keine Grenzen setzen.
Ich muss meine Eltern stolz machen.
Ich traue mich nicht, mit meinen Eltern über meine wahren Gefühle zu sprechen.
Meine Eltern wissen am besten, was gut für mich ist.
Ich weiß am besten, was gut für meine Eltern ist.
Ich empfinde den Kontakt zu meinen Eltern als sehr anstrengend und zwinge mich trotzdem, sie regelmäßig zu treffen.
Ich habe den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen, weil ich sie für etwas bestrafen möchte.
Ich fühle mich oft schuldig, weil ich meinen Eltern nicht genüge.
Die Beziehung zu meinen Eltern ist ein einziger Kampf.
Ich bin Opfer meiner Eltern, sie sind schuld, dass mein Leben für immer verkorkst ist.
Ich wünsche mir, dass meine Eltern alle meine Entscheidungen gutheißen, und bin unglücklich, wenn sie es nicht tun.
Wenn ich meinen Eltern sagen würde, wie sehr sie mich in meiner Kindheit verletzt haben, würden sie mir das nie verzeihen.
Ich habe das Gefühl, mich ständig vor meinen Eltern verteidigen zu müssen.
Ich darf nichts tun oder sagen, was meine Eltern verletzt.
Meine Eltern sind der Hauptstreitpunkt in meiner Beziehung.
Die Gefühle und Bedürfnisse meiner Eltern sind wichtiger als meine eigenen.
Ich halte es nicht aus, dass meine Eltern mich nicht verstehen.
Wenn ich mein Leben nach meinen ureigenen Wünschen führen würde, würde ich meine Eltern verlieren.
Ich möchte meine Eltern retten und würde alles dafür tun, um sie glücklich zu machen.
Ich führe mit meinen Eltern ständig innere Zwiegespräche, die mich aufwühlen.
Ich streite mich oft mit meinen Eltern, um ihnen zu beweisen, dass ich recht habe.
Ich kann nicht aufhören zu wünschen, dass meine Eltern endlich so werden, wie sie nie waren.
Ich mache immer genau das Gegenteil von dem, was meine Eltern sich wünschen.
Ich treffe keine Entscheidungen, von denen ich weiß, dass sie meinen Eltern missfallen würden.
Ich streite in meiner Beziehung über die Themen, die mit meinen Eltern ungeklärt sind.
Ich halte wichtige Bereiche meines Lebens geheim aus Angst vor der Reaktion meiner Eltern.
Ich hasse meine Eltern und wünschte, sie würden sterben.
Wenn meine Eltern sterben, werde ich all meinen Lebensmut und all meine Lebensfreude verlieren.
Wenn Sie auch nur einem der obigen Sätze zustimmen, ist dies ein Hinweis darauf, dass Sie noch mit Ihren Eltern verstrickt sind. Dass Sie noch nicht hinreichend abgelöst sind.
Dieses Buch ist für Sie: Es erklärt, wie der Grad unserer Ablösung unser ganzes (Beziehungs-)Leben beeinflusst. Vor allem zeigt es Wege aus der Verstrickung. Es stellt Ihre persönliche Entwicklung in den Vordergrund, ohne Ihre Familie in ein schlechtes Licht zu rücken.
Dieses Buch kann keine Psychotherapie ersetzen, aber es kann Ihnen helfen, sich selbst, Ihre Eltern und die gemeinsame Dynamik besser zu verstehen. Es kann dazu beitragen, dass Sie Schuldgefühle, Groll und Enttäuschungen hinter sich lassen. Idealerweise gelingt es Ihnen durch die Lektüre, sich zu reflektieren, neu zu positionieren und eine reifere Beziehung mit Ihren Eltern – und auch mit allen anderen Menschen – aufzubauen.
Die Fallgeschichten[2] aus meiner Praxis zeigen, wie Ablösungsschwierigkeiten entstehen und wie sie zu bewältigen sind. Vermutlich werden Sie sich in einigen Fallbeispielen wiedererkennen. Einiges wird Sie vielleicht aufwühlen, Sie traurig oder wütend machen. Das ist kein Grund zur Besorgnis. Emotionale Reaktionen sind ein Zeichen dafür, dass wir berührt worden sind. Idealerweise folgt aus einer Berührung eine Bewegung – und zwar in die Richtung, die uns guttut.
Ablösung ist ein langer Prozess. Sie vollzieht sich mitunter in großen Sprüngen, meist aber in vielen kleinen Schritten. Auf diesem Weg wünsche ich Ihnen Klarheit, Kraft und liebevolle Geduld mit sich selbst.
Ich hoffe, Sie finden den Mut, einengende Bande zu lockern. Denn sich gesund abzulösen heißt nicht, weniger zu lieben, sondern reifer zu lieben.
Wir können uns lösen und trotzdem verbunden bleiben.
Sandra Konrad, Hamburg 2023
Mother, you had me, but I never had you
I wanted you, you didn’t want me
So I, I just got to tell you
Goodbye, goodbye
Father, you left me, but I never left you
I needed you, you didn’t need me
So I, I just got to tell you
Goodbye, goodbye
John Lennon, Mother
John Lennon war 30 Jahre alt, als er »Mother« veröffentlichte, ein herzzerreißendes Lied, in dem er nach seinen Eltern ruft und sich gleichzeitig von ihnen verabschiedet: »Die meisten Leute denken, es ist ein Lied über meine Eltern. Aber es ist ein Lied über 99 % aller Eltern, ob lebendig oder halb tot.«[1]
Natürlich übertreibt Lennon einerseits, wenn er davon ausgeht, dass 99 % aller Mütter ihre Kinder nicht wollen und 99 % aller Väter ihre Kinder verlassen, andererseits untertreibt er, denn es ist die Aufgabe aller Kinder, Abschied von ihren Eltern zu nehmen.
Für die meisten ist dieser Abschied schwierig. Vielen gelingt er nur mäßig, was zum Teil dramatische Auswirkungen auf ihr eigenes Leben hat, besonders, wenn sie an überfordernde Aufträge oder toxische Eltern gebunden bleiben – oder wenn sie sich zeit ihres Lebens nach idealen Eltern sehnen und immer wieder enttäuscht werden.
Wenn ich von Abschied spreche, meine ich nicht die letzten Worte am Sterbebett, sondern die vielen kleinen und großen Schritte, mit denen wir uns von unseren Eltern abnabeln – solange sie noch leben, aber auch noch nach ihrem Tod. Ich spreche von wachsender Selbstständigkeit, von altersgemäßer Unabhängigkeit, von der Fähigkeit, eigene, selbstbewusste Entscheidungen zu treffen, kurz: das eigene Leben zu leben. Das eigene Leben zu leben – nicht jedem gelingt dies. Viele Menschen fühlen sich unfrei und gebunden an die Erwartungen der Eltern. Sie leiden unter Schuldgefühlen, wenn sie sich nicht wunschkindgemäß verhalten, wenn sie Entscheidungen treffen, die den Eltern missfallen: Die Wahl des Berufs, des Partners oder der Partnerin, sexuelle oder politische Orientierungen, der Kleidungs- oder Lebensstil. Viele quälen sich mit Lebensentwürfen, die von den Eltern vorgegeben wurden, oftmals ohne dass es ihnen bewusst ist. Sie spielen eine Rolle, die die Fortsetzung des elterlichen Lebens ist, sei es, weil sie ungelebte Träume der Eltern erfüllen sollen oder weil es ihnen nicht besser gehen darf als den Eltern.
Abschied von den Eltern zu nehmen bedeutet, sich von elterlichen Erwartungen und Aufträgen zu lösen. Sich von ihrer Zustimmung so weit unabhängig zu machen, dass eigenständige Schritte überhaupt möglich werden. Was sich so sinnvoll und einfach anhört, ruft in vielen Familien Konflikte hervor. Eltern können sich große Sorgen um ihre Kinder machen, unzufrieden über deren Lebenswege sein und dies auch deutlich zeigen. Manche erwachsene Kinder halten elterliche Kritik nur schwer aus – sie reagieren wütend, gekränkt und verletzt, wenn die Eltern die eigenen Entscheidungen nicht gutheißen. Einige entwickeln starke Schuldgefühle, andere fürchten elterlichen Liebesentzug und richten ihr Leben deshalb lieber nach den Normen der Eltern aus. Wieder andere rebellieren zeit ihres Lebens gegen die Eltern – ihr Kompass ist immer in die entgegengesetzte Himmelsrichtung ausgerichtet.
Aber der Abschied von den Eltern beinhaltet nicht nur, unpassende oder überfordernde Aufträge zurückzuweisen. Es geht auch darum, die eigenen Erwartungen an die Eltern zu überprüfen und sich von ihnen zu verabschieden.
Viele Kinder suchen ihr Leben lang etwas bei ihren Eltern, das sie möglicherweise nie bekommen haben: bedingungslose Liebe, emotionale Wärme, Aufmerksamkeit, Anerkennung. Aber während wir als Säugling von unseren Eltern abhängig waren, können wir uns als Erwachsene selbst versorgen und unser Leben selbstbestimmt gestalten. Deshalb bedeutet ein Abschied von den Eltern auch, unsere Sehnsucht nach idealen Eltern aufzugeben. Diese Idee ist für viele so schmerzhaft, dass sie lieber ihr ganzes Leben lang Phantom-Eltern hinterherlaufen, anstatt die unperfekte Realität anzunehmen und die Hoffnung auf ein Wunder letztlich aufzugeben.
Dabei ist genau dies der Wendepunkt in unserem Leben, der wahre Eintritt ins Erwachsendasein: wenn wir aufhören, von unseren Eltern etwas zu verlangen, das für sie offensichtlich unmöglich ist. Der Weg dorthin ist dornig, denn all das, was wir bisher versucht haben zu verleugnen, uns schönzureden oder nicht zu fühlen, wird uns schmerzhaft begegnen. Es geht darum, sich unserer Mangelerfahrungen in der Kindheit bewusst zu werden und sie – vielleicht zum ersten Mal – zu betrauern. Es geht darum, unsere Eltern zu sehen, wie sie wirklich sind, und im Zweifel anzuerkennen, dass sie uns nicht besser versorgen konnten und können, oft aufgrund ihrer eigenen (Mangel-)Erfahrungen. Das ist leichter gesagt als getan, denn je mehr emotionalen Mangel wir in unserer Kindheit erfahren haben, desto größer ist das Vakuum, das wir füllen möchten.
Viele Menschen weichen diesem Weg aus, sie verharren in einem »So-tun-als-ob« und können genau deshalb nie echten Kontakt zu ihren realen Eltern aufnehmen, nie wirklich emotional genährt werden, weil sie die Realität der unperfekten Eltern ablehnen und lieber an der Hoffnung festhalten, dass diese doch noch irgendwann perfekt werden.
Aus dieser Sehnsucht entstehen zwei Probleme: Zum einen geben wir unseren Eltern immer wieder die Macht, uns zu enttäuschen. Zum anderen beeinträchtigt die abgewehrte und unverarbeitete Enttäuschung über die Eltern oft andere Beziehungen: Denn die bedingungslose Liebe, zu der unsere Eltern nicht fähig waren, soll uns nun der Partner oder die Partnerin schenken. So verhindert die nicht vollzogene Ablösung von unseren Eltern reife, gesunde Liebesbeziehungen. Im schlimmsten Fall werden auch unsere Kinder belastet, wenn sie uns ihre Liebe beweisen müssen, als ob sie unsere Eltern wären und nicht umgekehrt. Ein transgenerationaler Kreislauf von Überforderung und ungesunden familiären Verstrickungen wird fortgesetzt.[2]
Dieses Buch handelt von einer existenziellen Lebensaufgabe, die sich uns allen stellt: der gesunden Ablösung von den Eltern.
Ablösung von den Eltern bedeutet keinen Verlust, sondern einen Gewinn: Die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Die Chance, viele große und kleine Entscheidungen zu treffen, die uns entsprechen – und nicht lediglich den Erwartungen der Eltern.
Die emotionale Abnabelung von unseren Eltern bedeutet in den meisten Fällen übrigens nicht, den Kontakt zu ihnen abzubrechen, ganz im Gegenteil: Sie ermöglicht, eine neue und bessere Beziehung zu ihnen einzugehen, eine Beziehung, die auf Augenhöhe stattfindet und die nicht auf Hierarchie, Abhängigkeit oder Schuld basiert.
Das Allerwichtigste bei der Abnabelung von den Eltern ist allerdings nicht die neu gestaltete Beziehung zu den Eltern, sondern die liebevolle Beziehung zu uns selbst.
»Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und,
insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen,
zum eigenen Selbst werden.
Man könnte ›Individuation‹ darum auch als ›Verselbstung‹ oder als ›Selbstverwirklichung‹ übersetzen.«
C. G. Jung
»Ich möchte gern völlig abgelöst sein. Mich nicht mehr über meine Mutter ärgern, egal, wie sehr sie mich demütigt oder kränkt«, sagt die 32-jährige Noemi auf meine Frage, was ihr Ziel in der Therapie sei.
Völlig abgelöst zu sein – wünscht sich das nicht jede:r? Aber das, was Noemi und viele andere damit verbinden, nämlich immun zu sein gegen jede Art von Angriff, bis hin zu Entwürdigung, das hieße, gefühllos und verpanzert zu werden. Es hieße, alles über sich ergehen zu lassen, sich nicht zur Wehr zu setzen, Verletzungen stoisch auszuhalten.
Gesunde Ablösung bedeutet das Gegenteil, nämlich im Kontakt mit den eigenen Gefühlen zu sein und so weit im Kontakt mit anderen bleiben zu können, dass Kommunikation, aber auch Grenzsetzung möglich ist. Psycholog:innen bezeichnen diese Fähigkeit auch als »Selbst-Differenzierung«.[3]
Gesunde Ablösung bedeutet, weder in Hass noch in starrer oder gar selbstverleugnender Loyalität mit den Eltern verbunden zu sein, sondern sich so weit befreit zu haben, dass wir wählen können, was wir verzeihen, was wir ablehnen und was wir loslassen möchten.
Ablösung ist kein einzelner Schritt, keine einmalige Entscheidung, es ist ein langer, oftmals ein lebenslanger Weg. Manche Streckenabschnitte sind einfach zu bewältigen, andere sind steiniger, einige scheinen sogar unüberwindbar, aber ich verspreche Ihnen, dass Sie auf Ihrem persönlichen Weg der Ablösung immer wieder an Ausblicke gelangen werden, die Sie bereichern, die Ihnen Luft zum Atmen geben und von denen aus Sie vieles mit mehr Abstand und deshalb klarer betrachten können.
Die natürlichste Sache der Welt – erwachsen zu werden – ist alles andere als einfach, Wachstumsschmerzen gehören auf dem Weg zu psychischer Reife dazu.
»Wer bin ich? Will ich das Richtige? Mache ich das Richtige? Werde ich geliebt, wenn ich meinen eigenen Weg gehe?« sind einige der existenziellen Fragen, die sich uns allen stellen. Erst wenn wir verstehen, dass nur wir selbst uns die Antworten auf diese Fragen geben können, sind wir frei. Denn Freiheit heißt, Verantwortung zu übernehmen. Für die eigenen Gefühle. Für die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Träume. Für das eigene Leben.
Erwachsen werden hört sich so einfach an, fast scheint es vorgegebenen Schritten zu folgen: Wir werden volljährig, wir machen den Führerschein, wir ziehen aus, wir machen eine Ausbildung oder studieren, dann übernehmen wir einen mehr oder weniger verantwortungsvollen Job, wir finden eine:n nette:n Partner:in und bekommen vielleicht eigene Kinder. Wir sind erwachsen.
Aber was heißt erwachsen? Bedeutet es das Gleiche, wie abgelöst zu sein?
Ein Nachmittagsbesuch bei den Eltern reicht, und plötzlich sind wir wieder fünf, zehn oder fünfzehn Jahre alt. Der Vater schweigt, obwohl man eigentlich seinen Trost bräuchte, weil es im Job gerade nicht so rundläuft, und wir längst erwachsenen Kinder schwanken zwischen Wut und Weinen. Die Mutter macht sich Sorgen um unsere Zukunft, und anstatt zuzuhören, kritisiert sie uns und wirft uns vor, dass wir schon wieder alles falsch machen, zu zögerlich oder zu forsch waren, und wir längst erwachsenen Kinder schmollen und nehmen uns vor, ihr nie wieder etwas über unser Privatleben zu erzählen. Und wenn die Eltern dann noch die große Schwester loben, die nicht nur glücklich verheiratet ist und zwei wohlgeratene Kinder hat, sondern auch noch gerade ihren Traumjob ergattert hat, dann sehen wir rot, während uralte Ungerechtigkeits-, Wut- und Minderwertigkeitsgefühle wie eine Welle über uns zusammenbrechen.
Unser Alter hat nur wenig mit dem Grad der Ablösung zu tun. Selbstverständlich werden die meisten mit fortschreitendem Alter autonomer. Wir weihen unsere Eltern nicht mehr in jede unserer Entscheidungen ein, wir fragen nicht mehr um Erlaubnis, wir werden finanziell unabhängig. Aber emotional können wir noch an einer unsichtbaren Nabelschnur hängen, die uns schlimmstenfalls an eigenständigen Bewegungen hindert.
Dabei gilt die körperliche Abnabelung von der Mutter als erster natürlicher Schritt in die Selbstständigkeit. In unserer Kultur ist es oft der Vater, der nach der Geburt die Nabelschnur durchtrennt. Es ist mehr als nur ein symbolischer Akt – denn der Vater (bzw. die zweite Bindungsperson) ist fortan der bedeutsame Dritte, der dem Kind und der Mutter hilft, ihre Symbiose aufzugeben. Eine Triade, eine Dreierbeziehung entwickelt sich, indem das Kind zu beiden Elternteilen existenzielle Bindungen aufbaut. Im Idealfall gibt es weitere verlässliche Bindungspersonen, die dem Kind Sicherheit und Liebe geben und seinen Bindungsradius erweitern. Je sicherer ein Kind sich bei seinen Eltern fühlt, desto leichter fällt es ihm, seine Umwelt zu erkunden, also autonomer zu werden.
Mit dem Besuch einer Kindertagesstätte und später der Schule findet eine weitere wichtige Phase der Ablösung statt. Das Kind verbringt die Vormittage getrennt von den Eltern und erfährt mit anderen Bezugspersonen und Gleichaltrigen einen Zusammenhalt und Sinn, der über die Beziehung zu den Eltern hinausgeht.
Mit jedem fortschreitenden Jahr steigt die Selbstständigkeit: Das erste Mal bei Freunden übernachten, die erste Klassenfahrt, die ersten Geheimnisse, die erste Verliebtheit, der erste Kuss, der erste Sex, der erste Urlaub ohne die Eltern, die erste Beziehung, die erste eigene Wohnung, der erste eigene Job, das erste eigene Gehalt – all das sind weitere Meilensteine auf dem Weg der Ablösung.
Idealerweise unterstützen die Eltern das Kind auf seinem Weg, denn eine gesunde Bindung beruht sowohl auf dem verlässlichen Dasein der Eltern als auch auf deren altersgemäßem Loslassen, oder wie es etwas poetischer ausgedrückt in einem Sprichwort heißt: »Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.«
»Psychosoziales Moratorium« nannte der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson[3] die Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenen-Identität, in der Kinder sich Schritt für Schritt von den Eltern und von ihrem Kindheits-Ich ablösen. Unsere Eltern stehen uns zwar noch zur Seite, sie beraten oder kontrollieren uns in unseren Entscheidungen, aber nicht sie, sondern wir müssen mit unseren Entscheidungen letztlich leben: Welchen Beruf wir ergreifen, welche Partner:innen wir wählen, welches Leben wir führen. In dieser Zeit der Selbstfindung können Orientierungsprobleme auftreten, zumal gerade in liberalen Demokratien viel Raum zum Experimentieren mit der eigenen Rolle gegeben wird, im Gegensatz zu traditionellen oder diktatorischen Gesellschaften, die eher festgelegte Rollen anbieten.
Laut Eriksons Stufenmodell müssen in jeder Lebensphase bestimmte Entwicklungsaufgaben bewältigt werden, die für unsere gesunde Persönlichkeitsentwicklung maßgeblich sind. Schauen wir uns die einzelnen Stufen genauer an:
Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr)
Im ersten Lebensjahr ist das Kind völlig abhängig von seinen Bezugspersonen, hier entscheidet sich, ob es ein gesundes Urvertrauen entwickelt oder aufgrund zu vieler Enttäuschungen eher misstrauisch durch die Welt gehen wird. Idealerweise wird das Kind ausreichend gut versorgt und macht die Erfahrung, dass zwischen der Welt und seinen persönlichen Bedürfnissen Übereinstimmung herrscht.
Autonomie vs. Scham und Zweifel (2. und 3. Lebensjahr)
Im zweiten und dritten Lebensjahr geht es um die Entwicklung von Autonomie; das Kind erlebt die ersten Emanzipationsschritte von der Mutter, es lernt, zu gehen, zu sprechen und seinen Stuhl zu kontrollieren. Was Freud als »anale Phase« bezeichnete, ist die Zeit, in der das Kind lernt, Dinge festzuhalten oder loszulassen, und in der es erstmals auch mit Scham und Zweifeln konfrontiert wird. In diesem Lebensalter entwickelt das Kind auch Vorstellungen über das »Ich« und »Du«, es stellt fest, dass es ein Individuum ist, getrennt von der Mutter und ihrer Brust. Idealerweise bewältigt das Kind diese Phase, indem die Autonomie gegenüber den Zweifeln und der Scham überwiegt.
Initiative vs. Schuldgefühl (4. und 5. Lebensjahr)
Im Alter zwischen vier und fünf Jahren erkundet das Kind seine Umgebung, die Realität und sich selbst immer ausführlicher und selbstständiger. Es stellt viele Fragen und probiert im Spiel verschiedene Rollen aus. In dieser Zeit beginnt das Kind, sich auch mit seinem Geschlecht auseinanderzusetzen und libidinöse Besitzansprüche an den gegengeschlechtlichen Elternteil zu richten – die »ödipale Phase«. Es bildet nun ein Gewissen aus und entwickelt Schuldgefühle. Idealerweise lernt das Kind in dieser Phase einerseits, Initiative zu ergreifen, und andererseits, mit seinen Schuldgefühlen umzugehen.
Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)
Ab dem sechsten Lebensjahr, also dem Eintritt der Schule bis zur Pubertät, geht es um das Austarieren von Werksinn und Minderwertigkeitsgefühlen. Neben dem Drang zum Spielen entwickelt das Kind einen Werksinn, also das Bedürfnis, etwas Nützliches zu leisten und zu lernen. Erfolgserlebnisse sind immens wichtig, um Minderwertigkeitsgefühlen entgegenzuwirken. In dieser Lebensphase können Fixierungen entstehen, die sich in Versagensängsten oder generellen Ängsten und sogar in einem überdauernden Mangel an Selbstbewusstsein ausdrücken können. Idealerweise dürfen sich Kinder in dieser Phase ausleben und werden angemessen gefördert, sodass sie ausreichend Erfolgserlebnisse haben, um ein stabiles Selbstbewusstsein aufbauen zu können.
Identität vs. Identitätsdiffusion (13. bis 20. Lebensjahr)
Das vorherrschende Thema ist nun Identität – wer bin ich? –, und zwar im Vergleich zu früher, im Vergleich zu anderen, im Vergleich zu Erwartungen, die von den Eltern, Freund:innen, der Gesellschaft an das Kind gerichtet werden. Jugendliche setzen sich mit ihrem und dem anderen Geschlecht auseinander, mit Rollenvorgaben und eigenen Bedürfnissen. Idealerweise setzt sich die Ich-Identität aus vielen guten Erfahrungen und einem gesunden Selbstvertrauen zusammen. Falls dies nicht der Fall ist, kommt es zu einer Identitätsdiffusion, also starken Unsicherheiten und Orientierungslosigkeit. Wem es nicht gelingt, eine stabile Ich-Identität zu entwickeln, der fühlt sich oft verloren und sucht Halt, zum Beispiel bei Gruppen, die über klare Strukturen verfügen. Misslingt die Bewältigung dieser Phase, hat dies grundlegende Auswirkungen auf das weitere Leben, denn wer nicht weiß, wer er/sie ist, der/die kann nur schwer echte Beziehungen zu anderen eingehen.
Intimität und Solidarität vs. Isolierung (Beginn des Erwachsenenalters)
Diese Lebensphase steht im Zeichen der Partnerfindung und Intimität; Erikson spricht von einem »Sich-verlieren und Sich-finden im Anderen«. Menschen mit gefestigter Ich-Identität können stabile und erfüllende Partnerschaften eingehen, da sie sich öffnen und gleichzeitig bei sich selbst bleiben können. Menschen ohne Ich-Identität droht Isolierung und das Gefühl der existenziellen Einsamkeit und Leere. Allerdings ist es für alle Menschen wichtig, auch Phasen des Alleinseins aushalten zu können, ohne in dieser Zeit Urvertrauen und Selbstvertrauen zu verlieren. Je besser die bisherigen Lebensstufen bewältigt wurden, desto eher gelingt diese Anforderung im frühen bis mittleren Erwachsenenalter.
Generativität vs. Selbstabkapselung (mittleres Erwachsenenalter)
Erikson versteht unter Generativität das Erziehen der nächsten Generation, denn in dieser Phase haben viele Menschen bereits Familien gegründet, oft aus dem Bedürfnis heraus, Werte für kommende Generationen zu schaffen, weiterzugeben und abzusichern. Auch kinderlose Menschen setzen sich in dieser Entwicklungsphase für andere ein, indem sie ihre Ressourcen, wie beispielsweise ihre Zeit, ihr Wissen oder finanzielle Unterstützung, an andere weitergeben. Idealerweise entwickeln wir die Fähigkeit zur Fürsorge, ohne uns selbst zu vernachlässigen. Misslingt diese Phase, weil zwischenmenschliche Beziehungen nicht gepflegt werden oder wir nur um uns selbst kreisen, führt dies oftmals zu Selbstabkapselung, Vereinsamung und Stagnation.
Ich-Integrität vs. Verzweiflung (reifes Erwachsenenalter)
In dieser letzten Phase geht es darum, das bisherige Leben so, wie es war, zu akzeptieren. Wem es nicht gelingt, sein Leben zu akzeptieren, wer enttäuscht und unzufrieden darauf blickt, bei dem stellen sich oftmals Lebensekel und/oder Depressionen ein. Idealerweise entwickeln wir uns in diesem Stadium zur vollen Reife und sind bereit, unseren einen und einmaligen Lebenszyklus als etwas zu akzeptieren, das sein musste und das zwangsläufig keinen Ersatz zuließ. Diese grundlegende Akzeptanz unseres Geworden-Seins lässt uns auch milde auf unser Lebensende blicken und reduziert unsere Todesangst – statt verzweifelt und verbittert mit dem, was ist, zu hadern, werden wir weise.
Wir sehen, dass jedes Alter eine weitere Entwicklungsaufgabe mit sich bringt. Gelingt es uns nicht, die in den jeweiligen Phasen auftauchenden Herausforderungen zu meistern, bleiben wir in unserer Entwicklung »stecken«. Jeder nicht vollzogene Entwicklungsschritt kann das weitere Leben belasten und in einer späteren Phase als Blockade wieder auftreten. Nehmen wir ein Kind, dessen Eltern seine Bedürfnisse nie prompt und feinfühlig genug beantwortet haben: Schlimmstenfalls wird daraus ein:e misstrauische:r Erwachsene:r mit einem schlechten Selbstwertgefühl, der oder die Schwierigkeiten hat, Scham- und Schuldgefühle zu regulieren. Minderwertigkeitsgefühle führen zu einer Identitätsschwäche und großen Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen, ohne sich selbst dabei zu verlieren. Vielleicht geht dieser Mensch unglückliche Beziehungen ein, in denen er sich einsam und leer fühlt, oder er bleibt allein, kapselt sich ab und vereinsamt. Blickt er als alter Mensch auf sein Leben zurück, erfüllen ihn Bedauern und eine tiefe Enttäuschung, die zu Depressionen führen kann. Diese sehr düstere Beschreibung eines Lebens ist die Folge vieler nicht vollzogener Entwicklungsschritte, die bereits in der frühen Kindheit begannen.
Entwicklungsschwierigkeiten können auftreten, wenn die Eltern zu wenig loslassen, aber auch, wenn sie das Kind zu früh in die Selbstständigkeit schubsen. Lebens- und Bindungsängste sind oft die Folge.
Wenn ein Kind zu früh zu viel Verantwortung und Selbstständigkeit erhält, entwickelt sich oft eine Pseudo-Autonomie: Ein grandioses inneres Kind entsteht. Dieses grandiose innere Kind wehrt die reale Überforderung ab und sorgt dafür, dass wir uns mächtig und fähig fühlen. Gleichzeitig überschätzt es sich konstant und verhindert, dass wir in wirklichen Kontakt mit anderen und unseren eigenen Gefühlen treten. Denn Menschen, die eine Pseudo-Autonomie entwickelt haben, lehnen ihre weichen, bedürftigen Seiten oft ab. Ihre Glaubenssätze lauten: »Das schaffe ich allein. Ich brauche niemanden.« Das stimmt natürlich nur bedingt. Und so entsteht in den Momenten, in denen sie andere brauchen und dies nicht äußern oder deren Hilfe sogar zurückweisen, eine tiefe Verzweiflung und das Gefühl, mutterseelenallein zu sein. Im Anschluss werden sie oft sehr wütend und machen dem Gegenüber bittere Vorwürfe, sei es auch nur versteckt im Inneren: »Du hättest doch sehen müssen, was ich brauche.« Die Missverständnisse, Enttäuschungen und Beziehungsschwierigkeiten, die durch diese Pseudo-Autonomie entstehen können, liegen auf der Hand. So erklärt sich auch der folgende Satz von Donald Winnicott, einem der Pioniere der Bindungsforschung: »Für die Reife ist es notwendig, dass der Mensch nicht zu früh reif wird und nicht zu einem gefestigten Individuum wird, wenn er seinem Alter nach noch relativ abhängig sein sollte.«[4]
Auch bei Menschen, die sich weigern, altersgemäß Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, liegt eine deutliche Störung der Entwicklung vor. Sie verhalten sich oftmals kindisch – und tatsächlich agieren sie in jenen Momenten vorrangig mit ihren kindlichen Anteilen, die einst nicht ausreichend versorgt wurden und die sie heute unbewusst blockieren, die nächsten Reifeschritte zu gehen. So kann manch überfälliger Schritt in die Unabhängigkeit – wie beispielsweise aus dem Elternhaus auszuziehen, sich finanziell auf eigene Beine zu stellen, eine Partnerschaft einzugehen oder das eigene Leben grundsätzlich nach eigenen Vorstellungen zu führen – für die Betroffenen Furcht einflößend bis unmöglich erscheinen.
Schauen wir uns ein paar Meilensteine der Ablösung einmal genauer an: Was uns dabei im Weg stehen, aber auch, was uns helfen kann, sie zu bewältigen.
Am 1. Juni 2018, einem der heißesten Tage des Jahres, zieht Michael Rotondo bei seinen Eltern in Upstate New York aus. Keine besondere Geschichte, mag man denken: Jeden Tag ziehen überall auf der Welt Kinder bei ihren Eltern aus. Endlich erwachsen und unabhängig zu sein, wünschen sich viele, während sie Kleidung und Bücher in Kartons packen und sich auf ihre eigene Wohnung freuen. Nicht so Michael Rotondo. Der 30-Jährige verlässt sein Elternhaus nur, weil ein Gericht es so angeordnet hat. Immer wieder hatten Christina und Mark Rotondo ihren Sohn aufgefordert, auszuziehen, nachdem er acht Jahre zuvor vorübergehend wieder bei ihnen eingezogen war und seitdem mietfrei bei ihnen wohnte. Sie hatten ihn gebeten, einen Job und eine Wohnung zu suchen, und ihm sogar ein bisschen Geld für den Neustart geschenkt, aber Michael Rotondo stellte sich taub. Er empfand die Wünsche seiner Eltern als »rachsüchtige Attacken« und sich selbst als Opfer. Schließlich habe er vor Kurzem das Besuchsrecht für seinen 8-jährigen Sohn verloren, und der Kampf, es wiederzugewinnen, sei ein Fulltime-Job. Da kämen ein Auszug und die Forderung, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, recht ungelegen. Einen Zusammenhang zwischen dem Entzug des Besuchsrechts und seiner nicht sonderlich verantwortungsvollen Art zu leben sah er nicht.
Failure-to-launch-Syndrom – zu Deutsch »Startschwierigkeiten-Syndrom« oder frei übersetzt »Nesthocker-Syndrom« – nennen Journalisten das Zögern oder die Weigerung von Millennials, bei ihren Eltern auszuziehen. In Japan gibt es laut Schätzungen mehr als eine Million sozial isolierte Menschen; meist junge Männer, sogenannte Hikikomori, die sich vor den Anforderungen der Welt in ihre Kinderzimmer zurückziehen.
Viele Faktoren können diese Entwicklungshemmung und die daraus entstehende Isolation begünstigen: Erschwerte sozioökonomische Bedingungen wie teure Wohnungen und wenig gut bezahlte Jobs können auch motivierte Menschen ängstigen und zeitweise lähmen. Wer von sozialen Ängsten, Zukunfts- und Versagensängsten oder Depressionen geplagt ist, dem wird es schwerfallen, in eine immer weniger einschätzbare Welt hinauszugehen und sich zu behaupten.
Aber Hikikomori gibt es nicht nur in Japan, sondern in allen Teilen der Welt, und wir sollten psychische und familiäre Faktoren, die mit in die Gleichung spielen, nicht übersehen. Denn erwachsene Kinder, die es sich bei ihren Eltern gemütlich machen, gab es schon immer, in allen Schichten und unter allen gesellschaftlichen Bedingungen.
Hinter diesem Phänomen können auch versteckte elterliche Aufträge stecken: Es gibt Eltern, die ihre Kinder aus egoistischen Gründen an sich binden und sie bei der altersgemäßen Ablösung nicht unterstützen. Viele Anti-Ablösungs-Taktiken sind unbewusst und oftmals nicht mit bloßem Auge zu erkennen. Eltern geben beispielsweise unausgesprochene Aufträge wie: Bitte verlass mich nicht! Wenn du uns verlässt, werde ich krank! Wenn du uns verlässt, bricht unsere Ehe/unsere Familie auseinander! Die hieraus entstehenden Schwierigkeiten bei der Ablösung liegen auf der Hand. Wenn Ablösung mit Schuld gekoppelt ist, wer würde dann leichten Herzens die Eltern verlassen?
Neben elterlichen Aufträgen finden wir bei Ablösungsproblemen oft auch unbewusste emotionale Motive der Kinder. Wer offensichtlich nicht erwachsen wird und sich weigert, auf eigenen Füßen zu stehen, zeigt den eigenen Eltern, aber auch dem Rest der Welt: Hier ist etwas gravierend schiefgelaufen! Meine Eltern sind gar nicht so toll, wie alle denken, sonst wäre ich nicht so ein:e Versager:in.
Hinter der Weigerung, den nächsten Entwicklungsschritt zu gehen, können sowohl Ängste als auch Aggressionen stecken, oftmals auch beides. Sich den normalen Lebensanforderungen nicht zu stellen oder an ihnen zu scheitern und die Eltern tagtäglich mit diesem Versagen zu konfrontieren, kann eine Art Rache sein, mit der das erwachsene Kind den Eltern alle früheren Versäumnisse heimzahlt. Mehr noch, als erwachsenes Kind zu Hause zu leben oder von den Eltern finanziell abhängig zu sein, zwingt die Eltern in eine überdauernde Verantwortung. In Familien wie den Rotondos scheint es, als könnten alte Rechnungen nie beglichen werden, als würden die Eltern für immer in der Schuld der Kinder stehen.
Die Frage, die ich als Therapeutin in einer solchen Situation stellen würde, wäre: Welche Funktion hat die Weigerung eines erwachsenen Kindes, aus dem Elternhaus auszuziehen? Michael Rotondo ist 30 Jahre alt, er hat einen College-Abschluss, ist aber seit vielen Jahren arbeitslos und hat gerade das Umgangsrecht mit seinem Sohn verloren. Vermutlich fühlt er sich ohnmächtig, wie gelähmt, dem Schicksal ausgeliefert. Wir können spekulieren, dass die Weigerung auszuziehen die einzige Form von Macht ist, die Michael Rotondo gerade ausspielen kann. Er hat – wie viele unreife Menschen – das Gefühl, seine Eltern (wahlweise oft auch der/die Partner:in oder die ganze Welt) seien ihm etwas schuldig.
Hinter Rotondos passiv-aggressiver Machtdemonstration liegen vermutlich starke Aggressionen, die über sein unreifes, parasitäres Verhalten ausagiert werden. Ich würde ihn also fragen, was er seinen Eltern vorzuwerfen hat, genauer gesagt: Wo liegt der Ursprung seiner Wut? Wie alt war er, als er sich erstmals von seinen Eltern »rausgeschmissen« fühlte und um Aufschub flehte, weil er tatsächlich überfordert war? Was sind seine Eltern ihm schuldig geblieben in einem Alter, in dem er sich tatsächlich nicht allein versorgen konnte?
Herauszufinden, wo die Quelle der Wut und Enttäuschung liegt, ist ein erster Schritt zur gesunden Ablösung, denn er stellt die Verbindung her zwischen der Ur-Wunde und dem Konflikt, der heute – Jahrzehnte später – verdeckt oder auf einem anderen Schlachtfeld ausgetragen wird.
Wir können Hypothesen aufstellen: Vielleicht hat Michaels jüngere Schwester in seinen Augen von den Eltern mehr Aufmerksamkeit und Liebe bekommen als er selbst? Vielleicht führten die Eltern eine schwierige Ehe und hatten wenig Muße, sich um ihren Sohn zu kümmern, als er sie wirklich brauchte? Vielleicht haben die Eltern sich zeit seines Lebens für ihn aufgeopfert und ihm keine gesunden Grenzen und keine überzeugende Motivation für Schritte in die Selbstständigkeit vermittelt? Vermutlich gibt es aus Michael Rotondos Sicht viele gute Gründe, seine Eltern zu bestrafen, ihnen zur Last zu fallen, ganz egal, was andere von ihm denken. Denn wer wie Michael Rotondo im Erwachsenenleben bestimmte Ablösungsschritte so deutlich verweigert, erfährt oft Unverständnis und Verachtung von seiner Umwelt. »Jetzt werd endlich erwachsen und nimm dein Leben in die Hand!«, möchte man ihm zurufen, solange man nur den Stillstand und den Widerstand, sich erwachsen zu verhalten, und das daraus resultierende Versagen wahrnimmt. Aber hinter diesem und ähnlichem Verhalten verstecken sich oft alte Kindheitswunden und wichtige Entwicklungsschritte, die nicht bewältigt werden konnten.
Nehmen wir einmal an, Michael Rotondo hätte im Alter von drei Jahren zu wenig Unterstützung bekommen, seine Trotzphase zu bewältigen, weil in dieser Zeit seine kleine Schwester geboren wurde und die Eltern mit der Versorgung beider Kinder überfordert waren. Es gäbe dann diesen dreijährigen unversorgten Anteil in Michael Rotondo, der sich ohnmächtig und verlassen fühlte, und das in einer Zeit, in der er sich immer mehr in seiner Autonomie ausprobieren, sich gleichzeitig aber bei den Eltern sicher und geborgen fühlen musste. Dieser verlassene dreijährige Michael spielt bis heute eine große Rolle – denn er rauscht immer dann wie eine Naturgewalt durch den erwachsenen Michael, wenn er getriggert wird, wenn ihn also im Hier und Jetzt etwas an die damalige Situation erinnert. Fühlt Michael sich heute ohnmächtig (weil er beispielsweise seinen Job verliert, weil seine Freundin ihn verlässt oder weil er sein Kind nicht mehr sehen darf), wird der dreijährige Michael, der in dem erwachsenen Michael schlummert, geweckt und übernimmt die Führung. Und dann erzählt dieser Dreijährige – in Gestalt eines erwachsenen Mannes – den Eltern und der Welt, wie ungerecht alles sei, dass er ein Opfer sei, dass er einfach noch ein bisschen Zeit und die Versorgung der Eltern brauche.
Nun ist ein Erwachsener, der sich wie ein Dreijähriger verhält, meist nicht sonderlich sympathisch. Wenn wir aber verstehen, dass dieser Erwachsene in seinem Inneren gerade von einem Dreijährigen besetzt wird, ohne dass es ihm bewusst ist, dann können wir Mitgefühl entwickeln – sowohl für den dreijährigen Anteil, der sich immer wieder in den Vordergrund drängt, damit er endlich versorgt wird, als auch für den Erwachsenen, der seinen kindlichen Anteilen ausgeliefert ist und nicht weiß, wie er aus dieser Entwicklungsblockade herausfindet.
Michael Rotondos Beispiel mag extrem klingen, aber wir alle werden manchmal von kindlichen Anteilen in Geiselhaft genommen, vor allem dann, wenn wir einen Konflikt mit anderen haben, der uns in starke innere Not bringt. Es können die Eltern, aber auch die Partner:innen und sogar die eigenen Kinder sein. Auch ein Konflikt mit Freund:innen oder Kolleg:innen kann uns in einen emotionalen Ausnahmezustand versetzen, wenn unsere reifen, erwachsenen Anteile in Sekundenschnelle von kindlichen Anteilen verdrängt werden.
Wenn wir nicht mehr ausreichend Zugang zu unseren erwachsenen Fähigkeiten haben und stattdessen auf jüngere Versionen unserer selbst zurückfallen und aus ihnen heraus fühlen und handeln, spricht man von Regression. Wir werden wieder zum Kind, meist ohne dass uns dies bewusst ist.
Regressionen, also das Zurückfallen auf frühere Alters- und Entwicklungsstufen, kann man bereits bei Kindern beobachten, beispielsweise nach einer traumatischen Erfahrung, aber auch wenn sie sich von den Eltern überfordert oder vernachlässigt fühlen.
Die fünfjährige Marie war ein fröhliches, intelligentes Mädchen, bis ihr kleiner Bruder direkt nach seiner Geburt starb und ihre Eltern daraufhin in Trauer versanken. Marie konnte nicht verstehen, warum ihre Eltern sich von ihr zurückzogen, und zeigte ihren Schmerz darüber, indem sie sich weigerte zu essen und wieder einzunässen begann. Ihre Mutter stellte irgendwann fest, dass Marie feste Nahrung ablehnte, flüssigen Konsistenzen gegenüber aber durchaus aufgeschlossen war. Warme Milch und Brei wurden ihre Hauptmahlzeiten.
Marie regredierte wie im Bilderbuch: Sie wurde gewissermaßen zu dem Säugling, den ihre Eltern soeben verloren hatten. Mit dieser Regression kam die Aufforderung: »Kümmert euch um mich! Ich bin noch ganz klein und völlig abhängig von euch, ihr müsst mich füttern und wickeln, bis es mir wieder gut geht.« Also gaben die Eltern ihrer fünfjährigen Tochter auf meine Anregung die Flasche, sie wiegten sie, legten ihr Windeln um und behandelten sie auch sonst wie ein Baby. Auf diese Weise verarbeiteten die Eltern gemeinsam mit ihrer Tochter die Trauer um das verstorbene Kind. Nach ein paar Monaten fing Marie wieder an, feste Nahrung zu sich zu nehmen, die Windel trug sie nur noch nachts, bis ihr auch das zu unbequem wurde und sie eines Tages beschloss, sich wieder wie eine Fünfjährige zu fühlen und zu verhalten.
Maries Eltern konnten ihrer Tochter helfen, die Regression zu überwinden: Es gelang ihnen trotz ihrer tiefen Trauer, sich ihrer Tochter einfühlsam zuzuwenden und sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen, obwohl ihnen Maries Verhalten anfänglich Angst machte und sie es verrückt fanden. Nicht auszudenken, wie Maries Entwicklung verlaufen wäre, wenn die Eltern sie für ihr Verhalten bestraft hätten, wenn sie sie gezwungen hätten, sich wieder »normal« zu verhalten, oder wenn sie die verzweifelten Hilferufe ihrer Tochter ignoriert hätten. Wahrscheinlich hätte Marie auch ohne jegliche Unterstützung irgendwann wieder angefangen zu essen und die Windeln abgelegt, aber sie würde fortan im Inneren von einer alleingelassenen Fünfjährigen begleitet werden, die keine Ahnung hat, wie sie sich beruhigen kann, wenn etwas Schlimmes passiert, und die auf immer extremere Maßnahmen zurückgreifen müsste, wenn im Leben der erwachsenen Marie etwas aus dem Lot geraten würde.
Wir sehen an dieser Stelle, wie wichtig es ist, dass Kinder in schwierigen Phasen genügend einfühlsame elterliche Unterstützung erhalten. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie weitere Entwicklungsschritte nur mühsam, falls überhaupt, bewältigen können. Zudem schlummern die unversorgten, verletzten Anteile wie kleine Zeitbomben in ihnen, die auch Jahrzehnte später noch explodieren können, wenn an die alten Wunden gerührt wird.
Temporäre Regressionen kennen die meisten Menschen. Vor allem in belastenden Situationen, wie beispielsweise in Konflikten, rutschen wir mitunter auf kindliche Anteile zurück: Wir spüren es, wenn wir extrem stark oder impulsiv reagieren. Wir spüren es, wenn unsere Reaktion der Situation und unserem Alter nicht angemessen ist und wenn wir Schwierigkeiten haben, unsere Emotionen zu regulieren, also uns zu beruhigen. Es sind die Momente, in denen wir fuchsteufelswild werden und »durchdrehen«, oder die Momente, in denen uns die Worte fehlen, wir ohnmächtig vor Wut weinen oder uns beleidigt zurückziehen, anstatt erwachsen unsere Haltung zu vertreten. Wir fühlen uns wie ein kleines Kind, und wir verhalten uns auch so.
Wenn wir etwa in einem Streit regredieren, verlieren wir oft das Gesamtbild aus den Augen, der Fokus verengt sich auf uns selbst. Wir verlieren sowohl den Kontakt zu unserem Gegenüber als auch unser Mitgefühl. In diesen egozentrischen Momenten dreht sich alles um uns selbst – um unsere eigenen Bedürfnisse und unsere eigene Verletzung. Die Bedürfnisse anderer verschwinden aus unserem Blickfeld. Unser eigenständiges Denken wird ersetzt durch Glaubenssätze und Annahmen, die – selbst wenn sie auf groben Fehlschlüssen beruhen – für uns in diesem Moment absoluten Wahrheitsgehalt und oberste Priorität haben. Schlimmstenfalls sagen und tun wir Dinge, für die wir uns schämen, wenn wir wieder bei erwachsenen Sinnen sind.
Das Problem an Regressionen ist, dass sie uns oft nicht bewusst sind. Und deshalb wird der als unangenehm empfundene Kontrollverlust nicht mit der inneren Machtübernahme der kindlichen Anteile in Verbindung gebracht, sondern eher auf andere projiziert. »Du bist schuld, dass ich so wütend geworden bin!« oder »Deinetwegen fühle ich mich so ohnmächtig!«. Viele extreme Konflikte rühren aus unbewussten Regressionen, und sie lassen sich nur lösen, wenn wir erkennen, dass unsere inneren Kinder am Steuer sitzen und unsere Gefühle und unser Verhalten bestimmen.
Überlegen Sie einmal, wie Ihr:e Partner:in Sie am ehesten auf die Palme bringen kann, und dann versuchen Sie, eine Verbindung zu Ihrer Kindheit zu schaffen: An welche Situation oder an wen erinnert Sie das Verhalten Ihres Partners oder Ihrer Partnerin? Wie alt fühlen Sie sich, wenn Sie so furchtbar wütend, gekränkt, enttäuscht sind? Ziemlich sicher fallen Ihnen Situationen und Personen aus Ihrer Kindheit ein, die in Ihnen ähnliche Gefühle hervorgerufen haben. Paare, die in furchtbare Streitereien geraten, aus denen sie keinen Ausweg mehr finden, sind oft in ihren jeweiligen Regressionen gefangen – Eva beispielsweise ist außer sich, wenn ihr Freund Hendrik sie im Streit ignoriert, während Hendrik schweigt, um sich vor Evas Vorwürfen zu schützen. Auf meine Frage, wie alt die beiden sich in so einer Streitsituation fühlen, antwortet Eva »Vier Jahre«, Hendrik »So um die sechs«. Eva kennt das Gefühl, in ihren Bedürfnissen ignoriert zu werden, seit ihrer Kindheit von ihren Eltern, und ihre Überlebensstrategie war, immer lauter zu werden und nicht lockerzulassen. Hendrik hatte eine Mutter, die oft überfordert war und ihm viele Vorwürfe machte, die ihn tief verletzten. Sein einziger Schutz war, sich in diesen Momenten zurückzuziehen und jeglichen Kontakt zur Mutter zu vermeiden. Wir sehen: Es sind also nicht die erwachsene Eva und der erwachsene Hendrik, die sich im Streit gegenüberstehen, sondern ihre verzweifelten kindlichen Anteile.
Wie schaffen wir es, eine Regression zu beenden und wieder erwachsen zu werden?
Indem wir uns selbst besser kennenlernen. Indem wir achtsamer werden, in welchen Situationen, mit welchen Menschen wir die Kontrolle verlieren und – mitunter in Sekundenschnelle – mit unseren kindlichen Anteilen reagieren. Und indem wir überhaupt erst einmal anerkennen, dass wir diese kindlichen Anteile haben, die oftmals verletzt und unzufrieden sind, weil sie vielleicht noch nie das bekommen haben, was sie sich wünschen und brauchen.
Zum Erwachsenwerden gehört, sich selbst zu verstehen: Welche inneren Stimmen leiten mich, welchen Glaubenssätzen folge ich, in welche inneren und äußeren Konflikte gerate ich immer wieder, und welchen Anteil haben kindliche Stimmen daran?