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Es gibt vieles, worin Menschen sich unterscheiden, aber eines haben wir alle gemeinsam: Wir haben eine Familie und mit der müssen wir irgendwie leben. Ein Umtausch ist unmöglich und selbst, wenn wir ans andere Ende der Welt ziehen – die Familie kann man nicht hinter sich lassen. Wir tragen sie in unseren Genen und Erinnerungen, in unseren verinnerlichten Werten und unseren Abneigungen. Wir sind durch sie geprägt und an sie gebunden – über Jahrzehnte, Kontinente, Generationen, sogar über Kontaktabbrüche und den Tod hinweg. Sandra Konrad zeigt, wie lohnenswert eine Auseinandersetzung mit der Familie ist. Denn je mehr wir die Vergangenheit unserer Familie verstehen, desto leichter gelingt es uns, den eigenen Lebensweg frei und glücklich zu gestalten, mit eigenen Regeln – ohne belastendes Gepäck, aber mit dem Wissen um die geheime Macht der Familie.
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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2014
ISBN 978-3-492-96159-2
© 2013 Piper Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung: bürosüd°, München
Umschlagmotiv: Jason Loucas/getty images
Illustration: Sven Binner
Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media GmbH, Krugzell
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»In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten.«
HERMANN HESSE, Der Steppenwolf
Vorwort
Die Menschen, die mich in meiner psychotherapeutischen Praxis aufsuchen, haben immer ein Problem. Sie haben Konflikte mit ihrem Partner, mit ihren Kindern oder ihren Eltern. Sie haben das Gefühl, den falschen Beruf, den falschen Partner zu haben, im falschen Leben zu leben. Sie kommen, weil sie nach einer Lösung suchen. Weil sie glücklich werden wollen.
Meine Aufgabe als Therapeutin ist es, die richtigen Fragen zu stellen. Nach Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten zu fahnden. An bestehenden Denkweisen und Überzeugungen zu rütteln. Denn nicht alles, was uns beigebracht wurde und woran wir glauben, ist richtig. Auch wenn wir sehr lange – vielleicht sogar unser ganzes Leben – an etwas geglaubt haben, muss es nicht stimmen oder gut für uns sein.
Mein erster Englischlehrer sprach das Wort »adolescence« (auf Deutsch: Jugend) falsch aus, er betonte die zweite statt der dritten Silbe. Also taten ich und meine 29 Klassenkameraden es ihm nach. Als mich Jahre später jemand darauf hinwies, dass ich das Wort falsch ausspräche, glaubte ich ihm nicht. Erst als ich »adolescence« in Unterhaltungen von englischen Muttersprachlern immer wieder anders hörte, als ich es gelernt hatte, wurde mir klar, dass mein großartiger Englischlehrer tatsächlich einen Fehler gemacht hatte. Ich entschuldige mich an dieser Stelle bei meinen ehemaligen Nachhilfeschülern, denen ich die Aussprache ebenfalls falsch eingebläut habe.
Auch in Familien schleichen sich Fehler ein – und oft werden sie über Jahrzehnte und Generationen nicht korrigiert. Weil unsere Eltern unsere ersten Lehrer sind, glauben wir ihnen alles. Wir vertrauen ihnen, wir lieben sie und wir verteidigen vor anderen das, was wir in der Kindheit gelernt haben.
In Paartherapien erlebe ich oft erbitterte Kreuzzüge: Der eine Partner will den anderen überzeugen, dass das, was er selbst fühlt und denkt, richtiger ist als die Gefühle und Gedanken des anderen. In Einzel- und Familientherapien entdecke ich immer wieder fatale Auswirkungen familiärer Traditionen, überholter Regeln und destruktiver Weitergaben.
Nach jahrelanger wissenschaftlicher Forschung über transgenerationale Übertragungen – also die Weitergabe von schmerzlichen Lebensthemen und unverarbeiteten Gefühlen von einer Generation an die nächste – habe ich mich auf die Analyse und Therapie dieser mehrgenerationalen familiären Übertragungen spezialisiert. Dazu erstelle ich gemeinsam mit meinen Klienten psychologische Familienstammbäume über drei Generationen, sogenannte Genogramme: Wir betrachten die Geburts- und Todesdaten, die liebevollen und konflikthaften Beziehungen, die jeweiligen Brüche im Leben der Familienmitglieder, deren Glaubenssätze, Träume und Enttäuschungen. Oft stellt sich heraus, dass ein aktuelles Problem eine Fortführung oder eine Wiederholung eines alten Problems ist. Viele Menschen stecken in unbewussten Wiederholungsschleifen fest oder leben ein Leben, das ihnen leer erscheint, weil sie nicht wissen und nicht verstehen, was sie bindet und lenkt. Sinnkrisen, Beziehungsprobleme, psychische oder psychosomatische Erkrankungen, Süchte oder Suizidgedanken sind oft die Folge von unerfüllten Lebensläufen, deren Muster bereits Generationen zuvor angelegt wurden.
Aus meiner Praxis stammen viele der Fallbeispiele in diesem Buch, die zeigen, wie Menschen ihre Probleme überwinden können, wenn sie die Parallelen zwischen ihrem eigenen Leben und dem ihrer Eltern und Großeltern aufdecken, wenn sie erkennen, was sie bisher fehlgeleitet hat. Oft arbeite ich mit zwei, mitunter auch mit drei Generationen einer Familie und erhalte tiefe Einblicke in die individuellen und familiären Verletzungen, die Familien auseinanderbrechen lassen, aber auch in die Kraft und die Liebe, die Familien wieder zusammenführen. Vor jeder Annäherung steht immer das Aufdecken der Vergangenheit: all der Geheimnisse, Tabus und mehrgenerationalen Wiederholungen, die sich in Familien eingeschlichen haben.
Ich habe dieses Buch für all diejenigen geschrieben, die sich mit ihrer Familie und ihrem emotionalen Erbe beschäftigen möchten. Psychologisches Vorwissen ist nicht erforderlich, ich habe bewusst auf Fachvokabular verzichtet. Die Aussagen des Buches beruhen – neben eigenen Erkenntnissen – auf relevanten und repräsentativen Studien und psychologischen Theorien unterschiedlicher therapeutischer Schulen und renommierter Kollegen/-innen, auf die ich mich ohne Verweise beziehe, wie beispielsweise die Loyalitätsforscher Ivan Boszormenyi-Nagy und Geraldine Sparks, die Pionierin der Genogrammarbeit Monica McGoldrick, die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller, den psychoanalytischen Familientherapeuten Horst-Eberhard Richter, den psychoanalytisch und systemisch arbeitenden Familientherapeuten Helm Stierlin, die Mutter der Familientherapie Virginia Satir und den Urvater der Psychoanalyse Sigmund Freud.
Einige Themen sind komprimiert dargestellt, für den/die interessierte/n Leser/-in gibt es im Anhang eine Liste weiterführender Literatur. Zu dieser Literatur zählen auch belletristische Werke, aus denen ich zitiert habe, wenn die Aussagen der Protagonisten etwas beschreiben, was weder Wissenschaft noch ich als Autorin so dicht und ästhetisch hätten formulieren können.
Alle Fallbeispiele basieren auf wahren Personen und Begebenheiten, sind aber so weit verändert und neu zusammengesetzt, dass die Anonymität der Betroffenen gewahrt bleibt. An dieser Stelle möchte ich mich bei all den Menschen bedanken, die mir ihr Vertrauen geschenkt haben, die ich begleiten durfte auf ihrem Weg der Sinnsuche und des Loslassens von alten, zerstörerischen Haltungen und die mir erlaubt haben, ihre Geschichten hier zu erzählen.
Mein Wunsch ist, auch Sie als Leser/-in anzuregen, über Ihr Leben im Zusammenhang mit Ihrer Familie nachzudenken. Vielleicht gelingt es Ihnen, positive Übertragungen zu entdecken, wie beispielsweise Mut oder Widerstandsfähigkeit oder die Gabe, das Leben mit Humor zu nehmen. Und vielleicht erkennen Sie auch ein paar schädliche Übertragungen, unter denen Sie oder andere Familienmitglieder leiden und gelitten haben.
Dieses Buch ersetzt keine Therapie, aber es schafft die Grundlagen für das Verständnis unseres emotionalen Erbes. Denn egal, wie wir mehrgenerationalen Übertragungen auf die Schliche kommen: Je mehr wir über die Vergangenheit unserer Familie wissen und verstehen, in welche alten familiären Geschichten wir verstrickt sind, desto eher können wir uns aus ihnen lösen.
Ich möchte dieses Vorwort schließen und auf die kommenden Seiten einstimmen mit den Worten des grönländischen Inuit-Schamanen Angaangaq Lyberth:
»Heilung bedeutet, dass die Ahnen in dir wieder lebendig werden … Vergiss nicht, dass jeder Mensch von Ahnen abstammt, die sowohl gute als auch schlimme Dinge getan haben, und deren Wurzeln tief in die Vergangenheit gehen. Wenn ich einen Menschen vor mir habe, dann sehe ich in ihm nicht nur die Geschichte seiner Eltern. In ihm wohnt auch die Geschichte seiner zwei Großväter und seiner zwei Großmütter … Wenn ich nur vier Generationen zurückgehe, dann sind das schon die ›Spirits‹ von sechsunddreißig verschiedenen Menschen, die in ihm leben und ihn beeinflussen, weil sie ein Teil seiner Geschichte sind …« (aus: Geseko von Lüpke, Altes Wissen für eine neue Zeit).
Ich wünsche Ihnen einen klaren und liebevollen Blick auf sich selbst und Ihre Ahnen und natürlich viel Vergnügen beim Lesen.
Sandra Konrad
Hamburg, August 2014
Teil 1
»Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine ew’ge Krankheit fort;
Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh dir, dass du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist, leider! nie die Frage.«
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Faust I
Die Macht der Familie
»In der Wahl seiner Eltern kann man nicht vorsichtig genug sein.«
PAUL WATZLAWICK
Wenn wir wollen, können wir unseren Eltern für alles die Schuld geben: für jede dumme Entscheidung, für jeden falschen Schritt, für unser ganzes verkorkstes Leben. Wenn sie nicht wären, wären wir gar nicht auf der Welt!
Es gibt vieles, worin Menschen sich unterscheiden, aber eines haben wir alle gemeinsam: Wir haben Eltern, Vorfahren, also eine Familie, und mit der müssen wir irgendwie leben. Ein Umtausch ist unmöglich, und selbst wenn wir ans andere Ende der Welt ziehen – die Familie kann man nicht hinter sich lassen. Man trägt sie in seinen Genen und Erinnerungen, in den verinnerlichten Botschaften, wie die Welt ist und wie man selbst sein soll. Man ist durch sie geprägt und durch Liebe und Loyalität an sie gebunden – über Jahrzehnte, Kontinente, Generationen, sogar über Kontaktabbrüche und den Tod hinweg.
Unsere Familie ist die Schablone, die uns formt, sie bietet den Parcours, in dessen Grenzen unser Leben die ersten Jahre verläuft. Was unsere Eltern wollen, ist Gesetz. Sie wissen, was das Richtige für uns ist. Sie kennen uns besser als wir uns selbst. Sie haben ein Bild von uns, das sich manchmal verwirklicht und manchmal in 1000 Stücke bricht, nämlich dann, wenn wir gegen das Vorgegebene aufbegehren oder ihm nicht entsprechen. Es ist der Lauf der Dinge, Zeichen einer gesunden Entwicklung, dass wir uns ablösen von den Eltern und uns aufmachen, uns selbst zu finden. Aber – wer sind wir, wer sind Sie, wer bin ich wirklich? Und inwieweit sind wir etwas Eigenes oder doch nur das Produkt unserer Eltern und unserer Vorfahren?
Um dies herauszufinden, ist es sehr hilfreich, die Kapitel der Familiengeschichte zu kennen, die vor unserer Zeit geschrieben wurden. Die Chaostheorie besagt, dass ein Flügelschlag eines Schmetterlings in Schanghai einen Wirbelsturm in New York auslösen könnte. Ist es dann nicht wahrscheinlich, dass die Herkunft Ihres Großvaters, der Lebensweg Ihrer Großmutter, die Sehnsüchte Ihrer Mutter, die Überzeugungen Ihres Vaters und all die Träume und Vorgaben, die Ihnen von Ihrer Familie mit auf den Weg gegeben worden sind, Ihr Leben beeinflussen?
Auf unserer Reise durchs Leben tragen wir familiäre Erwartungen, Wünsche, Aufträge und Botschaften oft wie sperriges Gepäck mit uns herum. Mitunter ist der Inhalt dieser Gepäckstücke denkbar unpassend, so als würde man in hochhackigen Schuhen und Abendkleid eine Segeltour durchs Nordmeer machen oder mit Malariaprophylaxe und Moskitonetz in die Alpen reisen.
Noch schwieriger wird es, wenn wir neben dem Wünschepaket unserer Eltern auch noch das emotionale Gepäck unserer Vorfahren tragen. Oft wird diese familiäre Last erst deutlich, wenn wir drohen, unter deren Gewicht zusammenzubrechen. Wenn schmerzliche und ungelöste Lebensthemen der Ahnen massiv im eigenen Leben auftauchen und uns belasten: Opas Existenzängste, Omas Verluste und Papas Versagensängste werden genauso transportiert wie Mamas tiefe Selbstzweifel oder ihr Hang zur Melancholie. Besonders stark wirken traumatische Erlebnisse, die nicht verarbeitet wurden und trotzdem im Familiengedächtnis gespeichert sind. Diese emotionale Lastenverschiebung kann über mehrere Generationen hinweg wirken. Egal, wie gravierend die unverarbeiteten Themen sind, jede Familie gibt ein individuell geschnürtes Päckchen weiter, unter dessen Last die Nachkommen unterschiedlich stark leiden.
Auch wenn viele Menschen ahnen, dass akute Schwierigkeiten und Krisen irgendwie auf ihre Kindheit und ihre Familie zurückzuführen sind, fehlt oft das konkrete Wissen, wie alles zusammenhängt und wirkt. Aus diesem Grund sollen in diesem Buch vor allem die familiären Mitgiften betrachtet werden, die Leid mit sich bringen: unerfüllbare familiäre Erwartungen, unbewusste starke Loyalitäten und uralte emotionale Lasten.
»Keine Familie kann das Schild heraushängen: ›Hier ist alles in Ordnung‹«, besagt ein chinesisches Sprichwort, aber das heißt noch lange nicht, dass es nur schädliche Weitergaben oder belastendes familiäres Erbe gibt: Wie schön ist es, eigene Züge in den Generationen vor und auch nach uns zu entdecken: das gleiche ausgelassene Lachen und die fröhliche Unbekümmertheit der Mutter, die stolze Haltung der Großmutter, das musikalische Talent des Vaters und des Großvaters charmante Überzeugungskraft. Die Ähnlichkeiten mit Familienmitgliedern, deren Lebenswegen und Haltungen lassen uns Teil einer Gemeinschaft sein, der intimen Gemeinschaft Familie. Diese Zugehörigkeit gibt uns Schutz und das Gefühl, in dieser Welt verankert zu sein. Und so bieten die Einbettung in eine Familie und das Wissen um das jeweilige emotionale Erbe wichtige Bedingungen für die Entwicklung der eigenen Identität.
Jede Familie hat ihre positiven und stärkenden, aber auch ihre dunklen Seiten, ihre Geheimnisse, ihre Verletzungen. Das jeweilige emotionale Erbe zieht sich wie ein roter Faden durch die Generationen. Das Gute und das Schlechte – es bleibt alles in der Familie.
Teil 2
»Deine Kinder sind nicht deine Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie kommen durch dich, aber nicht von dir, und obwohl sie bei dir sind, gehören sie dir nicht. Du kannst ihnen deine Liebe geben, aber nicht deine Gedanken; denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Du kannst ihrem Körper ein Haus geben, aber nicht ihrer Seele; denn ihre Seele wohnt im Haus von morgen, das du nicht besuchen kannst – nicht einmal in deinen Träumen. Du kannst versuchen, ihnen gleich zu sein, aber suche nicht, sie dir gleich zu machen; denn das Leben geht nicht rückwärts und verweilt nicht beim Gestern. Du bist der Bogen, von dem deine Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden […].«
KHALIL GIBRAN
Der Prophet
Familiäre Wünsche – Segen oder Fluch
»Nichts hat einen stärkeren psychischen Einfluss auf die Kinder als das ungelebte Leben der Eltern.«
NachC. G. JUNG, Erinnerungen
»Du wirst mal was ganz Besonderes … Durch dich wird unser Name berühmt, alle Welt wird dich kennen, du wirst erfolgreich und bejubelt sein«, so in etwa dürfte der elterliche Auftrag gelautet haben, den spätere Weltstars wie Elizabeth Taylor, Michael Jackson und Britney Spears schon als Kinder vernommen haben. Bereits in sehr jungen Jahren wurden sie von ihren Eltern vermarktet und spielten die Rolle, die ihnen zugeschrieben wurde. Doch nicht nur Hollywoodstars und -sternchen, jedes Kind auf dieser Welt bekommt von seinen Eltern gut gemeinte Wünsche mit auf den Weg.
Im Mutterleib fängt es an: Das noch ungeborene Kind wird mit Gefühlen und Erwartungen überschüttet. Werdende Eltern (und mitunter auch der Rest der Familie) haben oft Präferenzen für das Geschlecht und den Werdegang des Kindes. Ein Sohn soll es werden, damit er den elterlichen Betrieb übernehmen kann. Fritz soll er heißen wie schon der Vater, der Großvater und der Urgroßvater. Sicherlich wird er ein sportlicher Junge und ein so erfolgreicher Hockeyspieler wie der Papa oder eher musisch wie die Mama. Am besten beides. Dann träumen die Eltern von Wochenenden auf dem Hockeyplatz und Abenden mit Hausmusik vorm Kamin. Das Kind ist schon verplant, bevor es überhaupt das Licht der Welt erblickt hat.
Was aber passiert, wenn Fritz eher unsportlich und musisch völlig untalentiert ist? Wenn er auch kein Interesse für das elterliche Unternehmen zeigt und stattdessen etwas völlig anderes aus seinem Leben machen möchte? Oder wenn – damit hatte nun wirklich keiner gerechnet! – statt Fritz ein kleines Mädchen geboren wird?
Das mag altmodisch oder übertrieben klingen, aber wenn Sie bereits Kinder haben, erinnern Sie sich an die Zeit vor deren Geburt zurück: Welche Phantasien hatten Sie über Ihr Kind, dessen Aussehen, Charakter, Intelligenz? Welche Wünsche? Wie haben Sie sich die gemeinsame Zukunft ausgemalt? Und inwieweit stimmen die ehemaligen Ideen und die Realität überein? Fragen Sie Ihre Eltern, wie diese sich Ihr Leben vorgestellt haben, und überlegen Sie, welche Abweichungen von den elterlichen Plänen stattgefunden haben. Sie werden feststellen: Es ist unmöglich, sich keine Vorstellungen über sein Kind zu machen.
Es liegt offensichtlich in der Natur des Menschen, zu wünschen, zu planen, zu phantasieren, für das eigene Leben und auch für das Leben und die Zukunft der eigenen Kinder. Problematisch werden diese Vorstellungen erst, wenn sie zu Erwartungen oder gar Forderungen werden. Je größer und starrer die Erwartungen, desto schwieriger wird es sowohl für die Eltern als auch für das Kind. Enttäuschungen auf beiden Seiten sind vorprogrammiert: wenn der handwerklich völlig unbegabte Sohn die väterliche Tischlerei übernehmen soll oder das pummelige, unbiegsame Töchterchen sich in Tutu und Spitzenschuhen zum Ballettunterricht quälen muss, weil Mama einst eine gefeierte Ballerina war – oder werden wollte. Sowohl Eltern als auch Kind werden eine schmerzhafte Kränkung davontragen, die auch ihre Beziehung beeinträchtigen wird. Das Kind ist frustriert, weil es den unpassenden Erwartungen der Eltern nicht entsprechen kann, sich ungeliebt und ungesehen fühlt. Die Eltern sind frustriert, weil es ihrem eigenen Fleisch und Blut nicht gelingt, sie zufriedenzustellen und ihre Wünsche zu erfüllen.
Woher kommen all die Erwartungen? »Wenn Familien sich lange erhalten, so kann man bemerken, dass die Natur endlich ein Individuum hervorbringt, das die Eigenschaften seiner sämtlichen Ahnherrn in sich begreift, und alle bisher vereinzelten und angedeuteten Anlagen vereinigt und vollkommen ausspricht«, hoffte Goethe einst (Anmerkungen zu Rameaus Neffe von Diderot). Und tatsächlich sind es neben den elterlichen Sehnsüchten oft uralte familiäre Erwartungen, die von Generation zu Generation weitergetragen werden in der Hoffnung, dass irgendein Familienmitglied alles erfüllt, was gewünscht wird: Ein Unternehmen gründen, den Familiennamen zu Ehren führen, außerordentlich attraktiv sein, mit musischen oder schauspielerischen Talenten berühmt werden, mehr schulischen und beruflichen Erfolg als die Eltern haben.
Erwartungen und Aufträge können auch emotionaler Natur sein, wie »Werde nie selbstständig und löse dich nie von uns« oder »Gründe nie eine eigene Familie«, um das Kind auf ewig an die Eltern binden. Die familiären Wünsche können druckvoll vermittelt oder im Verborgenen eingeflüstert werden, sie können alle in eine einzige Richtung weisen oder sich zutiefst widersprechen. So unterschiedlich die Botschaften und die Kanäle, über die diese übertragen werden, auch sein mögen: Sie kommen alle beim Kind an.
Nomen est omen
»Ich heiße Nguyen an Tinh, meine Mutter heißt Nguyen an Tinh. Mein Name ist eine einfache Variation des ihren, nur ein Punkt unter dem i unterscheidet, differenziert, trennt mich von ihr. Ich war ihre Verlängerung, auch in der Bedeutung meines Namens. Ihrer meint ›friedliches Außen‹, meiner ›friedliches Innen‹. Mit diesen fast austauschbaren Namen bestätigte meine Mutter, dass ich ihre Erweiterung war, die Fortsetzung ihrer Geschichte.«
KIM THÚY, Der Klang der Fremde
Wenn wir den allerersten Auftrag verstehen wollen, den unsere Eltern uns mitgegeben haben, müssen wir sie nach der Bedeutung unserer Namenswahl fragen. Romeos Namensgebung entstand aus der Sehnsucht heraus, dass die Liebe seiner Eltern alle Krisen überdauern möge. Jana Mimi verdankt ihren Zweitnamen der lustigen Lieblingstante ihrer Mutter. Bei John-Philip erhofften sich die Eltern, dass er deren Vorliebe für Nordamerika teilen und dort studieren würde, ein Lebenstraum, für dessen Erfüllung die finanziellen Möglichkeiten der Eltern nicht ausreichend waren. Manchmal werden Kinder auch nach Toten benannt. So wie Elisabeth, die 1944 geboren wurde. Ihr Vater benannte sie nach seiner Lieblingsschwester, die eine furchtbare Kindheit und Jugend gehabt und sich mit 20 Jahren erhängt hatte. Elisabeth die Zweite trat in die Fußstapfen ihrer Namensvetterin. Und auch in die ihres eigenen, alkoholkranken Vaters. Aus dem unglücklichen Mädchen wurde eine depressive Frau. Um sich zu betäuben, trank Elisabeth Alkohol. Sie nahm Schlaftabletten zum Einschlafen und Aufputschmittel, um den Tag zu überstehen. Sie war schön, hatte viele Verehrer. Einen davon heiratete sie. Die beiden gaben ein attraktives Paar ab. Sie reisten durch die Welt, bekamen zwei Söhne, nach außen hin schien alles in Ordnung. Im Inneren gab es Streit, Wutausbrüche, Verzweiflung. Den ersten Selbstmordversuch unternahm Elisabeth, als sie Anfang 30 war, der Versuch, sich zu erhängen, missglückte. Zehn Jahre später fand ihr jüngster Sohn Paul seine Mutter tot auf. Elisabeth hatte sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben genommen. Elisabeths Namensgebung stand unter keinem guten Stern. Es ist zu vermuten, dass Elisabeths Vater sich gewünscht hatte, ein Teil seiner geliebten Schwester möge in seiner Tochter auferstehen. Wünsche sind unkontrollierbar, und manchmal werden sie wahr.
Knapp 20 Jahre nach Elisabeths Tod erschrickt ein junger Mann bei einer gynäkologischen Kontrolluntersuchung seiner schwangeren Frau. Der werdende Vater ist Elisabeths Sohn Paul, der erfährt, dass der Stichtag der Geburt seiner Tochter mit dem Todesdatum seiner Mutter zusammenfallen soll. Das kleine Mädchen entscheidet sich jedoch, eine Woche später auf die Welt zu kommen, und erhält einen ganz eigenen Namen, den niemand zuvor in der Familie getragen hat.
Die meisten Eltern geben sich viel Mühe, den Vornamen ihres Kindes auszuwählen, oft wird er bis zur Geburt geheim gehalten, damit niemand ungebeten seine Meinung dazu äußert, ihn ausplaudert oder gar »stiehlt«. Namen sind wichtig, sie gehören ab dem ersten Tag unseres Lebens zu uns wie unser Geschlecht, unsere Augenfarbe oder unsere Persönlichkeit. Sie sind mehr als Schall und Rauch, sie spenden Individualität und Identität – sowohl in der Familie als auch außerhalb. Ein Vorname weckt Assoziationen und Erinnerungen. Menschen werden von ihrer Umwelt hinsichtlich ihres Vornamens bewertet, Attraktivität, Intelligenz und Erfolg werden ihnen allein ihres Namens wegen zugeschrieben oder eben auch abgesprochen. Wer heute in deutschen Grundschulen Kevin oder Chantal heißt, hat schlechte Karten. Laut einer aktuellen Studie schätzen Grundschullehrer diese Namensträger als leistungsschwächer und verhaltensauffälliger ein als beispielsweise Charlottes und Simons.
»Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose«, soll sogar ein Lehrer auf seinem Fragebogen vermerkt haben, und man kann sich vorstellen, wie schnell auch ein aufgeweckter Junge namens Kevin den negativen Vorurteilen der Lehrer unterliegt, eventuell dagegen aufbegehrt und am Ende dennoch oder gerade deshalb einen schlechteren Start ins schulische Leben erhält als sein Sitznachbar Jacob. Armer Kevin, er hat sich ja weder seinen Namen noch die dazugehörige Assoziation ausgesucht.
Auch wenn jede Generation ihre Lieblinge und ihre Außenseiter hat – Namen wirken: sowohl auf den Träger als auch auf die Umwelt. »Kein Pferd, das Trübsal heißt, hat je ein Rennen gewonnen«, gibt Hemingway zu bedenken, und sein Kollege, der US-amerikanische Schriftsteller John Steinbeck, weist ebenso auf die Wechselwirkung von Namen, Persönlichkeit und Umwelt hin: »Namen – damit hat es eine sehr geheimnisvolle Bewandtnis. Ich bin mir nie ganz klar darüber geworden, ob der Name sich nach dem Kinde formt, oder ob sich das Kind verändert, um zu dem Namen zu passen.«
Die familiäre Bühne und Geschwisterrollen
»In der Familie bist du eine bestimmte Person. Deine Mutter (meine Mutter ganz besonders) packt eine Halbwahrheit über deinen Charakter auf die andere, bis sie ein ganzes Gebilde zusammen hat, eine erfundene Person. Es fängt mit den kleinen Dingen an: Du bist unordentlich oder verlässlich, gut mit Zahlen oder du isst zu schnell, du hast Angst vor Fröschen, hältst deinen Stift nicht richtig, und schon werden diese Fäden in den Familienteppich gewoben, eine Art Teppich von Bayeux, der die ganze imaginäre Szenerie auf ewig im Gedächtnis hält.«
JUSTIN CARTWRIGHT, Das Glücksversprechen
Beim Zeitpunkt unserer Geburt, bisweilen schon ein wenig früher, werden uns von unserer Familie bestimmte Rollen und damit verbundene Aufträge zugewiesen. In jeder Familie gibt es ungeschriebene, mitunter unbewusste Gesetze, wie sich Töchter oder Söhne zu verhalten haben. Manchmal ist diese Festschreibung generationenalt, manchmal neu beschlossen, je nachdem, wie es der Familie oder dem Einzelnen zum Vorteil gereicht.
Peter soll das Familienunternehmen übernehmen. Hannes soll gute Laune verbreiten und die Ehe der Eltern kitten. Nina soll Richterin spielen in den Auseinandersetzungen der Eltern.
Peter, Hannes und Nina werden nicht gefragt, sondern ihnen werden ausgesprochene oder unausgesprochene Aufträge übergeben, die sie erfüllen sollen. Diese Aufträge können so stark sein, dass sie ein Leben lang wirken.
Wir alle unterliegen familiären Aufträgen. Befreien können wir uns erst, wenn wir verstehen, welche Aufträge überhaupt an uns gerichtet wurden, und wenn wir uns bewusst entscheiden, diese nicht mehr zu erfüllen.
Neben unserer Persönlichkeit, der Gesellschaft und der Zeit, in der wir aufwachsen, sind familiäre Rollenzuschreibungen maßgebend für unsere Entwicklung und unser Verhalten. Die Geburtenfolge bei Geschwistern nimmt weiteren Einfluss, man spricht in diesem Zusammenhang von Geschwisterrollen. Dem Erstgeborenen wird häufig auferlegt, vernünftig zu sein, die ehrgeizigen elterlichen Erwartungen zu erfüllen und den Geschwistern mit gutem Vorbild voranzugehen. Dem jüngsten Kind wird die Rolle des Nesthäkchens oft regelrecht verschrieben, es darf verspielter sein als alle anderen, hatmehr Freiheiten, wird mehr verwöhnt, soll aber im Gegenzug der gesamten Familie zu mehr Leichtigkeit verhelfen, etwa in der Rolle des Familienclowns. Das mittlere Kind, geprägt durch seine Stellung zwischen den Geschwistern, bekommt dann den Auftrag, zwischen allen Familienmitgliedern zu vermitteln, eine emotionale Balance herzustellen.
Die Ausgestaltung von Geschwisterrollen lässt sich mit solchen Beobachtungen grob skizzieren. Entscheidend ist jedoch das in jeder Familie stattfindende Wechselspiel zwischen der Persönlichkeit des Kindes und den Bedürfnissen der Familie, oder anders gesagt den noch unbesetzten Posten, die wie in einem Kabinett den unterschiedlichen Familienmitgliedern anvertraut werden.
Ein stolzer Vater beschrieb mir vor Kurzem seine Kinder, die als überlebensgroße Fotografien in seinem Büro hängen: »Da oben ist die Älteste, meine Sarah, ein richtiger Schatz. Sie kümmert sich um alle, ist sehr häuslich, hilft ihrer Mutter gerne im Haushalt und geht ganz toll mit ihren Geschwistern um. Sie wird mal eine super Mutter werden. In der Mitte, das ist Jonathan, unser Sorgenkind. Er hat ganz schöne Probleme in der Schule, da mach ich mir oft Gedanken, was aus ihm wird. Er war schon immer etwas schwierig vom Charakter her, nicht so leicht zu lenken wie die Mädchen. Aber er ist ein toller Kerl, bringt Höchstleistungen im Sport, wir spielen gern Tennis miteinander, bald werde ich nicht mehr mit ihm mithalten können. Und da unten ist unsere Kleinste, die Mirjam. Klein, aber oho. Das ist die Cleverste von allen. Ein echter Sonnenschein dazu. Die wird mal die Welt regieren.«
Solche Beschreibungen und Zuschreibungen sind normal und wichtig, da sie den Familienmitgliedern einen Spiegel vorhalten, durch den sie sich gesehen und manchmal auch herausgefordert fühlen. Problematisch werden solche Zuschreibungen dann, wenn sie starr und unveränderlich bleiben: Wenn Jonathan in der Schule nächstes Jahr bessere Leistungen erbringt und von seinen Eltern immer noch als Sorgenkind dargestellt wird. Wenn Sarah abends, wie die meisten 18-Jährigen, lieber ausgehen möchte, als auf ihre Geschwister aufzupassen, und die Eltern ihr Vorwürfe machen, weil sie früher viel familienorientierter war. Oder wenn der Sonnenschein der Familie für alle anderen strahlen muss, auch wenn Mirjam selbst gar nicht danach ist. Wenn Eltern blind für solche Veränderungen sind und ihre Kinder stattdessen in ihren alten Rollen fixieren wollen, fühlen Kinder sich nicht gesehen und nicht verstanden. Gelingt es den Eltern aber, angemessen zu reagieren, nämlich sich auf Veränderungen einzustellen und auch ihre Zuschreibungen dementsprechend zu verändern, lernen Kinder, dass es in ihrer Familie Raum für Veränderungen und Entwicklungen gibt. So können sie sich frei entfalten und neue Facetten ihrer Persönlichkeit ausprobieren, ohne mit Unverständnis oder gar Sanktionen rechnen zu müssen.
Das Gegenteil einer gesunden, anpassungsfähigen Familie beschreibt Pat Conroy in seinem Roman Die Herren der Insel. Der Roman, der als Vorlage für den Kinofilm Herr der Gezeiten diente, gibt Einblicke in eine zerstörerische familiäre Dynamik, in der die Kinder langfristig Opfer einer starren Rollenverteilung und der damit verbundenen Erfahrungen bleiben. Die Geschichte wird aus Sicht des jüngsten Sohnes Tom erzählt, der versucht, das familiäre Vermächtnis zu verstehen, welches ihn selbst, seinen älteren Bruder Luke und seine kranke Schwester Savannah noch im Erwachsenenalter belastet:
»Ich lag da und grübelte darüber nach, wie wir alle in diese Lage geraten waren, wie viel Gutes und Schlechtes uns unsere Kindheit […] gebracht hatte und welche unabweisliche, unentrinnbare Rolle jeder von uns im grotesken Melodram unserer Familie spielte.«
Luke, der Älteste, gilt als schlichtes, aber starkes Gemüt mit einem ausgeprägten Sinn für Recht und Unrecht. Als Erstgeborener war er derjenige, dem die plötzlichen Wutanfälle und Schläge des Vaters am häufigsten galten, und er tat alles dafür, um seine jüngeren Geschwister vor dem unberechenbaren Vater zu schützen. Doch Lukes vermeintliche Stärke macht ihn nicht unangreifbar, wie Tom erkennt:
»Es fiel mir schwer, den Schaden zu ermessen, das Gesamtmaß des Leides zu benennen, das Luke durch seinen Platz innerhalb unserer Familie erwachsen war. […] Seine Verletzungen waren alle innerlich.«
Im Gegensatz zu ihrem Bruder Luke leidet Savannah sehr deutlich unter ihrer Kindheit und entwickelt schwere Depressionen. Früh flieht sie in Kreativität, die ihr ermöglicht, einen Teil der negativen familiären Energien umzuwandeln oder zumindest abzuleiten. Weit weg von der Küste South Carolinas und ihrer Familie feiert sie in New York mit Anfang 20 erste Erfolge als Lyrikerin – trotzdem ist sie nicht befreit von den familiären Bürden:
»Von klein auf war es Savannah bestimmt gewesen, in sich die ganze Last der psychotischen Energien unserer Familie zu tragen. Mit ihrer hellwachen Empfindsamkeit war sie besonders empfänglich für die stets latente Gewalt und Lieblosigkeit in unserer Familie, und so benutzten wir sie als Schuttabladeplatz für unsere Verbitterung und Gehässigkeit. Mir war jetzt alles klar: Ein Familienmitglied war mittels eines ebenso willkürlichen wie verhängnisvollen Auswahlverfahrens in die Rolle der Geistesgestörten gedrängt worden, und so hatten sich alle Familienneurosen, alle Wildheit und alles unbewältigte Leid wie eine Staubschicht über die äußerst empfindsame und verletzliche Seele unserer Schwester gebreitet.«
Pat Conroy beschreibt hier einen typischen Mechanismus in gestörten Familien, in denen ein Kind zum Symptomträger wird, zum »auserwählten« Kind, das besonders auffällig, besonders krank, besonders belastet ist, weil es das Leid der ganzen Familie in sich vereint.
Über seine eigene Rolle in der Familie sinniert Tom, der den Erwartungen seiner Eltern so sehr zu entsprechen versucht, dass er sich schließlich fast selbst verliert:
»Und ich? […] Welche Rolle war mir zugefallen? Enthielt sie Elemente der Größe oder des Scheiterns? Meine Bestimmung war offenbar, die Normalität in der Familie zu verkörpern. Ich war das ausgeglichene Kind, die geborene Führernatur, die selbst unter heftigem Beschuss kühle Gelassenheit bewahrte. […] Ich benahm mich wie ein neutrales Land, ich war die Schweiz innerhalb unserer privaten Völkerfamilie. Ich versuchte, ein wahrer Ausbund an Rechtschaffenheit zu werden, und beugte mich ehrfurchtsvoll dem Diktat, das von allen Eltern so heiß ersehnte Kind ohne Fehl und Tadel zu spielen.«
Rollenzuschreibungen sind neben der Geschwisterfolge auch von der jeweiligen Familie und deren Bedürfnissen abhängig. Tom Wingo spürt, dass seine Familie ein »normales«, annähernd perfektes Kind braucht, um das familiäre Gleichgewicht zu halten. Er selbst braucht die Liebe und Anerkennung seiner Eltern und bemüht sich deshalb, die vorgegebene Rolle zu deren Zufriedenheit auszufüllen. Hingebungsvoll verkörpert er über viele Jahre hinweg den Mustersohn und das Gegengewicht zu seiner kranken Zwillingsschwester, dem »geheimen Schandfleck« der Familie, bis er an seiner nicht vollzogenen Ablösung von seiner Herkunftsfamilie und dem Bedürfnis, es allen recht zu machen, fast zerbricht.
Wie bei den fiktiven Wingos gibt es in jeder Familie unbesetzte Nischen oder Rollen, die von ihren Mitgliedern ausgefüllt werden sollen. Es geht bei der Rollenverteilung um das große Ganze, eine Familie ist wie ein menschliches Mobile, das sich miteinander austariert und in der Waage hält. So kann selbst eine unangenehme Rolle wie etwa die eines Störenfrieds für die Stabilität einer Familie wichtig sein, weil sie von anderen, schlimmeren Problemen ablenkt.
Rebelliert ein Kind gegen eine vorgeschriebene Rolle, kann das familiäre System kippen – oder sich im Idealfall weiterbewegen und auf einem gesünderen Niveau neu einpendeln. Familiäre Rollen können aus unterschiedlichen Gründen auch einmal durcheinandergeraten, sodass alle Mitglieder gezwungen sind, sich neue Rollen zu suchen und neuen Aufträgen zu gehorchen, wie es in Ulis Familie geschehen ist.
Uli ist ein fröhlicher Junge, er ist das älteste von drei Geschwistern. Mit zehn Jahren erleidet er plötzlich einen allergischen Schock, seine Nieren versagen. Mehrere Wochen verbringt er im Krankenhaus, die Mutter wacht Tag und Nacht an seiner Seite. Der Vater fährt vor und nach der Arbeit ins Krankenhaus. Die Geschwister werden von den Großeltern betreut. Alle machen sich Sorgen. Die Ärzte können Ulis Leben retten, aber nicht seine Gesundheit. Um zu überleben, muss Uli fortan dreimal die Woche für mehrere Stunden zur Blutwäsche in ein 40 Kilometer entferntes Krankenhaus. Seine Mutter gibt ihren geliebten Beruf auf, um sich um Uli kümmern zu können. Die Geschwister werden angehalten, vorsichtig mit ihrem kranken Bruder umzugehen. Keinen zusätzlichen Ärger zu machen. Die Mutter hat weniger Zeit für ihre beiden anderen Kinder. Der Vater arbeitet mehr, um den fehlenden Verdienst der Mutter auszugleichen. Zu Hause dreht sich alles um Uli.
»Uli, Uli, Uli, irgendwann konnte ich es nicht mehr hören!«, ruft seine Schwester Susanne Jahre später. »Und kaum spreche ich so was aus, bekomme ich Schuldgefühle. Er konnte doch nichts dafür. Er war doch so krank! Aber ich war auch noch da. Ich und Matthi, mein kleinerer Bruder. Für uns hatten meine Eltern keine Kraft mehr, kein Auge mehr. Die Botschaft war klar: Wir mussten funktionieren, anders ging es nicht.«
Susanne hat das erlebt, was Kinder häufig durchmachen, wenn ein Geschwisterkind krank wird. Die gesunden Kinder bekommen dann oft den Auftrag, pflegeleicht zu sein, damit die elterlichen Kapazitäten auf das kranke Kind gerichtet werden können. Einsicht, Mitleid, Wut, Schuldgefühle sind typische Gefühlszyklen, die sich in den gesunden Geschwisterkindern abspielen.
Die Erfahrung, immer nur die zweite Geige zu spielen, ist prägend – sie kann dazu führen, dass man in allen weiteren Beziehungen immer wieder unversehens in die Rolle des sich zurücknehmenden Kindes rutscht, während man sich eigentlich heimlich wünscht, einmal die Nummer eins zu sein. Das in der Kindheit erlebte Zuwenig an elterlicher Aufmerksamkeit und Fürsorge könnte auch in der Beziehung zu den eigenen Kindern spürbar sein. »Ich schäme mich dafür, aber wenn mein Sohn krank ist und nicht aufhört zu quengeln, dann kriege ich manchmal eine solche Wut auf ihn! Heute weiß ich, dass das meine alten Gefühle sind. Dass ich in solchen Situationen in null Komma nichts in meine Kindheit gebeamt werde und als kleine Susanne meinem älteren Bruder gegenüberstehe. Da vermischen sich manchmal die Bilder.«
Susanne hatte sich einen älteren Bruder gewünscht, der mit ihr spielt, ihr Dinge beibringt, sie beschützt. Stattdessen war Uli schwach und krank, und sie musste die Rolle der älteren, vernünftigen Schwester einnehmen. Niemand in Susannes Familie hatte sich so ein Familienleben, geprägt durch Ulis Krankheit, ausgesucht. Jeder Einzelne war gezwungen, von seinen Vorstellungen abzurücken und sich den Bedürfnissen des kranken Kindes anzupassen. Liebe, Verantwortung und Loyalität hielten alle davon ab, aus den teilweise sehr unangenehmen neuen Rollenvorgaben auszubrechen – auch noch dann, als die Kinder längst erwachsen waren.
Wir sehen: Rollen werden von der Familie und manchmal auch vom Leben übergeben. Nicht immer sind sie maßgeschneidert für uns oder einfach auszufüllen. Manchmal können wir in sie hineinwachsen. Und manchmal, wenn sie zu groß oder zu eng sind, wir nicht aus ihnen aussteigen dürfen oder können, zerbrechen wir an ihnen.
Verkehrte Welt – Wenn Kinder Elternrollen übernehmen
»Ich war nun elf, zwölf, dreizehn Jahre alt. Ich war ihre Freundin […], und ich kümmerte mich um sie, beschützte sie, sorgte dafür, dass ihre Stimmung nicht so weit abrutschte, dass die Familie oder ihre Ärzte eingreifen mussten. Mit der großartigen Phantasie meiner selbst als ihrem Rettungsanker bürdete ich mir eine schwere Verantwortung auf. Was, wenn ich versagte?«
LINDA GRAY SEXTON, Auf der Suche nach meiner Mutter
Wenn Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, kommt es oft zu einer sogenannten Rollenumkehr: Kinder schlüpfen in die Elternrolle und versorgen ihre Eltern. Die achtjährige Laura wacht nachts im Bett ihrer Mutter, die nicht schlafen kann, weil ihr Mann bei seiner Geliebten ist. »Schlaf ein, Mami, Papa kommt bestimmt gleich wieder«, versucht Laura ihre Mutter zu trösten. Der sechsjährige Alexander weckt den Vater, der betrunken auf dem Sofa liegt, und fleht ihn an, mit dem Trinken aufzuhören.
Der zwölfjährige Marcus, Nick Hornbys Protagonist aus dem Roman About a Boy, versucht sich gegen solch eine Rollenumkehr zu wehren. Er macht sich Sorgen um seine depressive Mutter, die den halben Tag lang zitternd, in einen Mantel gehüllt, Zeichentrickfilme ansieht und dabei ohne ersichtlichen Grund weint.
»Das war nicht in Ordnung. Er war noch ein Kind. […] Irgendetwas musste passieren. In der Schule war es beschissen, und zu Hause war es beschissen, und da Schule und Zuhause so ziemlich alles waren, was es für ihn gab, bedeutete das, dass es die ganze Zeit beschissen war, außer, wenn er schlief. Irgendwer würde was dagegen unternehmen müssen, denn er selbst konnte nichts dagegen unternehmen, und er konnte niemanden sehen, der dafür infrage kam, außer der Frau unter dem Mantel.«
Marcus weist seine Mutter auf ihre Verantwortung hin und versucht die Rollen klarzustellen:
»›Wenn du dich nicht ordentlich um mich kümmern kannst, musst du jemanden finden, der es kann. […] Das Einzige, was du für mich tust, ist kochen, und das könnte ich auch. Den Rest der Zeit heulst du bloß. Das ist … das ist nicht gut. Das ist nicht gut für mich.‹ Sie weinte noch heftiger, und er ließ sie weinen.«
Marcus versucht sich selbst zu helfen, indem er sich einen erwachsenen Freund sucht, bei dem er vor der Realität flüchtet. Die Sorge um seine Mutter bleibt.
Von der Sorge um ihre Mutter berichtet auch die heute über 60-jährige Batya, die ich im Rahmen meiner Doktorarbeit über die mehrgenerationalen Auswirkungen des Holocaust interviewte. Batya ist Tochter einer Holocaust-Überlebenden, die von der Verfolgung und ihren Jahren im Konzentrationslager schwer traumatisiert war. Als Kind half es Batya, sich außerhalb ihres Zuhauses Unterstützung zu suchen, sie »adoptierte« die Mutter einer Freundin, denn zu Hause gab es kein Entkommen aus der belastenden Rollenumkehr:
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