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Sexualität ist mehr als nur Sex – es geht um Rollenzuschreibungen, Regeln und Rechte. Also wie frei, gleichberechtigt und sexuell selbstbestimmt sind Frauen im 21. Jahrhundert? Hat weibliche Sexualität sich emanzipiert oder lediglich maskulinisiert? Und wie viel wissen Frauen wirklich über ihre eigene sexuelle Identität? Was ist »normal«, und wer bestimmt das? Um diese Fragen zu beantworten, stellt Sandra Konrad die Geschichte weiblicher Sexualität dar und entlarvt bis heute wirksame Geschlechterklischees. Dabei verbindet sie psychohistorische Erkenntnisse mit aktuellen Forschungsergebnissen aus der Sexualwissenschaft und zahlreichen Interviews mit jungen Frauen, die zeigen, wie unbewusste Rollenvorgaben auch heute noch das Geschehen im Schlafzimmer prägen.
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© Piper Verlag GmbH, München 2017
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung und -motiv: FAVORITBUERO, München
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Motto
Spoilerwarnung: Dieses Buch kann Widerstand auslösen
Einleitung
EinsWeibliche Lust und männliche Normen oder sie will, was er will
Die Krux mit der Lust – Die gebremste Frau
Die Matrix der Lust – Wie Lust entsteht und wie sie vergeht
Das Tier in ihr – Die hysterische Frau
Die Gebärmutter auf Abwegen
Der große Auftritt der Hysterie: Charcot lässt die Puppen tanzen
Trauma und Tabu – Vom verführten Kind zur hysterischen Lügnerin
Die frigide Nymphomanin – Der Feind in seinem Bett
Miley Cyrus’ freche Zunge oder wozu die ganze Hysterie?
Freud und Leid des weiblichen Orgasmus – Die unreife Frau
Die richtige Mischung – Als der weibliche Orgasmus noch dem Erhalt der Menschheit diente
Sünde Selbstbefriedigung – Vom peinlichen Gefühl, Genitalien zu haben
Good Vibrations – Warum Ärzte vor der Entdeckung des Vibrators mit hysterischen Frauen alle Hände voll zu tun hatten
Von Penislosigkeit zu Penisneid – Wie Freud den reifen Orgasmus erfand und eine Prinzessin ihre Klitoris versetzte
Vaginal, klitoral, egal – Hauptsache, Happy Ending
Von Dornröschen zu Tinderella – Die sexuell befreite Frau
»Mein Bauch gehört mir!« – Das Recht auf Verhütung und Abtreibung oder die Wiederaneignung des weiblichen Körpers
»Untenrum« oder Viva la Vulva! – Worte für das Unaussprechliche finden
Es hinter sich bringen – Der Hype um die Jungfräulichkeit
Friends with benefits und Booty Calls – Die neue Art zu lieben
ZweiPornografie und Prostitution oder der Traum von der immergeilen Frau
Die Frau als Ware oder die Geschichte der Pornografie – Die gefickte Frau
»Porno ist die Theorie, Vergewaltigung die Praxis« – Wie gefährlich ist Pornografie?
Voll Porno! Was Pornografie mit Jugendlichen macht und umgekehrt
»Igitt« oder »Oh Gott« – Frauen und Porno
Sexuelle Befreiung oder Erniedrigung – Zwischen Sasha Grey und »Shades of Grey«, oder gibt es feministische Pornografie?
Das älteste Gewerbe der Welt – Die »andere« Frau
Die dreckige Hure – Das notwendige Übel
Geiz ist geil oder Straßenstrich und Flatrate-Bumsen – Die billige Frau
Sterne oder Staub? Die Illusion der Wahl – Die (ohn)mächtige Frau
Ein Beruf wie jeder andere? Der schmale Grat der Freiwilligkeit
Sex oder Gewalt, Unterdrückung oder Ermächtigung, verbieten oder legalisieren?
DreiSexualisierte Gewalt oder warum Frauen eigentlich selbst schuld sind
Die Hexe soll brennen – Die böse Frau
Sei still, sei still – Die verstümmelte Frau
Die Weitergabe der Gewalt – Wenn Traditionen traumatisieren
Die Beschneidung der Lust – Die Beschneidung des Willens – Die Beschneidung der Freiheit
Kavaliersdelikt Vergewaltigung – Die aufreizende Frau
Vergewaltigung – Die doppelte Gewalt
Das risikolose Delikt und das männliche Gesetz
»Manche Männer sind einfach rabiater« – Sexuelle Gewalt in der Ehe
»Triebgesteuert« und andere Tätermythen – Die aggressive Tat mit sexuellen Mitteln
Cybergewalt, Sexting und Revenge-Porn – Die bloßgestellte Frau
Nein heißt Nein oder das Ende des Schweigens – Die beschützte Frau
VierZwischen Sexobjekt und Sexgöttin – Subjekt des Begehrens werden
Schönheit ist Macht - Die normierte Frau
Schau! Mich! An! – Warum sexy wichtiger ist als lustvoll
Scham & Haare – Die Banalität der Normalität
Unfuckable wegen Falten – Die alternde Frau
Feministin klingt mir zu ungebumst – Die bedrohliche Frau
Wer F… sein will, muss freundlich sein – Das unbeliebte F-Wort
»Du läufst wie ein Mädchen« – Alltäglicher Sexismus oder die Geschichte der minderwertigen Frau
Das unsolidarische Geschlecht – Frauen gegen Frauen und den Rest der Welt
FünfWas will das Weib? Zwischen sexueller Freiheit und Selbstbestimmung
Von männlicher Herrschaft zu weiblicher Selbstbeherrschung
Das Diktat der sexuellen Freiheit oder der große Bluff
Danksagung
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
»Alles in der Welt dreht sich um Sex.
Außer Sex.
Bei Sex geht es um Macht.«
Alter Witz unter amerikanischen Psychoanalytiker*innen
»Let’s talk about sex, baby
Let’s talk about you and me
Let’s talk about all the good things
And the bad things that may be.«
Salt-N-Pepa, »Let’s talk about Sex«
»Weibliche Sexualität – wie spannend!«, war eine typische Reaktion auf dieses Buchprojekt. In der Tat stieß ich sowohl bei meinen Interviews mit jungen Frauen als auch bei meiner historischen Recherche auf interessante Anekdoten und haarsträubende Fakten. Wussten Sie zum Beispiel, dass man lange Zeit davon ausging, dass die Gebärmutter bei sexuell wenig aktiven Frauen im Körper umherwandert und dabei gesundheitliche Probleme verursacht? Dass Frauen jahrhundertelang ganz offiziell von Ärzten zum Orgasmus massiert wurden? Dass man vor nicht allzu langer Zeit allen Ernstes zwischen einem reifen und einem unreifen weiblichen Orgasmus unterschied oder dass Ärzte Frauen während ihrer Menstruation für nicht zurechnungsfähig hielten?
Weibliche Sexualität ist ein Partythema, aber sie kann einem auch die Stimmung verderben. Denn die schönste Sache der Welt hat auch dunkle Seiten und tiefe Abgründe. Lust kann in Frust, Begierde in Hass, Dominanz in Gewalt umschlagen. Der weibliche Körper kann liebkost, aber auch benutzt oder verletzt werden. Die Frau kann idealisiert oder erniedrigt werden, wo Heilige sind, sind Huren nicht weit entfernt. Bei aller Liebe gab es gesellschaftlich gesehen stets eine Hierarchie zwischen Männern und Frauen – es waren Männer, die über die Sexualität der Frau bestimmten.
»Ich bestimme nicht über meine Frau. Wenn sie Nein sagt, dann haben wir keinen Sex. Bestimmt sie da nicht eher über mich?«, witzelte ein Bekannter.
»In intimen Beziehungen können sowohl Männer als auch Frauen die Hosen anhaben, das stimmt«, räumte ich ein. »Aber gesellschaftlich gesehen hatten Männer seit jeher mehr Macht als Frauen. Männer hatten jahrhundertelang mehr Rechte und mehr Freiheiten, auch in sexueller Hinsicht. Und ich versuche herauszufinden, wie es heute ist. Wie frei Mädchen und Frauen im 21. Jahrhundert sind.«
»Total frei!«, vermuteten viele. Und dann geschah etwas Seltsames: Während ich aktuelle und historische Beispiele aus der rund 2000-jährigen Geschichte der Beherrschung der Frau aufzählte, kam es immer wieder zu Protest. Es gab Frauen, die jegliche Ungerechtigkeit und Unfreiheit zunächst heftig abstritten. Bis ich sie fragte, warum es uns allen so wichtig ist, möglichst schlank zu sein? Warum Falten und graue Haare bei Frauen eine Katastrophe sind, während wir ähnliche Alterungsmerkmale bei Männern attraktiv finden? Ob der Übergang vom Paar zu Eltern in ihren Beziehungen so reibungslos und gleichberechtigt verlaufen war, wie sie es sich vorgestellt hatten, ob also ihre Partner den gleichen Anteil am Haushalt und der Kindererziehung übernahmen. Ob sie schon einmal einen Orgasmus vorgetäuscht hatten und warum. Ob sie schon einmal eine sexuelle Grenzverletzung erlebt und sich nicht lautstark gewehrt hatten. Ob sie schon einmal eine abwertende, sexistische Zuschreibung erfahren hatten. Ob sie ihre Söhne und Töchter in jeder Hinsicht gleich behandelten. Und ob sie sich außerhalb einer verbindlichen, geborgenen Liebesbeziehung sexuell wirklich so frei fühlten, wie es das Bild in den Medien vermittelt. Der Protest ebbte ab. Das Nachdenken setzte ein. Aus Widerstand wurde widerwillige Zustimmung: »Das gefällt mir zwar nicht, aber da ist was dran.«
Die Realität im 21. Jahrhundert ist ernüchternd: Das jugendliche, schöne Aussehen einer Frau, der Rückfall in alte Rollenmuster nach der Geburt eines Kindes, latenter bis offensichtlicher Alltagssexismus, die häufige Erfahrung von sexuellen Übergriffen, die damit verbundene Ohnmacht und Scham sowie der Anspruch, grundsätzlich nicht zu unbequem zu werden – all das ist für viele Frauen heute immer noch »ganz normal«.
Männer jedoch waren oftmals nicht ganz so einfach davon zu überzeugen, dass bis heute ein gesellschaftliches Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen besteht. Je mehr Fakten ich lieferte, um die Geschlechterdiskrepanz zu verdeutlichen, desto mehr Nachdruck, Wut oder auch Überheblichkeit wurde in die Gegenargumente gelegt. Dass Frauen in ihrer Sexualität und vielen anderen Rechten beschnitten wurden, dass ihnen Bildung und außerhäusliche Erwerbstätigkeit bis ins 20. Jahrhundert verweigert wurden, dass es noch heute verachtende weibliche Zuschreibungen und starre Rollenvorgaben gibt, unter denen beide Geschlechter leiden – all das verpuffte oft ungehört. Stattdessen erfuhr ich von meinen männlichen Gesprächspartnern, dass es neben dem Patriarchat auch Matriarchate gegeben habe und am Amazonas immer noch gäbe. Dass Frauen in Russland und sogar in der Türkei innerhalb der Familie schon immer mehr zu sagen hatten als Männer. Überhaupt: Dass Männer in der Geschichte mehr Macht als Frauen hatten, sei eine Legende, ich solle bitte Kleopatra, Maggie Thatcher, Königin Elizabeth und natürlich Frau Merkel nicht vergessen. Und was die Rechte von Frauen anginge, da bestünde heute ja wohl eher eine Ungerechtigkeit den Männern gegenüber. »Wo?«, fragte ich nach. »Na, beispielsweise bei rein weiblichen Saunatagen, an denen Männern verboten wird, die Sauna zu betreten, oder bei Ladies Nights in Clubs, bei denen Frauen keinen Eintritt zahlen müssen, Männer aber schon. Bei Frauenparkplätzen. Oder bei der Frauenquote, durch die Frauen bevorzugt werden.«
Es wurde aufgerechnet. Es wurde verleugnet. Aus Paaren und Freunden wurden plötzlich gegnerische Geschlechter, aus kerzenbeleuchteten Wohnzimmern wurden Arenen, in denen Männer gegen Frauen kämpften. Es gab Abende, an denen ich mich innerlich aus der Diskussion zurückzog und staunte, welche Dynamik entstehen konnte, wenn es um (weibliche) Sexualität und die damit verbundenen Macht- und Ohnmachtsgefühle ging. Das, was ich psychologisch und historisch untersuchen wollte, entfaltete sich im Hier und Jetzt mit voller Wucht – trotz aller Fortschritte ging es in Sekundenschnelle nur noch darum, wer recht hatte, wer das Sagen hatte, kurzum, wer die Deutungshoheit, also die Macht besaß.
Ich verstand anfangs nicht, warum, aber ich spürte, dass sich einige Männer schon bei der bloßen Aufzählung von Fakten persönlich angegriffen fühlten. Was hatten sie mit den hexenjagenden Schergen des Mittelalters, mit vergewaltigenden Kriegshorden, mit frauenfeindlichen Internetstalkern oder prügelnden Unterdrückern zu tun? Nichts. Anstatt die Geschichte der weiblichen Sexualität interessiert, entsetzt oder meinetwegen auch gleichgültig zur Kenntnis zu nehmen, unterstellten sie mir eine Verdrehung, zumindest aber eine Hervorhebung bestimmter historischer und aktueller Fakten.
War die stoische Leugnung unbequemer Tatsachen ein Resultat der unbewussten Identifikation mit den männlichen Vorfahren? Auch ich spürte sie ja, eine Verbindung zu meinen Geschlechtsgenossinnen der letzten Jahrhunderte: Ich fühlte mit ihnen, ich empörte mich für sie, ich ärgerte mich über sie und trauerte um das, was ihnen zugefügt worden war. Aber ich denke nicht grundsätzlich in männlichen und weiblichen Kategorien, und so mag ich nicht grundsätzlich von weiblichen Opfern und männlichen Tätern sprechen, auch wenn diese Dichotomie in der Geschichte oft zu finden ist. Frauen sind keine besseren Menschen als Männer. Macht kann von jedem Geschlecht missbraucht werden. Wer allerdings die Macht hat, ohne sie an sich gerissen zu haben, möchte nicht dafür kritisiert werden. So erklärt sich, warum auch Männer, die sich selbst nicht für frauenfeindlich halten, empfindlich oder genervt reagieren auf die Kritik am Status quo. Wir alle übersehen es leicht: Man braucht sich nicht privilegiert zu fühlen, um privilegiert zu sein.
»Was kann ich tun, damit du ruhig bleibst und mir zuhörst?«, fragte ich einmal einen langjährigen Freund von mir, der seit einer halben Stunde versuchte, mich vom Gegenteil der Faktenlage zu überzeugen. Er überlegte eine Weile und schlug dann vor: »Du könntest einige Punkte sanfter verpacken.« Ein Mann verlangt von einer Frau, Ungerechtigkeiten, die zu Lasten der Frau gehen, sanfter zu verpacken – ich wurde so wütend, dass ich keine Lust mehr hatte, das Gespräch mit ihm fortzusetzen. Am nächsten Tag aber, als ich mich wieder beruhigt hatte, konnte ich meinen Freund wider Willen verstehen. Er zeigte die gleiche Reaktion, die wir haben, wenn wir eine Dokumentation über Massentierhaltung sehen, umschalten und denken: »So schlimm geht es den Tieren nicht überall, das ist ein schrecklicher Ausnahmebetrieb«, damit es uns möglich ist, am nächsten Morgen wieder Milch in unseren Kaffee zu gießen und Käse zu essen. Es ist die gleiche Reaktion, wie wenn wir günstige Klamotten kaufen und verdrängen, dass es irgendwo auf der Welt Menschen gibt, die sie unter unsäglichen Bedingungen hergestellt haben.
Es kann sehr unangenehm sein, mit den hässlichen Auswüchsen der Realität konfrontiert zu werden. Wir möchten uns schützen. Wir möchten uns abwenden. Wir möchten nichts damit zu tun haben. Aber je mehr wir uns abwenden, desto leichter setzt sich das fort, was uns zu schaffen machte, sähen wir hin. Der Wunsch, keine Schuld zu tragen, erfüllt sich nur, wenn wir Verantwortung übernehmen und ihr nicht ausweichen.
Ich bin der tiefen Überzeugung, dass starre, unbewusste Rollen uns einengen, beide Geschlechter, Männer wie Frauen. Ein Beweis dafür sind die Abende mit meinen Freunden, wo ein paar Sätze genügten, um die Geschlechter gegeneinander aufzubringen und jeden Einzelnen mit seiner Ohnmacht ringen zu lassen. Was ich in diesen aufgeheizten Diskussionen erlebte, war eine Spaltung, die im Inneren des Einzelnen begann und sich dann in der Polarisierung Mann gegen Frau fortsetzte. Spaltung bedeutet, einen Teil von etwas nicht mehr zu sehen und nicht mehr zu fühlen. Wir spalten etwas ab, wenn es bedrohlich ist, wenn wir es nicht ertragen können, wenn es uns in unseren Grundfesten erschüttern könnte. Für niemanden ist es leicht, vielleicht ist es sogar unmöglich, das ganze Bild in allen Farben zu sehen. Weil wir immer eine vorgeprägte Sichtweise mitbringen: durch unsere Familie, die Gesellschaft, die Zeit, in der wir leben, und auch aufgrund unseres Geschlechts.
Es gab viele, die nach einer Weile bereit waren, mir zuzuhören, und die ich berühren konnte mit den Geschichten, die ich gehört oder gelesen hatte. Die verstanden, dass es mir nicht um eine Hassschrift gegen Männer, sondern um eine geschichtliche und gesellschaftspsychologische Aufarbeitung von Ungerechtigkeiten geht, die Männer per se zu Mittätern macht, ob sie wollen oder nicht. Dass ich in diesem Buch historische und aktuelle Missstände – unter denen beide Geschlechter noch immer leiden – und ihre Verbindung zueinander aufzeige, damit wir uns bewusst davon verabschieden können.
»Ich handle, und ich werde behandelt.
Ich erfahre, und ich werde erfahren.«
Catherine Angel
Im 21. Jahrhundert haben Frauen in der westlichen Welt Freiheiten, von denen ihre Vorfahrinnen nur träumen konnten. Sie können verhüten und somit Sex ohne Angst vor einer Schwangerschaft genießen. Sie können ihre Partner*innen frei wählen. Sie müssen nicht heiraten. Sie können über Sex sprechen, Sex haben oder Sex ausschlagen, wenn sie keine Lust haben. Sie sind, wie man so schön sagt, »sexuell befreit«. Aber was bedeutet das genau? Haben Frauen sich selbst befreit, oder wurden sie befreit, und ist die Befreiung überhaupt schon abgeschlossen? Kamen mit der Freiheit nur Vorteile oder auch Nachteile? Und wie frei sind Frauen heute wirklich – neigen sie nicht nach wie vor dazu, sich unterzuordnen und männliche Werte zu akzeptieren, ohne diese zu hinterfragen?
»Ich finde nicht, dass ich mich irgendwo unterordne«, sagt die 33-jährige Sonja. »Ich mache doch genau das, worauf ich Lust habe!« Die attraktive Lehrerin hat eine Affäre nach der anderen. Sie reist viel, hat einen großen Freundeskreis und geht mindestens dreimal die Woche zum Sport, nicht, weil es ihr Spaß macht, sondern weil sie fit, schlank und straff bleiben will. »Noch ist der Richtige ja nicht gefunden«, scherzt sie. Sie hat mit über 50 Männern geschlafen, was außer mir nur ihre beste Freundin weiß, weil Sonja die Erfahrung gemacht hat: »Man wird da sehr schnell abgestempelt.« Trotzdem will sie sich ihre sexuelle Freiheit nicht nehmen lassen, und das heißt im Klartext: »Mich sexuell auszutoben und mich wie ein Mann zu verhalten, also nicht zu emotional zu werden.«
Obwohl Sonja mit ihrer Definition von sexueller Freiheit (promisk ohne Bindungswünsche) gerade voll im Trend liegt, ist sie sich des Abgrunds aus Scham und Beschämung bewusst, in den Frauen noch immer leicht abrutschen können, denn über weibliche Sexualität wird nach wie vor hart geurteilt. Selbst wenn man sich als Frau theoretisch sexuell befreit fühlt, lauern doch oft unbewusste und deshalb umso tiefer verankerte gesellschaftliche Werturteile über weibliche Sexualität in den meisten von uns: Schlampig, prüde, nuttig, verklemmt – es gibt viele Adjektive, die Frauen in ihrer Sexualität diskriminieren, hemmen oder ausbeuten und sie unmissverständlich in ihre Schranken weisen.
Bis zur sexuellen Revolution in den 1960er- und 70er-Jahren war klar, was von einer Frau erwartet wurde: Sie sollte passiv und empfangend sein, ihrem Mann treu ergeben und darüber hinaus eine brave Hausfrau und Mutter. Weibliche Sexualität war ein Tabu, die Geschlechtsorgane einzig zur Fortpflanzung gedacht. Heute ist alles anders, heute dürfen, nein, sollen Frauen sexuelle Wesen sein. Enttabuisierung lautet das Zauberwort; »Alles kann, nichts muss« das Motto der neuen Konsensmoral, die ehemalige Perversionen normalisiert und entdramatisiert, denn erlaubt ist, was beiden gefällt.
So weit, so gut. Jedenfalls, wenn die Frau wirklich wüsste, was ihr gefällt. Wenn sie wirklich frei wäre in ihren Wünschen und ihren Äußerungen. Wenn nicht die Angst, kritisiert und beschämt zu werden, viele Frauen einschränken würde. Auch heute noch. Sexuelle Freiheit, so stellte ich fest, hat viele Schattierungen, gegensätzliche Strömungen und wird – obwohl sie eigentlich etwas sehr Privates ist – nach wie vor stark von gesellschaftlichen Normen geprägt.
»Am Wochenende habe ich das erste Mal mit meinem neuen Freund geschlafen, und er hat mir, als er gekommen ist, ins Gesicht ge–« – sie stockt – »na ja, du weißt schon, was ich meine.«
Die 21-jährige Lara wird rot und senkt den Blick. Ich lasse ihr Zeit, um sich zu sammeln und den Anflug von Scham vergehen zu lassen. Scham ist ein unlogisches Gefühl. Manchmal schämen wir uns für etwas, das uns widerfahren ist, das wir nicht kontrollieren konnten, dessen Opfer wir wurden. Besonders in der Sexualität, die heute laut und offen daherkommt und in der alles erlaubt scheint, sitzt immer noch viel Scham. Weibliche Scham.
»Macht man das so? Ist das normal?«, fragt Lara mich nach einer Weile.
»Normal«, antworte ich langsam, »ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was normal ist. Ich weiß auch nicht genau, wer bestimmt, ob etwas normal ist. Und ob normal gut oder schlecht ist. Deshalb finde ich es eigentlich viel wichtiger, wie du etwas findest, als wie andere etwas finden.«
Sie überlegt eine Weile. »Ich war total geschockt. Ich fand es eklig. Aber ich hab mich nicht getraut, ihm das zu sagen.« Sie schlägt die Hände vors Gesicht. »So hatte ich mir das nicht vorgestellt.«
Der unrühmliche Coitus interruptus ihres Freundes wird Lara wahrscheinlich für immer im Gedächtnis bleiben, aber sie wird viele andere Erfahrungen machen, die diese unangenehme Erinnerung verblassen lassen. Ihr Freund wird verstehen, dass er Szenen, die er in Pornofilmen gesehen hat, nicht ohne das Einverständnis seiner Partnerin in die Realität übertragen kann. Lara wird immer mehr herausfinden, was sie will, und sich idealerweise immer freier machen von dem, was gerade als normal gilt. Denn Normalität ist ein dehnbarer Begriff. Gerade im Bezug auf menschliche, vor allem aber auf weibliche Sexualität.
Was ist heute normal? Und inwieweit bestimmen Frauen diese Normalität mit, wenn sie sich ihre Brüste operieren lassen, ihren Intimbereich wie den einer Pornodarstellerin enthaaren, sich in Frauenzeitschriften über die »schärfsten Stellungen und die besten Blowjob-Techniken« informieren, Pole-Dance und Striptease in Fitnessstudios üben und sich auf unverbindliche, oftmals unbefriedigende Sexualkontakte einlassen?
Sonja und Lara sind zwei der über 70 Frauen (im Alter zwischen 18 und 45), die ich im Laufe der letzten Jahre über ihre Sexualität befragt habe, um der Kernfrage dieses Buches nachzugehen: Wie frei und selbstbestimmt sind Frauen heute wirklich?
Wie ist es, in einer Zeit zu leben, in der Pornografie der Aufklärung dient, man sich (über Dating-Apps) zum unverbindlichen Sex verabredet, in der der Körper das Maß aller Dinge ist und in der Sexualität zwar eine hohe, aber oftmals keine emotionale Bedeutung mehr beigemessen wird?
Wie ist es, in einer Kultur aufzuwachsen, in der Frauen zwar alles dürfen, aber auch alles mitmachen sollen, und welchen Einfluss hat es auf uns, wenn Unterwerfung und Sexualisierung als Emanzipation gefeiert werden?
Wie ist es für Frauen, in einer sicheren Umgebung zu leben und trotzdem zu wissen, wie sich Angst anfühlt, einfach nur, weil sie einen weiblichen Körper haben, der gegen ihren Willen entkleidet, begrapscht und penetriert werden kann?
Was macht es mit Frauen, wenn Gleichberechtigung ausgerufen wird, während Sexismus, Frauenfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt gegen Frauen nach wie vor an der Tagesordnung sind und Begriffe wie »Emanze« und »Feministin« als Schimpfwort und Beleidigung gelten?
Woran liegt es, dass viele Frauen sich so bereitwillig gängigen Normen unterwerfen, ohne sie zu hinterfragen? Hat weibliche Sexualität sich etwa nicht emanzipiert, sondern lediglich maskulinisiert?
Ohne Zweifel hat die sexuelle Selbstbestimmung der Frau einen weiten Weg zurückgelegt, aber wo genau stehen wir heute?
Auf diese Fragen habe ich versucht Antworten zu finden – in Gesprächen mit jungen Frauen des 21. Jahrhunderts, in der sexualwissenschaftlichen Forschung und mithilfe einer psycho-historischen Analyse der weiblichen Sexualität. Denn um die Frau und ihre Sexualität in der Gegenwart verstehen zu können, müssen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen. Sexualität – die vermeintlich natürlichste Sache der Welt – hat sich historisch entwickelt: Sexualität ist nicht nur Biologie, Lust und/oder Liebe, sondern immer auch Ausdruck der jeweiligen Gesellschaft. Schon immer war Sexualität mehr als nur Sex – es geht um Rollenzuschreibungen, Regeln und Rechte. Es geht um Verschmelzung und Abgrenzung. Es geht um Lust und Liebe und viel zu oft um Gewalt. Es geht um Macht und Ohnmacht: um männliche Herrschaft und weibliche Beherrschung.
Aufgrund des Mann-Frau-Machtgefälles zieht sich eine versteckte bis offensichtliche Doppelmoral wie ein roter Faden durch die Geschichte der Sexualität. Die Frauen, die gegen Ungerechtigkeiten aufbegehren, werden oft bekämpft – von Männern und von Frauen. Warum sind Frauen häufig so wenig solidarisch miteinander, warum unterstützen sie Verhältnisse, unter denen sie selbst leiden, oft sogar über Generationen hinweg? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir weit zurückschauen, denn der Ursprung dieser Dynamik liegt in weiter Vergangenheit, und wir spüren ihre Auswirkungen bis heute.
Sie werden auf den folgenden Seiten erfahren, was Macht mit Lust und Sex zu tun hat und wie aus männlicher Herrschaft weibliche Selbstbeherrschung wurde; warum sich um das weibliche Geschlecht bis heute Mythen ranken und immenses anatomisches Unwissen herrscht; woher Schönheitsideale und Normen stammen, die Frauen bis heute schwächen; warum Sexismus und sexuelle Gewalt nicht nur von Männern, sondern oft auch von Frauen bagatellisiert wird; wieso die Sexindustrie so erfolgreich damit ist, mittels Pornografie und Prostitution eine Parallelwelt zur Gleichberechtigung zu schaffen; und warum männliche und weibliche Sex-Fantasien in ihrer politischen Inkorrektheit gar nicht so weit voneinander entfernt sind; wie beide Geschlechter mit unterschiedlichen Mitteln versuchen, ihre Ohnmacht abzuwehren, und dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen sexueller Freiheit und sexueller Selbstbestimmung gibt.
»Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«, schrieb Simone de Beauvoir 1949.1 Wie die Frau über Jahrtausende hinweg zu der wurde, die sie heute ist, davon handelt dieses Buch: Wie das sogenannte schwache Geschlecht unterdrückt und geformt wurde, aber auch, wie Frauen bis heute dazu beitragen, dass alte Strukturen unangetastet oder sogar begeistert unter dem trügerischen Deckmantel der sexuellen Befreiung übernommen werden. Zweitausend Jahre Ungleichgewicht lassen sich nicht einfach so ausradieren. Aber es lässt sich erzählen, erinnern, herausstellen: wie das weibliche Geschlecht beherrscht wurde und wie es sich heute noch beherrscht.
»Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein.«
Altes Testament, Das erste Buch Mose, Genesis, Der Sündenfall
»Mein Körper verkrampft, sobald Sex in die Nähe kommt«, sagt Elisa, als ob Sex eine Person wäre, die ihr gefährlich werden könnte. Die 23-Jährige hat noch nie einen Orgasmus gehabt, sie hat sich noch nie ihr Geschlecht angeschaut, sie hat noch nie gewagt, sich und ihre Lust zu erkunden. An Sexualität mit einem Mann ist gar nicht zu denken, obwohl sie schon mehrfach sehr verliebt war. »Ich bin wie ein Alien. Wie soll ich denn jemals eine richtige Beziehung führen, wenn ich so verklemmt bin?«, fragt sie mich verzweifelt.
Helena ist 14, als sie auf einer Party von zwei 20-Jährigen entjungfert wird. »Ich wollte das so«, sagt sie trotzig. Ich spüre, wie ich auf die beiden jungen Männer wütend werde – Helena ist doch noch ein Kind. »Sie wussten doch nicht, wie alt ich bin«, rechtfertigt sie deren Verhalten. Sie dachten, dass dieses zarte Mädchen mit den langen Haaren und der großen Klappe bereits 17 sei. Helena ist bald ein gern gesehener Gast auf Partys. Die Mädchen mögen sie nicht, die Jungen dafür umso mehr. Sie ist in einen Jungen verliebt, mit dem sie ab und zu schläft, aber er wird es nie erfahren, und es wäre auch egal, denn Helena hat gehört, dass sie in seinen Augen eine Schlampe ist – »und das, obwohl ich Sex gar nicht so toll finde«.
Helena und Elisa haben auf den ersten Blick nichts gemeinsam, und doch verbindet sie sehr viel: Sie haben beide keinen Zugang zu ihrer eigenen Lust. Die gesellschaftlichen Normen und Spielregeln zum Thema Sex kennen beide hingegen sehr genau.
»Ich habe Lust auf Sex.« Noch vor 100 Jahren hätte eine Frau sich mit dieser Aussage in eine äußerst prekäre Lage gebracht. Vor allem, wenn sie unverheiratet war. Wenn ihre Lust nicht mit Liebe verknüpft war. Wenn Lust ein Zeichen ihrer Autonomie und nicht ihres Kinderwunsches war. Ganz allgemein gesagt, hatte die Frau ein Problem, wenn sich ihre Lust nicht an den Bedürfnissen des Mannes orientierte.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass weibliche Sexualität typischerweise gekennzeichnet war von einem Zuviel oder einem Zuwenig an Lust und seit jeher unter der Fuchtel des Mannes stand: Zu lustvolle Frauen wurden als Nymphomaninnen, zu lustlose Frauen als frigide diagnostiziert, selbst der »richtige« weibliche Orgasmus wurde von Männern definiert. Frauen, die sich (in den Augen der Männer) nicht »normal« verhielten, waren krank und behandlungsbedürftig.
Während Männer entschieden, wann, wie und mit wem sie Sex haben wollten, gaben Frauen ihre wenigen Rechte mit dem Geschlechtsverkehr an die Männer ab. Sie wurden Ehefrauen oder Prostituierte, angesehene Mitglieder der Gesellschaft oder Ausgestoßene, jedoch vereint in der Verpflichtung, dem Mann sexuell zu dienen. Die Rollen scheinen bis heute klar verteilt: Männer wollen Sex, Frauen wollen eine Beziehung, Männer sind das triebstarke Geschlecht, denken den ganzen Tag an nichts anderes, während Frauen es nur dem Mann, des Geldes oder der Fortpflanzung zuliebe tun. Aber ist es heute wirklich noch so? War es schon immer so? War es überhaupt jemals so?
»Frauen sind keine Maschinen, wo man Freundlichkeits-Münzen einwirft und Sex herauskommt.«
Sylvia Plath
»Was machen Sie beruflich?«, fragte die ältere Dame, die sich im Café gerade zu mir an den Tisch gesetzt hatte.
»Ich bin Psychologin und schreibe Sachbücher«, antwortete ich.
»Oh, wie spannend. Worüber schreiben Sie gerade?«
»Über weibliche Sexualität.«
»Worüber?«
»Über weibliche Sexualität«, wiederholte ich etwas lauter.
Sie lehnte sich zu mir: »Ich verstehe Sie nicht, könnten Sie es bitte noch einmal wiederholen?«
»Ich schreibe ein Buch über Sexualität.« Ich brüllte nun fast.
»Ach, über Sex«, brüllte sie fröhlich zurück, »den hab ich schon seit 40 Jahren nicht mehr.«
Die Dame, die sich als Hannelore vorstellte, war gerade 83 Jahre alt geworden und erzählte mir bereitwillig ein paar Dinge aus ihrem Leben: dass sie nach dem Tod ihres zweiten Mannes froh gewesen war, nie wieder Sex haben zu müssen. Dass sie immer mal überlegt hatte, ob Sexualität mit einer Frau schöner gewesen wäre, sie es aber nie ausprobiert hätte, weil sie sich nicht in eine Frau verliebt hatte. Dass Männer zu ihren Zeiten keine Ahnung gehabt hätten, was eine Frau braucht und will. Dass sie niemals auch nur einen einzigen Orgasmus gehabt hätte. Dass ihre Lust irgendwann einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht sei. Dann trank sie ihren letzten Schluck Kaffee, bedankte sich für das angenehme Gespräch und ging.
Ich blieb nachdenklich zurück. Als Frau, die in den 1930er-Jahren geboren war, hatte Hannelore einige gesellschaftliche Umbrüche und die graduelle Befreiung weiblicher Sexualität erlebt, aber ihr ganz persönliches Fazit lautete, dass Sex nichts Lustvolles, Befriedigendes hatte. Mir wurde bewusst, dass offen über Sexualität sprechen zu können noch lange nicht heißt, sie auch genießen zu können – etwas, das ich noch sehr häufig in Gesprächen mit Frauen feststellen würde. Dass Lust einfach einschläft, hatte ich schon oft von Frauen – besonders in langjährigen Beziehungen – gehört. Allerdings wurde das von den meisten weniger mit Erleichterung aufgenommen wie bei Hannelore, als vielmehr mit Bedauern, Melancholie und Sehnsucht nach dem, was da mal war. Statt »Gott sei Dank ist dieses Kapitel meines Lebens vorbei« wurde eher die Frage gestellt: »Wie kann ich meine Lust zurückbekommen?«
Natürlich gibt es für Lust kein Allgemeinrezept, und vielfach hängt sie mit der Beziehungsdynamik eines Paares zusammen, aber es lohnt sich, einmal genauer hinzuschauen: Wie ist das eigentlich mit der Lust der Frau? Wie entsteht sie und wie vergeht sie? Sind es die Hormone, die darüber entscheiden? Liegt es wie bei Hannelore am Partner, der das Begehren entweder weckt oder einschläfert? Ist weibliche Lust kompliziert und leicht zu zerstören, oder ist sie eine Naturgewalt, der man nicht aus dem Weg gehen kann?
Auf diese Fragen gab es lange Zeit keine Antworten.2 Weibliche Lust war ein Mysterium – vor allem aber ein Politikum. Denn je nach Epoche und Zeitgeist herrschte eine andere Haltung vor: Weibliche Lust musste gebändigt oder geweckt werden, sie wurde gefürchtet oder herbeigesehnt, überhöht oder übersehen. Wurde sie einst unterdrückt, wird sie heute per Pille verschrieben. Lange Zeit ging man davon aus, dass weibliche Lust weniger ausgeprägt sei als männliche. Weil man sich aber nicht ganz sicher war, verdammte man sie oder legte sie vorsichtshalber in Ketten: Man schnallte Frauen Keuschheitsgürtel um, entfernte ihnen die Klitoris und beschimpfte sie als Hure, Nymphomanin oder Schlampe. Man(n) tat eine ganze Menge, um die eigene Angst vor einer im Verborgenen lauernden mächtigen weiblichen Sexualität zu besänftigen und der Frau klarzumachen, wie sie sich zu verhalten habe: passiv, gehorsam und sexuell desinteressiert.
»Wenn man es so betrachtet, war Hannelore eine gute Frau«, sagte ich zu meiner Freundin Kirsten, der ich von dem Gespräch mit Hannelore erzählt hatte.
»Ich hätte lieber Lust und guten Sex, als das Prädikat ›gute Frau‹ verliehen zu bekommen«, fand Kirsten.
Ich stimmte ihr zu. Aber wir hatten gut reden, denn im 21. Jahrhundert machen gerade die entgegengesetzten Kriterien das erwünschte Frauenbild aus: lustvoll und sexuell aktiv. Das, was für Frauen heute normal scheint – vor- oder außerehelicher Geschlechtsverkehr, verlässliche Verhütung, mit über 30 noch kinderloser Single mit sexuellen Abenteuern zu sein, uneheliche Kinder zu haben, über Sex zu sprechen oder zu schreiben und noch tausend andere Freiheiten, über die wir nie nachdenken, weil sie für uns selbstverständlich sind –, hatte Hannelore nicht erlebt. Sie hielt es wahrscheinlich nicht einmal für möglich, dass es diese Freiheiten geben könnte.
Je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, desto eingeschränkter war das Leben der Frau – und auch ihre Sexualität. Denn mit den jeweiligen gesellschaftlichen Normen veränderte sich auch die Sicht auf die weibliche Sexualität. Und so kommt es, dass Frauen wie Hannelore – sexuell desinteressierte und anorgasmische Frauen – jahrhundertelang als tugendhaft galten, Mitte des 20. Jahrhunderts als frigide beschimpft und in den 1990er-Jahren als »funktionsgestört« und therapiebedürftig angesehen wurden. Im Umkehrschluss galten sexuell aktive, orgasmische Frauen lange als »nymphomanisch« und krank – während man sie heute als völlig normal und sogar als besonders gesund wahrnimmt.
Aber auch wenn die Gesellschaft weitestgehend vorgibt, wie normale und anormale Sexualität aussehen soll, ist das mit der Lust nicht eine völlig andere Geschichte? Wird Lust nicht unabhängig von zivilisatorischen oder kulturellen Einflüssen empfunden? Ist Lust nicht eine rein persönliche Angelegenheit, in die nichts und niemand reinpfuschen kann? Von wegen: Vor allem weibliche Lust ist extrem kontextabhängig und störanfällig.
Das wichtigste Geschlechtsorgan ist nicht etwa der Penis oder die Vagina, wie manch einer glauben könnte: Es ist das Gehirn. Bei Männern und Frauen entsteht Lust im Gehirn und wird im vegetativen Nervensystem sozusagen über eine Gas- und Bremsanlage reguliert: Unser sexuelles Gaspedal reagiert auf sexuell relevante Reize wie beispielsweise ein attraktives Gegenüber, das gut riecht und uns angenehm berührt. Wir nehmen Fahrt auf. Wir bekommen Lust. Wir möchten Sex, jetzt sofort. Dann gibt es da aber noch unsere sexuelle Bremse, und die warnt uns vor potenziellen Bedrohungen, etwa, wenn wir kein Kondom finden und auf gar keinen Fall schwanger werden oder eine eklige Geschlechtskrankheit bekommen möchten oder wenn wir nicht ganz sicher sind, ob gleich unser Mitbewohner/Vater/Ehemann/Kind ins Zimmer kommt.
Bevor man das Gehirn als wichtigstes Sexualorgan entdeckt hatte, war man lange davon ausgegangen, dass Hormone hauptverantwortlich für die menschliche Lust seien. Tatsächlich leisten Hormone einen wichtigen Beitrag, sie führen beispielsweise dazu, dass Frauen rund um den Eisprung herum mehr Lust verspüren als in anderen Phasen ihres Zyklus und dass die Lust nach einer Geburt erst einmal weniger wird. Aber jeder Wissenschaftler, jede Frau und der Großteil der Männer hat mittlerweile verstanden, dass Hormone nur ein Puzzleteil der Lustmatrix sind und dass die weibliche Libido zu einem nicht geringen Teil auch von psychologischen Faktoren bestimmt wird. Eine Frau, die ständig mit ihrem Aussehen hadert (»Ich fühle mich zu dick«, »Mein Hintern ist zu groß«, »Meine Brüste sind zu klein«), kann in ihrer Erregung stark gedämpft werden. Sie mag sich selbst nicht, und wahrscheinlich schämt sie sich, sich ihrem Partner nackt zu zeigen. Eine Frau, die von ihrem Mann den ganzen Tag nicht angeschaut, geschweige denn angesprochen wird und sich von ihm vernachlässigt fühlt, wird beim Zubettgehen nicht außer sich vor Leidenschaft über ihn herfallen. Natürlich gibt es viele individuelle Unterschiede, was Lust triggert oder bremst: Während Eifersucht für manche Frauen ein Aphrodisiakum ist, wirkt es für andere Frauen wie eine Vollbremsung auf dem Lustpedal. Eine Vielzahl von Auslösern wirken auf die Lustbremse: Stress, die Geburt eines Kindes, Krankheit. Immer wieder erlebe ich Paare, deren Sexleben eingeschlafen ist, weil die Frau einen weit zurückliegenden Schwangerschaftsabbruch oder eine Fehlgeburt nicht verarbeitet hat.
Lust ist also sowohl individuellen als auch paardynamischen Schwankungen unterworfen und – womit sich dieses Buch vor allem beschäftigen wird – den gesellschaftlichen Vorgaben von Richtig und Falsch. Denn die Gesellschaft sitzt wie ein Fahrlehrer auf dem Beifahrersitz unserer Lust und bremst vor allem Frauen oft scharf aus. Auch wenn Männer alles andere als frei von gesellschaftlichen Normen sind – lange Zeit machten sie die Normen, denen Frauen sich anzupassen hatten. Während diese Normen früher ziemlich klar waren, sind sie heute ziemlich verwirrend, aber dazu später mehr. Zurück zu Hannelore, die davon sprach, dass ihre Männer nicht wussten, wie man Frauen sexuell glücklich macht. Ein unerfahrener Liebhaber kann die Erregung genauso auf den Nullpunkt sinken lassen wie ein egoistischer, wenig einfühlsamer Sexpartner. Aber wie wäre Hannelores Sexleben wohl verlaufen, wenn sie mit dem Gefühl aufgewachsen wäre, dass eine erfüllte Sexualität für Frauen normal ist? Dass sie ihre Bedürfnisse äußern darf und sogar muss, um verstanden zu werden? Dass ein karges Sexleben nicht das vorbestimmte Schicksal einer Frau ist, sondern dass sie es selbst in die Hand nehmen und verbessern kann? Welche Auswirkungen hätte es auf ihre Lust gehabt, wenn ihr nicht eingebläut worden wäre, dass Frauen sexuell desinteressiert sein sollen?
»Schließ die Augen und denk an England«, sollen viktorianische Mütter ihren Töchtern vor der Hochzeitsnacht zugeflüstert haben. Der deutsche Psychiater Richard von Krafft-Ebing schrieb 1886 in dem damals bahnbrechenden sexualwissenschaftlichen Werk »Psychopathia sexualis«:
»Ohne Zweifel hat der Mann ein lebhafteres geschlechtliches Bedürfnis als das Weib. Folge leistend einem mächtigen Naturtrieb, begehrt er von einem gewissen Alter an ein Weib. Er liebt sinnlich, wird in seiner Wahl bestimmt durch körperliche Vorzüge. (…) Anders das Weib. Ist es geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, so müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein. Jedenfalls sind der Mann, der das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen.«
Über diese Worte kann man heute schmunzeln, aber die von Männern diktierte weibliche Sexualität war viele Jahrhunderte lang gelebte Realität, und wenn man genau hinschaut, hat sich bis heute nur wenig daran geändert. Und so ist es kein Wunder, dass sich der Mythos, »Männer haben mehr Lust als Frauen«, so hartnäckig hält – auch wenn er nur auf Legenden und traditionellen Rollenvorgaben beruht und sich wissenschaftlich nicht belegen lässt.3
Was Männer und Frauen hinsichtlich ihrer Lust tatsächlich unterscheidet, ist eine tendenziell geschlechtsabhängige Einstellung von Gas und Bremse: Männliche Gaspedale können sehr viel leichter gedrückt werden als weibliche, dafür ist die Bremse bei den meisten Frauen empfindlicher. Zusammengefasst heißt das, dass weibliche Lust weitaus kontextabhängiger und somit fragiler ist als männliche.
Ein berühmtes psychologisches Experiment aus den 1970er-Jahren verdeutlicht diesen Unterschied: Als eine Frau auf dem Campus fremde Männer ansprach, ob sie Lust hätten, Sex mit ihr zu haben, willigten viele sofort ein. Als ein Mann fremde Frauen ansprach, wollte sich keine einzige auf das Angebot einlassen. Diese ganz unterschiedlichen Reaktionen haben nichts mit einer grundsätzlich anderen Lust auf Sex zu tun, sondern mit den verschieden eingestellten Gas- und Bremspedalen. Während Männer bei dem sexuellen Abenteuer nur gewinnen konnten, hatten Frauen einiges zu verlieren: beispielsweise ihren Ruf und ihre körperliche Unversehrtheit, weil sie nicht wussten, ob sie bei dem Fremden in Sicherheit wären.
Als man das Experiment vor Kurzem in leicht veränderter Form wiederholte und Frauen fragte, ob sie mit attraktiven Hollywood-Stars ins Bett gehen würden, antworteten die meisten übrigens mit Ja. Liegt es daran, dass Frauen heute eher zu ihrer Lust stehen können, oder daran, dass Brad Pitt einfach zu attraktiv ist? In jedem Fall zeigt es, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine Menge getan hat in Sachen weiblicher Sexualität. Entgegen früheren Annahmen wissen wir heute, dass Frauen sexuell weder desinteressierter als Männer sind noch sind sie treuer oder gar biologisch auf Monogamie vorprogrammiert.4
Jüngste Forschungsergebnisse legen nahe, dass Frauen in Langzeitbeziehungen sogar schneller als Männer das sexuelle Interesse an ihrem festen Partner verlieren – ihre Lust legt sich im Schnitt nach drei bis vier Jahren. Um sie wieder zu wecken, arbeitet die Pharmaindustrie seit Jahrzehnten an einer Lustpille für die Frau. Seit 2016 ist »Pink Viagra« in den USA zugelassen, allerdings weist die kleine rosa Chemiebombe bei Weitem nicht die erwarteten Erfolge auf: Weder stürzen sich die Frauen auf sie noch wirkt sie ähnlich zuverlässig wie beim Mann. Denn die lustlose Frau hat keine Durchblutungsstörungen, sondern keinen Druck auf ihrem Gaspedal, oder sie steht durchgehend auf ihrer Bremse. Was irgendwie kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass Frauen über Jahrhunderte hinweg gezwungen waren, mit angezogener Lust-Handbremse zu leben.
Ist es nicht ein wenig absurd, über die lustlose Frau zu schreiben, während die Medien voll sind von offensiven, verführerischen Sexbomben? Ist heute nicht alles anders als damals? Sind wir heute nicht alle frei und lustvoll und wahnsinnig selbstbewusst? Nur auf den ersten Blick. Das Thema weibliche Lust und Sexualität ist voller Widersprüche. Bei meiner Recherche fühlte ich mich oft wie in einem Spiegelkabinett – wenig war so, wie es schien. Es gab Zweideutigkeiten, doppelte Böden, Zerrbilder. Studien widersprachen sich. Historische Fakten verwirrten mich. Einiges, was ich von meinen Interviewpartnerinnen erfuhr, erschütterte mich.
Bevor wir uns der Moderne zuwenden und dem, was Frauen heute über ihre Lust und ihre Sexualität erzählen, lassen Sie uns zunächst einen genaueren Blick in die Vergangenheit werfen. So unglaublich und absurd uns manches daraus erscheinen mag: Dies ist der Boden, auf dem die weibliche Sexualität gedieh oder verdarb, auf dem die Lust der Frau mal blühte, weitaus öfter jedoch brachlag oder zurückgeschnitten wurde. Dies ist die Geschichte der weiblichen Lust, die dazu führte, dass Frauen heute nicht ganz so frei sind, wie uns allen oft vorgemacht wird und wie wir es uns wünschen würden.
»Nur der Uterus macht die Frau zu dem, was sie ist.«
Johann Baptista von Helmont, flämischer Wissenschaftler und Arzt
»Die ist doch hysterisch« – jeder hat sofort ein Bild vor Augen: von einer Frau, die nervös oder wütend ist, die vielleicht schreit oder mit den Armen fuchtelt, die mit allem, was sie denkt, fühlt und an Verhalten zeigt, übertreibt. Hysterische Frauen gab es schon immer, wenngleich der Erkrankung je nach medizinischem Wissensstand und gesellschaftlichem Gusto immer andere Ursachen und Symptome zugeschrieben wurden. Die Hysterie war ein Sammelsurium von Symptomen, aus dem sich sowohl die Ärzte als auch ihre Patientinnen je nach Belieben bedienen konnten.
Was aber hat die Hysterie in einem Buch über weibliche Sexualität zu suchen? Eine ganze Menge. Denn lange Zeit bestand unter Fachleuten Einigkeit darüber, dass sie eine körperliche und vermeintlich unkontrollierbare Erscheinung (ähnlich der Epilepsie) ist und dass sie in engem Zusammenhang mit der zumeist unbefriedigten Sexualität der Frau steht. So wurde Hysterie in ihrer über 2000 Jahre währenden Geschichte mal als Witwenkrankheit der sexuell unbefriedigten Frau verstanden, mal als böses Bündnis mit dem Teufel oder als Krankheit der »übertriebenen Weiblichkeit«, bis sie Mitte des 20. Jahrhunderts endlich offiziell abgeschafft und aus medizinischen Diagnostikbüchern entfernt wurde.
Dennoch: Der Hysterie-Begriff und die damit verbundenen negativen Zuschreibungen sind immer noch quicklebendig, und am Beispiel dieser Krankheit, die von Männern erfunden und von Frauen übernommen wurde, zeigt sich in einzigartiger Weise das Machtverhältnis zwischen Mann und Frau, die gesellschaftliche Ordnung der Geschlechter, die Beherrschung weiblicher Lust – und die quälende Ohnmacht, die daraus entsteht.
Unsere Vorfahrinnen hatten einiges auszuhalten. In ihrem Leib wohnte eine Art Tier, das bei schlechter Versorgung umherwanderte und dabei unangenehme Symptome auslöste wie beispielsweise Lähmungen, Erstickungsanfälle, den Verlust der Sprache, Krämpfe, Menstruationsbeschwerden, Schmerzen, Gefühllosigkeit im Kopf und der Zunge oder Zähneknirschen, um nur ein paar der »600 Übel und unzähligen Leiden« zu nennen, wie der griechische Philosoph Demokrit es beschrieb. Der griechische Arzt Hippokrates (430– 370 v. Chr.) fasste die verschiedenen »Frauenkrankheiten« unter dem Begriff Hysterie zusammen, abgeleitet von der auslösenden Übeltäterin: der Gebärmutter (griechisch: Hystera).5
Hippokrates stellte fest, dass besonders Jungfrauen, Witwen und unfruchtbare Frauen von hysterischen Beschwerden betroffen waren. Dies war laut seinem Zeitgenossen Platon nicht verwunderlich, denn: »Die Gebärmutter ist ein Tier, das glühend nach Kindern verlangt. Bleibt dasselbe nach der Pubertät lange Zeit unfruchtbar, so erzürnt es sich, durchzieht den Körper, verstopft die Luftwege, hemmt die Atmung und drängt auf diese Weise den Körper in die größten Gefahren … und erzeugt allerlei Krankheiten.«
Vor rund 2000 Jahren und für viele Jahrhunderte danach hielt man die Gebärmutter weniger für ein Organ als für ein eigenständiges Geschöpf, das bei sexueller Abstinenz austrocknete und auf der Suche nach Flüssigkeit im Körper der Frau umherschweifte und sein Unwesen trieb: Wenn es sich in die Nähe des Herzens begab, fühlten die Frauen sich ängstlich, eingeengt und erbrachen. Verband es sich mit der Leber, verloren die Frauen ihre Stimme, knirschten mit den Zähnen und bekamen einen grauen Teint. Körperliche Krämpfe, die epileptischen Anfällen ähnelten, wurden ebenso der wandernden Gebärmutter zugeschrieben wie zeitweise Lähmungen. Erstickungsanfälle wurden damit erklärt, dass die Gebärmutter zwischen Kopf und Körper gewandert war, wo sie Atembeschwerden verursachte. Um das Tier wieder an seinen ordnungsgemäßen Platz zu verschieben, wurde der Körper der Betroffenen von Ärzten eifrig massiert, gedrückt und bandagiert.
Eine andere populäre Maßnahme war die Geruchstherapie, bei der die Ärzte die Scheide mit guten Düften beräucherten, um den Uterus »nach unten« zu locken, oder ihre Patientinnen faulige Gerüche einatmen ließen, um diesen »von oben« zu verscheuchen. Solche Räuchermethoden wurden jahrhundertelang angewendet, gemäß der Annahme: »Die Gebärmutter (meidet) aus natürlichem Instinkt und besonderer Eigenart den Gestank und (erfreut) sich an wohlriechenden Dingen.« Doch die auf den ersten Blick sanfte Heilmethode war für die Patientinnen alles andere als eine Wellness-Anwendung. Eine beispielhafte ärztliche Anweisung lautete:
»(…) der Nase der Frau die übelsten Gerüche zum Einatmen geben, Bitumen, Schwefel- und Petrolöle, Federn von Schnepfen, Männer- und Ziegenbockhaare, Nägel, tierisches Horn, Schießpulver, alte Leintücher, alles verkohlt – das ›bringt zum Senken‹ (Abstoßung nach unten). Und umgekehrt, den Gebärmutterhals mithilfe einer Feder aufsperren, um dann mit einem speziell angefertigten Gerät süßliche Ausräucherungen in der Vagina zu veranstalten (Anziehung nach unten). Zusätzlich der Patientin während der Operation recht stark in die Ohren schreien (damit sie nicht den Trick macht, in Ohnmacht zu fallen). Und man muss ihr die Härchen an den Schläfen und im Nacken ausreißen, noch eher jene der Schamteile, nicht nur, damit sie erwacht, sondern darüber hinaus, damit der Dampf, der aufsteigt und die Atemnot verursacht, durch den Schmerz, der unten verursacht wird, durch Revulsion nach unten abgeleitet und zurückgezogen wird.«
Aus heutiger Sicht erinnert die Geruchstherapie an Foltermethoden. Dabei wurde die häufig auftretende Bewusstlosigkeit der Patientinnen nicht als Folge der brutalen Behandlung verstanden, sondern als Weigerung, gesund zu werden.
Man mag es kaum glauben, aber selbst 2000 Jahre später ist der Glaube an die Uterus-Beräucherungstherapie immer noch nicht ganz ausgestorben, und Frauen unterziehen sich ihr heute ganz freiwillig – die Schauspielerin Gwyneth Paltrow hält sie sogar für ein absolutes Muss, wenn man gerade in Los Angeles ist. Dort bieten Spas Vaginal-Dampfbäder an, die mit einer Kombination aus Infrarotstrahlen und Wermutkrautdampf die Gebärmutter reinigen, die weiblichen Hormone ins Gleichgewicht bringen und Energien freisetzen sollen. Das Ganze tut zwar nicht mehr weh, ist aber aus medizinischer Sicht teurer Quatsch, der von Gynäkologen als sinnlos bis gefährlich eingeschätzt wird.