Nicht Wolf nicht Hund - Kent Nerburn - E-Book

Nicht Wolf nicht Hund E-Book

Kent Nerburn

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Beschreibung

Kent Nerburn wird eines Tages von einer jungen Frau angerufen, die ihn bittet, ihren Großvater in einem weit entfernten Reservat aufzusuchen, er sei sehr alt und wolle ihn unbedingt sehen. Nerburn erfüllt ihren Wunsch und trifft Dan, einen uralten Lakota-Indianer, der über viele Jahre hinweg Aufzeichnungen gemacht hat, aus denen – mit Nerburns Hilfe – ein Buch entstehen soll. Dan jedoch erkennt in Nerburns Text nicht mehr wieder, was er sagen will und worum es ihm eigentlich geht. Die beiden geraten fortwährend in Streit über die Unterschiede zwischen weißen Amerikanern und Native Americans – es entspinnt sich ein sehr persönlicher Austausch, unterhaltsam und voller Ironie. Was dieses Buch so besonders macht, ist seine romanhafte Erzählung einer listig arrangierten Reise, die Dan mit seinem Freund Grover, seiner steinalten Hündin und eben Kent unternimmt. Diese Reise ist die eigentliche Lektion, eine Art On the Road mit zwei Indianern und einem Weißen. Das Buch erschien 1994 in den USA und entwickelte sich zum Bestseller. 2017 wurde es in Großbritannien neu herausgebracht – mit einem Vorwort von Robert Plant, dem Sänger von «Led Zeppelin». «Nicht Wolf nicht Hund» ist ein eindringliches Werk über Gewalt, Nähe und Versöhnung zwischen unterschiedlichen Welten und Kulturen.

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KENT NERBURN

NICHT

WOLF

NICHT

HUND

Auf vergessenen Pfaden mit einem alten Indianer

Aus dem Amerikanischen von Sky Nonhoff

C.H.Beck

ZUM BUCH

Kent Nerburn wird eines Tages von einer jungen Frau angerufen, die ihn bittet, ihren Großvater in einem weit entfernten Reservat aufzusuchen, er sei sehr alt und wolle ihn unbedingt sehen. Nerburn erfüllt ihren Wunsch und trifft Dan, einen uralten Lakota-Indianer, der über viele Jahre hinweg Aufzeichnungen gemacht hat, aus denen – mit Nerburns Hilfe – ein Buch entstehen soll.

Dan jedoch erkennt in Nerburns Text nicht mehr wieder, was er sagen will und worum es ihm eigentlich geht. Die beiden geraten fortwährend in Streit über die Unterschiede zwischen weißen Amerikanern und Native Americans – es entspinnt sich ein sehr persönlicher Austausch, unterhaltsam und voller Ironie. Was dieses Buch so besonders macht, ist seine romanhafte Erzählung einer listig arrangierten Reise, die Dan mit seinem Freund Grover, seiner steinalten Hündin und eben Kent unternimmt. Diese Reise ist die eigentliche Lektion, eine Art On the Road mit zwei Indianern und einem Weißen. Das Buch erschien 1994 in den USA und entwickelte sich zum Bestseller. 2017 wurde es in Großbritannien neu herausgebracht – mit einem Vorwort von Robert Plant, dem Sänger von «Led Zeppelin». «Nicht Wolf nicht Hund» ist ein eindringliches Werk über Gewalt, Nähe und Versöhnung zwischen unterschiedlichen Welten und Kulturen.

ÜBER DEN AUTOR

Kent Nerburn ist Ethnologe und Theologe, arbeitete zunächst als Bildhauer, bevor er über die Arbeit an einem «Oral History»-Projekt in der Red Lake Ojibwe Reservation zum Schreiben kam. Inzwischen hat er sechzehn Bücher veröffentlicht, vor allem über die Kultur der Native Americans, und u.a. zweimal den Minnesota Book Award gewonnen. «Neither Wolf Nor Dog» wurde 2017 mit großem Erfolg verfilmt, für die englische Neuausgabe schrieb Robert Plant exklusiv das Vorwort. Nerburn lebt heute mit seiner Frau in der Nähe von Portland, Oregon.

ÜBER DEN ÜBERSETZER

Sky Nonhoff ist Kulturjournalist, Autor und Kolumnist beim MDR. Er hat u.a. Romane und Erzählungen von Jonathan Coe, Gay Talese und Dennis Lehane ins Deutsche übertragen. Für C.H.Beck übersetzte er u.a. Caitlin Doughtys «Fragen Sie Ihren Bestatter» (2016), Daniel Margariels «Einer von uns» (2017) und Souad Mekhennets «Nur wenn du allein kommst» (42017).

INHALT

UND DOCH VON DIESER WELT – EIN VORWORT VON ROBERT PLANT

EINFÜHRUNG

1: EIN ANRUF

2: RAUCHZEICHEN

3: HEILIGER BODEN

4: EIN DURCHTRIEBENER ALTER INDIANER

5: LAND DER TRÄUME UND TRUGBILDER

6: AUTOWRACKS UND BÜFFELKADAVER

7: COWBOYS ANFEUERN

8: KLARTEXT

9: JUMBO

10: SIND WIR NICHT ALLE EIN BISSCHEN INDIANER?

11: VOM AUSVERKAUF DER HEILIGEN DINGE

12: WILLKOMMEN IN UNSEREM LAND

13: TATANKA

14: MIT BEIDEN AUGEN SEHEN

15: KNOCHEN FÜR FATBACK

16: DER FREMDE

17: HERRSCHER UND ANFÜHRER

18: BESOFFEN VON JESUS

19: AUS DEM DUNKEL ANS LICHT

20: ENTHÜLLUNGEN

21: HALBBLUT

22: DAS LIED DER GESCHICHTE

23: DER STURM

24: PAHA SAPA

25: WOUNDED KNEE

26: DAS VERSPRECHEN

NACHWORT

FÜR DIE, DIE SCHWEIGEN

UND DOCH VON DIESER WELT

EIN VORWORT VON ROBERT PLANT

Es ist eine schmutzige, altbekannte Geschichte

Eine Geschichte gebrochener Verträge, rasanter Ausbreitung

Von Kampf und Vertreibung

Misshandlung, Verleugnung und Benachteiligung

Meilenweit entfernt von dem, was ihr aus Western kennt.

Auf meinen Reisen durch die Neue Welt und ihre Extreme

Ringe ich

Seit fast fünfzig Jahren mit denselben Fragen

Habe ich die Last der Geschichte getragen.

Auch Kent Nerburn ist viele Jahre

Dort unterwegs gewesen

An jener explosiven Grenze

Die trennt und spaltet.

Nicht Wolf nicht Hund nimmt uns mit auf eine Reise

Zeigt uns die zerstörten Überreste

Das Hin und Her zwischen unseren Kulturen

Die Nachwehen des europäischen Wütens und Schlachtens

Den Triumph der Gier, des Rattenrennens nach «mehr».

Mit Behutsamkeit und Gespür enthüllt er

Eine Welt der Wunder, verblüffender Zusammenhänge

Eine Welt, die uns die Hand reicht

Dem Untergang entkommen

Trotz Planwagen-Armeen und brutaler Unterdrückung.

Seine Figuren fordern die Fantasie heraus

Während sie uns nach und nach die Augen öffnen

Uns die Wunder der Natur offenbaren und

Unser Miteinander darin.

Kents Bücher werden mich immer begleiten

In ihnen klingt der Geist eines großen Volkes nach

Worte aus einer anderen Welt, umso wertvoller

In den Wirren dieser modernen Zeiten.

EINFÜHRUNG

«Lasst uns zusammen überlegen, was für eine Welt wir unseren Kindern hinterlassen wollen.»

Sitting Bull

Der Grundstein für dieses Buch wurde während eines Motorradtrips gelegt, mehrere Jahre, bevor ich überhaupt die Idee dazu hatte.

Ich fuhr auf einem einsamen Highway über die Hochplateaus des nördlichen Montana. Die Augustsonne brannte unerträglich heiß vom Himmel, und vor mir erstreckte sich die schier endlose Hügellandschaft. Von einer Anhöhe aus erspähte ich in der Ferne einen Verschlag mit drei Bretterwänden und Flachdach. Im ersten Moment hielt ich den Schuppen für den verlassenen Obststand eines Farmers oder vielleicht eine Krippe mit lebensgroßen Figuren, die von religiösen Fundamentalisten aufgestellt worden war. Doch als ich näher kam, erkannte ich, dass es sich tatsächlich um einen Schutzraum für eine historische Sehenswürdigkeit handelte.

Ich hielt an und marschierte über den schwelenden Asphalt zu dem Verschlag, in dem sich, wie ich nun sah, ein großer, von einem Zaun umgebener Felsbrocken befand. Eine Informationstafel erklärte, dass ich vor einem Büffelfelsen stand, wie ihn die Lakota als heilig verehren.

Der Verfasser des Texts hatte sich alle Mühe gegeben, der Tradition der Lakota den gebührenden Respekt zu erweisen. Wenn man genau hinsehe, war auf der Tafel zu lesen, könne man ohne große Mühe erkennen, wie der namenlose Künstler dem Fels einst Form und Gestalt abzutrotzen versucht hätte.

Ich wandte mich dem Felsen zu. Auch wenn ich ihn wegen des Zauns nicht aus nächster Nähe inspizieren konnte, sah ich die Spuren, die das Werkzeug des Steinmetzen hinterlassen hatte. Der Felsen sah tatsächlich aus wie ein Büffel. Es lag auf der Hand, warum die Lakota diesen Felsen verehrten und mit spiritueller Bedeutung aufgeladen hatten.

Zu einem früheren Zeitpunkt meines Lebens hätte ich diese Informationen abgespeichert und wäre meines Wegs gezogen, zufrieden, etwas Interessantes entdeckt und ein wenig mehr über indianische Kultur erfahren zu haben.

Doch inzwischen war ich ein anderer Mensch. Ich hatte mit Indianern gelebt und gearbeitet, mit ihnen gegessen, über ihre Kinder gesprochen, in eisigen Schulsporthallen mit ihnen Basketball gespielt, ihre Toten mit ihnen beerdigt. Ich hatte an ihrem Leben teilgenommen, wusste, wie sie lieben, streiten, hadern, sich gegenseitig Respekt bezeugen.

Weshalb ich in diesem stickigen Kabuff am Straßenrand noch etwas anderes sah. Ich sah ein Stück Natur, einen großen, stummen Felsen, eingepfercht wie ein Tier in einem unwürdigen Stall. Ich sah den lebendigen Glauben eines Volkes, herabgewürdigt zu einer Kuriosität am Straßenrand, an der sich eine wohlmeinende Öffentlichkeit ergötzen durfte. Kurz, ich sah mich einer der schmerzlichsten Metaphern für das Leid der amerikanischen Ureinwohner gegenüber, wie sie mir in diesem Leben wohl nicht noch einmal begegnen wird: dem Geist eines Landes, dem Geist eines Volkes, reduziert auf einen wohlfeilen Info-Text und hinter einen Zaun gesperrt.

Und ich war ganz offensichtlich nicht der Einzige, der in dieser Bretterbude am Highway mehr als eine kleine Geschichtsstunde gesehen hatte. Wohl kaum jemandem wäre es weiter aufgefallen, aber oben auf dem Fels – eine schlichte Geste wie die eines Katholiken, der vor dem Abendmahl auf die Knie geht – hatte ein anderer Besucher ein paar zerbrochene Zigaretten als Opfergabe deponiert und damit jenem Tier seine Reverenz erwiesen, das für die Lakota das Universum in all seiner Mannigfaltigkeit verkörpert. Darüber hinaus hatte er Wakan Tanka gehuldigt, dem Schöpfer, dessen Unveränderlichkeit und ewige Beständigkeit dem Glauben der Lakota nach jeden einzelnen Stein beseelt.

Für jenen anonymen Besucher war der Fels kein Artefakt, nicht einmal ein Symbol gewesen. Sondern eine lebendige, spirituelle Präsenz. Und keine Straßenbehörde, kein Kulturverein, kein noch so engagierter Anthropologe und keine noch so wortreiche Texttafel hätte dem Fels mehr Achtung erweisen können als der Tabak, den der Unbekannte hinterlassen hatte.

In jenem Moment, als ich dort auf dem verlassenen Highway in der sengenden Sonne stand, tat ich einen stillen, feierlichen Schwur. Ich würde ein für alle Mal damit aufhören, meine indianischen Brüder und Schwestern als Rollenmodelle anzusehen. Ich betrachtete es als meine Pflicht, eine Brücke zwischen zwei Welten zu bauen – der Welt, in die ich hineingeboren worden war, und der Welt eines Volkes, das ich kennen und lieben gelernt hatte.

Nicht Wolf nicht Hund ist mein Versuch, diese Pflicht zu erfüllen.

Mir ist durchaus klar, dass manche indianische Leser auf meinen Entschluss eher skeptisch reagieren werden – wohl wissend, wie viele Schriftsteller ihr Volk falsch verstanden, falsch dargestellt und skrupellos ausgebeutet haben.

Denjenigen, die so denken, kann ich nur sagen: Man messe mich an meinen Worten.

Ich bin weder ein weißer Ausbeuter, der sich indianischer Themen bedient, weil sie sich so großer Beliebtheit erfreuen, noch ein blauäugiger Möchtegern, der wundersamerweise eine Cherokee in seinem Stammbaum entdeckt hat. Ich bin nichts weiter als ein ganz normaler Mensch, der das Glück hat, den einen oder anderen Indianer zu seinen Freunden zählen zu dürfen, und dem eine Geschichte auf den Nägeln brennt – eine Geschichte, die wir aus unserem nationalen Bewusstsein getilgt haben, weil wir den Gedanken an all das Blut auf unserem Erdboden nicht ertragen können, eine umso wichtigere Geschichte, als sie uns eine neue Perspektive auf das Leben in und mit der Natur eröffnet.

Es war alles andere als einfach, diese Geschichte zu Papier zu bringen, und meinen nicht-indianischen Lesern möchte ich nicht verschweigen, dass ich gegen einige Regeln verstoßen musste, um sie so zu erzählen, wie sie erzählt werden wollte. Hätte ich eine fiktive Erzählung geschrieben, hätte dies dem Leser erlaubt, die Geschichte als Konstrukt zu begreifen und die Lehren der Indianer als Erfindungen abzutun. Hätte ich das Ganze als journalistischen Text, als Reportage angelegt, hätte die Story ihre emotionale und spirituelle Kraft verloren. Und egal wie edel meine Motive auch gewesen wären: In beiden Fällen hätte ich der indianischen Wirklichkeit meine Perspektive aufgezwungen, sie unweigerlich verzerrt und mich des «intellektuellen Kolonialismus» schuldig gemacht, wie es ein indianischer Freund von mir einmal ausgedrückt hat.

Aus diesem Grund beschloss ich, dem Rat eines Ältesten zu folgen, der zu so etwas wie meinem Mentor geworden war, während ich versucht hatte, den indianischen Kindern im Red-Lake-Reservat im Norden Minnesotas die Stammeslegenden näherzubringen. «Konzentriere dich auf die Story», hatte er gesagt. «Es sind die Geschichten, die das Herz berühren.»

Daran habe ich mich gehalten, aufgeschrieben, was ich selbst erlebt habe, meine Beobachtungsgabe ebenso eingesetzt wie die literarischen Mittel, die mir zur Verfügung standen. Indem ich die Geschichte aus meiner Perspektive erzähle, biete ich eine Identifikationsmöglichkeit, nehme ich Sie mit in die Welt der amerikanischen Ureinwohner und überlasse Sie dann jenen Menschen, deren Stimmen darauf warten, gehört zu werden.

Und so bitte ich Sie, meine verehrten Leser, dieses Buch unvoreingenommen und vorurteilslos zur Hand zu nehmen. Der Erdboden, auf dem Sie sich bewegen, seien es Großstadtstraßen, Schotterwege oder Pfade in der Natur, war einst das Land der Indianer. Und unter Ihren Füßen hallt ihr Echo wider, das man deutlich hören kann, wenn man in sich geht und seinem Herzen lauscht. In all den Mythen und falschen Vorstellungen, mit denen wir aufgewachsen sind, ist dieses Echo hingegen nicht zu finden: Der besoffene Indianer, die blutrünstige Rothaut, der edle Wilde oder die weise Erdmutter sind allesamt Produkte unserer historischen Fantasie. Wir tun den Indianern wahrlich keinen Gefallen, wenn wir sie in derartige Schubladen stecken.

Die echten Indianer lachen, weinen, machen Fehler, ehren ihren Schöpfer, werden auch mal sauer, gehen einkaufen, ziehen Kinder groß, haben dieselben Träume wie wir. Und in den echten Indianern, nicht in ihren Klischees, klingen die wahren Stimmen unseres Landes wider – eins mit der Natur wie der Büffelfelsen und durchdrungen von einer tiefen Spiritualität, die sich denen offenbart, welche Augen haben zu sehen.

Folgen Sie mir also in eine Welt, die nur wenige Nicht-Indianer je betreten haben. Begleiten Sie mich und die Menschen, die Sie auf den folgenden Seiten kennenlernen werden. Sie werden etwas lernen, so wie ich etwas gelernt habe, und daraus eine Lehre für Ihr Leben ziehen.

Letztlich müssen wir zusammenfinden, Indianer und Nicht-Indianer. Die Erde ist unsere Mutter, dieses Land unser gemeinsames Erbe. Unsere Geschichte, unsere Schicksale sind untrennbar miteinander verbunden, egal wo unsere Vorfahren das Licht der Welt erblickten und was sie einander antaten.

Nicht Wolf nicht Hund ist ein kleiner Schritt auf dem Weg zu diesem Miteinander. Es geht mir nicht darum, einen Zaun um ein Volk zu ziehen, sondern meine Brüder und Schwestern mit dem Geschenk meiner Worte zu ehren. Ich habe mein Bestes gegeben und bringe Ihnen dieses Buch als Opfergabe dar – wie die Zigaretten, die dem Büffelfelsen dargebracht worden waren.

Empfangen Sie es in diesem Geiste.

Kent NerburnPortland, OregonFrühling 2017

1

EIN ANRUF

Beim zweiten Klingeln nahm ich den Hörer ab. Ich hörte, dass die Verbindung katastrophal war, bevor überhaupt jemand etwas sagte.

«Spreche ich mit Nerburn?»

Es war eine Frau. Eine Indianerin, wie ich an ihrem Akzent und ihrer abgehackten Sprechweise erkannte.

«Ja», sagte ich.

«Wir kennen uns nicht», fuhr sie fort, ohne ihren Namen zu nennen. «Mein Großvater möchte mit Ihnen sprechen. Er hat ihre ‹Red Road›-Bücher gelesen.»

Mir wurde ein wenig mulmig zumute. Ein paar Jahre zuvor hatte ich im Red-Lake-Reservat der Chippewa mit meinen Schülern Erinnerungen ihrer Eltern und Großeltern festgehalten. Die beiden Bücher, die aus diesen Aufzeichnungen entstanden waren, To Walk the Red Road und We Choose to Remember, hatten in der indigenen Community Nordamerikas ein gewisses Aufsehen erregt. Die meisten indianischen Leser hatten den Blick in ihre Vergangenheit positiv aufgenommen, wenngleich einige fanden, ich hätte alte Wunden aufgerissen oder Familienfehden neu entfacht.

Ab und zu riefen mich Leute an, die etwas anzweifelten oder irgendetwas richtigstellen wollten, was ihr Großvater oder ihre Großmutter angeblich gesagt hatte.

«Kein Problem», sagte ich. «Dann geben Sie ihn mir doch einfach.»

«Er redet nicht gern übers Telefon», erwiderte die Frau.

An die Verschlossenheit vieler Indianer gegenüber Weißen hatte ich mich schon lange gewöhnt; ebenso war mir bekannt, dass einige der konservativen Ältesten das Telefon ablehnten, so wie sie auch keine Fotos von sich machen ließen.

«Ist er wegen irgendwas sauer?», fragte ich.

«Er will nur mit Ihnen sprechen.»

Meine Nervosität wuchs. «Wo wohnt er denn?»

Sie nannte mir ein ziemlich weit entferntes Reservat.

«Und was will er von mir?»

«Er hat gefragt, ob Sie bei ihm vorbeischauen könnten.»

Die Frage traf mich wahrlich unvorbereitet – nicht nur, weil mich ein völlig Fremder sprechen wollte, sondern obendrein jemand, der so weit weg lebte.

«Ich wüsste schon ganz gern, ob er sauer auf mich ist», sagte ich.

«Ist er nicht.» Ihre Stimme verriet keine Regung. «Er hat bloß Ihre Bücher gelesen und möchte mit Ihnen reden.»

Ich rieb mir die Augen und überlegte. Als das Zeitzeugen-Projekt beendet gewesen war, hatte ich mir insgeheim geschworen, meine Kenntnisse und Fertigkeiten auch künftig zum Wohl der Indianer einzusetzen. Ich hatte mich bei ihnen ausgesprochen wohlgefühlt, nie zuvor derart humorvolle, friedfertige und unkomplizierte Menschen kennengelernt, die so gar nichts mit dem Klischee vom betrunkenen oder weisen Indianer zu schaffen hatten. Tatsächlich standen sie mit beiden Beinen auf der Erde. Sie waren anders als Weiße und Schwarze, entsprachen in keiner Weise den Vorstellungen, mit denen ich aufgewachsen war. Ich war glücklich in ihrer Gesellschaft, ja, ich fühlte mich sogar geehrt.

Manchmal ließ ich in Red Lake den Blick über die weite Landschaft schweifen und dachte bei mir: «Dieses Land hat den Vereinigten Staaten nie gehört. Dieses Land ist von der europäischen Zivilisation unberührt geblieben.» Es war, als stünde ich in direkter Verbindung mit etwas Elementarem, einer verborgenen, unvorstellbar machtvollen Strömung der Geschichte. Auch wenn ich ein Weißer war und nur allzu genau wusste, wie sich die wohlmeinenden Absichten der Weißen auf das sogenannte Wohl der Indianer auswirkten, wollte ich helfen, das Gute ihrer Welt zu bewahren.

Und nun hatte mich eine Stimme gerufen, die mich bat, in diese Welt zurückzukehren und mir anzuhören, was ein alter Mann mir sagen wollte.

«Gut, ich mach's.» Halb hasste ich mich für mein Zögern, halb dafür, dass ich überhaupt zustimmte. «Aber ich kann nicht sofort. Es wird ein bisschen dauern.»

«Er ist schon ziemlich alt», sagte sie.

«So bald wie möglich», gab ich zurück.

«Fragen Sie im Laden nach, wenn Sie in der Stadt sind. Er verlässt sein Haus kaum noch. Wie gesagt, er möchte unbedingt mit Ihnen reden.» Sie nannte mir seinen Namen und legte auf.

Und damit begann diese Geschichte.

***

Mehrere Monate vergingen, bis ich mich auf den Weg machen konnte, der über die trostlosen Nordebenen Amerikas führte. Weißstämmige Kiefern wichen weiten Feldern. Morgennebel wallte über endloser Prärielandschaft. In der Ferne angekündigt von hoch aufragenden Getreidesilos oder Kirchtürmen, huschten kleine Orte rechts und links des Highways vorbei, Orte, die niemand bemerkte, niemand besuchte, niemand aus ihrem Dornröschenschlaf aufstörte.

Der Radioempfang war miserabel; Fetzen von Rock oder Klassik drangen aus den Lautsprechern, bevor sie wieder von statischem Rauschen verschluckt wurden. Ich schaltete von Kurz- auf Mittelwelle. Ernteberichte, Baumarkt-Reklame, Werbespots für Rechen, Dünger- und Futtermittel.

Ich warf einen Blick auf die Karte, checkte, wie weit ich gekommen war. Die Reservate waren farblich abgesetzt und mit gepunkteten Linien umrandet. Ich versuchte mir ein Amerika aus der Perspektive dieser Inseln vorzustellen, winziger Eilande in einer bedrohlichen See sich ausbreitender Farmlandschaften und Ballungszentren. Ich dachte daran, wie mich stets ein leises Unbehagen überkam, wie ich mich fremd, unerwünscht, ja eingeschüchtert fühlte, wenn ich die Grenze eines Reservats überquerte. Wie also fühlten sich wohl die Indianer selbst, wenn sie durchs Land reisten, dieselbe Fremdheit, dieselbe Bedrohlichkeit empfanden, bis sie den sicheren Hafen eines der kleinen, weit voneinander entfernten Quadrate auf der Karte erreichten?

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kam ich in dem Reservat an, wo der alte Mann lebte. Als ich mich in dem Laden nach ihm erkundigte, musterte mich die stämmige Indianerin hinter dem Verkaufstresen misstrauisch. Drei junge Kerle, die vor dem Videoregal standen, hörten auf zu reden und beäugten mich schweigend.

Sie deutete Richtung Westen. «Er wohnt ungefähr drei Meilen von hier. Ist aber nicht leicht zu finden.»

Ich würde mich schon zurechtfinden, sagte ich.

Sie skizzierte eine rudimentäre Wegbeschreibung auf eine Serviette, Wege, Abzweigungen, Orientierungspunkte wie Creeks und umgestürzte Bäume. Ich bedankte mich bei ihr, kaufte ein Päckchen Prince-Albert-Tabak und machte mich auf den Weg.

Ihre improvisierte Karte war besser als erwartet. Kurz darauf holperte ich über einen von Schlaglöchern übersäten Pfad; das Licht der Scheinwerfer, vage Kreise im Dunkel, fiel auf Unkraut und anderes Gestrüpp. Die Augen kleiner Tiere leuchteten für einen Moment am Wegesrand auf und verschwanden im Unterholz.

Es ging um eine scharfe Kurve, dann mündete die Straße in eine Lichtung. Mein Scheinwerferlicht fiel auf ein kleines, mit Holzschindeln verkleidetes Haus, vor dem zwei Autos standen. Eines davon war auf Ziegeln aufgebockt. Drei Holzstufen führten zur Haustür, vor der ein sichtlich betagter Hund lag. Als ich ausstieg, kam er bellend und schwanzwedelnd auf mich zu.

Die Haustür wurde geöffnet. Eine dunkle Silhouette zeichnete sich vor dem Licht ab, das durch die Tür fiel.

«Guten Abend», sagte ich. «Kent Nerburn, mein Name.»

«Kommen Sie rein», sagte er, als hätte er mich erwartet. Seine Stimme klang alt, aber herzlich. Mit einem Mal entspannte ich mich ein wenig. In seinem Tonfall schwangen indianischer Humor und Würde mit, nachgerade ein klanggewordenes Augenzwinkern.

Der Hund bellte weiter. «Schluss jetzt, Fatback», schnauzte der Alte. Der Hund hielt inne und verkroch sich unter dem aufgebockten Wagen. «Verdammter Köter. Ist eines Tages aufgetaucht, und jetzt glaubt er, er hätte hier das Sagen.» Der alte Mann wandte sich um und schlurfte ins Haus zurück – so langsam und bedächtig, dass sich seine Füße kaum zu heben schienen.

Ich erklomm die Stufen und folgte ihm, ein bisschen verwirrt über die beiläufige Art und Weise, mit der er meine Ankunft quittiert hatte.

Das Haus war voller Männergerüche – Bratfett, Zigarettenrauch, alter Kaffee.

In der Spüle stapelte sich Geschirr. Eine Wand war mit Fotografien gepflastert – darunter das sepiafarbene Bild eines jungen Mannes und einer Frau vor einem alten Automobil, ein kleines Mädchen, das in einem Kaufhaus in einem Partykleid aus Taft posierte, ein College-Abschlussfoto, das einen feierlich dreinblickenden jungen Mann mit Doktorhut zeigte. Auf einem Beistelltisch stand ein gerahmtes Life-Coverfoto von John F. Kennedy.

«Nehmen Sie Platz.» Der alte Mann deutete auf einen gelben Resopal-Tisch in der Mitte der Küche. «Kaffee?»

«Gern», sagte ich. «Gut», erwiderte er, griff nach einer weiß emaillierten Kanne auf dem Herd, schenkte mir eine Tasse ein und setzte sich zu mir.

Ich schätzte ihn auf um die achtzig. Sein Gesicht war faltig und zerklüftet; sein langes Haar hatte er zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug ein kariertes Flanellhemd über einem weißen T-Shirt. Seine Hose wurde von Hosenträgern gehalten, an den Füßen trug er Pantoffeln aus Lammfell. Ein Auge war getrübt, doch meinte ich darin ein Zwinkern zu erkennen, das dem in seiner Stimme ebenbürtig war.

Ich griff in meine Tasche und reichte ihm den Prince-Albert-Tabak. In Red Lake hatte ich gelernt, dass Tabak unter Indianern als Gabe des Respekts angesehen wurde.

Der Alte warf einen Blick auf das Päckchen.

«Hmm.» Als er über den Tisch griff, sah ich, dass seine Hand von Arthrose verkrümmt war. Er nahm das Päckchen an sich und steckte es in die Brusttasche seines Hemds. «Sie haben diese ‹Red Road›-Bücher geschrieben.»

«Ich habe den Kids ein bisschen geholfen.»

Er faltete eine auf dem Tisch liegende Zeitung zusammen. Darunter kam ein Exemplar von To Walk the Red Road zum Vorschein, als hätte es ebenfalls meine Ankunft erwartet. Auf dem Umschlag hatte er sich allerlei Notizen gemacht.

«Prima Lesestoff.»

«Ich habe mein Bestes gegeben.»

Er spuckte in eine Kaffeedose, die neben seinem Stuhl stand, und musterte mich unverwandt. «Ich bin kein Freund der Weißen.»

«Das wundert mich nicht.»

«Konnten die auch keine Weißen leiden?»

«Wer?»

«Die Alten am Red Lake.»

«Manche nicht.»

Er griff nach einem Päckchen Kautabak und schob sich einen Priem hinter die Lippe.

«Und Sie?»

«Sie meinen, ob sie mich leiden konnten?»

Er schwieg.

«Ich glaub schon. Einige hielten mich für ein autoritäres Arschloch, aber was sollte ich machen?»

«Hat ja trotzdem hingehauen.» Er tippte auf das Buch. «Aber mal 'ne andere Frage. Haben Sie eine Ahnung, warum die sich überhaupt mit Ihnen abgegeben haben?»

Ich trank einen Schluck Kaffee und lächelte. «Gute Frage. Ich schätze, weil ich offen auf andere zugehe. Weil sie gemerkt haben, dass ich sie nicht verarsche. Und weil die Kids mir vertrauten.»

«Glaub ich nicht», gab er zurück. «Ich sag Ihnen, warum. Sie biedern sich nicht an. Sie versuchen nicht, den Indianer zu spielen.»

Ich nahm das Kompliment lächelnd entgegen. Er war fraglos ein Mann klarer Urteile.

«Die meisten Weißen, die bei uns in den Reservaten auftauchen, wollen selbst Indianer sein. Tragen Indianerschmuck und salbadern über den Großen Geist. Denen haben sie doch ins Gehirn geschissen.»

«Die Sorte kenne ich.»

Er betrachtete mich eingehend. «Sie tragen keinen Pferdeschwanz. Sehr schön. Auch keine Ringe mit Türkisen, oder?» Ich hielt ihm die Hände hin. «Sehr gut», bemerkte er trocken.

Er nahm seinen Faden wieder auf. «Oder sie glauben, wir bräuchten irgendwelche weißen Sozialarbeiter, die uns einen vom Pferd erzählen. Manche von ihnen kommen hierher, weil sie sonst nirgendwo einen Job an Land ziehen können. Und dann haben wir sie am Hals und werden sie nicht mehr los.»

Ich nickte.

Er beugte sich vor, als wollte er mir ein Geheimnis anvertrauen. «Sie sind keiner von denen, richtig?»

Ein verschwörerischer Tonfall schwang in seiner Stimme mit. Ich überlegte, ob die Frage ernst gemeint war oder er sich einen Witz auf meine Kosten machte.

«Ich versuche einfach, ich selbst zu sein. Aber ich mag Indianer – alles andere wäre eine Lüge.»

«Schön. Gut, dass Sie Indianer mögen. Ich mag sie nämlich auch. Und wie stehen Sie zu Weißen?»

Eine merkwürdige Frage.

«Na ja. Manchmal habe ich schon so meine Schwierigkeiten mit unserer Kultur.»

«Schön und gut. Aber was halten Sie von Weißen?»

Mir war nicht klar, worauf er hinauswollte.

«Ich habe nichts gegen sie», sagte ich. «Schließlich bin ich selbst einer.»

«Genau das meinte ich.» Er lachte leise. «Sie wären ein ziemlicher Mistkerl, würden Sie Ihre eigenen Leute hassen. Man muss seine Leute mögen, selbst wenn man verabscheut, was sie tun.» Er deutete auf meinen Kaffeebecher. «Trinken Sie.»

Ich trank einen Schluck, damit er Ruhe gab. Das Zeug schmeckte, als hätte er es aus Zweigen und Autoreifen zusammengebraut. «Nein, ich hasse Weiße nicht», sagte ich. «Manchmal schäme ich mich für uns, aber im Großen und Ganzen sind wir schon in Ordnung.»

Er hob die arthritische Hand. Er hatte genug mit mir gespielt und musterte mich schweigend.

Urplötzlich war mir meine weiße Haut bewusster denn je, ebenso wie der Umstand, dass ich vergleichsweise jung war. Ich wollte wissen, was das alles sollte, doch die harte Schule der Indianer hatte mich gelehrt, dass sie ihren eigenen Kopf hatten. Der Alte würde auf den Punkt kommen, wenn er es wollte.

Er deutete auf ein Bild an der Wand. «Das ist mein Enkel», sagte er. «Damals hat er seinen Abschluss am Haskell gemacht.»

Haskell ist ein Junior College für Indianer in Kansas. Ich kannte ein paar Absolventen, die ausgesprochen stolz darauf waren, dort studiert zu haben.

«Was macht er jetzt?»

«Er ist tot», sagte der alte Mann. «Umgekommen.»

«Hübscher Bursche.» Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte.

«Ja. Hat zu viel getrunken. Wäre jetzt ungefähr so alt wie Sie.» Er fixierte mich mit seinem Blick. «Ich möchte, dass Sie mir helfen, ein Buch zu schreiben.»

Der abrupte Themenwechsel verschlug mir die Sprache.

«Ich bin achtundsiebzig Jahre alt», fuhr er fort. «Hinter mir liegt ein hartes Leben. Ich will alles für die Nachwelt festhalten.»

«Was alles?», fragte ich.

«Was ich hier oben gespeichert habe.»

Offenbar wollte er, dass ich seine Memoiren schrieb. «Sie meinen, Ihre Erinnerungen?»

«Nein. Ich beobachte Leute. Indianer und Weiße. Ich kriege so einiges mit. Ich möchte, dass Sie mir das Ganze ins Reine schreiben.»

Er stand auf und ging in sein Schlafzimmer. Als er zurückkehrte, hielt er einen Stapel lose Blätter in Händen.

«Ich habe allerhand aufgeschrieben. Meine Enkelin meinte, ich sollte es veröffentlichen.»

Ich war perplex, aufgeregt, nervös. Ich wusste nicht, ob ich sein Manuskript wirklich sehen wollte. Möglich, dass der Alte ein Spinner war, der mit wilden religiösen Theorien hausieren gehen wollte. Dennoch bestand die kleine Chance, dass ich einem der wenigen Chronisten indianischen Lebens gegenübersaß, denen es gelang, den Atem ihrer Zeit plastisch und authentisch einzufangen.

Er reichte mir den Papierstoß. «Lesen Sie», sagte er.

Bereits nach zwei Seiten wusste ich, dass ich es mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit zu tun hatte. Der Alte war weder ein Spinner noch ein Chronist. Sondern ein Denker, der die Welt um sich herum lange und eingehend studiert hatte.

Seine Notizen waren nicht perfekt ausformuliert, nicht einmal vollständig. Vor mir lagen Seiten um Seiten unzusammenhängender Beobachtungen und langer Absätze ohne Interpunktion. Manche Gedanken hatte er auf Servietten und den Rückseiten von Briefumschlägen festgehalten.

Doch unter dem wirren Durcheinander lag eine Tiefe der Erkenntnis, so tief und klar wie ein Bergsee.

«Es wäre mir eine Ehre, Ihnen behilflich zu sein», sagte ich.

«Gut. Machen Sie was draus. Das muss richtig gut klingen.»

«Klingt es doch jetzt schon», erwiderte ich.

«Nee, nicht so, wie ich es haben will. Ich habe lange darüber nachgedacht. Es wird Zeit, dass ihr Weißen mal ein paar Dinge erfahrt. Aber was ich zu sagen habe, muss sich gut anhören, damit die Leute nicht abwinken, es wäre bloß das Geschwafel eines alten Indianers.»

Ich lachte. «Na ja, aber das sind Sie doch.»

Im selben Augenblick ging mir siedend heiß auf, dass ich einen Fehler begangen hatte. Er wandte sich ab und sprach langsam weiter, ohne mich eines Blickes zu würdigen. «Die Weißen haben immer wieder versucht, uns auf eine Stufe mit Tieren zu stellen. Sie behandeln uns wie Tiere in einem Zoo. Und wenn meine Sätze nicht so klingen, wie sich die Weißen das vorstellen, bin ich nichts weiter als ein weiteres Tier im Käfig.» Er stand auf und schlurfte zur Spüle. «Ich bin müde», sagte er, ohne sich zu mir umzudrehen. «Ich gehe jetzt schlafen.»

Meine Wangen brannten. Mir war klar, dass ich ihn verletzt hatte.

Einmal mehr hatte ich – wie so viele Weiße – einfach drauflosgeredet, statt erst mal zu überlegen. Doch hatte ich genug von seinen Notizen gesehen, um zu wissen, dass es hier um Wichtigeres als meine oder gar seine Gefühle ging.

Ich versuchte es noch einmal.

«Es tut mir leid», sagte ich. «Ich hoffe, ich habe Sie nicht beleidigt.»

«Gute Nacht.» Er ging in sein Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich.

Nichts war zu hören außer dem unregelmäßigen Summen der Neonröhre über mir. Ich saß da und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihm eine Nachricht zu hinterlassen, aber irgendwie kam mir das dann doch blöd vor. Ich stand auf, klemmte mir das abgegriffene Manuskript des Alten unter den Arm, löschte das Licht und ging.

***

In jener Nacht bekam ich kein Auge zu. Das Motelbett war durchgelegen, und die auf dem Highway vorbeidonnernden Laster ließen die Wände erzittern. Doch war es meine eigene Scham, die mich wach hielt.

Ich hatte das Manuskript des alten Mannes einfach mitgenommen. Er hatte es mir nicht überlassen; schon dass er es mir überhaupt gezeigt hatte, kam einem Geschenk gleich. Ich war ein Dieb, hatte das Vertrauen eines Indianers zu meinem Vorteil missbraucht. Ich fühlte mich wie der schäbigste weiße Dreckskerl aller Zeiten.

Aber hinter meiner Aktion steckte mehr. Ich wollte dem Alten beweisen, dass er mir vertrauen konnte, und das ging nur, indem ich mir sein Vertrauen verdiente.

Die ganze Nacht brütete ich über seinen Notizen. Ich stellte Passagen um und korrigierte seine Grammatik, versuchte Leitmotive herauszuarbeiten und Themen zu verknüpfen. Dann machte ich mich ans Schreiben, versuchte die Stimme des alten Mannes nachzuempfinden. Um halb fünf Uhr morgens hatte ich ein Kapitel fertig, das den richtigen Sound zu haben schien. Ich schrieb es handschriftlich ins Reine und schlief ein, während die Morgensonne die Säume der Vorhänge zu färben begann.

Um halb acht wachte ich auf. Die Vorstellung, dass der Alte womöglich bereits entdeckt hatte, dass sein Manuskript verschwunden war, gefiel mir ganz und gar nicht. Ich zog mich an und fuhr zu ihm, verzichtete sogar darauf, unterwegs etwas zu frühstücken.

Vor dem Haus stand ein weiteres Auto.

Ich wartete bei meinem Wagen, bis jemand an die Tür kam. Es war eine junge Frau – die Enkelin des Alten. Sie winkte mich herein.

Der alte Mann saß am Küchentisch vor einem Teller mit Haferbrei und Speck. Ich legte die zerfledderten Seiten vor ihn hin. Er würdigte mich keines Blickes.

«Ich habe ein Probekapitel geschrieben», sagte ich zu der Frau. «Ich hoffe, es entspricht seinen Vorstellungen.» Fast verzweifelt wartete ich auf eine Reaktion, während ich mich mit jeder Faser meines Körpers danach sehnte, mich zu erklären, zu rechtfertigen. Doch war mir bewusst, dass ich mich zurückhalten musste.

«Lies es mir vor, Wenonah», sagte der Alte.

Schweigend hörte ich zu, während sie meine Worte mit leiser, melodiöser Stimme vorlas. Plötzlich hasste ich mein eigenes Geschreibsel – wie geschraubt klang das denn?

Als sie fertig war, pochte der Alte mit seinen verkrümmten Fingern auf den Tisch. «Kaffee?»

Um ein Haar hätte ich breit gegrinst. Ich wusste, dass ich eine Art Test bestanden hatte, aber nicht, wie oder warum.

Sie schenkte mir einen Becher aus der großen Emaillekanne ein.

«Genau das wollte ich von Ihnen», sagte der Alte. «So soll es klingen. Als hätte ich am Haskell studiert.»

2

RAUCHZEICHEN

Erst einige Monate später fand ich die Zeit, wieder zum Reservat des alten Mannes hinauszufahren. Ich war mit einem Stapel zerfledderter Heftseiten und mehreren Schuhkartons voller Notizen nach Hause zurückgekehrt; selbst auf Servietten und Kassenbons hatte er seine Gedanken festgehalten. Einer der Kartons enthielt ein Sammelsurium von Zeitungsausschnitten, die der Alte im Lauf der Jahre gesammelt hatte – Todesanzeigen von Freunden, Artikel über Politik und indianische Angelegenheiten, Kolumnen von einer Kummerkastentante, sogar die eine oder andere Werbeanzeige. Es war mir nicht gelungen, ein System dahinter zu entdecken; warum er all den Kram in einem Schuhkarton gesammelt hatte, war mir ebenso schleierhaft wie der Umstand, dass er mir das Konvolut mitgegeben hatte.

Aber ich hatte keine Fragen gestellt.

In den vergangenen Monaten hatte ich Stunden um Stunden damit verbracht, den Papierwust zu sortieren und nach Themen zu ordnen. Als ich nun den Pfad zu seinem Haus hinauffuhr, war ich gespannt, aber auch leicht beklommen. Ich hatte ein paar ganz ordentliche Kapitel zustande gebracht, die mir aber nach wie vor irgendwie künstlich und unbefriedigend vorkamen, da ich das Gefühl nicht loswurde, dass meine Stimme die seine überlagerte. Nun ja, mal sehen, wie er reagieren würde.

Fatback lag auf seinem Stammplatz vor der Haustür. Er bellte einmal und verzog sich dann in die Kuhle, die er sich unter der Schrottkarre gegraben hatte. Aus dem Haus drang Gelächter an meine Ohren.

Kurz darauf erschien der Alte an der Tür und winkte mich herein. «Lange nicht gesehen», war alles, was er sagte. Er machte so wenig Aufhebens um mein Erscheinen, als wäre ich bloß eine Viertelstunde fort gewesen.

Am Küchentisch saßen drei Männer und spielten Karten. Alle waren nicht mehr ganz taufrisch, aber keiner so alt wie der Alte selbst. Zigarettenrauch waberte durch den Raum. In der Ecke plärrte der Fernseher.

Einer der Männer sah auf und sagte: «Wer ist das denn? Grizzly Adams?» Die Worte waren durchaus nett gemeint und an den Alten gerichtet, als wäre er dafür verantwortlich, meine Anwesenheit zu erklären, nicht ich. Die anderen Männer lachten, nickten und widmeten sich wieder ihren Karten. Davon abgesehen schenkte mir keiner von ihnen auch nur die geringste Beachtung. Der Alte stellte mich weder vor, noch bot er mir einen Platz an.

Einer der Männer warf drei Karten auf den Tisch. «Leck mich am Arsch», sagte einer der anderen, und dann brachen alle in Gelächter aus. Ich hatte wieder ein Päckchen Prince Albert für den Alten mitgebracht, aber das war sicher nicht der richtige Moment, es ihm zu überreichen. Meine Computerausdrucke in Händen, stand ich stumm da und lauschte dem Summen der Neonröhre über mir.

«Spielt der Wasichu Karten?», fragte einer der Männer den Alten. Das Wort kannte ich – Lakota für «Weißer».

«Keine Ahnung», erwiderte er. Er richtete die Glut seiner Zigarette auf mich. «He, Nerburn. Spielen Sie Karten?»

«Nein», sagte ich. «Hab ich nie richtig gelernt.»

Einer der Männer gab ein Grunzen von sich. Ich spielte keine Rolle mehr. Er teilte die Karten neu aus, während ich in der Tür stand wie bestellt und nicht abgeholt.

Plötzlich, als hätte er schon die ganze Zeit darauf gewartet, sagte der Alte: «Na, dann lesen Sie doch mal vor.» Die anderen unterhielten sich weiter und rauchten.

«Jetzt?»

«Ja. Morgen liege ich vielleicht schon unter der Erde.»

Die anderen lachten. Am liebsten wäre ich sofort wieder gegangen.

Ich trat zwei Schritte vor und blätterte in den ordentlich mit Heftklammern versehenen Kapiteln, versuchte eins zu finden, das ich für halbwegs gelungen hielt.

«Lesen Sie einfach», sagte der Alte. «Irgendwas.»

Ich nahm das zuoberst liegende – eins der schönsten, wie ich fand. Der Text hatte mich von Anfang an beeindruckt. Im Gegensatz zu den anderen Kapiteln war dieses fein säuberlich mit Kugelschreiber ins Reine geschrieben worden und hatte in einem separaten Umschlag gesteckt; ich war mir nicht mal sicher, ob er es allein geschrieben hatte.

Ich hatte die Grammatik auf Vordermann gebracht und das eine oder andere Wort ersetzt, an seinem Ton, seinem Rhythmus, seinen Gedanken aber nichts geändert.

Ich räusperte mich wie ein Schuljunge und begann:

«Hallo, meine Freunde.

Ich habe beschlossen, zu euch zu sprechen. Seit vielen Jahren schon trage ich mich mit diesem Gedanken.

Ich habe mich stets bemüht, dem Beispiel meiner Vorväter zu folgen. In meinen Ohren klingen die Worte Sitting Bulls noch nach, dass man den Weißen nicht trauen kann. Doch ebenso erinnere ich mich der Worte von Black Kettle, unsere Hand zum Frieden auszustrecken.

Ich trage beider Worte in meinem Herzen.

Und nun, da ich alt bin, will ich zu euch sprechen.

Viele von uns würden mich lieber schweigen sehen. Sie glauben, dass wir uns weiter vor den Weißen verstecken sollten. Sie sagen, dass wir es noch jedes Mal bitter büßen mussten, wenn wir ihnen die Hand gereicht haben.

Aber es gibt keinen Ort mehr, an dem wir uns verstecken könnten. Die Weißen kontrollieren die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken. Sie gehören zu uns, im Guten wie im Bösen. Unsere Zahl ist gering, doch unsere Herzen sind stark. Wir müssen zusammenkommen, Rote und Weiße, ein letztes Mal, bevor es zu spät ist. Vielleicht wird unseren starken Herzen diesmal Gehör geschenkt werden. Und wenn nicht, so sei es drum. Dann ist unsere Zeit ohnehin abgelaufen.

Doch dieser Gedanke widerstrebt mir. Der Schöpfer hat unser Volk nicht geschaffen, um es zu vernichten und der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Wir sind Teil des großen Kreislaufs der Schöpfung. Die Stimme unseres Volkes muss Gehör finden.

Wenn ich schweige, fehlt uns eine Stimme. Und deshalb habe ich beschlossen, sie zu erheben.

Vergebt mir, wenn meine Worte zuweilen allzu zornig klingen sollten. Ja, ich bin voller Zorn. Niemand kann frei von Zorn sein, der das Leid unserer Kinder, die Tränen unserer Großmütter gesehen hat. Doch in meinem Herzen sehne ich mich danach zu vergeben, weil die Erde unsere Lehrmeisterin ist und uns gebietet zu vergeben.

Wenn die Berge vergeben können, dass die Weißen Stollen und Tunnel durch sie hindurchgetrieben haben, und in der Lage sind, ihre Narben mit frischem Sommergras zu bedecken, sollte es dann nicht auch uns gelingen, unsere Narben mit dem frischen Gras von Güte und Verständnis vergessen zu machen?

Wenn der Wald den Mord an all seinen Kindern überleben und trotzdem in all seiner Schönheit wiederauferstehen kann, sollte es dann nicht auch mir möglich sein, den Mord an meinem Volk zu überwinden und mein Herz wieder der Sonne zuzuwenden?

Es ist nicht leicht für einen Menschen, die Großmut eines Bergs oder eines Waldes zu erlangen. Deshalb hat sie uns der Schöpfer als Lehrmeister zur Seite gestellt. Und nun, da ich ein alter Mann bin, strebe ich erneut nach ihrer Weisheit, statt die Wege der Menschen verstehen zu wollen.

Sie mahnen mich zur Geduld, sagen mir, dass ich am Bestehenden nichts ändern, nur auf die Zukunft hoffen kann. Lass Gras über deine Narben wachsen, sagen sie, lass Blumen auf deinen Wunden blühen.

Sollte ich zu viel geredet oder Falsches gesagt haben, mögen andere sprechen und die rechten Worte finden. Sollte ich aber wahr gesprochen haben, mögen andere meine Worte hören und beherzigen.

Ich bin nur ein Mensch. Ich war nicht dazu auserkoren, an der Spitze meines Volkes zu stehen, und ich wurde nicht dazu erzogen, für andere zu sprechen. Ich sage diese Dinge, weil ich glaube, dass sie gesagt werden müssen. Es mögen andere kommen, die bessere Worte finden. Dann werde ich beiseitetreten.

Aber nun, alt geworden, kann ich nicht mehr warten. Und daher habe ich beschlossen, das Wort zu erheben.

Ich werde nicht länger schweigen.»

Als ich fertig war, sah einer der anderen den Alten an. «Hast du das geschrieben, Dan?»

Der Alte zeigte keine Regung. «War doch okay», sagte er.

«Ist ja ein Ding», sagte der mit den Karten. «Was, zum Teufel, hast du vor?»

«Ach, ich habe bloß ein paar Sachen notiert.»

«Jesus Christus! Du schreibst ein Buch?»

«Verdammt gut, wenn ihr mich fragt», sagte der, der als Erster das Wort ergriffen hatte.

Der dritte Mann hatte bis jetzt geschwiegen. «Also, ich weiß nicht», sagte er jetzt. Wie auf ein unhörbares Stichwort erhob er sich, um zu gehen. Die beiden anderen standen ebenfalls auf.

«Vergiss nicht die Karte in deinem Ärmel», sagte der Alte. Die anderen lachten, und ein paar Sekunden später fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.

«Habe ich irgendwas falsch gemacht?», fragte ich.

Der alte Mann nahm sich eine Zigarette. «Nö. Sie wollten einfach nach Hause. Lassen Sie mich das noch mal hören.»

Ich las ihm das Kapitel noch einmal vor. Die Worte klangen seltsam und geschraubt in der von Zigarettenqualm erfüllten Küche. Der Alte sah meine Verwirrung.

«Ihr Weißen kapiert das nicht», sagte er. «Kommen Sie morgen früh wieder, dann zeige ich Ihnen was.» Er spuckte in die Kaffeedose neben seinem Stuhl. «Und bringen Sie mir Tabak mit.»

***

Der Morgen graute; die Luft war feucht und stickig. Moskitos summten gegen die Fliegentür, und über den Feldern vor dem Motelfenster waberte ein nebliger Dunst. Irgendwo in der Nähe befand sich ein Sattelschlepper mit laufendem Motor und brummender Kühlanlage; die schwere Dieselmaschine ließ die Motelwände erbeben.

Die seltsame Reaktion des Alten machte mich nervös. Ich hatte eine lange Autofahrt auf mich genommen, wünschte mir zumindest eine Geste, dass ich nicht umsonst hergekommen war – ein Dankeschön, einen Ausdruck der Begeisterung oder Freude, irgendetwas –, wurde aber lediglich mit Nicken und Grunzen von Leuten abgespeist, die ohne ersichtlichen Grund kamen und gingen.

Ruhe bewahren, sagte ich mir. Ich erinnerte mich an die Worte eines Stammesführers der lokalen Chippewa, den ich sehr schätzte. «Sie wollen wissen, was indianische Zeit bedeutet?», hatte er mir bei einem Seminar mit einheimischen College-Studenten geantwortet. «Der Indianer definiert Zeit so: ‹Wann und wo, bestimme ich.›»

Der Alte richtete sich nach der indianischen Zeit. Ich richtete mich immer noch nach der Uhr und meinem Kontostand.

Ich duschte rasch, zog Jeans und ein T-Shirt an. Ich war in Sandalen hierhergefahren, doch jetzt kamen sie mir fehl am Platz, ja sogar schwer daneben vor. Ich nahm meine alten Arbeitsboots aus meiner Reisetasche und zog sie über ein Paar grauer Baumwollsocken. Ich warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Mit meinen blonden Haaren und dem rapide ergrauenden Bart mochte ich für ältere Indianer tatsächlich wie Grizzly Adams aussehen. Sie hätten sich schlimmere Vergleiche ausdenken können.

Der Alte wartete schon, als ich ankam. Wieder bereitete ihm seine Enkelin das Frühstück. Ich fragte mich, ob sie das jeden Morgen machte. Sie briet Speckstreifen in einer alten Grillpfanne und goss das Speckfett dann in eine Schüssel mit Haferbrei.

«Haben Sie Hunger, Nerburn?», fragte sie, während sie das Fett mit einem großen Löffel unter den Haferbrei rührte. Ihr vertraulicher Tonfall erstaunte mich nicht weniger als das Frühstück, das sie da zusammenmengte.

«Ein paar Streifen Speck und eine Tasse Kaffee wären fabelhaft», erwiderte ich. Ich erinnerte mich an ihr Gebräu, das nicht ganz so schlimm wie das des Alten gewesen war, immerhin mehr nach Zweigen als nach Autoreifen geschmeckt hatte. Jedenfalls war ich bereit, so ziemlich alles über mich ergehen zu lassen, um nicht von dem Schierlingsbecher kosten zu müssen, der auf dem Herd köchelte.

Der Alte pochte mit einem verkrüppelten Finger auf den Tisch. «Haben Sie den Tabak mitgebracht?»

Ich nickte. «Ich hatte ihn schon gestern Abend dabei, aber …»

«Kein Ding», sagte er. Seine Enkelin beäugte uns klammheimlich, wandte aber den Blick ab, als sie merkte, dass es mir nicht entgangen war.

Kurz darauf rumpelte ein weiterer Wagen die Einfahrt hinauf, Fatback schoss aus seiner Kuhle und begann zu bellen.

«Halt's Maul», war eine Stimme von draußen zu vernehmen. Drei Autotüren knallten, und dann ertönten auch schon Schritte auf den Stufen. Die Fliegentür wurde geöffnet, und die drei Kartenspieler vom Vorabend kamen herein. Sie nickten mir zu und zogen sich Stühle heran. Einer von ihnen legte den Arm um die Enkelin des Alten. «Dich würde ich auch gern mal heißmachen», gackerte er. Wenonah versetzte ihm einen spielerischen Knuff. «Dazu hast du nicht mehr genug Feuer in der Hose, Grover», gab sie zurück. Die anderen brachen in schallendes Gelächter aus.

Grover setzte sich an den Küchentisch. Ich hatte ihm am Vorabend keine große Aufmerksamkeit geschenkt, auch wenn mir aufgefallen war, dass ihm anscheinend nicht so recht gefiel, was ich zu Papier gebracht hatte. Er war etwa Ende fünfzig und hatte die drahtige Statur eines ehemaligen Sportlers oder harten Burschen, der auf der Straße groß geworden war. Er trug Jeans, Cowboystiefel und ein blütenweißes Hemd, das so aussah, als hätte er es gerade erst aus der Reinigung geholt; die Ärmel hatte er sorgfältig so hochgekrempelt, dass das Adler-Tattoo auf seinem rechten Bizeps zu sehen war. Sein aschefarbenes Haar war militärisch kurz geschnitten. Ich war mir sicher, dass er bei der Marine gewesen war; er hatte den wiegenden Gang und die charakteristische Haltung eines Seemanns.

Wenonah brachte mir einen Teller mit Speck und eine Blechtasse mit Kaffee. «Verwöhnst den weißen Knaben ja ganz schön, Wenonah», bemerkte Grover.

«Er ist eben nicht so ein alter Ziegenbock wie du.»

Grover ahmte das Meckern eines Bocks nach und lachte herzlich.

«Ihr wollt doch bestimmt auch was zu essen», richtete sie das Wort an die anderen Männer.

«Nerburn hat euch was mitgebracht», unterbrach der Alte. Er sah mich an, wies mit einem Nicken auf meine Tasche. Hastig kramte ich den Tabak heraus.

«Hier.» Ich hielt Grover das Päckchen hin. «Mr …» Ich wusste nicht, wie ich den Alten nennen sollte. Klar, er hieß Dan, aber das kam mir um einiges zu vertraulich vor. Und so mogelte ich mich drum herum. «Er hat mich darum gebeten, ihm mit seinem Buch zu helfen. Ich empfinde das als große Ehre und möchte das Beste daraus machen. Und es wäre mir eine zusätzliche Ehre, wenn ich auch auf Ihre Hilfe zählen könnte.»

Die Männer schwiegen; keiner zeigte eine Reaktion. Kein Wort fiel, minutenlang, so schien es mir. Die Atmosphäre im Raum hatte sich komplett verändert. Schließlich griff Grover nach dem Tabakpäckchen. «Wenn Dan meine Hilfe will, kein Problem.» Die anderen nickten zustimmend. Wenonah stand stumm mit dem Rücken zu uns.

Mit ernster, gedankenverlorener Miene blickte Grover zu Boden. Dann stand er auf und ging nach draußen.

Der Alte wischte den Rest seines Haferbreis mit einem Stück labbrigen Toasts aus der Schüssel. Die beiden anderen Männer saßen auf einem zerschlissenen geblümten Sofa an der Wand. Außer mir schien das Schweigen niemanden zu stören.

Grover sagte etwas durch die Fliegentür, das ich nicht verstand. Der Alte antwortete ihm in derselben Sprache, stand auf und ging ebenfalls nach draußen. Wenonah ließ zwei Scheiben Toast auf meinen Teller fallen. «Immer runter damit», sagte sie leise.

Einer der Männer auf dem Sofa stand auf und schaltete den Fernseher an. Eine aufdringliche Stimme pries die Vorzüge eines Geschirrspülmittels. Draußen unterhielten sich Grover und der Alte auf Lakota; ihrem Tonfall war nichts zu entnehmen.

Dann hörte ich die Fliegentür hinter mir. Der Alte trat zu mir und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, mit nach draußen zu kommen.

«Grover findet es zu weiß», sagte er. «So, wie Sie es geschrieben haben.»

Ich musterte ihn erstaunt. «Es sind Ihre Worte. Ich habe sie bloß ein bisschen aufpoliert.»

Mit einer unwirschen Handbewegung forderte er mich abermals auf, ihm hinaus zu folgen.