Nichts als die Wahrheit - Georg Gänswein - E-Book

Nichts als die Wahrheit E-Book

Georg Gänswein

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Beschreibung

Kaum einer kannte den deutschen Papst so gut und keiner war in den letzten Jahren so nahe an seiner Seite: Georg Gänswein begleitete Benedikt XVI. nahezu drei Jahrzehnte bis zu dessen Tod. Gänswein kennt Joseph Ratzinger als Glaubenspräfekten in Rom, er war einer der wichtigsten Vertrauten in seiner Zeit als Papst und er weiß, was wirklich hinter dem spektakulären Amtsverzicht steckte. Darüber spricht Gänswein in diesem Buch offen und ehrlich. Genauso schreibt er über die Jahre nach dem Rücktritt und das Leben mit »zwei« Päpsten im Vatikan. Georg Gänswein schenkt Einblicke, die niemand anders so haben konnte und die den Leser teilhaben lassen an historischen Ereignissen und an ganz persönlichen Erfahrungen. Ein Buch, das die Welt des Vatikans näherbringt und noch mehr die Persönlichkeit des deutschen Papstes. Wer Benedikt XVI. wirklich begreifen will, muss dieses Buch gelesen haben.

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Georg Gänswein Saverio Gaeta

Nichts als die Wahrheit

Mein Leben mit Benedikt XVI.

Aus dem Italienischen übersetzt von Friederike Hausmann, Katja Issing, Stefanie Römer und Gabriele Stein

Titel der italienischen Originalausgabe:

Nient’altro che la verità

© 2023 Georg Gänswein and Saverio Gaeta

Published by arrangement with The Italian Literary Agency

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Cecilia Flegenheimer/Marzia Bernasconi

for © Mondadori Libri S.p.A

Umschlagmotiv: © Catholic Press

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-39603-8

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83022-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83023-5

Inhalt

Prolog

1 Der unkonventionelle »Auserwählte«

Ein ewiges Provisorium

Vertrauen in die Vorsehung

Ein »echter Prophet«

Zwei überzeugende Namen

Wachhund oder Förderer?

2 Der Philosoph und Theologe

Zwei Seelen im Gleichklang

Ein allwöchentliches Treffen

Die Herausforderungen des Präfekten

Wie ein Dirigent

Die Gewissheiten des Glaubens

3 Unter dem Fallbeil

Der »umgekehrte« Wahlkampf

Die Herausforderung von Subiaco

Ein Segen aus dem Paradies

Kurzlebige Prognosen

Der schwarze Pullover

Im Weinberg des Herrn

Der Brief von Kardinal Schönborn

Das Tagebuch und andere Polemiken

4 Die Familie (nicht nur die Päpstliche)

Die bayerischen Wurzeln

Mit der Einführung unter dem Arm

Eine unbefristete Verlängerung

Die Alltäglichkeit des Amtes

In der päpstlichen Wohnung

Mit drei Kammerdienern

Die anderen Mitglieder der Familie

5 Die Stolpersteine des Regierungsapparats

360-Grad-Entscheidungen

Ein wertschätzender Umgang

Die Wahl der »Nummer zwei«

Die Vatikanbank und das katholische Gesundheitswesen

Der unerwartete Verrat

Eine Ansammlung menschlicher Schwächen

Das Rätsel um Emanuela

6 Ein Allround-Lehramt

Ein christozentrisches Pontifikat

Das Petrusamt im Dienst des Evangeliums

Das Amt der Verkündigung

Zuerst die Liebe

Im Zeichen der Hoffnung

Nach dem Herzen Gottes

Das Priestertum ist kein »Job«

Der Dialog im Dienst des Friedens

Frei, den eigenen Glauben zu leben

Zwischen Politik und Kultur

Zitate ohne Kontext

Polemiken und Missverständnisse

Falsch verstandene Milde

7 Der historische Rücktritt, der Geschichte machte

Die Gründe für die Entscheidung

Diskret und in kleinen Schritten

Die überraschende Ankündigung

Eine Idee mit alten Wurzeln

Nicht verstandene Warnzeichen

Abschied aus dem Palast

Der letzte Vorhang

8 Die Beziehung zwischen den beiden Päpsten

Ein Telefonat mit Hindernissen

Aus der Wohnung nach Santa Marta

Die Enzyklika und das Interview

Der »Schlamassel« mit Kardinal Sarah

Benedikts Erklärungen

Der geteilte Präfekt

9 Stille Arbeit im Kloster

Der Rhythmus des Gebets

Vermeintliche Hinweise

Die Familie im Zentrum der Auseinandersetzung

Der »verpixelte« Brief

Ein unterbrochener Friedensprozess

Von jeher gegen jede Form von Missbrauch

Haltlose Vorwürfe aus München

»Prophezeiungen« für unsere Zeit

Häusliche Predigten

Ein vertrauensvolles »Adieu«

Mein geistliches Testament

Nachwort

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Prolog

Als Kardinal Joseph Ratzinger mich im Februar 2003 als seinen Privatsekretär berief und meine neue Rolle in der Kongregation für die Glaubenslehre vorstellte, wies er darauf hin, dass das für uns beide lediglich ein »Provisorium« sein werde. Als die Beteiligten sich über diese ziemlich merkwürdige Erklärung verwundert zeigten, erklärte er uns, er wolle die Verantwortung für die Kongregation möglichst bald abgeben, da er diese schwere Last bereits über zwei Jahrzehnte getragen habe. Deshalb gebrauchte er das Wort »Provisorium«, denn er würde nur noch für kurze Zeit Präfekt sein und ich in derselben Zeitspanne sein Sekretär.

In Wirklichkeit wurde aus dem, was als Provisorium angekündigt war, eine über viele Jahre andauernde Zusammenarbeit bis zum Tod Benedikts XVI. Seit dem 1. März 2003 war ich sein Privatsekretär in den zwei Jahren, die er bis zum Tod Johannes Pauls II. im April 2005 noch Präfekt des ehemaligen Heiligen Offiziums war. Auch danach blieb ich die ganzen acht Jahre seines Pontifikats bis zu seinem Rücktritt 2013 an seiner Seite und schließlich für die restlichen Jahre seines Lebens als »emeritierter Papst«.

Die Erfahrungen dieser Zeit waren eine Gnade, die mir erlaubte, das wahre Gesicht einer der bedeutendsten Gestalten der Geschichte des letzten Jahrhunderts kennenzulernen, die von Medien und Kritikern allzu oft herabgewürdigt wurde. Man bezeichnete ihn als »Panzerkardinal« oder »Rottweiler Gottes«, um seine Überzeugungen zu kritisieren, die in Wahrheit nichts anderes zum Ausdruck brachten als seine profunde Treue zur Tradition und zum Lehramt der Kirche und den Schutz des katholischen Glaubens.

Die anspruchsvolle Aufgabe an der Seite des Papstes und später als Präfekt des Päpstlichen Hauses während des Pontifikats von Papst Franziskus hat mir Gelegenheit gegeben, an allen herausragenden und geschichtsträchtigen Ereignissen der letzten zwei Jahrzehnte teilzunehmen.

Augenblicke der Freude und der Enttäuschung, der Begeisterung und der Anstrengung wechselten sich ab. Es mangelte nicht an Problemen, man denke nur an das Drama des sexuellen Missbrauchs durch den Klerus und an die schwierige Finanzlage des Vatikans. Doch es gab auch sehr schöne und wertvolle Erfahrungen, die die Lebendigkeit des Glaubens offenbarten, vor allem bei vielen Jugendlichen in der Welt, die Grund zu berechtigter Hoffnung für die Zukunft der Kirche gibt.

Diese Seiten berichten von meinen persönlichen Erfahrungen mit einem sanften Menschen, einem überragenden Wissenschaftler, einem Kardinal und Papst schließlich, der die Geschichte unserer Zeit geprägt hat und durch seine theologische Kompetenz, seine Klarheit in der Lehre und seine prophetische Weisheit in Erinnerung bleiben wird. Sie wollen aber zugleich aus erster Hand einige unverstandene Aspekte des Pontifikats erhellen und die wahre »Welt des Vatikan« aus interner Kenntnis beschreiben.

Titularerzbischof von Urbisaglia

1 Der unkonventionelle »Auserwählte«

Ein ewiges Provisorium

Die vielen Jahre der Erfahrung im Umgang mit den höchsten Ebenen der vatikanischen Hierarchie haben in mir die Überzeugung reifen lassen, dass jedes Mitglied des Kardinalskollegiums die – in irgendeinem Winkel seines Geistes und des Herzens verborgene – Vorstellung in sich trägt, Christus könne ihn eines Tages auffordern, sein Stellvertreter auf Erden zu werden.

Gleichzeitig aber wurde mir ebenso klar, dass niemand aus diesem Kreis – außer er hätte schwerwiegende psychische Probleme – tatsächlich den Ehrgeiz hat, den Stuhl Petri zu besteigen, weil jeder sich dessen bewusst ist, welchen körperlichen Einsatz und vor allem welche geistliche Verantwortung dieses Amt mit sich bringt und verlangt. Daher wird jeder Gedanke in diese Richtung verdrängt und man versucht, diese Eventualität so weit wie möglich auszuschließen.

Blitzartig kommen mir diese Überlegungen in den Sinn, wenn ich an den 14. Februar 2003 zurückdenke, als der damalige Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre mir etwas ankündigte, das mich persönlich betraf und tatsächlich damals und noch mehr später mein Leben radikal verändern sollte.

Wir befanden uns in der Pause des sogenannten »Congresso particolare«, der wöchentlichen Sitzung, die immer am Freitagmorgen stattfand, um jedem Mitglied der Kongregation die Gelegenheit zu geben, seine Vorgesetzten über den Stand der eigenen Arbeit an einem bestimmten Thema zu informieren.

Zwei Tage zuvor war die Berufung von Monsignore Josef Clemens, seit mehr als zwanzig Jahren Privatsekretär von Kardinal Ratzinger, zum Untersekretär der Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und für die Gesellschaften des apostolischen Lebens bekannt geworden. (Schon am darauffolgenden 25. November wurde er zum Sekretär des Päpstlichen Rates für die Laien ernannt und gleichzeitig zum Bischof erhoben.)

Während wir Kaffee tranken und uns in kleinen Gruppen unterhielten, bat Ratzinger um unsere Aufmerksamkeit, räusperte sich, beglückwünschte Monsignore Clemens im Namen der Anwesenden zu seiner Ernennung und dankte ihm herzlich für seine Tätigkeit für die Kongregation und für ihn persönlich.

Unmittelbar danach rief er mich mit einem freundlichen Lächeln zu sich, und wandte sich mit Verweis auf mich weiter an die Umstehenden: »Ihr alle kennt Don Giorgio (so wurde ich in der Kongregation genannt): Ich habe ihn hier an meine Seite geholt, damit ihr sehen könnt, dass wir beide hier ein ›Provisorium‹ sind.« Es erhob sich ein Raunen, weil einige wegen der deutschen Aussprache des Kardinals »professori« (Professoren) statt »provvisori« verstanden hatten und sich fragten, was das zu bedeuten habe.

Kardinal Ratzinger wurde sich des Missverständnisses bewusst und korrigierte schnell: »Nein, ich habe eigentlich ›provvisori‹ gemeint, denn Don Giorgio wird mein Privatsekretär, aber nur für kurze Zeit. Denn ihr wisst, dass ich hier seit fast 21 Jahren Präfekt bin und Johannes Paul II. schon mehrmals darum gebeten habe, mich in Pension gehen zu lassen, wie es die Regel ist, da ich schon seit Monaten das 75. Lebensjahr vollendet habe. Ich muss nur noch den Brief mit der Bestätigung des Papstes abwarten.«

»Wer’s glaubt, wird selig!«, lautete einhellig der Kommentar, den sich die Anwesenden zuflüsterten. Obwohl der Kardinal vollkommen von seiner Aussage überzeugt war, hegte niemand auch nur den geringsten Zweifel daran, dass der genannte Brief seinen Adressaten nie erreichen würde, ja dass er nicht einmal geschrieben oder abgeschickt würde.

Als der Kardinal später privat das Ausbleiben einer Antwort erwähnte, wollte ich durch eine witzige Bemerkung die Situation entschärfen und riet ihm, bei einem der gewohnten Treffen am Freitagnachmittag Johannes Paul II. scherzhaft darauf hinzuweisen, dass der Postverkehr vom Apostolischen Palast zum Heiligen Offizium nicht gut funktioniere. Er aber beschränkte sich auf sein nur angedeutetes Lächeln und schwieg dann. Ich verstand, dass er nicht weiter darauf eingehen wollte, und verbot mir künftig derartige Kommentare.

Tatsächlich war dies ein weiterer Beweis dafür, dass Kardinal Ratzinger ein bisschen »außerhalb der (kirchlichen) Welt« lebte, wie wir scherzhaft sagten, und dass er sich eindeutig in höheren Sphären bewegte als andere purpurtragende Mitbrüder. Dabei war er sich offenbar nicht bewusst, dass viele ihn als einen der ersten Papabili für das absehbare Konklave betrachteten. Oder vielleicht wollte er nur die Angst von sich fernhalten, dass die versteckten Andeutungen, die im Vatikan zirkulierten, Wirklichkeit werden könnten. … Diese Aussicht lag seinen Überlegungen und Wünschen vollkommen fern.

Er war nämlich davon überzeugt, alles so geregelt zu haben, dass das Tor für seinen Nachfolger offenstand. Neben der Beförderung von Clemens und einigen Veränderungen innerhalb der Kongregation – insbesondere der Aufnahme von Charles Scicluna als Kirchenanwalt [promotor iustitiae] – wurde am 10. Dezember 2002 die Ernennung von Tarcisio Bertone, seit 1995 Sekretär der Kongregation und wichtigster Mitarbeiter des Präfekten, zum neuen Erzbischof von Genua bekannt gegeben.

Der offizielle Amtsantritt Bertones in seiner Diözese erfolgte am 2. Februar 2003. Deshalb schrieb Kardinal Ratzinger am 16. Februar 2003 an Esther Betz, mit der er seit dem Konzil ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, als sie Rom-Korrespondentin einer deutschen Zeitung war: »Kein Wunder, dass sich die Gerüchte verdichten, auch mein Ende stehe bevor; der Papst scheint freilich vorerst noch nicht in diese Richtung zu denken. Gottlob haben wir gute neue Leute gefunden. Auf jeden Fall würde ich mich freuen, wenn auch für mich ruhigere Zeiten anbrächen.«

Monsignore Bruno Fink, Sekretär Kardinal Ratzingers während seiner Zeit als Erzbischof von München und in den ersten zwei Jahren in der Kongregation, berichtet in seinen Erinnerungen, der Kardinal habe ihm versichert, höchstens zwei Amtszeiten von fünf Jahren als Präfekt wahrnehmen zu wollen und dann in sein Haus zurückzukehren, das er in Pentling bei Regensburg hatte bauen lassen, um dort die theologischen Werke zu vollenden, die er sich vorgenommen hatte.

Am 25. November 1991, genau zehn Jahre nach seiner Ernennung, hatte der Präfekt tatsächlich versucht, Johannes Paul II. dazu zu bewegen, ihn von seiner schweren Aufgabe zu befreien, und dargelegt, dass er durch den Tod seiner Schwester Maria am 2. November deren wertvolle häusliche Hilfe verloren hatte, während er zugleich durch Probleme am linken Auge infolge einer Gehirnblutung im September dauerhaft körperlich geschwächt war. Doch der Papst ging nicht darauf ein und verlängerte die Amtszeit um weitere fünf Jahre.

Zwischen Ende 1996, als das Mandat auslief, und Anfang des folgenden Jahres, in dem er sein 70. Lebensjahr vollenden sollte, unternahm der Präfekt deshalb einen Schritt, von dem er sich mit einer gewissen Naivität mehr Erfolg versprach. Er ließ dem Papst diskret den Vorschlag zu Ohren kommen, ihn zum Archivar und Bibliothekar der Heiligen Römischen Kirche zu ernennen. In jenen Monaten stand nämlich die Ernennung des Chefs des Geheimarchivs und der apostolischen vatikanischen Bibliothek in Nachfolge des fast 80-jährigen Kardinals Luigi Poggi an.

Der Salesianer Raffaele Farina – den Benedikt XVI. 2007 zum Kardinal erheben sollte – hatte einige Wochen nach seiner Ernennung zum Präfekten der Bibliothek eine Unterredung mit Josef Ratzinger, der ihn über die Aufgaben des Kardinalbibliothekars ausfragte: Mit gespieltem Desinteresse schien er bereits die Wonnen der »Pensionierung« inmitten geschichtsträchtiger Bücher und Dokumente zu genießen. Aber auch in diesem Fall ließ Johannes Paul II. sich nicht darauf ein und zog diese Möglichkeit gar nicht in Betracht.

Mit einem gewissen Bedauern sagte Benedikt XVI. am 25. Juni 2007 bei einem Besuch der Bibliothek zu Kardinal Jean-Louis Tauran: »Ich muss gestehen, dass ich mir bei Vollendung des 70. Lebensjahres sehr gewünscht hätte, Johannes Paul II. würde mir erlauben, mich der Forschung und dem Studium der interessanten, von Ihnen sorgfältig verwahrten Dokumente und Quellen zu widmen, diesen Meisterwerken, die uns erlauben, die Geschichte der Menschheit und des Christentums zu rekonstruieren. Der Herr hat jedoch anderes für mich vorgesehen.«

Vertrauen in die Vorsehung

Johannes XXIII. hatte sich seit seiner Jugend die Maxime des heiligen Franz von Sales zu eigen gemacht: »Nichts verlangen, nichts ablehnen«. Diese Worte lassen sich ohne Schwierigkeit voll und ganz auch auf Kardinal Ratzinger anwenden, wie er selbst am 9. August 1997 in einem Brief an die befreundete Journalistin Esther Betz schrieb: »Ich habe mich einfach von der Vorsehung mitreißen lassen, die gar nicht schlecht mit mir war, auch wenn alles ganz anders gelaufen ist, als ich es mir vorgestellt hatte.« Ohne sein Wissen hatte ihn nämlich schon Paul VI. seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Auge behalten, während Ratzinger eine akademische Karriere verfolgte, immer bedeutendere Texte publizierte und der Überzeugung war, dies werde für immer seine Aufgabe bleiben. Um ihn mit Rom in Kontakt zu halten, hatte der Papst ihn 1969 neben Persönlichkeiten wie Hans Urs von Balthasar, Carlo Colombo, Yves Congar, Henri de Lubac, Jorge Medina Estévez und Karl Rahner zu einem der dreißig Mitglieder der neu geschaffenen Internationalen Theologenkommission ernannt, die mehrmals im Jahr in der Glaubenskongregation zusammentrat.

Paul VI. hielt Ratzinger nicht nur für einen bedeutenden Theologen, sondern auch für einen Hirten mit Format, weshalb er ihn 1975 als Prediger der geistlichen Exerzitien im Vatikan einlud. »Ich fühlte mich weder ausreichend sicher im Italienischen noch im Französischen, um ein solches Abenteuer vorzubereiten und zu wagen, und sagte deshalb Nein«, gestand der Kardinal später. Damals wurde an seiner Stelle deshalb der damalige Erzbischof von Bari und spätere Kardinalerzbischof von Turin, der Karmeliter Anastasio Ballestrero, beauftragt, ein Jahr später predigte Karol Wojtyła aus Krakau. 1983 griff Johannes Paul II. sozusagen wieder auf Joseph Ratzinger zurück, und diesmal nahm dieser den Auftrag an.

Als Kardinal Julius Döpfner am 24. Juli 1976 überraschend einem Herzinfarkt erlag, gab es für Paul VI. keinen Zweifel darüber, welchen der drei ihm für die Nachfolge vorgeschlagenen Kandidaten er auswählen sollte, und entschied persönlich am 25. März 1977, den 49-jährigen Joseph Ratzinger zu ernennen, der unmittelbar danach, am 28. Mai, zum Erzbischof von München und Freising geweiht wurde, gerade noch rechtzeitig, bevor er die Nachricht von seiner Erhebung zum Kardinal erhielt.

Wie sehr er sich der Bedeutung der ihm übertragenen Aufgabe bewusst war, erläuterte Ratzinger im Rahmen seiner Ordination als Erzbischof am 28. Mai 1977 im Münchner Dom: »Der Bischof handelt nicht im eigenen Namen, sondern er ist Treuhänder eines anderen, Jesu Christi und seiner Kirche. Er ist nicht ein Manager, ein Chef von eigenen Gnaden, sondern der Beauftragte des anderen, für den er einsteht. Er kann daher auch nicht beliebig seine Meinungen wechseln und einmal für dies, einmal für jenes eintreten, je nachdem, wie es günstig erscheint. Er ist nicht da, seine Privatideen auszubreiten, sondern er ist ein Gesandter, der eine Botschaft zu überbringen hat, die größer ist als er. An dieser Treue wird er gemessen, sie ist sein Auftrag.«

Beim Konsistorium vom 27. Juni 1977 wurden nur wenige Kardinäle ernannt: Neben Joseph Ratzinger waren es nur der Theologe des Päpstlichen Hauses Mario Luigi Ciappi, der Präsident der päpstlichen Kommission Justitia et PaxBernardin Gantin und der Erzbischof von Florenz Giovanni Benelli, außerdem der apostolische Administrator von Prag František Tomášek, der vom Papst bereits im Jahr davor in pectore ernannt worden war. Unter Paul VI. war ein solches Konsistorium eine Ausnahme, denn an den vorausgegangenen waren immer mehr Purpurträger ernannt worden: in den Jahren 1965 und 1967 je 27, im Jahr 1969 34, im Jahr 1973 30 und im Jahr 1976 21.

Mit seiner Entscheidung wollte der Papst unzweifelhaft möglichst rasch den ehemaligen Substitut des Staatssekretärs Giovanni Benelli, der erst am 3. Juni des Jahres zum Erzbischof von Florenz ernannt worden war, in den Kardinalstand erheben, wahrscheinlich auch um dem Druck einflussreicher Kreise der römischen Kurie entgegenzuwirken, die die einsamen Entscheidungen des Papstes missbilligten, während er eben diese nutzen wollte, um alte Machtstrukturen aufzubrechen. Josef Ratzinger wurde – vielleicht explizit auf Anregung Benellis – in den Kreis der Kardinäle aufgenommen, weil seit Beginn des 20. Jahrhunderts an der Spitze der Erzdiözese München traditionell ein Kardinal stand und weil man zu diesem Zeitpunkt die Kardinäle nicht nur aus Kurienkreisen wählen wollte.

In diesem Zusammenhang erinnerte sich der Kardinal später an die große Zuneigung, die ihm aus seiner Diözese entgegengebracht wurde: »Bei der Überreichung des Biretts in der Aula Paul VI. hatte ich den anderen neu ernannten Kardinälen gegenüber einen großen Vorteil. Keiner der anderen vier Kardinäle hatte eine große Familie dabei. Benelli hatte lange in der Kurie gearbeitet, er war in Florenz nicht sehr bekannt, und deshalb waren auch nicht viele Gläubige aus der toskanischen Hauptstadt gekommen; Tomášek – damals gab es den Eisernen Vorhang noch – konnte gar keine Begleiter mitbringen; Ciappi war ein Theologe, der sozusagen stets auf seiner Insel gearbeitet hatte; Gantin stammte aus Benin, und für Afrikaner ist es bis Rom ja nicht gerade ein Katzensprung. Für mich dagegen waren viele Menschen da: Fast alle in der Aula Versammelten waren aus München oder Bayern. Ich bekam den meisten Applaus. Die Präsenz der Gläubigen aus München war nicht zu übersehen. Und der Papst war sichtlich zufrieden, seine Wahl sozusagen bestätigt zu sehen.«

In seiner Ansprache bei dieser Gelegenheit legte Paul VI. dar, die wichtigste Gabe der Neuernannten sei »die absolute Treue, die sie in ihrem ganzen Leben gezeigt haben, besonders aber in der an gesunden Fermenten, aber auch an spalterischen Elementen reichen Phase nach dem Konzil, und ihre unermüdliche Bereitschaft, Tag für Tag der Kirche zu dienen und sich voll und ganz für Christus, die Kirche und den Papst einzusetzen, ohne Unterlass, ohne Zögern und ohne Ausnahme.« Über Ratzinger sagte er: »Seine großartige Leistung als Theologe an verschiedenen bedeutenden Universitäten Deutschlands und in zahlreichen renommierten Publikationen hat gezeigt, dass die Theologie als Wissenschaft – richtig verstanden als ›fides quaerens intellectum‹ – nie von der tiefschürfenden, freien und schöpferischen Übereinstimmung mit der kirchlichen Lehre getrennt werden kann und darf, die das Wort Gottes authentisch auslegt und verkündet.«

Auf die Erinnerungsbildchen an seine erste Messe hatte Ratzinger 26 Jahre zuvor den Vers 1,24 aus dem zweiten Brief des Apostels Paulus an die Korinther drucken lassen und sich unter die »Mitarbeiter eurer Freude« (adiutores gaudii vostri) eingereiht. Bei der Wahl des Mottos für sein Bischofswappen ging er einen Schritt weiter und wählte Vers 8 aus dem dritten Brief des Johannes: »Mitarbeiter der Wahrheit« (cooperatores veritatis). In seiner Autobiografie hat er diese Wahl folgendermaßen begründet: »Ich habe mir als bischöflichen Wahlspruch das Wort aus dem dritten Johannesbrief gewählt ›Mitarbeiter der Wahrheit‹, zum einen, weil es mir die vereinigende Klammer zwischen meiner bisherigen Aufgabe und dem neuen Auftrag zu sein schien: Bei allen Unterschieden ging und geht es doch um das Gleiche, der Wahrheit nachzugehen, ihr zu Diensten sein. Und weil in der heutigen Welt das Thema Wahrheit fast ganz verschwunden ist, weil sie als für den Menschen zu groß erscheint und doch alles verfällt, wenn es keine Wahrheit gibt, deswegen schien mir dieser Wahlspruch auch zeitgemäß im guten Sinn zu sein.«

Als auch ich im Januar 2013 für die bevorstehende Bischofsweihe das Motto meines Wappens zu wählen hatte, musste ich nicht lange nachdenken. Benedikt XVI. hatte mir gelegentlich im persönlichen Gespräch deutlich gemacht, was für ihn das Thema der Wahrheit bedeutete, nämlich die bindende Verpflichtung, in Wort und Tat als »Mitarbeiter der Wahrheit« zu wirken. Ich wählte deshalb aus dem Johannesevangelium Vers 18,37 »für die Wahrheit Zeugnis ablegen« (Testimonium perhibere veritati) und war natürlich sehr zufrieden darüber, dass der Papst selbst mich darin bestärkte und seine Zustimmung deutlich zum Ausdruck brachte.

In mein Wappen nahm ich ein Bild des Drachens auf, der vom heiligen Georg, einem Märtyrer des vierten Jahrhunderts, besiegt wurde. Nach der Legenda aurea tötete er im Namen Christi ein schreckliches Ungeheuer und bekehrte durch diese Tat das Volk, das darunter gelitten hatte, sodass dieser Kampf zum Symbol des Kampfes zwischen Gut und Böse geworden ist. Manchmal erlaubte ich mir sogar, mit dem Papst darüber einen Scherz zu machen, dass er sich mit dem vom heiligen Korbinian gezähmten Bären hatte zufriedengeben müssen, während mein Schutzpatron mit einem Drachen gekämpft und ihn besiegt hatte!

Für sein erzbischöfliches Wappen hatte Kardinal Ratzinger drei Bilder gewählt. Ein Bild stellte den gekrönten Mohren dar, der traditionell mit den Bischöfen von Freising assoziiert wird. (»Man weiß nicht recht, was er bedeutet. Für mich ist er Ausdruck der Universalität der Kirche, die keinen Unterschied der Rassen und der Klassen kennt, weil wir alle ›einer sind‹ in Christus (Gal 3,28)«, war seine Erklärung). Ein zweites Bild war die Muschel. (»Mich erinnert sie an die Legende, Augustinus, der über das Geheimnis der Trinität grübelte, habe am Strand ein Kind mit einer Muschel spielen sehen, mit der es das Wasser des Meeres in eine kleine Grube zu schöpfen versuchte. Da sei ihm gesagt worden: So wenig diese Grube die Wasser des Meeres fassen kann, so wenig kann dein Verstand das Geheimnis Gottes umgreifen.«)

Das dritte Bild im Wappen bezog sich auf den heiligen Korbinian, den Gründer und Schutzpatron der Diözese. Am 9. September 2006 erinnerte Benedikt XVI. während seiner Apostolischen Reise nach München an das Motiv für diese Wahl: »An der Legende dieses Heiligen hat mich seit meiner Kindheit die Geschichte fasziniert, wonach ein Bär sein Reittier auf seiner Reise über die Alpen zerrissen hat. Korbinian verwies es ihm streng und lud ihm zur Strafe sein Gepäck auf, das er nun bis nach Rom zu schleppen hatte.«

1977 bekannte er: »Als ich 1977 vor die schwierige Entscheidung gestellt wurde, die Ernennung zum Erzbischof von München und Freising anzunehmen oder nicht – eine Ernennung, die mich aus meiner gewohnten Tätigkeit als Universitätslehrer herausholte in neue Aufgaben und Verantwortungen –, da habe ich sehr nachgedacht, mich dann gerade an diesen Bären erinnert und an die Interpretation, die der heilige Augustinus von den Versen 22 und 23 des Psalms 72 [73] in seiner ganz ähnlichen Situation bei seiner Priester- und Bischofsweihe entwickelt und später in seinen Psalmenpredigten niedergelegt hat. […] Augustinus hat diesen Psalm mit Liebe immer wieder aufgenommen und hat in diesem Wort: ›Ich war wie ein Vieh vor dir‹ (iumentum im Lateinischen) die Bezeichnung für die Zugtiere gesehen, die damals in der Landwirtschaft in Nordafrika üblich waren, und er hat sich selbst in dieser Bezeichnung iumentum als Lasttier Gottes wiedererkannt, sich selbst darin gesehen als einen, der unter der Last seines Auftrages der sarcina episcopalis steht. […] Auf dem Hintergrund der Gedanken des Bischofs von Hippo ermutigt mich der Bär immer neu, meinen Dienst mit Freude und Zuversicht zu tun – vor dreißig Jahren wie auch nun in meiner neuen Aufgabe – und Tag für Tag mein Ja zu Gott zu sagen: Ein Lasttier bin ich für dich geworden, doch gerade so bin ich ›immer bei dir‹ (Ps. 72 [73] 23). Der Bär des heiligen Korbinian wurde in Rom freigelassen.«

Ein »echter Prophet«

Im August 1977 verbrachte der Erzbischof einige Ferienwochen im Diözesanseminar von Brixen. Der Patriarch von Venedig, Kardinal Albino Luciani, war in dieser Zeit Vorsitzender der Bischofskonferenz von Trivento (wozu auch Südtirol gehört). Als er von der Anwesenheit des jungen Mitbruders erfuhr, wollte er ihn besuchen, da er seine theologischen Schriften schätzte, insbesondere den Kommentar zur Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Lumen gentium. Sie unterhielten sich auf Italienisch, das Ratzinger während des Konzils ziemlich mühsam mithilfe von Schallplatten gelernt hatte. Später nach seiner Ankunft in Rom perfektionierte er seine Sprachkenntnis im täglichen Gebrauch.

An diesen ersten Kontakt zu dem späteren Papst Johannes Paul I. erinnerte sich Joseph Ratzinger später in einem Interview als eine Gelegenheit, »seine große Einfachheit und seine große Bildung zu bewundern; er erzählte mir, dass er diese Gegend sehr gut kannte, weil er als Kind mit seiner Mutter in den Wallfahrtsort Maria Weißenstein oder Pietra Alba gepilgert war, ein von Gläubigen aus Venetien viel besuchtes Kloster italienischsprachiger Serviten in tausend Meter Höhe.«

In einer Predigt zur Feier des heiligen Rochus am 16. August 1977 erwähnte der Patriarch Luciani diese Begegnung auch in der Öffentlichkeit: »Vor wenigen Tagen habe ich dem neuen Erzbischof von München, Kardinal Ratzinger, persönlich gratuliert: Im katholischen Deutschland, in dem man nach seinen eigenen Worten Rom und dem Papst teilweise mit Ablehnung begegnet, hat er den Mut besessen, laut zu verkünden, dass der ›Herr dort zu suchen ist, wo Petrus ist‹. Ratzinger erschien bei dieser Gelegenheit als ein echter Prophet. Nicht alle, die schreiben und reden, haben heute diesen Mut. Weil sie den anderen folgen wollen und fürchten, nicht als modern zu erscheinen, akzeptieren einige nur mit Kürzungen und Einschränkungen das Credo, das Paul VI. 1968 zum Abschluss des Glaubensjahres verkündet hat. Sie kritisieren die päpstlichen Verlautbarungen, sprechen ununterbrochen von der Gemeinschaft der Kirche, jedoch nie vom Papst als dem notwendigen Bezugspunkt für denjenigen, der zur wahren Gemeinschaft der Kirche gehören will. Andere scheinen statt Propheten eher Schmuggler zu sein; sie nutzen den Posten, den sie begleiten, um das als Kirchenlehre zu verbreiten, was in Wirklichkeit lediglich ihre persönliche Meinung oder Doktrin im Gewand von irrigen Ideologien, die vom Lehramt der Kirche verurteilt wurden.«

Das nächste persönliche Treffen fand erst während des Konklaves im Sommer 1978 nach dem Tod von Papst Paul VI. am 6. August statt. Wenn ich es recht verstanden habe, schloss sich der Münchner Kardinalerzbischof wegen seiner Wertschätzung für Patriarch Luciani denjenigen an, die diesen für würdig erachteten, zum Papst gewählt zu werden, was am 26. August nach nur vier Wahlgängen auch eintraf. Am Tag der feierlichen Einführung in das Petrusamt am 3. September wechselten die beiden einige Worte über die bevorstehende Reise des Münchner Erzbischofs nach Ecuador. Mit einer seiner ersten Amtshandlungen hatte Papst Johannes Paul I. ihn nämlich zum päpstlichen Legaten für den Mariologischen Kongress von Guayaquil ernannt, da die deutsche und die ecuadorianische Diözese seit einigen Jahren eine Partnerschaft eingegangen waren und der dortige Erzbischof Bernardino Echevarría Ruiz den Namen Ratzinger vorgeschlagen hatte.

Mit Worten, die mehr sind als bloß förmliche Floskeln, schrieb ihm der neu gewählte Papst: »Wir verspüren das Bedürfnis, in irgendeiner Weise an diesen Feierlichkeiten teilzunehmen, um ihnen Bedeutung und Glanz zu geben. Deshalb wählen wir Dich mit diesem Brief aus, beauftragen Dich und proklamieren Dich zu unserem Sondergesandten und vertrauen Dir die Aufgabe an, in unserem Namen und mit unserer Autorität die Feiern zu leiten. Du zeichnest Dich durch Deine umfassende Kenntnis der heiligen Doktrin aus und brennst, wie wir wissen, in Liebe zur Mutter von Christus, dem Erlöser, und unser aller Mutter. Ohne Zweifel wirst Du die Dir übertragene Aufgabe mit Intelligenz, Weisheit und Erfolg ausführen.«

Um seine Wertschätzung noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen, sandte er dem Kongress am 24. September eine Botschaft und forderte dazu auf, aus dem Motto »Ecuador, durch Maria zu Christus« »ein ganzes Programm für das apostolische Leben und Handeln zu machen: Maria, die Mutter Christi, Mutter der Kirche und süßeste Mutter von uns allen, möge immer Dein Vorbild, Deine Führerin und Dein Weg zu Christus, dem großen Bruder und Erlöser von allen sein.«

Kardinal Ratzinger las diese Botschaft öffentlich vor und dankte dem Papst im Namen aller Gläubigen für seine wohlwollende Nähe. Deshalb traf ihn kurz darauf die Nachricht vom plötzlichen Tod des Papstes, die ihn auf etwas merkwürdige Weise erreichte, besonders hart. »Ich schlief im Bischofshaus von Quito. Ich hatte die Tür nicht verschlossen, denn im Haus des Bischofs fühlte ich mich geborgen wie in Abrahams Schoß. Es war mitten in der Nacht, als plötzlich ein Lichtstrahl in mein Zimmer fiel und eine Person im Karmelitenhabit hereinkam. Über das Licht und diese so düster gekleidete Person, die mir wie ein Unheilsbote vorkam, hatte ich mich ein wenig erschreckt. Ich war mir nicht sicher, ob ich wach war oder träumte. Doch dann erkannte ich, dass es sich um den Weihbischof von Quito handelte. Er sagte mir, dass der Papst gestorben sei. So erfuhr ich also von diesem traurigen und vollkommen unerwarteten Ereignis.«

Bei der Pontifikalmesse für den verstorbenen Papst Johannes Paul I. in München brachte der Erzbischof schon beinahe das zum Ausdruck, was Papst Franziskus am 4. September 2022 mit dessen Seligsprechung bestätigte: »Die Zeit ist nicht mehr das Netz des Todes, sondern die ausgestreckte Hand der Barmherzigkeit Gottes, die uns hält und sucht. Und seine Heiligen sind die Lichtsäulen, die uns den Weg zeigen und des Heils gewiss werden lassen inmitten des Dunkels der Erde. Zu diesen Lichtern wird er fortan gehören. Und was nur 33 Tage gewährt hat, strahlt doch ein Licht aus, das uns nicht genommen werden kann.«

In seiner Biografie von Papst Johannes Paul II. schreibt George Weigel, der Papst habe ihm folgende Worte anvertraut: »Wir waren davon überzeugt, dass die Wahl [von Luciani] in Übereinstimmung mit Gottes Willen erfolgte, nicht einfach auf eine menschliche Art […], und wenn er einen Monat, nachdem er in Übereinstimmung mit Gottes Willen gewählt worden war, stirbt, dann hat Gott uns etwas zu sagen.« In Erinnerung an die Tage des Konklaves bekräftigte Kardinal Ratzinger seine Meinung dann noch einmal: »Die Wahl Lucianis war kein Fehler gewesen. Diese dreiunddreißig Tage Pontifikat hatten in der Kirchengeschichte durchaus ihre Bedeutung. […] dieser unerwartete Tod machte auch etwas Unerwartetes möglich. Die Wahl eines nicht-italienischen Papstes. […] Man hat auch davon gesprochen. Aber es war nicht sehr naheliegend, auch, weil da die positive Gestalt Albino Lucianis war. Danach dachte man, dass es etwas ganz Neuem bedurfte.«

Zwei überzeugende Namen

Kardinal Ratzinger brach am 19. September 1978 nach Ecuador auf und blieb dort bis zum Monatsende. In diesem Zeitraum kam unter der Leitung von Primas Stefan Wyszyński und Kardinal Karol Wojtyła eine polnische Delegation nach Deutschland, um die deutschen Mitbrüder zu besuchen. Diese Reise war das Ergebnis eines langen Prozesses, der 13 Jahre zuvor, am 18. November 1965, mit einem Brief der polnischen Bischöfe beim Zweiten Vatikanischen Konzil begonnen hatte: »Von den Bänken des Konzils, das seinem Ende entgegengeht, reichen wir euch die Hände, um euch zu vergeben und um Vergebung zu bitten.« Darauf hatten die deutschen Bischöfe am 5. Dezember geantwortet: »Auch wir bitten euch zu vergessen und zu vergeben.«

Die Kardinäle Ratzinger und Wojtyła begegneten sich demnach bei dieser Gelegenheit nicht, nachdem sie sich auch während des Konzils nie persönlich kennengelernt hatten, obwohl beide an der Formulierung einiger Dokumente beteiligt waren. Als Präfekt der Glaubenskongregation betonte Joseph Ratzinger später: »Natürlich hatte ich von seiner Tätigkeit als Philosoph und Seelsorger gehört und wünschte seit Langem, ihn kennenzulernen. Er hatte seinerseits meine ›Einführung in das Christentum‹ gelesen, die er auch als Prediger bei den geistlichen Exerzitien für Paul VI. und die Kurie in der Fastenzeit 1976 erwähnte. Deshalb war es, als sehnten wir beide innerlich ein Treffen herbei.« Die einzige Gelegenheit für eine flüchtige Begegnung bot sich im Oktober 1977, als beide an der Bischofssynode über die Katechese teilnahmen.

Nach den journalistischen Rekonstruktionen des Konklaves vom 14. bis 16. Oktober 1978 hatten anfangs der Erzbischof von Genua, Giuseppe Siri, und der von Florenz, Giovanni Benelli, gleich große Chancen und blockierten sich dadurch bei der Wahl gegenseitig. Im achten Wahlvorgang tauchte dann der Name des Erzbischofs von Krakau auf, was Kardinal Ratzinger nach seinen eigenen Worten nicht überraschte: »Meine Unterstützung hatte er. Kardinal König hatte mit mir über ihn gesprochen. Und obwohl ich Karol Wojtyła persönlich kaum kannte, war ich überzeugt, dass er der richtige Mann war.«

Johannes Paul II. machte sich sofort daran, seine Mannschaft für die Römische Kurie zusammenzustellen. Er wollte Kardinal Ratzinger möglichst schnell eine führende Rolle übertragen und bot ihm nach kaum einem Jahr das Amt des Präfekten der Bildungskongregation an, da Kardinal Gabriel-Marie Garrone bald in den Ruhestand treten würde. Der Erzbischof von München aber konnte den Papst noch davon überzeugen, dass es zu früh war: »Seit meiner Bischofsweihe in München waren erst zwei Jahre vergangen, und ich hielt es für unmöglich, so schnell den Sitz des heiligen Korbinian wieder zu verlassen. Die Bischofsweihe war ja irgendwie doch ein Treueversprechen gegenüber meiner Heimatdiözese. So habe ich damals den Papst gebeten, von dieser Ernennung abzusehen. Er hat dann Kardinal Baum von Washington in dieses Amt gerufen, aber zugleich schon angekündigt, dass er später mit einem anderen Auftrag auf mich zukommen werde.«

Im Herbst 1980 konnte Johannes Paul II. den Kardinal bei zwei verschiedenen Gelegenheiten besser kennenlernen: Vom 26. September bis zum 25. Oktober war er Generalrelator der fünften Versammlung der Bischofssynode zum Thema »Die christliche Familie« und legte für die erste Reise des Papstes nach Deutschland vom 15. bis 19. November die Entwürfe für mehrere Ansprachen und Predigten vor. Über diese Zeit erzählte mir Joseph Ratzinger folgende Anekdote: Als er einmal bemerkte, wie erschöpft der Papst war, bot er ihm ein Zimmer in der bischöflichen Residenz für einen Mittagsschlaf an, aber Karol Wojtyła antwortete lächelnd: »Das kann ich dann im Himmel tun«, und erwähnte ganz beiläufig, dass er ihn als Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre nach Rom holen wolle.

Am 6. Januar 1981 kam der Kardinal zur Bischofsweihe von Monsignore Ennio Appignanesi, dem Pfarrer von Santa Maria Consolatrice in Casal Bertone, die der Kardinal als Titelkirche innehatte (so wie alle Purpurträger eine Titelkirche bekommen, um auf diese Weise ideell zum römischen Klerus zu gehören). Johannes Paul II. wollte ihn privat empfangen und kam auf sein Angebot zurück, aber der Münchner Erzbischof hatte sich einen möglichen Fluchtweg vorbereitet und antwortete, er werde das Amt nur übernehmen, wenn er neben den offiziellen Dokumenten seines Dikasteriums weiterhin theologische Aufsätze unter seinem Namen schreiben dürfte.

Johannes Paul II. bat seine Mitarbeiter nachzufragen und erfuhr, dass auch Kardinal Garrone als Präfekt für das Katholische Bildungswesen mehrere Bücher veröffentlicht hatte. An diesem Punkt gab es für Kardinal Ratzinger kein Entrinnen mehr! Bei einer anderen Gelegenheit vertraute er mir an, dass schon die Ernennung zum Erzbischof von München-Freising seine Erwartungen bei Weitem übertroffen habe, ganz zu schweigen von der Übersiedelung nach Rom und der Tätigkeit in einer Kongregation … Dann aber sei er zu der Überzeugung gelangt, gegenüber der wiederholten Aufforderung des Papstes keinen weiteren Widerstand leisten zu dürfen, und erkannte, dass er gerade in der neuen Rolle seine persönlichen Studien und den Dienst an der Kirche umso besser würde fortsetzen können.

Dem Papst eine derartige Bedingung zu stellen, mochte vor 40 Jahren als Sünde der Hybris, des Hochmuts, erscheinen, einer Haltung, die so gar nicht zum Stil Kardinal Ratzingers passt. Tatsächlich aber betrachtete er schon damals seine wissenschaftliche Arbeit als Gabe, die er als pastorales Werkzeug nutzen musste. Es ging ihm nicht um die Eitelkeit als großer Theologe, sondern um das Bewusstsein, damit der Kirche einen Dienst zu erweisen. Den Verzicht auf die Möglichkeit, persönlich in die theologische Debatte einzugreifen, hätte er als einen für sich selbst, aber auch für andere schmerzhaften Verlust empfunden.

Ich verstand seine Motive noch besser, als wir über die Kritik diskutierten, die seinen Büchern über Jesus Christus entgegenschlug: Benedikt XVI. trat denjenigen, die ihn dafür kritisierten, dass er die Zeit für sein Schreiben dem Dienst an der Kirche und damit seiner Hauptaufgabe stehle, entschieden entgegen. Mit Verweis auf den heiligen Bonaventura und seinen eigenen Vorgänger Benedikt XIV. betonte er mir gegenüber stets, dass auch das Schreiben eine Form der Regierung sei, da es neben den kirchlichen Verlautbarungen geistige Nahrung für die Gläubigen bereitstelle.

Hoffentlich ist es nicht zu kühn, wenn ich in diesem Zusammenhang eine Begebenheit im Vatikan während eines Treffens von Papst Franziskus mit Studenten der von Jesuiten geleiteten Schulen am 7. Juni 2013 erwähne. Als ich den Papst, an dessen Seite ich saß, belustigt auf die Frage einer Schülerin, warum er weiterhin im Gästehaus Santa Marta wohne, antworten hörte: »Das hat psychologische Gründe, es ist meine Persönlichkeit«, dachte ich, dasselbe hätte Joseph Ratzinger als Kardinal oder Papst über seine Schreibtätigkeit sagen können. Bei zahlreichen Gelegenheiten hat Benedikt XVI. mir erklärt: »Für mich ist Schreiben keine Belastung, sondern eine Befreiung, die mir guttut. Es raubt mir keine Kraft, sondern regeneriert mich. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Energien, die beide ausgelebt werden müssen.« Im Grunde würde ich sagen, dass ohne seine Arbeit als Theologe der »Dampfkochtopf« seines Intellekts kein Sicherheitsventil besessen hätte und explodiert wäre.

Wachhund oder Förderer?

Kardinal Ratzinger wurde am 25. November 1981 offiziell zum Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre ernannt und feierte seinen Abschied von München am 28. Februar 1982. Mit einem bewegenden Bild erzählte er mir eines Tages, er habe die Gläubigen seiner Diözese in diesen Momenten »mit einem lachenden Auge«, erlebt, »aus Freude über die Beförderung ihres Erzbischofs, und mit einem weinenden aus dem Bedauern, ihn nun weggehen zu sehen.« Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß fasste dies in die klaren Worte: »Wir hätten ihn lieber nicht nach Rom gehen lassen«, worauf der Kardinal antwortete: »Ich werde immer Bayer bleiben, auch wenn ich im Vatikan bin.«

Während meiner Tätigkeit in der Kongregation erhielt ich aus erster Hand Informationen über die Anfänge der Tätigkeit des Kardinals als Präfekt von den älteren Kollegen, von denen einige große Hoffnungen in sein Handeln setzten, während andere ihm Skepsis entgegenbrachten. Alle warteten gespannt darauf, was er konkret in der Institution verändern würde, die von vielen noch als die »Suprema« (die Oberste) bezeichnet wurde. Denn Joseph Ratzinger war der geistige Vater der Rede von Kardinal Frings am 8. November 1963 gewesen, in der dieser »die Vorgehensweisen« kritisiert hatte, »die unter verschiedenen Aspekten nicht mehr in die Zeit passen, deshalb der Kirche schaden und von vielen als skandalös betrachtet werden.« Diese Worte waren von den Teilnehmern des Zweiten Vatikanischen Konzils mit stürmischem Applaus begrüßt worden.

Während früher vorzugsweise Diplomaten und Kanonisten ausgewählt worden waren, hatte Johannes Paul II. wahrscheinlich einen Theologen und Seelsorger gesucht, weil sich die Kongregation zu dem Zeitpunkt, als Kardinal Ratzinger an die Spitze trat, sozusagen »mitten in einer Umbruchphase« befand. Am 7. Dezember 1965 hatte Paul VI. nämlich die ehemalige »Heilige Kongregation des Heiligen Offiziums« in »Heilige Kongregation für die Glaubenslehre« umbenannt, den Vorsitz des Papstes jedoch beibehalten, während die Leitung weiterhin einem Kardinalsekretär anvertraut blieb.

Am 5. August 1967 hatte der Papst die Kongregation dann so reformiert, dass ein Kardinalpräfekt an ihrer Spitze stand mit der Aufgabe, »die Lehre über den Glauben und die Sitten in der ganzen katholischen Welt zu schützen«. Die einzelnen Aufgaben waren damals noch überwiegend negativ formuliert: »Sie untersucht neue Lehren und neue Meinungen, die auf welche Weise auch immer verbreitet werden, fördert Studien in diesem Bereich und unterstützt Kongresse von Gelehrten. Sie verurteilt jene Lehren, die den Prinzipien des Glaubens widersprechen, jedoch nach Anhören der Meinung der Bischöfe der Regionen, die von den jeweiligen Fragen besonders betroffen sind. Sie untersucht sorgfältig die ihr angezeigten Bücher und verurteilt sie, wenn dies notwendig ist, jedoch nach Anhören des Autors, dem die Möglichkeit gegeben wird, sich – auch schriftlich – zu verteidigen. […] Auch steht es ihr zu, Vergehen gegen den Glauben gemäß den Normen für den ordentlichen Prozess zu beurteilen.«

Im Einklang mit den Forderungen Johannes Pauls II. konzentrierte der neue Präfekt seine Bemühungen zur Revision der Normen zunächst auf den Kodex des kanonischen Rechts, der 1983 veröffentlicht wurde. In einigen Canones (Gesetzen) zur Ekklesiologie, zur Kirchenlehre, den Bischofskonferenzen, der Beziehung zwischen den Bischöfen und der Römischen Kurie ist die Handschrift Joseph Ratzingers deutlich zu erkennen. Davon ausgehend widmete er sich einer positiven Neudefinition der Kongregation, wie sie am 28. Juni 1988 in der Apostolischen Konstitution Pastor bonus formuliert wurde: »Die besondere Aufgabe der Kongregation für die Glaubenslehre ist es, die Lehre über Glaube und Sitten auf dem ganzen katholischen Erdkreis zu fördern und zu schützen.«

Zum Erreichen dieses Ziels hieß es genauer: »Bei der Erfüllung ihrer Aufgabe, die Glaubenslehre zu fördern, unterstützt sie solche Studien, die darauf gerichtet sind, dass das Glaubensverständnis wachse und dass auf die aus dem Fortschritt der Wissenschaften und der menschlichen Kultur entstandenen Fragen eine Antwort im Licht des Glaubens gegeben werden kann. Sie unterstützt die Bischöfe, und zwar als einzelne wie auch in ihren Zusammenschlüssen, bei der Ausübung ihres Dienstes, durch den sie als authentische Lehrer und Verkünder des Glaubens eingesetzt sind, und wodurch sie gehalten sind, die Unversehrtheit dieses Glaubens zu schützen und zu fördern. Im Übrigen ist es erstens ihre Pflicht, zu verlangen, dass Bücher und andere Schriften, die Gläubige herausgeben wollen und welche Glauben und Sitten berühren, der vorgängigen Prüfung durch die zuständige Autorität vorgelegt werden; zweitens prüft sie Schriften und Lehrmeinungen, die als dem rechten Glauben entgegengesetzt und gefährlich erscheinen, und, wenn feststeht, dass sie der Lehre der Kirche entgegenstehen, weist sie diese rechtzeitig zurück, nachdem sie ihrem Urheber die Gelegenheit gegeben hat, seine Auffassung umfassend darzulegen, und nachdem sie den Ordinarius, in dessen Zuständigkeitsbereich das fällt, vorher benachrichtigt hat, und, wenn es denn gelegen sein sollte, sorgt sie für geeignete Abhilfe; drittens sorgt sie schließlich dafür, dass es nicht an einer geeigneten Widerlegung falscher und gefährlicher Lehren fehlt, wenn sich solche möglicherweise im christlichen Volk verbreitet haben.«

Am 22. April 2007, während eines Pastoralbesuchs der Diözese von Pavia (wo die Gebeine des Augustinus von Hippo aufbewahrt sind) schien Benedikt XVI. mit einem bezeichnenden Zitat aus dessen Predigten fast eine Parallele seines eigenen Lebens zu dem des heiligen Theologen nach seiner Bischofsweihe zu ziehen: »Der schöne Traum des beschaulichen Lebens war zerrissen, das Leben Augustins von Grund auf geändert.« Das, was fortan Augustins Alltag ausmachte, beschrieb er selbst so: »Unruhestifter zurechtweisen, Kleingläubige trösten, sich der Schwachen annehmen, Gegner widerlegen …, Träge wachrütteln, Streitende besänftigen, Armen helfen, Unterdrückte befreien, Gute ermutigen, Böse ertragen und – ach – alle lieben.«

Diese Worte beschreiben meine Erfahrungen im täglichen Umgang mit dem Präfekten, die mir gezeigt haben, wie sehr diejenigen, die ihn schamlos als »Panzerkardinal« oder »Rottweiler Gottes« verunglimpften, im Unrecht sind und ihn überhaupt nie wirklich erlebt haben. Alle Mitarbeiter lernten mit ihm einen neuen Umgangsstil kennen, denn die Umsetzung der Regeln einer Kongregation hängt weitgehend von dem Leiter und dem Klima ab, das er zu schaffen versteht.

Kardinal Ratzinger war stets davon überzeugt, dass man sich gut kennen muss, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Deshalb förderte er intensiv persönliche Beziehungen und bedeutsame Begegnungen, zum Beispiel mit den theologischen Kommissionen verschiedener Nationen, mit den Bischofskonferenzen und mit den Generaloberen von Orden und religiösen Kongregationen. Damit wollte er auch Vorurteile abbauen, die sich im Lauf der Zeit gegenüber der Kongregation gebildet hatten.

Der Präfekt richtete auch die allwöchentlichen Freitagssitzungen für alle Mitarbeiter ein. Dafür musste jeder von uns bis Donnerstagnachmittag eine Zusammenfassung über die zu diskutierenden Fragen erstellen, damit der Präfekt sie bereits zu Hause studieren und am nächsten Vormittag fundiert darüber sprechen konnte. Außerdem war es üblich, mit dem Rangniedrigsten zu beginnen, sodass niemand Angst haben musste, einem Ranghöheren zu widersprechen.

Der Präfekt hatte das letzte Wort, doch er respektierte verschiedene Meinungen, die er sehr aufmerksam anhörte. Wenn ihn der Lösungsvorschlag überzeugte, akzeptierte er ihn mit Vergnügen; im gegenteiligen Fall fasste er die Worte des Mitarbeiters elegant zusammen und sagte zum Schluss in etwa: »Sie haben die Frage aus der an sich richtigen Sicht bewertet, aber vielleicht nicht ganz durchdacht. Es gibt noch den und den anderen Aspekt, der zu einer anderen Lösung führen könnte …« Durch dieses Vorgehen demütigte er niemanden, und das Endergebnis erschien allen als das Beste.

Am Montag fand eine Sitzung der Experten unter Leitung des Sekretärs statt, und am Mittwoch trafen sich die Kardinäle und Bischöfe in der sogenannten Feria quarta unter dem Vorsitz des Präfekten. Es herrschte immer eine ruhige und so lockere Atmosphäre, dass man nicht selten auch einen Scherz machen konnte. Nur wenige wissen nämlich, dass ein wichtiger Charakterzug des Menschen Joseph Ratzinger sein feiner Sinn für Humor war. Das ging so weit, dass er am 4. Januar 1989 in München mit Vergnügen den nach dem Komiker Karl Valentin benannten Orden entgegennahm und in seiner Dankesrede das Pauluswort »Wir sind Narren um Christi willen« (1 Kor 4,10), bemühte mit der Bemerkung: »An den Höfen der alten Potentaten war der Hofnarr oft der Einzige, der sich den Luxus der Wahrheit leisten konnte […] Und da ich in meinem Beruf zufällig die Wahrheit sagen muss, bin ich sehr glücklich, nun in die Kategorie derer aufgenommen worden zu sein, die dieses Privileg genießen. Wer die Wahrheit sagt und sich nicht auch ein wenig wie ein Clown dabei vorkommt, würde wohl allzu leicht selbstherrlich werden.«

Dabei kommt mir besonders ein scherzhaftes Wortgefecht zwischen dem Präfekten und Carlo Maria Martini in den Sinn, zwei sehr verschiedenen Denkern, die sich aber gegenseitig sehr schätzten. Der Mailänder Erzbischof behauptete, kein einziges Buch geschrieben zu haben, während Ratzinger entgegnete, er habe mindestens fünfzehn Bücher unter Martinis Namen gelesen. Darauf erwiderte Martini: »Aber ich muss mich nicht wie Sie an den Schreibtisch setzen und mich abmühen: Ich spreche, man nimmt mich auf, irgendjemand transkribiert und redigiert den Text, und fertig.« Mit einem belustigten Augenzwinkern beendete der Präfekt das sympathische Duell und ließ durchblicken, dass er sich angesichts der etwas uneinheitlichen Qualität von Martinis Werken einen solchen modus operandi bereits ausgemalt habe.

2 Der Philosoph und Theologe

Zwei Seelen im Gleichklang

»Ich danke Gott für die Gegenwart und die Hilfe von Kardinal Ratzinger – er ist ein zuverlässiger Freund.« Mit diesem bedeutungsschweren Bekenntnis beschrieb Johannes Paul II. in seinen 2004 erschienenen Erinnerungen unter dem Titel Auf, lasst uns gehen! seine jahrzehntelange Beziehung zu dem Präfekten der Glaubenskongregation. Der langjährige Sprecher und Vertraute des Papstes, Joaquín Navarro-Valls, gab dem noch mehr Gewicht: »Die Worte des Papstes, ein Jahr vor seinem Tod geschrieben, sind beispiellos, da er hier explizit und sehr beredt einen lebenden Mitarbeiter lobt und ihm seine Dankbarkeit für die aufrichtige Freundschaft zum Ausdruck bringt. Das lässt auf eine wirklich sehr enge Beziehung schließen.«

Benedikt XVI. seinerseits ließ keine Gelegenheit zum Dank an Johannes Paul II. aus. Ich kann persönlich bezeugen, dass es als neu gewählter Papst sein erster Gedanke war, alles, was sein Vorgänger geplant hatte, zu Ende zu bringen, angefangen von dem Pastoralbesuch in Bari zum Abschluss des italienischen Eucharistischen Kongresses am 19. Mai 2005 und der Apostolischen Reise nach Köln anlässlich des Weltjugendtages vom 18. bis 21. August 2005.

Auch im privaten Bereich beauftragte er mich damit, möglichst alles, was noch in der Schwebe war, zu vollenden. Ich möchte an dieser Stelle eine Aussage des Journalisten Filippo Anastasi, des damaligen Koordinators der kirchlichen Information für die Nachrichtensendungen der öffentlichen Rundfunkanstalten, erwähnen: »Kurz vor seinem Tod hatte Johannes Paul II. den Wunsch geäußert, unsere Mitarbeiter kennenzulernen. Der Papst hatte uns einen Termin für eine Privataudienz eingeräumt, aber gerade an dem Tag musste er ins Krankenhaus eingeliefert werden, und wie es dann weiterging, wissen wir alle. Ein paar Wochen nach der Wahl Benedikts XVI. rief mich sein Sekretär an und sagte: ›Der Papst möchte die Versprechen seines Vorgängers einlösen und lädt sie deshalb zu einer Privataudienz in den Apostolischen Palast ein.‹ Und wir gingen alle hin.«

Außerdem wünschte Benedikt XVI. ausdrücklich, seine erste Auslandsreise nach Polen zu unternehmen (vom 25. bis 28. Mai 2006). In seiner Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie am 22. Dezember jenes Jahres bekannte er: »Die Reise in seine [Papst Johannes Pauls II.] Heimat war für mich eine innere Pflicht des Dankes für alles, was er mir persönlich, und vor allem für das, was er der Kirche und der Welt in dem Vierteljahrhundert seines Dienstes geschenkt hat. Sein größtes Geschenk an uns alle war sein unerschütterlicher Glaube und die Radikalität seiner Hingabe.«

Nur wenige wissen, dass in dem als Museum eingerichteten Geburtshaus Karol Wojtyłas in Wadowice verschiedene Gegenstände ausgestellt sind, die von Benedikt XVI. stammen: drei Ringe, die ihm der polnische Papst während seiner Zeit als Präfekt schenkte, drei Briefe und eine Fotografie, die die beiden während der Feier des 10. Jahrestags des Pontifikats von Johannes Paul II. am 30. Oktober 1988 zeigt. Benedikt besuchte diesen Ort während seiner Pastoralreise nach Polen am 27. Mai 2006 persönlich, schenkte dem Museum ein Flachrelief mit einer Madonna und schrieb ein paar Worte in das Gästebuch.

Der Präfekt und Johannes Paul II. waren zwei ganz unterschiedliche Charaktere: Von seiner Ausbildung her war Karol Wojtyła Philosoph, Joseph Ratzinger dagegen Theologe. Der Kardinal erzählte mir einmal, Johannes Paul II. habe ihm anvertraut, sich in Philosophie besser auszukennen als in der Theologie. Man könnte im Grunde sagen, der polnische Papst interessierte sich mehr für philosophische Fragestellungen und intellektuelle Diskurse, während für Kardinal Ratzinger die Klarheit der Theologie und Strenge der Interpretation im Vordergrund standen. Wir alle konnten aber sehen, wie sich diese Elemente verbanden und gegenseitig ergänzten.

Für diese Verbindung scheinbarer Gegensätze fand Professor Alfred Läpple, Dozent für Sakramententheologie am Priesterseminar Freising, als Joseph Ratzinger dort studierte, folgende interessante Erklärung: »Die gemeinsame philosophisch-theologische Basis war für beide die personalistische Dimension ihres Denkens, die in Polen – anfangs unabhängig von den beiden – das Denken und die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit beflügelte. Dem Einverständnis zwischen dem polnischen Papst und dem deutschen Präfekten lag der dialogische Personalismus zugrunde, der den Menschen nicht als ein Etwas begreift, sondern als ein Ich, das im Dialog mit seinem Gegenüber das göttliche Du erlebt.«

Wie ich häufig beobachten konnte, war selbst dann, wenn in einer bestimmten Stellungnahme oder Vorgehensweise nicht vollkommene Einigkeit herrschte, ein solcher Vertrauensvorschuss vorhanden, dass der Kardinal alles in seinem Aufgabenbereich Stehende tat, um dem Willen des Papstes gerecht zu werden. In gewisser Weise bildeten diese Jahre für den Präfekten auch eine Art Lehrzeit: »Denn ohne ihn ist mein geistlicher und theologischer Weg nicht denkbar«, erklärte Benedikt XVI. am 4. Juli 2015 in Castel Gandolfo anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Päpstliche Universität »Johannes Paul II.« und die Musikakademie Krakau.

Diesem Bewusstsein war meines Erachtens die Bereitschaft Benedikts XVI. geschuldet, dem – durch die lauten »Santo subito«-Rufe während der Beerdigung verstärkten – Drängen der Entourage Johannes Pauls II. auf Aussetzung der vorgeschriebenen Wartezeit von fünf Jahren vor der Eröffnung des Kanonisierungsprozesses nachzugeben. Auch Benedikt XVI. ließ sich von der großen Begeisterung der Gläubigen anstecken, sodass er Kardinal José Saraiva Martins als Präfekt der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse den Auftrag erteilte, das Dekret vorzubereiten, das am 13. Mai 2005 in der Basilika San Giovanni in Laterano am Ende eines Treffens mit dem römischen Klerus verlesen wurde und zur baldigen Seligsprechung des verstorbenen Papstes am 1. Mai 2011 und dann zu seiner Heiligsprechung am 27. April 2014 führte.

Papst Benedikt XVI. hat von Beginn seines Pontifikats an öffentlich erklärt: »Dass Johannes Paul II. ein Heiliger war, ist mir in den Jahren der Zusammenarbeit immer neu und immer mehr klar geworden. Da ist natürlich zunächst seine intensive Gottesbeziehung, sein Eingesenktsein in die Gemeinschaft mit dem Herrn zu nennen. Von da her kam seine Fröhlichkeit mitten in den großen Mühsalen, die er zu bestehen hatte, und der Mut, mit dem er seinen Auftrag in einer wahrhaft schwierigen Zeit erfüllte. Johannes Paul II. hat nicht nach Beifall gefragt und [sich] nicht ängstlich umgeschaut, wie seine Entscheidungen wohl aufgenommen würden. Er hat aus seinem Glauben und aus seiner Einsicht heraus gehandelt und war bereit, auch Schläge auf sich zu nehmen. Der Mut der Wahrheit ist in meinen Augen ein erstrangiges Kriterium der Heiligkeit. Nur von seiner Gottesbeziehung her kann man auch seinen rastlosen pastoralen Einsatz verstehen. […] Meine Erinnerung an Johannes Paul II. ist von Dankbarkeit angefüllt. Ich konnte und durfte nicht versuchen, ihn nachzuahmen, aber ich habe versucht, sein Erbe und seinen Auftrag, so gut ich konnte, weiterzutragen. Und so bin ich ganz sicher, dass seine Güte mich auch heute begleitet und sein Segen mich beschützt.«

Bewegend ist nach wie vor die Vertrautheit, mit der Kardinal Ratzinger beim 20. Jahrestag des Pontifikats von Papst Johannes Paul II. sprach: »Wahrscheinlich kennt man Johannes Paul II. viel näher und besser, wenn man einmal mit ihm die Messe gefeiert hat und sich in die gesammelte Stille seines Betens hineinziehen ließ, als wenn man seine Bücher und Reden analysiert, denn im Teilnehmen an seinem Beten kommt man dem Eigentlichen seines Wesens nahe, das über alle Worte hinausreicht. Von dieser Mitte her erklärt es sich auch, warum er einerseits ein großer Intellektueller ist, der im geistigen Gespräch der Gegenwart seine eigene gewichtige Stimme hat, und warum ihm zugleich jene Einfachheit geblieben ist, die sich einem jeden mitzuteilen vermag.«

Ein allwöchentliches Treffen

Für die Festigung der Beziehung zwischen dem Präfekten und Papst Johannes Paul II. spielte die sogenannte Udienza di tabella eine wesentliche Rolle, eine allwöchentliche Sitzung, bei der sich der Papst jeweils mit dem Leiter eines einzelnen Dikasteriums persönlich unterhielt. Jeden Freitag um 18 Uhr wurden dabei nicht nur die in Bearbeitung befindlichen Dokumente besprochen, sondern auch ganz allgemein die Lage der Kirche in der Welt. Der Präfekt erzählte mir später, das Gespräch habe sich öfter auch auf andere Bereiche der Kultur ausgedehnt, da der Papst die deutsche Literatur sehr schätzte und sich mit ihm über zeitgenössische Autoren, die ihn sehr beeindruckt hatten, austauschen wollte.

Über diese offiziellen Audienzen hinaus wurde der Präfekt zudem häufig am Dienstagmorgen zu informelleren Begegnungen eingeladen, bei denen unterschiedliche Persönlichkeiten der Kirche über die Mittwochskatechese, über aktuelle Themen, über Fragen, die von Bischöfen verschiedener Nationen bei ihren Ad-limina-Besuchen (d. h. den alle fünf Jahre stattfindenden Treffen mit dem Papst) vorgeschlagen wurden, und über neue Fragen im Bereich der Theologie diskutierten. … Der Präfekt schilderte mir diese oft bis zum Mittagessen dauernden Sitzungen als Momente der Unbeschwertheit in bester Gesellschaft.

Kardinal Ratzinger empfand die aus der Kurienreform Pauls VI. hervorgegangene Situation als problematisch. Weil die Koordination der vatikanischen Dikasterien im Wesentlichen beim Staatssekretariat lag – bis 1991 unter der Leitung von Agostino Casaroli und danach von Angelo Sodano –, musste man sich bisweilen zwischen dem Festhalten an der strengen Kirchenlehre und der Flexibilität der Diplomatie entscheiden. Obwohl der Präfekt stets versuchte, mit jedermann gute Beziehungen zu unterhalten und Konflikte zu entschärfen, erforderten doch manchmal lokale Probleme größere Aufmerksamkeit, sodass der Präfekt im Einklang mit Johannes Paul II. andere Lösungsvorschläge befürworten musste als das Staatssekretariat.

Ich erinnere mich beispielsweise an einen intensiven Briefwechsel zwischen dem Staatssekretariat, unserer Kongregation und der deutschen Bischofskonferenz über die kirchlichen Beratungsstellen in Deutschland und die Frage, ob sie weiterhin Bescheinigungen über Gespräche mit abtreibungswilligen Frauen ausstellen sollten. Die Bedeutung dieser Bescheinigungen war zweideutig. Ursprünglich hatten diese Beratungen den Frauen helfen sollen, ihre Entscheidung zu überdenken (und dank entsprechender staatlicher Hilfen konnten die kirchlichen Beratungsstellen die Beratertätigkeit im Dienst des Lebensschutzes fortsetzen). Faktisch bedeuteten die Bescheinigungen jedoch die Berechtigung zur straffreien Abtreibung in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen.

Kardinal Sodano und der Präfekt waren sich uneinig über die Lösung des Problems. Für Ersteren standen vor allem die politischen Aspekte und die guten Beziehungen zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz im Vordergrund, während dem Letzteren in erster Linie die ethisch-moralischen Aspekte und die für die kirchliche Lehre und die Seelsorge daraus erwachsenden Konsequenzen am Herzen lagen. Nach einer langen Auseinandersetzung hinter den Kulissen sandte der Papst schließlich am 11. Januar 1998 ein Schreiben an die deutsche Bischofskonferenz, in dem es hieß: »Deshalb möchte ich Euch, liebe Brüder, eindringlich bitten, Wege zu finden, dass ein Schein solcher Art in den kirchlichen oder der Kirche zugeordneten Beratungsstellen nicht mehr ausgestellt wird.« Gleichzeitig aber ließ er mit einer Deutlichkeit, wie ich sie sonst nie erlebt habe, durchblicken, wie heftig die Auseinandersetzung zwischen den beiden Denkrichtungen gewesen war: »Schon seit langem und verstärkt seit der Begegnung vom 27. Mai 1997 ist von vielen Seiten, auch von Menschen, die sich für die Kirche und in der Kirche einsetzen, nachdrücklich vor einem solchen Entscheid gewarnt worden, der die Frauen in Konfliktsituationen ohne den Beistand der Glaubensgemeinschaft lasse. Ebenso nachdrücklich ist freilich auch von gläubigen Menschen aller Schichten und Stände angemahnt worden, dass der Schein die Kirche in die Tötung unschuldiger Kinder verwickelt und ihren unbedingten Widerspruch gegen die Abtreibung weniger glaubwürdig macht. Ich habe beide Stimmen sehr ernst genommen und respektiere die leidenschaftliche Suche nach dem rechten Weg der Kirche in dieser wichtigen Sache auf beiden Seiten […].«