Nichts Kann uns trennen - Barbara Cartland - E-Book

Nichts Kann uns trennen E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Wie merkwürdig, dass ein Unfall mit einer Kutsche solch einen Zauber in Petulas Leben bringen sollte! Verlassen und verarmt mit nichts als zwei Dienern auf dem Land lebend, war sie nicht daran gewöhnt einen solch weit gereisten und gut aussehenden Hausgast zu haben wie Major Adrian Chester. Was für ein Glück dass er die Nacht in ihrem Gutshaus verbringen musste! Und was für einen schönen unterhaltsamen Abend sie miteinander verbrachten! Und dann brachte der Morgen noch mehr Zauber... bis zu dem Augenblick als er sich verabschieden musste und für immer aus ihrem Leben verschwinden sollte. Doch dann tritt ihr Onkel in ihr Leben und verändert alles....

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Nichts kann uns trennen

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2022

Copyright Cartland Promotions 1985

 

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

Erstes Kapitel ~ 1802

Die Auffahrt zum alten Haus war voller Schlaglöcher, und der Gentleman in seinen eleganten Reitstiefeln tat sich schwer, auf dem groben Kiesweg nicht auszurutschen. Er fluchte in sich hinein und ärgerte sich, die falsche Abkürzung genommen zu haben, die ihm ein verbogenes Rad an seiner Kutsche eingebracht hatte.

Es war allein sein Fehler, und er gestand sich ein, daß er niemand anderem die Schuld zuschieben könne.

Er hatte London erst spät verlassen, nachdem er die Nacht in den Armen einer hübschen Verführerin verbracht hatte, die es verstand, so bestrickend auf ihn zu wirken, daß er die Reise des kommenden Tages fast vergaß.

Der Gentleman war sehr schnell gefahren, und sein neues Gespann hatte sich selbst übertroffen.

Dennoch war er noch nicht weit von London entfernt gewesen, als die Nacht hereinbrach und ihn zur Rast zwang. Die zweite Nacht hatte er im Hause eines Freundes verbracht, bei dem er zu beinahe unhöflich später Stunde eingetroffen war.

Aus Gründen der Höflichkeit hatte er es vermieden, gleich nach dem Frühstück aufzubrechen. Es mußten noch die Pferde begutachtet und unzählige Galanterien mit der Dame des Hauses und ihren etwas einfältigen Töchtern getauscht werden, bevor er sich schließlich auf die Weiterfahrt machen konnte.

Seine Gastgeber hatten ihm eine Abkürzung empfohlen, die von der Hauptstraße wegführte, nur wußte er jetzt, daß es nicht nur ein Fehler gewesen war, sie zu nehmen, sondern geradezu ein Verhängnis.

Gewiß war er auf dem schmalen Weg mit seinem Gespann gefährlich schnell gefahren, als er an der unübersichtlichen Biegung auf ein ländliches Fuhrwerk gestoßen war. Nur seiner Geschicklichkeit war es zu verdanken gewesen, daß ein frontaler Zusammenstoß zwischen seinen edlen Pferden und dem alten Gaul überhaupt vermieden werden konnte.

Und doch war es ihm nicht gelungen, sein Gespann völlig herumzureißen. Ein Rad hatte das Fuhrwerk gestreift und wurde beschädigt.

Der Fuhrmann hatte gemeint, er könne vielleicht dort drüben im Herrenhaus Hilfe finden. So hatte der Gentleman seinem Diener das Gespann übergeben und sich auf den Weg zum Haus gemacht.

Der Eingang war verwahrlost, und die einstmals prächtige Auffahrt schien seit hundert Jahren nicht mehr instandgesetzt worden zu sein. Rhododendron und Flieder wucherten in einem verträumten Blütenrausch und wirkten höchst malerisch.

Der Gentleman aber hatte kein Auge für diese Schönheit. Sein einziges Anliegen war, seinen Wagen schnellstens wieder fahrtüchtig zu machen.

Eilig schritt er über die holprige Zufahrt und dachte, daß sie bei Regen, voller lehmiger Pfützen, schier unpassierbar sein müsse.

Nach einer leichten Biegung stand er vor dem Herrenhaus. Auf den ersten Blick wirkte es recht anziehend.

Ursprünglich wohl Tudor-Stil, dachte er. Die Schlingpflanzen aber, die sich an dem Gemäuer hochrankten, erschwerten es, seinen Stil zu bestimmen.

Vor dem Haus befand sich ein Kiesweg, der nicht minder verwahrlost aussah als die Auffahrt. Und wieder zahllose, wild blühende Büsche, die leuchtend die verwitterten Ziegelmauern des Hauses verdeckten. Im oberen Geschoß waren mehrere Fenster mit Brettern vernagelt. Sogar im unteren Stock, bemerkte er, waren fehlende Fensterscheiben durch Holz oder Pappe dürftig ersetzt.

Die Eingangstür war geschlossen, und ihre abgeblätterte Farbe bedurfte dringend eines neuen Anstrichs. Unter den Ranken der Schlingpflanzen fand er einen Türklopfer und einen Klingelzug, einst aus feiner Bronze, jetzt schwarz angelaufen und zerbrochen. Der Gentleman bediente sich beider und wartete.

Als niemand öffnete, überlegte er, daß möglicherweise die Besitzer des Hauses abwesend seien. Er beschloß, um das Haus herum zum rückwärtigen Eingang zu gehen.

Durch eine Öffnung in der alten Ziegelmauer aber sah er zwei Personen, die sich im Küchengarten zu schaffen machten.

Das verspricht schon etwas mehr, sagte er sich und näherte sich der Person, die nahe des Eingangs arbeitete. Eine Frau im verblichenen Baumwollkleid mit einem Sonnenhut, inmitten eines frisch umgegrabenen Beetes, beugte sich über eine lange Furche, in die sie Samen streute.

Der Gentleman ging auf sie zu.

„Ich möchte mit dem Hausherrn sprechen“, sagte er mit befehlender Stimme. „Auf mein Läuten wurde nicht geantwortet!“

Der Klang seiner Stimme erschreckte die Frau, die sich schnell aufrichtete. Er sah in das Gesicht eines Mädchens. Es war sehr jung und von außerordentlichem Liebreiz.

Ihre Augen, die forschend in die seinen schauten, wirkten im Schatten des Sonnenhutes fast unnatürlich groß und hatten die tiefblaue Farbe der Glockenblumen, die in Unmengen das hohe Gras der Auffahrt säumten.

Einen Augenblick lang schien das Mädchen zu überrascht, um zu sprechen.

Dann aber sagte sie in einer weichen, wohl gesetzten Sprache: „Es tut mir leid. Der Klingelzug ist gebrochen, und wenn Annie in der Küche war, hat sie den Klopfer sicher nicht gehört!“

Er spürte, daß er sich falsch verhalten haben mußte, und lüftete seinen Hut.

„Spreche ich mit der Dame des Hauses?“

„Ja!“ erwiderte sie schlicht.

„Ich komme zu Ihnen mit der Bitte um Hilfe“, sagte der Gentleman. „Ungefähr eine viertel Meile von hier, auf einem schmalen Weg, hatte ich mit meinem Gespann einen Unfall und bin nun auf der Suche nach einem Stellmacher.“

„Ich hoffe, es ist niemand verletzt?“ fragte das Mädchen besorgt.

„Nein. Es war kein schlimmer Unfall“, antwortete er, „aber er erlaubt mir nicht, meine Reise fortzusetzen, und ich bin leider in großer Eile.“

Dem Gentleman wurde bewußt, daß ihn das Mädchen mit einem Ausdruck unverhohlener Bewunderung anschaute.

Er hatte sein Anliegen etwas sehr herrisch geäußert, und nun sagte er freundlicher: „Mein Name ist Chester, Major Adrian Chester, und ich befinde mich auf dem Weg nach Schloß Kirkby.“

„Ich bin Petula Buckden“, antwortete das Mädchen, „und ich nehme an, Sie wissen bereits, daß Sie sich auf Buckden Manor befinden.“

„Ich erfuhr von dem Halbtrottel, der mich herschickte, daß Buckden der Name des Dorfes ist.“

Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu, überrascht von seinem Ton.

„Wenn er das Fuhrwerk fuhr, kann es sich nur um Ned handeln.“

„So ist es“, gab der Major zu, „und falls Sie sich Sorgen machen, kann ich Ihnen versichern, daß sowohl dieser Ned als auch sein Wagen unversehrt sind.“

Die letzten Worte hatte er in einem sarkastischen Tonfall gesagt, der Petula leicht erröten ließ. Sie stellte die Schale mit dem Samen ab und ging auf den alten Mann zu, der weiter hinten im Garten arbeitete.

„Adam!“ rief sie. „Dieser Gentleman braucht Ben, um ein Rad zu reparieren. Weißt du, wo er sein könnte?“

„Ben woll’n Sie, Miss Petula?“

„Ja doch, Adam!“

„Vielleicht bei Bauer Jarvis, wenn nich’ anderswo.“

„Würdest du bitte gehen und ihn rufen?“ bat Petula. „Sag ihm, daß ein Unfall passiert ist.“

„Braucht ’ne Weile, bis ich da hinkomm’, Miss Petula.“

„Dann nimm den Einspänner“, meinte Petula. „Bessie war heute morgen draußen, also laß sie bitte nicht rennen. Sie ist zu alt für zwei Ausritte am Tag.“

,,Is’ schon gut, Miss!“

Adam nahm gemächlich seinen Spaten und ging davon. Der Major hatte Mühe, seine Ungeduld zu bezwingen. Er stampfte ungehalten mit dem Fuß und war nahe daran, nochmals zu betonen, daß er es sehr eilig hatte.

„Es ist unwahrscheinlich, daß Ben vor einer Stunde hier sein wird“, sagte Petula. „Möchten Sie vielleicht Ihre Pferde solange in den Ställen unterbringen? Wenn das Wagenrad sehr beschädigt ist, wird Ben es in die Werkstatt nehmen.“

„Wo ist die denn?“ Major Chester fragte wie jemand, der das Schlimmste zu hören erwartet.

„Am anderen Ende des Dorfes.“

„Das hätte ich mir denken können!“

Petula mußte lachen.

„Wie überall in Yorkshire werden Sie auch in Buckden merken, daß alle Dinge, die gemacht werden, gut gemacht werden, dafür aber auch Zeit brauchen.“

Der Major zog seine Taschenuhr aus der Westentasche.

„Es ist jetzt halb vier“, sagte er. „Was meinen Sie, wie lange brauche ich von hier bis Kirkby Castle?“

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, antwortete Petula. „Sicherlich einige Stunden!“

Sie wußte, daß Kirkby Castle der Herrensitz des Grafen Kirk war. Der Graf war Gouverneur von Yorkshire.

„Ich fürchte, daß ich mit entsetzlicher Verspätung dort eintreffen werde - wenn überhaupt noch heute. Gibt es denn hier in der Gegend eine Herberge?“

„Keine angemessene, wo Sie wohnen könnten. Und schon gar nicht eine mit einem Stall für Ihre Pferde.“

Einen Augenblick lang sah der Major Petula fast wütend an, als sei es ihr Verschulden, daß es keine geeignete Unterkunft für ihn gab.

Dann aber lächelte er.

Dieses Lächeln verwandelte sein Gesicht völlig. Petula hatte ihn für kalt und autoritär gehalten, und nun war sie überrascht von seinem Charme.

Seine ganze Erscheinung hatte sie tief beeindruckt. Sie hatte sich nie vorgestellt, daß ein Gentleman so vollendet elegant gekleidet und dennoch dabei so ausgesprochen männlich wirken könnte.

Seine weiße Halsbinde war ein kompliziertes Meisterwerk, und der kunstvoll genähte Spitzenkragen reichte knapp bis zu seinem energischen Kinn. Jede Einzelheit seiner Kleidung entsprach der letzten Mode. Sogar die Peitschenschnur über seiner Schulter war farblich genau abgestimmt, und als er so vor ihr stand, mit seinem Hut in der Hand, dachte Petula, daß auch sein Haarschnitt dem vom Prinzen von Wales diktierten Modetrend entsprechen mußte.

Sie fühlte sich plötzlich sehr dürftig neben seinem Glanz. Ihr schäbiges Kleid wurde ihr bewußt, und sie dachte, sie müsse überhaupt sehr schlampig aussehen.

Etwas kleinlaut fragte sie: „Möchten Sie vielleicht Ihre Pferde holen und sie hier im Stall unterstellen? Ich werde das Gerümpel herausräumen lassen. Wir haben nur noch Bessie, und zu dieser Jahreszeit ist sie draußen auf der Weide.“

„Ich möchte Ihnen keine Umstände machen“, antwortete der Major. „Außerdem hoffe ich, daß der Stellmacher bald gefunden wird und mein Aufenthalt hier begrenzt ist.“

Petula antwortete nicht. Er aber ahnte, daß seine Hoffnung ihn trog und er sich mit der Verspätung würde abfinden müssen, so sehr es ihn auch ärgerte.

Er folgte ihr zu dem alten Gebäude, in dem sich die Ställe befanden. Auch diese machten einen höchst jammervollen Eindruck und hatten dringend eine Reparatur nötig. Es fehlten Dachziegel, und durch die Löcher konnte es hineinregnen.

Als Petula die große Stalltür aufstieß, sah er, daß hier einst Platz für ein Dutzend Pferde gewesen war. Die Boxen waren noch unversehrt unter den dichten Spinnweben, die sich von Balken zu Balken spannen.

„Ich nehme an, Sie fahren ein Zweiergespann?“ fragte Petula.

„Nein, einen Vierer“, kam es kurz zurück.

Ihre Augen leuchteten auf: „Ich bin noch nie einen Vierer gefahren. Es muß sehr aufregend sein, so schnell zu fahren!“

„Ja - wenn man fährt.“

Während er dies sagte, merkte er, wie unwirsch er war. Seinen Ärger über die Verhinderung und über den Unfall, den er selber verschuldet hatte, konnte er aber noch immer nicht beherrschen. Er hätte eben nicht die Abkürzung nehmen sollen und hätte nicht so schnell auf diesem Nebenweg fahren dürfen! Aber was half es, wieder und wieder darüber nachzudenken.

Er sollte vielmehr versuchen, das Beste aus den gegebenen Umständen zu machen und froh darüber sein, daß es überhaupt einen Stellmacher im Ort gab.

Glücklicherweise waren vier Pferdeboxen von Gerümpel und gestapeltem Brennholz frei.

„Adam wird für Stroh sorgen, wenn er zurückkommt“, sagte Petula. „Sehr bequem werden es Ihre Pferde nicht haben, fürchte ich, aber sie werden zumindest ausruhen können.“

„Sie sind äußerst liebenswürdig, Miss Buckden, und ich bin Ihnen sehr dankbar“, entgegnete der Major.

„Möchten Sie vielleicht eine Erfrischung zu sich nehmen, bevor Sie die Pferde holen?“ fragte Petula. „Wir haben noch Apfelmost im Hause. Oder - wenn Sie lieber Tee trinken?“

„Ein Glas Most würde ich gerne annehmen“, erwiderte der Major höflich.

Petula führte ihn um das Haus herum zum Haupteingang.

In ihrem verblichenen schäbigen Baumwollkleid bewegte sie sich mit einer Anmut, die er bei einem Mädchen vom Lande nicht erwartet hatte. Die Töchter seiner Gastgeber vom Vortage waren dicklich und ungraziös. Er hatte sie eigentlich plump gefunden. Gott bewahre mich vor einer Frau, deren Fuß schwer über den Boden stapft, hatte er sich gesagt. Dabei dachte er an London, an den Grund seiner verspäteten Abfahrt und an die Grazie der kleinen Verführerin.

Auch Petula schien mehr zu schweben als zu laufen, und kaum waren sie durch die Eingangstür in die niedrige Diele gekommen, löste sie die Bänder ihres Gartenhutes und nahm ihn ab. Das tat sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der ein Mann seinen Hut abnimmt, wenn er ins Haus tritt.

Ihre Schönheit schien Major Chester so überraschend wie der Anblick einer Orchidee auf einem Schutthaufen. Er erinnerte sich nicht, jemals solch eine leuchtende blonde Haarpracht gesehen zu haben, die sich wie ein Lichtstrahl gegen die dunkle Vertäfelung der Diele abhob. Die zarte Hautfarbe ihres Gesichtes glich den weiß-rosa blühenden Mandelknospen vor dem Haus.

Auch die Haltung ihres Kopfes war stolz, und ihr wunderschön geschwungener Hals betonte den Liebreiz ihrer Bewegungen.

Mit einem Anflug von Belustigung in der Stimme sagte Petula: „Wenn Sie einen Augenblick im Salon Platz nehmen wollen, werde ich für den Most sorgen. Außer Annie, meiner alten Kinderfrau, ist sonst niemand im Haus.“

„Ich möchte Ihnen keinerlei Mühe machen, Miss Buckden“, erwiderte der Major.

„Nicht der Rede wert“, sagte Petula mechanisch.

Er wirkte ungewöhnlich groß und breitschultrig, als er durch die Salontür schritt, die ihm Petula öffnete. Dann lief sie eilig den langen Korridor zur Küche hinunter.

Das Haus war viel zu groß für sie und Annie. Mindestens zwölf Bedienstete wären nötig gewesen, um es zu betreuen. Aus diesem Grund hatten sie beschlossen, die nicht benutzten Räume zu schließen und nur jene instandzuhalten, die wirklich gebraucht wurden.

Es war der Tag in der Woche, an dem Annie gewöhnlich Brot backte, und wie Petula erwartet hatte, steckte sie mitten in der Arbeit.

„Ihr Tee ist noch nicht gerichtet, Miss Petula“, sagte sie, ohne aufzuschauen, „und eine Kruste vom frischen Brot gibt’s auch noch nicht. Ich weiß ja, daß Sie schon darauf warten.“

„Du irrst dich, Annie! Ich brauche eine Kanne Most.“

„Most?“ entrüstete sich Annie. „Wenn Adam glaubt, er bekäme zu dieser Tageszeit Most, dann irrt er sich aber!“

„Es ist doch gar nicht für Adam“, erklärte Petula, während sie eine Glaskanne und einen Becher vom Regal nahm. „Wir haben Besuch!“

„Besuch?“ rief Annie aus. „Das ist ja mal was anderes! Ist es der Herr Vikar?“

„Nein, Annie. Es ist der großartigste Gentleman, den du je gesehen hast! Ihm ging ein Rad kaputt, als er bei der Böschung unten auf Neds Fuhrwerk prallte.“

„Na, da wette ich aber, daß Ned wieder mal verschlafen war!“ meinte Annie scharf. „Man sollte ihm überhaupt nicht mehr erlauben zu fahren, wenn er nicht weiß, in welche Richtung sein Wagen geht.“

„Aber Annie! Das Pferd kennt doch den Weg auswendig“, lachte Petula. „Außerdem vermute ich stark, daß der Gentleman zu schnell gefahren ist, wenngleich ich nicht wagen würde, es laut zu sagen …“

„Es gibt keinen Gentleman, der nicht zu schnell fährt“, entgegnete Annie. „Als Ihr Vater noch lebte, hab’ ich ihm das oft genug gesagt.“

„Nur hatte Papa selten gute Pferde“, antwortete Petula mit einem erstickten Schluchzer in der Stimme. Ihre schönen Augen standen voller Tränen.

Noch fast fünf Monate nach seinem Tode fiel es ihr schwer, ohne zu weinen an ihren Vater zu denken. Er fehlte ihr entsetzlich.

Sie ging in die kühle Speisekammer neben der Küche. Nur wenige spärliche Vorräte standen auf den breiten Marmorregalen. Petula erinnerte sich, wie reich gefüllt sie zu Zeiten ihres Großvaters gewesen waren. Damals gab es Schüsseln voller frischer Sahne, große Tiegel gelber Butter und Weidenkörbe, gefüllt mit braunen Eiern. Die wenigen Eier, die jetzt vorhanden waren, kamen von einigen Hennen, die Annie hegte. Sie wurden nur zu besonderen Gelegenheiten gegessen. Und dann stand da noch eine Kanne Milch, die Adam jeden Morgen vom benachbarten Bauern holte.

Unter einer der Marmorplatten, standen drei Steinkrüge mit hausgemachtem Apfelmost, der für gelegentliche Besucher und für Adam bestimmt war. Ein tägliches Glas Most gehörte gewissermaßen zu Adams Lohn, und obwohl Annie darüber die Nase rümpfte, hatte Petula diese alte Gewohnheit ihres Vaters beibehalten.

Die Steinkrüge wurden aufgefüllt, sobald sie leer waren. Jetzt kippte sie vorsichtig den schweren Krug und füllte die Glaskanne, die sie auf dem gefliesten Boden abgestellt hatte.

Petula ging zurück in die Küche. Annie hatte inzwischen ein Silbertablett bereitgestellt.

„Ein Glück, daß ich das Silber vor zwei Tagen geputzt hab’“, meinte sie. „Immer hab’ ich’s vor mir hergeschoben, bis ich mich schließlich schämte, es so angelaufen zu sehen.“

„Ich bin überzeugt, daß unser Gast von dem Glanz beeindruckt sein wird“, lachte Petula.

Eigentlich aber meinte sie, daß auf Buckden Manor nichts den Major beeindrucken könne. Dennoch fand sie es aufregend, einen Gast im Hause zu haben. Oft bekam sie wochenlang niemanden außer Annie und Adam zu Gesicht. Manchmal ging sie unter irgendeinem Vorwand ins Dorf, nur um mit dem Schlachter oder seiner Frau ein paar Worte zu wechseln.

Als Petula nun durch den langen Korridor zum Salon ging, fiel ihr plötzlich ihr Aussehen ein. Vielleicht hätte ich hinaufgehen sollen, um mich umzuziehen, dachte sie. Dann aber sagte sie sich, es sei ja doch höchst unwahrscheinlich, daß dieser Major Chester sie überhaupt bemerke. Und wenn, dann doch nur in der etwas herablassenden Art, mit der er sie vorher behandelt hatte. Er scheint sehr von seiner Wichtigkeit überzeugt zu sein, überlegte sie. Wahrscheinlich ist er reich, und reiche Männer glauben meistens, die Welt gehöre ihnen.

Sie brachte den Most in den Salon und sah den Major am offenen Fenster stehen. Er blickte über den ungepflegten Rasen. Die Felder, die an den Garten grenzten, fielen leicht ab und mündeten in einem Birkenwäldchen. Dahinter lag hügeliges Land, das zum Horizont hin bergig wurde.

„Sie haben einen sehr schönen Blick von hier aus, Miss Buckden“, sagte der Major und drehte sich Petula zu.

„Ja, ich liebe ihn“, antwortete sie. „Allerdings kenne ich auch nicht viele andere Orte.“

„Haben Sie immer hier gelebt?“

„Ja. Seit Königin Elisabeths Zeiten haben in diesem Hause Buckdens gelebt, und man kann wirklich nicht sagen, daß sie viel herumgekommen wären.“

Der Major lächelte, während er sich ein Glas Most einschenkte.

„Ihrer Bemerkung nach zu schließen, nehme ich an, daß Sie gerne reisen würden.“

„O ja, das würde ich gerne!“ erwiderte Petula. „Jetzt, da der Krieg zu Ende ist, sind die Menschen ja nicht mehr gezwungen, in England zu bleiben, und ich bin sicher, daß viele nur darauf warten, sich auf Reisen zu begeben.“

„Das stimmt“, meinte der Major. „Diejenigen aber, die wie ich genug haben vom Kämpfen, bleiben gern zu Hause.“

„Haben Sie gegen Bonaparte gekämpft?“

„Ja, eine kurze Zeit. Hauptsächlich aber war ich in Indien, wo ich an militärischen Aktionen teilgenommen habe.“

„Oh, das finde ich sehr aufregend!“

Petula war voller Interesse und Wißbegierde.

„Über Indien würde ich zu gern mehr erfahren! Der ganze Ferne Osten scheint mir so faszinierend. Vielleicht auch nur, weil ich so wenig darüber weiß.“

„Manche Teile von Indien sind wirklich faszinierend, wie Sie sich ausdrücken“, sagte der Major. „Es ist aber auch sehr heiß dort, und Krieg kann in Indien sehr beschwerlich sein.“

Er sagte Letzteres in einem trockenen Ton, der Petula vermuten ließ, er wolle nicht gern darüber sprechen.

Sie schwiegen beide.

Dann setzte der Major sein Glas auf das Tablett und sagte: „Ich danke Ihnen für den erfrischenden Most. Jetzt will ich aber doch die Pferde holen und sie im Stall unterstellen, wie Sie mir angeboten haben, bis ich weiß, wie lange der Stellmacher für seine Arbeit braucht.“

„Adam wird eine Weile brauchen, bis er ihn findet“, gab Petula zu bedenken. Sie blickte auf die Uhr und sagte: „Ich meine ... er wird es kaum vor dem Abendessen schaffen. Würden Sie in diesem Fall gern etwas zu sich nehmen, bevor Sie die Weiterreise antreten?“

Petula sprach etwas zögernd, denn sie überlegte angestrengt, was überhaupt im Hause sei, das sie ihm anbieten könnte.

Auch der Major zögerte.

„Ich meine, Ihnen schon viel zu viel Mühe gemacht zu haben“, sagte er. „Vielleicht kann die Dorfherberge für ein Nachtessen für mich und meinen Diener sorgen.“

„Außer Brot und Käse werden Sie dort nichts bekommen“, erwiderte Petula. „Ich bin sicher, Annie kann etwas mehr bieten, wenngleich es sich nicht mit den von Ihnen gewohnten Speisen vergleichen lassen wird.“

„Ich kann Ihnen versichern, daß ich als Soldat nicht immer gut verpflegt wurde“, entgegnete der Major mit einem Lächeln, „und ich werde Ihnen zu Dank verpflichtet sein, wenn ich vor der bevorstehenden langen Fahrt Ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen dürfte.“

„Wir werden unser Bestes tun“, sagte Petula einfach, „aber ich bitte Sie, nicht zu kritisch zu sein.“

„Ich verspreche Ihnen, nur voller Dank für Ihre Liebenswürdigkeit zu sein“, antwortete der Major.

Petula wartete noch, bis der Major das Haus verließ und die Auffahrt hinunterging. Dann lief sie in die Küche.

„Annie, schnell, schnell“, rief sie, „er bleibt zum Abendessen und sein Diener wird auch Hunger haben!“

„Bleibt zum Abendessen? Wovon sprechen Sie, um Himmels willen, Miss Petula?“

„Von Major Chester, Annie! Er ist jetzt seine Pferde holen gegangen, und Adam ist auf Jarvis’ Hof gefahren, um Ben zu benachrichtigen. Er wird dafür aber Stunden brauchen, wie du weißt, denn Ben hat sich noch nie im Leben beeilt.“

„Und Sie erwarten von mir, daß ich ein Abendessen bereite, Miss Petula? Womit denn bloß, wenn ich fragen darf?“

Petula schaute Annie hilflos an.

„Es muß doch noch etwas im Haus sein, Annie!“

„Ich hab’ nichts als ein Stückchen Lammfleisch, das für Ihr Mittagessen morgen gedacht war, und ein paar Eier.“

Petula hatte die Speisekammer geöffnet und betrachtete verzweifelt die leeren Regale.

Dann klang es fast wie ein Jubelschrei: „Annie, da ist doch das Kaninchen, das Adam in die Falle ging und das er seinem Hund mit nach Hause nehmen wollte!“

„Na, das ist ja schon besser als gar nichts!“ meinte Annie. Dann fügte sie hinzu: „Seinem Hund mitnehmen - natürlich! Selber wollte er es essen, der gefräßige Halunke, während wir hier fast verhungern!“

„Adam arbeitet hart, und er muß doch auch essen, Annie!“

„Aber nicht unsere Kaninchen“, erklärte Annie barsch.

„Annie, wenn etwas übrig bleibt, mußt du ihm aber etwas abgeben“, meinte Petula beschwichtigend. „Schließlich war es doch seine Falle und, wenn die Kaninchen überhaupt jemandem gehören, dann doch ihm. Wir haben kein Recht auf das, was wir weder gefangen noch erlegt haben.“

„Das bestreite ich ja gar nicht, Miss Petula“, sagte Annie. „Nur, wenn Adam einmal das täte, was man ihm aufträgt, hätten wir mehr Vorräte in diesem Haus.“

„Ach, Annie, zu dieser Jahreszeit...“ begann Petula.

Aber es hatte wohl keinen Zweck, Annie davon zu überzeugen, daß Tiere ihre Schonzeit haben. Annie, die auf dem Lande geboren und aufgewachsen war, bestand darauf, daß Tauben, Rebhühner und Hasen ihr das ganze Jahr über die Speisekammer füllen müßten.

Petula reichte ihr das Kaninchen, und Annie legte es auf den Tisch. Es war ein junges Tier, aber doch groß genug für eine Mahlzeit, wenn der Esser nicht gerade einen Wolfshunger hatte.

„Und hier sind die Eier, Annie, damit du ein Omelett machen kannst.“

„Alle meine Eier!“ rief diese entsetzt. „Wir wären damit sonst einige Tage ausgekommen, Miss Petula!“

„Ich werde sicher noch Nester entdecken, die du nicht gefunden hast“, versprach Petula. „Ich laufe in den Garten und werde sehen, was sich an Gemüse ernten läßt.“

Und als sie in der Tür stand, sagte sie: „Gott sei Dank sind an der Südmauer schon einige Erdbeeren reif, also haben wir sogar einen Nachtisch. Ich weiß doch, daß du irgendwo auch noch etwas Sahne versteckt hältst, Annie!“

„Ich kann nur sagen, Miss Petula, wir werden den Rest der Woche ganz schön fasten müssen“, jammerte Annie.

„Das schaffen wir schon irgendwie“, lächelte ihr Petula zu und lief hinaus.

Viele Vorbereitungen mußten noch getroffen werden.

Es bleibt mir kaum Zeit zum Atmen, dachte Petula.

Da erschien auch schon der Major auf dem Weg vor dem Hause. Er führte zwei Pferde am Zügel und sein Diener ebenfalls zwei. Ihr Anblick versetzte Petula in so großes Entzücken, daß sie alles andere vergaß. Noch nie hatte sie so prächtige Tiere gesehen, ein so harmonisch abgestimmtes Gespann von Füchsen. Sie bewunderte die langen Mähnen, ihre leuchtende Farbe, die in der Sonne schimmerte, als seien die Pferde einem Bild des Malers George Stubbs entsprungen.

Der Major lenkte die Pferde in den Stall, und Petula folgte ihm. Ihr fiel auf, daß der Diener eine sehr schöne Livree trug, mit kleinen Kronen auf den Silberknöpfen.

„Stroh ist vorrätig, Jason“, sagte der Major, „nur ist der Mann, der dafür sorgt, auf dem Weg zum Stellmacher.“

Petula fürchtete, der Diener würde mit Herablassung antworten, und sagte schnell: „Es ist hinten im Stall gestapelt. Ich will gern helfen, es auszubreiten.“

„Das kommt gar nicht in Frage!“ sagte der Major bestimmt. „Dafür wird Jason sorgen, wenn Sie ihm nur zeigen wollen, wo das Stroh liegt.“

Petula verstand, daß seine Worte nicht nur eine Antwort für sie, sondern auch ein Befehl für den Diener waren.

Das Stroh, das für Bessie als warmes Winterlager bestimmt war, lag in der hintersten Stallecke. Dort hatte es der Bauernjunge abgeladen, als er es brachte.

„Hier ist es“, erklärte Petula.