Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden - Selma Lagerlöf - E-Book

Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden E-Book

Selma Lagerlöf

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Beschreibung

Nils Holgersson ist faul, quält die Tiere auf dem elterlichen Hof und stiftet Unheil, wo er nur kann – bis er eines Tages von einem Kobold in einen Däumling verwandelt wird. Er versteht nun die Sprache der Tiere, schließt sich mit dem zahmen Gänserich Martin einer Gruppe Wildgänse an und begibt sich auf ein einzigartiges Abenteuer. Während er auf dem Rücken des Gänserichs durch Schweden getragen wird, erfährt er alles über die Tiere, sein Land und seine Kultur. Die Reise, an deren Ende Nils ein ganz anderer sein wird als zu Beginn, geht von den südlichen Landesteilen Schwedens hinauf in den äußersten Norden und wieder zurück. Eine wunderbare Geschichte über Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit. Die wunderbare Geschichte der Abenteuer des Nils Holgersson, ursprünglich von Selma Lagerlöf als Lesebuch für den Heimatkundeunterricht in Schweden verfasst, zählt zu den weltweit bekanntesten und beliebtesten Kinderbüchern. Der Klassiker erscheint hier in der von der Autorin selbst gekürzten und von ihr autorisierten Fassung (die weit mehr bietet als die verbreiteten Kinderbuchausgaben!) in der meisterhaften Übersetzung von Gisela Perlet. – Mit einer kompakten Biographie der Autorin.

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Seitenzahl: 664

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Selma Lagerlöf

Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden

Aus dem Schwedischen übersetzt von Gisela PerletNachwort von Ruprecht Volz

Reclam

Der Übersetzung liegt die Ausgabe zugrunde:

Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige. Förkortad upplaga. Stockholm: Albert Bonniers förlag, 1956.

 

1996, 2020 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: © shutterstock.com / Cartone Animato (Linien); © Gutentag-Hamburg (Gänse)

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961700-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020597-6

www.reclam.de

Inhalt

Der JungeDer KoboldDie WildgänseDas karierte TuchAkka von KebnekajseDer AbendDie NachtWildvogellebenIm Park von ÖvedsklosterDas EichhörnchenweibchenDie AusspracheGlimmingehusSchwarze Ratten und graue RattenDer StorchDer RattenfängerDer große Kranichtanz auf dem KullabergIn BlekingeIm RegenDie Treppe mit den drei StufenAm Ronneby-FlussKarlskronaDie Reise zur Insel ÖlandDie Südspitze von ÖlandDer große SchmetterlingDie Kleine KarlsinselDer SturmDie SchafeDas HöllenlochZwei StädteDie Stadt auf dem MeeresgrundDie lebendige StadtDie KrähenDer TonkrugVon Krähen geraubtDie HütteDie alte BauersfrauDer große VogelseeJarro, der WildenterichDer LockvogelDie Trockenlegung des SeesDie ProphezeiungEin Stück aus grobem WollstoffDie Geschichte von Karr und GraufellDer KolmårdenKarrGraufells FluchtGraufells TodDer schöne LustgartenIn NärkeYsätters-KajsaDer Abend vor dem MarkttagDie ErbteilungIn den BergbaurevierenDie EisenhütteDer DalälvDer LöwenanteilDie alte GrubenstadtDie Sage von der Falu-GrubeDie WalpurgisnachtWas Moor-Kersti erzählteBei den KirchenDie ÜberschwemmungDie Schwäne in der HjälstabuchtDer neue KettenhundDie Sage von UpplandDie Stadt, die auf dem Wasser schwimmtStockholmGorgo, der AdlerIm GebirgstalIn GefangenschaftÜber Gästrikland weiterDer kostbare GürtelDer Tag des WaldesEin Tag in HälsinglandEin großes grünes BlattDie Silvesternacht der TiereIn MedelpadEin Morgen in ÅngermanlandVästerbotten und LapplandDie fünf KundschafterDer TraumDie AnkunftDas Gänsemädchen Åsa und der kleine MatsDie KrankheitDas Begräbnis des kleinen MatsBei den LappenNach Süden! Nach Süden!Der erste ReisetagAuf dem ÖstbergDie Sage von JämtlandEine Geschichte aus HärjedalenVärmland und DalslandEin kleiner GutshofUnterwegs zum MeerMeeressilberDie Sage von VästergötlandDie Reise nach VämmenhögBei Holger NilssonsAbschied von den WildgänsenNachwortZeittafel

Der Junge

Der Kobold

Sonntag, den 20. März

Es war einmal ein Junge. Er war etwa vierzehn Jahre alt, lang, dünn und flachshaarig und ein rechter Taugenichts. Am liebsten schlief und aß er, und dann machte er gern dumme Streiche.

Eines Sonntagmorgens wollten seine Eltern den Gottesdienst besuchen und machten sich dazu bereit. Der Junge saß derweil in Hemdsärmeln auf der Tischkante und freute sich, dass sie nun bald das Haus verließen. »Da kann ich mir Vaters Flinte herunterholen und einen Schuss abfeuern, ohne dass mich jemand stört«, dachte er.

Doch es schien fast, als hätte der Vater die Gedanken seines Sohns erraten, denn gerade als er davongehen wollte, drehte er sich noch einmal um. »Wenn du schon nicht mit uns in die Kirche willst, könntest du wenigstens die Predigt zu Hause lesen, finde ich. Versprichst du mir das?«

»Ja«, sagte der Junge sofort. Doch natürlich nahm er sich vor, nur so viel zu lesen, wie er Lust hätte.

Noch nie hatte der Junge seine Mutter so schnell laufen sehen. Im Nu war sie am Bücherbord, nahm Luthers Postille heraus, legte sie auf den Tisch am Fenster und schlug die Predigt des Tages auf. Dann schob sie den großen Lehnstuhl heran, in dem sonst keiner als Vater sitzen durfte.

Der Junge hielt es für übertrieben, dass sich seine Mutter mit diesen Vorbereitungen so viel Mühe machte, denn mehr als ein oder zwei Seiten wollte er gar nicht lesen. Da aber schien ihn sein Vater ein zweites Mal zu durchschauen. »Dass du auch ja ordentlich liest!«, sagte er in strengem Ton. »Wenn wir zurückkommen, frage ich dich jede Seite ab, und wehe du hast eine übersprungen, dann soll es dir schlecht ergehen!«

»Die Predigt ist vierzehn und eine halbe Seite lang«, sagte die Mutter, wie um das Maß vollzumachen. »Wenn du das alles schaffen willst, musst du dich wohl sofort daransetzen.«

Dann brachen sie endlich auf, und als der Junge in der Tür stand und ihnen nachsah, war ihm zumute, als säße er in einer Falle. »Da gehen sie und beglückwünschen sich wohl dazu, dass ich die ganze Zeit, wo sie weg sind, über der Predigt hocken muss«, dachte er.

Doch seine Eltern beglückwünschten sich ganz gewiss nicht, im Gegenteil, sie hatten großen Kummer. Sie waren arme Kätner, und ihr Besitz war nicht viel größer als ein kleiner Garten. Als sie hierhergezogen waren, hatten sie zuerst nicht mehr als ein Schwein und ein paar Hühner füttern können. Doch weil sie ungewöhnlich fleißige und tüchtige Leute waren, hielten sie jetzt auch Kühe und Gänse. Sie waren gewaltig vorangekommen, und sie wären an diesem schönen Morgen froh und zufrieden zur Kirche gewandert, hätten sie nicht an ihren Sohn denken müssen.

Der Vater klagte, der Junge habe in der Schule nichts lernen wollen und sei ein solcher Nichtsnutz, dass man ihn höchstens zum Gänsehüten gebrauchen könne. Die Mutter bestritt die Wahrheit seiner Worte nicht, doch sie bekümmerte am meisten, dass der Junge wild und ungezogen war, grausam zu Tieren und gemein zu Menschen. »Möge ihm Gott die Bosheit austreiben und einen anderen Sinn geben!«, sagte sie. »Sonst wird er sich und uns ins Unglück stürzen.«

Der Junge überlegte eine lange Zeit, ob er die Predigt nun lesen sollte oder nicht. Dann aber sagte er sich, dass es diesmal wohl am besten sei, den Eltern zu gehorchen. Er setzte sich in den Lehnstuhl und fing an zu lesen. Doch als er das eine Weile getan hatte, merkte er, dass ihm der Kopf schwer wurde.

Draußen war das allerschönste Frühlingswetter. Zwar war das Jahr nicht weiter als zum 20. März gekommen, aber der Junge wohnte in der Gemeinde West-Vämmenhög, tief unten im südlichen Schonen, und dort war der Frühling schon voll im Gang. Grün war es draußen noch nicht, doch es war frisch, und die Knospen sprießten. Alle Gräben waren voller Wasser, und der Huflattich am Grabenrand stand in Blüte. Alle Sträucher auf der Steineinfriedung des Hofes waren braun und blank geworden. Durch die angelehnte Haustür war das Tirilieren der Lerchen bis in die Stube zu hören. Hühner und Gänse liefen draußen herum, und hin und wieder muhten die Kühe, denn sie spürten die Frühlingsluft bis in ihre Verschläge.

Und der Junge las und nickte und kämpfte gegen die Müdigkeit. Doch es ging, wie es ging, er wurde vom Schlaf übermannt.

Er hatte noch nicht lange geschlafen, da erwachte er von einem leisen Geräusch im Hintergrund. Auf dem Fensterbrett vor ihm stand ein kleiner Spiegel, in dem fast das ganze Zimmer zu sehen war. Als der Junge nun den Kopf hob und sein Blick auf den Spiegel fiel, entdeckte er, dass jemand den Deckel von Mutters Truhe aufgeschlagen hatte.

Seine Mutter besaß eine große Truhe aus Eichenholz mit eisernen Beschlägen, die niemand als sie selbst öffnen durfte. Darin verwahrte sie alte Bauerntrachten und schwere Silberspangen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte und die sie besonders sorgfältig hütete.

Jetzt sah der Junge im Spiegel ganz deutlich, dass der Deckel der Truhe offen stand. Das war ihm unbegreiflich, denn Mutter hatte die Truhe geschlossen, bevor sie gegangen war. Es wäre ihr ganz gewiss nicht passiert, die Truhe offen zu lassen, wenn er sich allein im Haus aufhielt.

Ihm wurde richtig unheimlich zumute. Vielleicht hatte sich ein Dieb ins Haus geschlichen?

Während er vor dem Spiegel saß und hineinstarrte, bemerkte er mit Verwunderung, dass über den Rand der Truhe ein schwarzer Schatten fiel. Er guckte und guckte und wollte seinen Augen nicht trauen. Doch was er anfangs für einen Schatten gehalten hatte, wurde immer deutlicher, und bald erkannte er, dass es etwas Wirkliches war. Tatsächlich, es war ein Kobold, der rittlings auf dem Rand der Truhe saß.

Von Kobolden hatte der Junge zwar schon gehört, doch niemals hätte er sich vorgestellt, dass sie so klein sein könnten. Der da auf dem Truhenrand saß, war höchstens eine Handbreit groß. Er hatte ein altes, runzliges, bartloses Gesicht, trug einen langen schwarzen Rock, Kniehosen, einen schwarzen Hut mit breiter Krempe und, um richtig geputzt und fein zu sein, weiße Spitzen um Hals und Handgelenke, Schnallen an den Schuhen und Strumpfbänder mit Schleifen. Er war so in den Anblick der Truhe vertieft, dass er das Erwachen des Jungen nicht bemerkte.

Obwohl der ganz schön über den Kobold staunte, erschrak er doch nicht so heftig. Vor einem solchen Wicht konnte man sich gar nicht fürchten. Und weil der Kobold ganz mit sich selbst beschäftigt war und weder zu hören noch zu sehen schien, bekam der Junge Lust, ihm einen Streich zu spielen: ihn in die Truhe schubsen und den Deckel über ihm zuschlagen oder so etwas Ähnliches.

Er sah sich in der Stube nach einem Gegenstand um, mit dem er ihn anstoßen könnte. Er ließ seine Augen von der Schlafbank zum Klapptisch und vom Klapptisch zum Herd wandern, musterte die Töpfe und den Kaffeekessel auf dem Bord neben dem Herd, den Wassereimer an der Tür und Kochlöffel und Messer und Gabeln und Schüsseln und Teller, die in der halboffenen Schranktür sichtbar waren. Er sah hinauf zu Vaters Flinte, die an der Wand hing, und zu den Pelargonien und Fuchsien, die auf dem Fensterbrett blühten. Zuletzt fiel sein Blick auf einen alten Fliegenkescher am Fensterrahmen.

Kaum hatte er den entdeckt, da riss er ihn an sich, sprang auf und schwenkte ihn über den Rand der Truhe. Und er staunte selbst, was für ein Glück er hatte, denn es gelang ihm, den Kobold zu fangen. Das arme Kerlchen lag, den Kopf nach unten, auf dem Boden des langen Keschers und konnte nicht heraus.

Im ersten Augenblick wusste der Junge gar nicht, was er mit seiner Beute anstellen sollte. Er schwenkte den Kescher nur hin und her, damit ihm der Kobold ja nicht entwischen könnte.

Da begann der Kobold zu sprechen und bat ganz inständig um seine Freiheit. Er habe den Leuten des Hauses viele Jahre Gutes getan, sagte er, und verdiene wohl eine bessere Behandlung. Wenn der Junge ihn freilasse, wolle er ihm einen alten Speziestaler, einen silbernen Löffel und ein Goldstück geben.

Das hielt der Junge für ein gutes Angebot. Er ging sogleich darauf ein und hielt den Kescher an, damit der Kobold hinausklettern konnte. Doch als dieser fast draußen war, kam dem Jungen der Gedanke, er hätte sich ganz andere Reichtümer und alle möglichen Vorteile ausbedingen sollen. »Wie dumm von mir, dass ich ihn freigegeben habe!«, dachte er und begann den Kescher von neuem zu schütteln, um den Kobold wieder hineinfallen zu lassen.

Doch im selben Moment bekam er eine so entsetzliche Ohrfeige, dass er glaubte, sein Kopf würde in Stücke springen. Er flog erst gegen die eine, dann gegen die andere Wand, schlug schließlich hin und blieb bewusstlos liegen.

Als er zu sich kam, war er allein in der Kate. Vom Kobold entdeckte er keine Spur. Der Deckel der Truhe war geschlossen, und der Fliegenkescher hing wie immer am Fenster. Hätte der Junge nicht gespürt, wie seine rechte Wange von der Ohrfeige brannte, er hätte das Ganze beinah für einen Traum gehalten.

Doch als er nun zum Tisch gehen wollte, bemerkte er etwas Sonderbares. Die Stube konnte ja unmöglich gewachsen sein. Aber wie kam es dann, dass er so viele Schritte mehr als sonst machen musste, um den Tisch zu erreichen? Und was war mit dem Stuhl los? Der sah nicht größer aus, als er eben noch gewesen war, doch der Junge musste erst die Leiste zwischen den Stuhlbeinen erklimmen und dann auf den Sitz klettern. Und mit dem Tisch war es dasselbe. Um die Tischplatte zu überblicken, musste er auf die Armlehne des Stuhls steigen.

»Um Himmels willen, was ist denn das?«, sagte der Junge. »Ich glaube, der Kobold hat den Lehnstuhl und den Tisch und die ganze Stube verhext!«

Die Postille lag auf dem Tisch, und dem Anschein nach war sie unverändert. Doch irgendetwas war auch mit ihr nicht in Ordnung, denn der Junge musste sich geradezu in das Buch hineinstellen, um ein einziges Wort zu entziffern.

Als er ein paar Zeilen gelesen hatte, schaute er auf. Dabei fiel sein Blick in den Spiegel, und plötzlich rief er ganz laut: »Aber da ist ja noch ein Kobold!«

Er sah nämlich im Spiegel ganz deutlich einen winzig kleinen Knirps, bekleidet mit Zipfelmütze und Lederhosen.

»Der hat ja dasselbe an wie ich!«, sagte der Junge und klatschte vor Verwunderung in die Hände. Da entdeckte er, dass auch der Knirps im Spiegel klatschte.

Nun fing er an, sich an den Haaren zu ziehen, in die Arme zu kneifen und sich herumzudrehen, und augenblicklich machte jener, der im Spiegel zu sehen war, alles nach.

Der Junge lief ein paarmal um den Spiegel herum und untersuchte, ob sich dahinter irgendein Kerlchen versteckte. Doch als er niemanden fand, begann er vor Angst zu zittern, denn jetzt wurde ihm klar, dass ihn der Kobold verzaubert hatte und dass jener Knirps, dessen Bild er im Spiegel sah, kein anderer war als er selbst.

Die Wildgänse

Der Junge konnte es kaum fassen, dass er in einen Kobold verwandelt worden war. »Sicher ist das nur ein Traum oder eine Einbildung«, dachte er. »Wenn ich ein paar Augenblicke warte, werde ich bestimmt wieder Mensch.«

Er stellte sich vor den Spiegel und schloss die Augen. Ein paar Minuten später schlug er sie wieder auf und hoffte nun, dass der Zauber vorüber sei. Aber der war nicht vorüber – er war genauso klein wie zuvor. Ansonsten hatte er sich nicht verändert: Die flachsblonden Haare, die Sommersprossen auf der Nase, die Flicken auf der Lederhose und die Stopfstelle am Strumpf, alles war ganz genauso – es war nur kleiner geworden.

Nein, stillstehen und abwarten, das half nichts. Am klügsten schien ihm zu sein, den Kobold aufzuspüren und sich mit ihm zu versöhnen.

Da sprang der Junge vom Tisch und machte sich auf die Suche. Er guckte hinter Stühle und Schränke, unter die Schlafbank und in den Backofen. Er kroch sogar in ein paar Mauselöcher, doch den Kobold konnte er nicht finden.

Er weinte und flehte und versprach alles, was man sich denken kann. Nie wieder wollte er sein Wort brechen, nie wieder wollte er böse sein, nie wieder wollte er über der Predigt einschlafen. Wenn er nur wieder Mensch werden dürfte, dann sollte ein ganz prächtiger, lieber, gehorsamer Junge aus ihm werden.

Auf einmal erinnerte er sich, dass Mutter gesagt hatte, die kleinen Geister hielten sich zumeist im Kuhstall auf, und sogleich beschloss er, dorthin zu gehen. Zum Glück war die Stubentür nur angelehnt, denn das Schloss hätte er weder erreichen noch öffnen können.

Als er in den Flur kam, sah er sich nach seinen Holzschuhen um, denn im Zimmer war er ja auf Socken herumgelaufen. Während er noch überlegte, was er mit den großen, klobigen Holzschuhen anstellen sollte, entdeckte er auf der Schwelle ein Paar kleine Schuhe. Dass der Kobold auch daran gedacht hatte, seine Holzschuhe zu verwandeln, versetzte ihn noch mehr in Angst. Demnach sollte dieses Elend wohl recht lange dauern.

Auf der alten Eichenbohle, die vor der Haustür lag, hüpfte ein Spatz. Kaum hatte er den Jungen erblickt, da rief er schon: »Tititt! Tititt! Guckt euch mal den Gänsejungen Nils an! Guckt euch mal den Däumling an! Guckt euch mal den Däumling Nils Holgersson an!«

Sogleich richteten Gänse und Hühner ihre Blicke auf den Jungen, und es gab ein entsetzliches Geschnatter und Gegacker. »Kikeriki«, krähte der Hahn, »das ist ihm recht geschehen! Kikeriki, er hat mich am Kamm gezogen!« – »Gack, gack, gack, das ist ihm recht geschehen«, riefen die Hühner immer wieder, bis in die Unendlichkeit. Die Gänse drängten sich dicht aneinander, steckten die Köpfe zusammen und fragten: »Wer mag das getan haben? Wer mag das getan haben?«

Doch am merkwürdigsten daran war, dass der Junge ihre Worte verstand. Er war so verblüfft, dass er auf der Schwelle stehen blieb und lauschte. Er konnte die Vogelsprache wohl deshalb verstehen, weil er in einen Kobold verwandelt war.

Es war unerträglich, dass die Hühner mit ihrem Spruch, das sei ihm recht geschehen, gar nicht aufhören wollten. Er warf einen Stein nach ihnen und rief: »Jetzt seid aber still, ihr Gesindel!«

Aber er hatte nicht bedacht, dass die Hühner vor seiner jetzigen Gestalt keine Angst mehr zu haben brauchten. Die ganze Schar stürzte auf ihn los und kakelte: »Gack, gack, gack, das ist dir recht geschehen! Gack, gack, gack, das ist dir recht geschehen!«

Der Junge wäre ihnen wohl nie entkommen, wenn jetzt nicht die Hauskatze erschienen wäre. Bei ihrem Anblick verstummten die Hühner sofort, scharrten in der Erde nach Würmern und schienen an nichts anderes zu denken.

Der Junge lief sogleich auf die Katze zu. »Liebe Mieze«, sagte er, »du kennst bestimmt alle Winkel und Schlupflöcher auf dem Hof. Sag mir sofort, wo ich den Kobold finde!«

Die Katze ließ sich mit der Antwort Zeit. Sie setzte sich, ringelte hübsch ihren Schwanz vor den Beinen und starrte den Jungen an. Sie war groß und schwarz und hatte einen weißen Fleck auf der Brust, ihr glattes Fell glänzte im Sonnenschein. Die Krallen hatte sie eingezogen, und ihre Augen waren vollkommen grau, bis auf einen kleinen, schmalen Spalt in der Mitte. Die Katze sah aus, als wollte sie keinem ein Härchen krümmen.

»Wo der Kobold wohnt, weiß ich wohl«, sagte sie mit sanfter Stimme, »aber das heißt nicht, dass ich es dir erzählen will.«

»Liebe Mieze, du musst mir helfen«, sagte der Junge. »Siehst du denn nicht, wie er mich verzaubert hat?«

Die Katze öffnete ein wenig die Augen und ließ darin die grüne Bosheit glitzern, sie schnurrte vor Wohlbehagen. »Soll ich dir vielleicht dafür helfen, dass du mich so oft am Schwanz gezogen hast?«, sagte sie.

Da wurde der Junge wütend und vergaß völlig, wie klein und machtlos er jetzt war. »Ich kann dich gleich noch mal am Schwanz ziehen«, sagte er und stürzte auf die Katze los.

Die war im nächsten Augenblick so verändert, dass der Junge sie kaum für dasselbe Tier halten konnte. Jedes Haar ihres Fells war gesträubt. Der Rücken hatte sich gekrümmt, die Beine waren länger geworden, die Krallen kratzten in der Erde, der Schwanz war nun kurz und dick, die Ohren legten sich zurück. Sie fauchte, und ihre weitaufgerissenen Augen leuchteten von rotem Feuer.

Der Junge wollte sich von einer Katze nicht erschrecken lassen und ging einen weiteren Schritt auf sie zu. Da aber machte die Katze einen Satz, stürzte sich auf ihn, warf ihn zu Boden, setzte ihm die Vorderpfoten auf die Brust und riss den Rachen auf, direkt über seiner Kehle.

Als der Junge spürte, wie die Krallen durch Weste und Hemd in seine Haut eindrangen und wie die scharfen Eckzähne seine Kehle kitzelten, schrie er aus Leibeskräften um Hilfe.

Doch niemand kam, und er war fest davon überzeugt, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Da merkte er, dass die Katze die Krallen einzog und seine Kehle freigab.

»So«, sagte sie, »jetzt mag es genug sein. Der Herrin zuliebe will ich dich für diesmal laufen lassen. Ich wollte dir nur zeigen, wer von uns beiden jetzt die Macht hat.«

Damit ging die Katze ihrer Wege und sah genauso fromm und sanftmütig aus, wie sie gekommen war. Der Junge brachte vor Scham kein Wort heraus und lief schnell zum Kuhstall.

Dort standen nicht mehr als drei Kühe. Doch als der Junge eintrat, gab es ein Muhen und Brüllen, dass man hätte glauben können, es wären mindestens dreißig.

»Muh, muh, muh«, brüllte Mairose, »wie gut, dass es Gerechtigkeit auf der Welt gibt.«

»Muh, muh, muh«, brüllten sie alle drei. Sie schrien derart durcheinander, dass der Junge ihre Worte nicht verstand.

Die Kühe waren so aufgebracht, dass sich der Junge nicht vernehmlich machen und nach dem Kobold fragen konnte. Sie führten sich auf, als hätte er wieder einmal einen fremden Hund in ihren Stall gelassen. Sie schlugen mit den Hinterbeinen, rüttelten an ihren Halsketten und stießen mit den Hörnern.

»Komm nur her«, sagte Mairose, »dann sollst du einen Stoß kriegen, an den du lange denken wirst!«

»Komm her«, sagte Gold-Lilie, »dann sollst du mal auf meinen Hörnern tanzen!«

»Komm her, dann sollst du spüren, wie es schmeckte, als du mich letzten Sommer mit deinen Holzschuhen beworfen hast!«, brüllte Stern.

»Komm her, dann will ich dir die Wespe heimzahlen, die du mir ins Ohr gesteckt hast!«, schrie Gold-Lilie.

Mairose, die Älteste und Klügste von ihnen, war am zornigsten. »Komm her«, rief sie, »damit ich Vergeltung an dir üben kann, weil du deiner Mutter so oft den Melkschemel weggezogen hast, und Vergeltung für all die Tränen, die sie deinetwegen hier vergießen musste!«

Der Junge wollte den Kühen sagen, wie sehr es ihm leidtue, dass er sie so hässlich behandelt hatte. Aber sie hörten ihm gar nicht zu. Sie brüllten derart, dass er es für am besten hielt, still aus dem Kuhstall zu verschwinden.

Als er hinaus ins Freie kam, war er sehr niedergeschlagen. Er wusste nun, dass ihm niemand auf dem Hof helfen würde.

Er kletterte auf die breite Steineinfriedung, die das Gehöft umschloss. Dort setzte er sich nieder und dachte über die Folgen nach, wenn er nicht wieder Mensch werden könnte. Vater und Mutter würden sich bei ihrer Heimkehr vom Kirchgang aber wundern! Ja, im ganzen Land würde man sich wundern, und die Leute aus Ost-Vämmenhög und aus Torp und aus Skurup würden kommen, um ihn zu besichtigen.

Er fühlte sich ganz furchtbar unglücklich. So unglücklich wie er war niemand auf der ganzen Welt. Er war kein Mensch mehr, sondern ein Scheusal.

Allmählich wurde ihm bewusst, was es bedeutete, kein Mensch mehr zu sein. Von allem war er jetzt ausgeschlossen: Er konnte nicht mehr mit anderen Jungen spielen, er konnte nicht die Kate der Eltern übernehmen, und ein Mädchen heiraten konnte er schon gar nicht.

Da saß er nun und betrachtete sein Heim. Es war ein kleines, weißgetünchtes Fachwerkhaus, unter dem hohen, steilen Strohdach wie in den Boden gedrückt. Auch die Wirtschaftsgebäude waren klein, und die Äcker waren so schmal, dass sich ein Pferd kaum darauf herumdrehen konnte. Doch so winzig und ärmlich das Anwesen auch war, für ihn war es jetzt noch viel zu gut. Eine bessere Wohnung als ein Loch unter dem Stallboden konnte er nicht verlangen.

Noch nie hatte er den Himmel so blau gesehen wie an diesem Tag. Und Zugvögel kamen geflogen. Sie waren über die Ostsee gereist, hatten Smygehuk angesteuert und zogen nun weiter nach Norden. Sicher waren es viele verschiedene Vogelarten, er konnte jedoch nur die Wildgänse erkennen, deren Flugordnung einem Schneepflug glich.

Mehrere solcher Scharen waren schon vorbeigezogen. Obwohl sie in großer Höhe flogen, hörte er trotzdem, wie sie schrien: »Jetzt geht’s in die Berge! Jetzt geht’s in die Berge!«

Als die Wildgänse die Hausgänse erblickten, die auf dem Hof herumliefen, näherten sie sich dem Boden und riefen: »Kommt mit! Kommt mit! Jetzt geht’s in die Berge!«

Die Hausgänse hoben unwillkürlich die Köpfe und lauschten. Doch sie antworteten sehr vernünftig: »Wir haben es gut hier. Wir haben es gut hier.«

Wie gesagt, es war ein wunderschöner Tag, und die Luft war so frisch und leicht, dass es eine wahre Freude sein musste, darin zu fliegen. Und bei jeder neuen Wildgänseschar, die vorüberflog, wurden die zahmen Gänse unruhiger. Sie flatterten ein paarmal mit den Flügeln, als hätten sie Lust, den anderen zu folgen. Doch eine alte Gänsemutter ermahnte sie stets: »Jetzt seid nicht verrückt! Die da oben müssen hungern und frieren.«

Auf dem Hof war ein junger Gänserich, den bei den Rufen der Wildgänse eine richtige Reiselust ergriffen hatte. »Wenn noch eine Schar kommt, dann fliege ich mit«, sagte er.

Als nun die nächsten Wildgänse auftauchten und wie die anderen schrien, antwortete er: »Wartet! Wartet! Ich komme.«

Er breitete die Flügel aus und erhob sich in die Luft, aber er war das Fliegen so wenig gewöhnt, dass er gleich wieder zu Boden fiel.

Die Wildgänse mussten seine Worte trotzdem gehört haben. Sie kehrten um und flogen langsam zurück, um zu sehen, ob er tatsächlich käme.

»Wartet! Wartet!«, rief er und machte einen zweiten Versuch.

Der Junge, der auf der Steineinfriedung lag, hörte alles mit an. »Wenn der große Gänserich wirklich davonfliegt, das wäre jammerschade«, dachte er. »Vater und Mutter werden sich grämen, wenn der Gänserich bei ihrer Heimkehr verschwunden ist.«

Wieder vergaß er, dass er jetzt klein und machtlos war. Er sprang mitten in die Schar der Gänse und umklammerte den Hals des Gänserichs mit seinen Armen. »Das lass mal schön bleiben, du fliegst nicht weg, du!«, rief er.

Doch genau in diesem Moment hatte der Gänserich herausgefunden, wie er es anstellen musste, um vom Boden abzuheben. Er hatte keine Zeit mehr, den Jungen abzuschütteln, sondern schwang sich mit ihm in die Lüfte.

Es ging so schnell empor, dass dem Jungen schwindlig wurde. Bevor er daran denken konnte, den Hals des Gänserichs loszulassen, war er schon so hoch, dass ein Sturz in die Tiefe den Tod bedeutet hätte.

Er konnte nur eins tun, um seine Lage ein wenig zu verbessern: Er musste versuchen, auf den Rücken des Gänserichs zu klettern. Das schaffte er, obgleich nur mit großer Mühe, und es war auch gar nicht einfach, sich auf dem glatten Rücken zwischen den schlagenden Flügeln festzuhalten. Er musste mit beiden Händen tief in Federn und Daunen greifen, um nicht herunterzufallen.

Das karierte Tuch

Der Junge war von dreizehn Gänsen umgeben. Alle flatterten und schnatterten, die Flügel bewegten sich auf und ab, und in den Federn brauste es wie ein ganzer Sturm. Er war vollkommen durcheinander. Es tanzte vor seinen Augen und sauste in seinen Ohren.

Endlich kam er so weit zur Besinnung, dass er einen Gedanken fassen konnte: Er musste herausbekommen, wohin die Gänse ihn trugen. Doch als er deswegen in die Tiefe schaute, glaubte er unter sich ein großes Tuch ausgebreitet zu sehen, das in viele kleine und große, verschiedenfarbige Karos eingeteilt war.

»Um Himmels willen, wohin bin ich nur geraten?«, fragte er sich.

Er sah immer nur ein Karo neben dem anderen. Einige waren schräg und andere länglich, doch alle hatten Ecken und gerade Ränder, nichts war rund und nichts war krumm.

»Was ist denn das für ein großes, kariertes Stück Stoff da unten?«, fragte der Junge, ohne eine Antwort zu erwarten.

Doch die Wildgänse, die rechts und links von ihm flogen, riefen sogleich: »Äcker und Wiesen. Äcker und Wiesen.«

Da wurde ihm klar, dass dieses große karierte Tuch, das er gerade überflog, der flache Boden von Schonen war. Und er begriff nun auch, weshalb es so vielfarbig und kariert aussah. Die hellgrünen Karos erkannte er zuerst: Das waren Roggenfelder, die man im vorigen Herbst bestellt hatte und die unter dem Schnee grün geblieben waren. Die gelbgrauen Karos waren Stoppelfelder, auf denen im letzten Sommer Getreide gestanden hatte. Die bräunlichen waren alte Kleewiesen, und die schwarzen waren leeres Weideland oder umgepflügte Brachäcker. Es gab auch dunkle Karos, die innen grau waren: Das waren die großen, viereckig gebauten Bauernhöfe mit ihren schwarz gewordenen Strohdächern und den gepflasterten Hofplätzen. Und dann gab es Karos mit grüner Mitte und braunen Rändern: Das waren Gärten, deren Rasenflächen schon grünten, obwohl die Rinde der Sträucher und Bäume rundherum noch nackt und braun war.

Als der Junge sah, wie kariert alles war, musste er ganz einfach lachen.

Allmählich gewöhnte er sich an das Reiten und an die Geschwindigkeit und brauchte sich nicht mehr so sehr darauf zu konzentrieren, auf dem Gänserücken sitzen zu bleiben. Nun fiel ihm auf, dass die ganze Luft voller Vogelscharen war, die gen Norden flogen. Und zwischen den einzelnen Scharen wurde geschrien und gerufen.

»Aha, ihr seid heute herübergekommen«, riefen einige.

»Ja, das sind wir«, entgegneten die Gänse. »Was meint ihr, wie weit ist der Frühling?«

»Nicht ein Blatt an den Bäumen und kaltes Wasser in den Seen«, kam es zur Antwort.

Als die Gänse über einen Bauernhof flogen, auf dem zahmes Federvieh herumlief, schrien sie: »Wie heißt der Hof? Wie heißt der Hof?« Da reckte der Hahn den Kopf in die Höhe und antwortete: »Der Hof heißt Kleinfeld, in diesem wie im letzten Jahr, in diesem wie im letzten Jahr.«

Die meisten Gehöfte waren wohl nach ihren Besitzern benannt, wie es in Schonen üblich ist, doch statt zu antworten, dies sei Per Matssons oder Ola Bossons Hof, dachten sich die Hähne solche Namen aus, die ihnen passend erschienen. Die von armen Katen und Häuslerstellen riefen: »Dieser Hof heißt Kornlos.« Und von den allerärmsten schrien sie: »Dieser Hof heißt Wenigfutter, Wenigfutter, Wenigfutter.«

Den großen, wohlhabenden Bauernhöfen gaben die Hähne prächtige Namen wie Glücksacker, Eierberg und Talersiedlung.

Nur die Hähne auf den Rittergütern waren zu hochmütig, um sich etwas Lustiges auszudenken. Einer von ihnen krähte und rief so laut, als sollte man ihn bis zur Sonne hören: »Dies ist Dybecks Rittergut. In diesem wie im letzten Jahr, in diesem wie im letzten Jahr.«

Und etwas weiter stand einer, der rief: »Dies ist Svaneholm. Das möge die ganze Welt erfahren.«

Der Junge merkte, dass die Gänse keine schnurgerade Linie flogen, sondern hierhin und dahin schwebten, über ganz Söderslätt, die südwestliche Ebene von Schonen, so als freuten sie sich, wieder hier zu sein, und wollten jeden Hof einzeln begrüßen.

Sie kamen an einen Ort, wo einige große, massive Gebäude mit hohen Schornsteinen und dazu eine Menge kleinerer Häuser standen. »Dies ist die Zuckerfabrik Jordberga«, riefen die Hähne. »Dies ist die Zuckerfabrik Jordberga.«

Dann verloren sie Jordberga aus den Augen und flogen weiter über Svedala und Skabersjö und zurück über Börringekloster und Häckeberga. Der Junge bekam an diesem einen Tag mehr von Schonen zu sehen als in all den Jahren, die er bisher hier gelebt hatte.

Den größten Spaß hatten die Wildgänse, wenn sie zahmen Gänsen begegneten. Sie näherten sich ihnen ganz langsam und riefen: »Jetzt geht’s in die Berge! Kommt ihr mit? Kommt ihr mit?«

Doch die Hausgänse antworteten: »Der Winter ist noch im Land. Ihr seid zu früh aufgebrochen. Kehrt wieder um! Kehrt wieder um!«

Die Wildgänse flogen tiefer, um besser gehört zu werden, und riefen nun: »Kommt mit, wir zeigen euch, wie man fliegt und schwimmt!«

Da ärgerten sich die zahmen Gänse und schnatterten nicht einmal zur Antwort.

Die Wildgänse gingen noch weiter hinunter, so dass sie fast den Erdboden streiften, und dann schwangen sie sich blitzschnell empor, als hätte sie etwas furchtbar erschreckt. »Oj, oj, oj!«, riefen sie. »Das sind keine Gänse. Das sind nur Schafe.«

Die Hausgänse gerieten vollkommen außer sich und schrien: »Erschießen sollte man euch, alle miteinander, alle miteinander!«

Als der Junge diese Scherze hörte, lachte er. Dann aber fiel ihm ein, wie schlimm es um ihn selber stand, und da musste er weinen. Doch nach kurzer Zeit lachte er schon wieder.

In solcher Windeseile war er noch nie vorangekommen, und er war immer gern schnell und wild geritten. Natürlich hatte er sich niemals vorgestellt, wie frisch und munter man sich in der Luft fühlte und wie gut der Geruch von Harz und Humus war, der vom Boden aufstieg. Und er hatte sich auch nicht vorgestellt, wie es wäre, hoch über der Erde zu reisen. Das war, als flöge man Kummer und Sorgen und Ärger aller nur möglicher Art einfach davon.

Akka von Kebnekajse

Der Abend

Der große zahme Gänserich, der sich zu den Wildgänsen in die Luft emporgeschwungen hatte, war sehr stolz darauf, dass er in dieser Gesellschaft über Söderslätt fliegen durfte. Aber wie glücklich er auch war, so ließen seine Kräfte im Laufe des Nachmittags doch nach, und bald blieb er mehrere Gänselängen hinter den anderen zurück.

Als die Wildgänse am Ende der Schar merkten, dass der Zahme nicht mithalten konnte, riefen sie ihrer Anführerin zu: »Akka von Kebnekajse! Akka von Kebnekajse!«

»Was wollt ihr von mir?«, fragte die Leitgans.

»Der Weiße bleibt zurück! Der Weiße bleibt zurück!«

»Sagt ihm, schneller fliegt es sich leichter als langsam!«, rief Akka und verminderte das Tempo nicht im Geringsten.

Der Gänserich versuchte zwar, ihrem Rat zu folgen und schneller zu fliegen, doch er überanstrengte sich dabei so sehr, dass er bis zu den beschnittenen Weiden absackte, die Äcker und Wiesen säumten.

»Akka, Akka, Akka von Kebnekajse!«, riefen jene, die am Ende flogen und sahen, wie er sich abmühte.

»Was wollt ihr denn schon wieder?«, fragte die Leitgans und schien sehr verärgert.

»Der Weiße sinkt zu Boden! Der Weiße sinkt zu Boden!«

»Sagt ihm, hoch fliegt es sich leichter als niedrig!«, rief Akka. Und sie verminderte das Tempo nicht im Geringsten, sondern streckte sich wie zuvor.

Der Gänserich versuchte auch diesem Rat zu folgen, doch als er sich emporschwingen wollte, geriet er so in Atemnot, dass es ihm schier die Brust zerriss.

»Akka, Akka!«, riefen jene, die am Ende flogen.

»Könnt ihr mich nicht in Frieden lassen?«, schimpfte die Anführerin und schien noch ungehaltener zu sein.

»Der Weiße stürzt gleich ab! Der Weiße stürzt gleich ab!«

»Sagt ihm, wer der Schar nicht folgen kann, der soll nach Hause zurückkehren!«, rief Akka. Und sie dachte gar nicht daran, das Tempo zu vermindern, sondern streckte sich wie zuvor.

»Aha, so ist das also«, dachte der Gänserich. Auf einmal wurde ihm klar, dass die Wildgänse niemals die Absicht gehabt hatten, ihn mit nach Lappland zu nehmen. Sie hatten ihn nur zum Spaß von zu Hause weggelockt.

Es ärgerte ihn, dass er sich hatte hinters Licht führen lassen, doch gleichzeitig verlieh ihm dieser Ärger so große Kräfte, dass er nun fast genauso gut flog wie die anderen Gänse.

Lange hätte er sich auf solche Art wohl nicht bewegen können, aber das war auch nicht nötig, denn jetzt näherte sich die Sonne dem Horizont, und die Wildgänse setzten zur Landung an. Ehe der Junge und der Gänserich wussten, wie ihnen geschah, standen sie am Ufer des Vombsees.

»Hier sollen wir wohl die Nacht verbringen«, dachte der Junge und sprang vom Gänserücken.

Er stand auf einem schmalen Sandstrand, und vor ihm lag ein ziemlich großer See. Der bot einen unheimlichen Anblick, denn er war fast ganz mit einer Eisschicht bedeckt, die schwarz und uneben und voller Risse und Löcher war, wie Eis im Frühjahr immer. Dies hier würde wohl nicht mehr lange halten. Es hatte sich schon vom Ufer gelöst und wurde von einem breiten Gürtel aus schwarzem, blankem Wasser umgeben. Aber es war noch da und verbreitete über die Gegend Kälte und Winterschrecken.

Der Junge glaubte, er sei in eine Wildnis, in ein Winterland geraten, und seine Angst war so groß, dass er am liebsten laut geschrien hätte.

Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen und war hungrig. Doch woher sollte er etwas Essbares nehmen? Im März wächst dergleichen weder auf dem Boden noch an den Bäumen.

Ja, wie sollte er seinen Hunger stillen, und wer würde ihm Obdach geben und ihm ein Bett machen, wer würde ihn an seinem Feuer wärmen, und wer würde ihn vor wilden Tieren beschützen?

Jetzt war die Sonne verschwunden, vom See kam Kälte, vom Himmel senkte sich Dunkelheit, und im Wald begann ein Rischeln und Rascheln.

Da war es mit dem frohen Mut vorbei, den der Junge hoch oben in der Luft verspürt hatte, und in seiner Angst schaute er sich nach dem Reisekameraden um.

Aber dem Gänserich ging es noch schlechter als ihm selbst. Der sah aus, als müsse er sterben. Sein Hals lag schlaff auf dem Boden, seine Augen waren geschlossen, und sein Atem war nur ein schwaches Zischen.

»Lieber Gänserich Martin«, sagte der Junge, »versuch doch mal, einen Schluck Wasser zu trinken! Bis zum See sind es keine zwei Schritte.«

Aber der Gänserich regte sich nicht.

In früheren Zeiten hatte der Junge alle Tiere gequält, doch nun sah er in dem Gänserich seine einzige Stütze und hatte die größte Angst, ihn zu verlieren. Sogleich machte er sich daran, ihn zu schieben und zu schubsen und zum Wasser zu bewegen. Der Gänserich war groß und schwer, doch der Junge merkte zu seiner Freude, dass er fast genauso stark wie vor der Verzauberung war, und er schob ihn bis in den See. Einen Augenblick blieb der Gänserich im Schlamm liegen, dann aber reckte er den Schnabel empor, schüttelte sich das Wasser aus den Augen und schnaufte. Kurz darauf schwamm er stolz zwischen Schilf und Rohrkolben davon.

Die Wildgänse waren schon im Wasser. Sie hatten gebadet und sich geputzt, und nun ließen sie sich treiben und schlürften halbverfaultes Laichkraut und Biberklee.

Als der Gänserich zufällig einen kleinen Barsch entdeckte, griff er schnell zu, schwamm damit ans Ufer und legte ihn vor dem Jungen nieder. »Den sollst du haben«, sagte er, »zum Dank dafür, dass du mir ins Wasser geholfen hast.«

Das war das erste freundliche Wort, das der Junge an diesem ganzen Tag hörte. Er freute sich so sehr, dass er den Gänserich am liebsten umarmt hätte, brachte es aber doch nicht fertig. Über das Geschenk freute er sich auch. Er glaubte zwar nicht, dass man rohen Fisch essen könnte, aber dann bekam er doch Lust und wollte es versuchen.

Er fühlte nach, ob er sein Fahrtenmesser hatte, und zum Glück hing es noch am hinteren Hosenknopf, war aber so zusammengeschrumpft, dass es nicht einmal so lang wie ein Streichholz war. Na, auf jeden Fall konnte man damit den Fisch schuppen und säubern, und es dauerte nicht lange, da hatte der Junge den Barsch verspeist.

Als er nun restlos satt war, schämte er sich, dass er es fertiggebracht hatte, etwas Rohes zu essen. »Mir scheint, ich bin kein Mensch mehr, sondern ein richtiger Kobold«, dachte er.

Gerade hatte der Junge den letzten Bissen verschlungen, da sagte der Gänserich mit leiser Stimme: »Weißt du, das Gänsevolk, an das wir geraten sind, ist so stolz, dass es alle zahmen Vögel verachtet.«

»Ja, das habe ich schon gemerkt«, sagte der Junge.

»Ich würde es mir sehr zur Ehre anrechnen, wenn ich mit nach Lappland fliegen und ihnen zeigen könnte, dass eine Hausgans auch etwas taugt.«

»Jaa«, sagte der Junge zögernd.

»Aber ich glaube, allein kann ich eine solche Reise nicht bewältigen«, fuhr der Gänserich fort, »und deshalb möchte ich dich fragen, ob du nicht mitkommen und mir helfen willst.«

Der Junge, der natürlich nur daran gedacht hatte, möglichst schnell nach Hause zurückzukehren, wusste nicht, was er darauf antworten sollte. »Ich hatte geglaubt, wir zwei wären uns feind«, sagte er. Aber das schien der Gänserich völlig vergessen zu haben. Er erinnerte sich nur daran, dass der Junge ihm eben erst das Leben gerettet hatte.

Eigentlich gefiel es dem Jungen ja ganz gut, dass er dann seinen Eltern eine Zeitlang nicht unter die Augen zu kommen brauchte. Gerade wollte er dem Vorschlag zustimmen, als hinter ihnen ein lautes Getöse ertönte. Das waren die Wildgänse, die alle auf einmal aus dem See gekommen waren und jetzt das Wasser abschüttelten. Dann stellten sie sich in einer langen Reihe auf und liefen mit der Leitgans an der Spitze auf die beiden zu.

Als der weiße Gänserich die Wildgänse nun betrachtete, wurde ihm unbehaglich zumute. Er hatte erwartet, dass sie den zahmen Gänsen ähnlicher wären und dass er mehr Verwandtschaft mit ihnen empfinden könnte. Sie waren viel kleiner als er, und keine von ihnen war weiß, sondern alle waren sie grau mit einzelnen braunen Flecken. Und Augen hatten sie, dass er sich fast davor fürchtete, die leuchteten, als brenne dahinter ein Feuer. Der Gänserich hatte sein Leben lang gelernt, es sei am schicklichsten, langsam und watschelnd zu gehen, aber diese hier gingen nicht, sie rannten eher. Sie waren munter und unbekümmert und fragten nicht danach, wohin sie traten. Ansonsten waren sie sehr ordentlich und sorgfältig geputzt, doch an ihrem Gebaren merkte man, dass sie arme Schlucker der Wildnis waren.

Die Wildgänse blieben vor ihnen stehen und neigten viele Male die Hälse, und der Gänserich tat das Gleiche, sogar noch öfter als sie. Als sie sich ausreichend begrüßt hatten, sagte die Leitgans: »Jetzt möchten wir gern wissen, wer ihr denn seid.«

»Von mir gibt es nicht viel zu berichten«, antwortete der Gänserich. »Ich wurde vorigen Frühling in Skanör geboren. Im Herbst wurde ich an Holger Nilsson in West-Vämmenhög verkauft, und dort bin ich bis jetzt gewesen.«

»Mit Ruhm scheinst du dich nicht bedeckt zu haben«, sagte die Leitgans. »Wie kannst du nur so anmaßend sein, mit Wildgänsen reisen zu wollen?«

»Vielleicht will ich euch damit beweisen, dass wir zahmen Gänse auch etwas taugen«, entgegnete der Gänserich.

»Das wäre ja gut, wenn du das könntest«, sagte die Leitgans. »Wie viel du vom Fliegen verstehst, haben wir schon gesehen. Aber vielleicht bist du in einer anderen Sportart tüchtiger. Es mag ja sein, dass du ein starker Langstreckenschwimmer bist.«

»Nein, dessen kann ich mich nicht rühmen«, sagte der Gänserich. Er hatte den Eindruck, dass die Leitgans schon beschlossen hatte, ihn nach Hause zu schicken, und es kümmerte ihn nicht mehr, wie seine Antwort aufgenommen wurde. »Weiter als über eine Mergelgrube bin ich nie geschwommen«, fuhr er fort.

»Dann erwarte ich, dass du ein Meister im Laufen bist«, sagte die Gans.

»Nie in meinem ganzen Leben habe ich eine Hausgans rennen sehen, und ich selbst habe es auch niemals getan«, sagte der Gänserich und machte die Sache schlimmer, als sie war.

Er war nun fest davon überzeugt, dass die Leitgans es entschieden ablehnen würde, ihn weiter mitzunehmen. Deshalb staunte er sehr, als sie sagte: »Du antwortest auf Fragen ohne Furcht, und wer furchtlos ist, der kann ein guter Reisekamerad werden, auch wenn ihm zu Anfang die Erfahrung fehlt. Was meinst du, willst du ein paar Tage bei uns bleiben, bis wir dich richtig kennengelernt haben?«

»Damit bin ich sehr zufrieden«, sagte der Gänserich und freute sich von Herzen.

Nun deutete die Leitgans mit dem Schnabel auf Nils Holgersson und sagte: »Aber wen hast du denn da bei dir? So einen wie den habe ich noch nie gesehen.«

»Das ist mein Kamerad«, sagte der Gänserich. »Er hat sein Leben lang Gänse gehütet und wird sich auf der Reise gewiss nützlich machen.«

»Ja, für eine Hausgans mag es ja gut sein, ihren Hüter bei sich zu haben«, antwortete die wilde. »Wie heißt er denn?«

»Er hat mehrere Namen«, entgegnete der Gänserich zögernd und wusste nicht, was er so schnell darauf antworten sollte, denn er wollte nicht verraten, dass der Junge einen Menschennamen hatte. »Er heißt wohl Däumling«, sagte er.

Es war leicht zu sehen, dass jene Gans, die mit dem Gänserich sprach, sehr alt war. Sie hatte einen größeren Kopf und dickere Beine als alle anderen. Ihre Federn waren steif, die Schultern knochig und der Hals dünn. So hatte sich das Alter ausgewirkt. Nur ihren Augen hatte die Zeit nichts anhaben können, die leuchteten heller und gleichsam jünger als bei jeder anderen Gans.

Als sie sich jetzt an den Gänserich wandte, war sie sehr würdevoll: »Wisse nun, Gänserich, dass ich Akka von Kebnekajse bin, und jene Gans, die gleich zu meiner Rechten fliegt, ist Yksi von Vassijaure, und die zur Linken ist Kaksi von Nuolja! Wisse auch, dass die zweite Gans zur Rechten Kolme von Sarjektjåkko ist, und die zweite zur Linken ist Neljä von Svappavaara, und hinter ihnen fliegen Viisi von Oviksfjällen und Kuusi von Sjangeli! Und wisse, dass diese, ebenso wie die sechs jungen Gänse, die, drei zur Rechten und drei zur Linken, am Ende fliegen, allesamt Hochgebirgsgänse aus bester Familie sind! Du sollst uns nicht für Landstreicher halten, die sich mit jedem Beliebigen zusammentun, und du sollst auch nicht glauben, dass wir unseren Schlafplatz mit einem teilen, der uns nicht sagen will, aus welchem Geschlecht er stammt.«

Als Akka, die Leitgans, auf diese Weise sprach, trat der Junge rasch vor. Es hatte ihn traurig gestimmt, dass der Gänserich, der in eigener Sache so munter gewesen war, so ausweichend geantwortet hatte, als es ihn betraf. »Ich will nicht verheimlichen, wer ich bin«, sagte er. »Ich heiße Nils Holgersson, bin Sohn eines Kätners und bis zu diesem Tag ein Mensch gewesen, aber heute Vormittag …«

Weiter kam er nicht. Kaum hatte er gesagt, er sei ein Mensch, da wichen die Leitgans drei und die anderen noch mehr Schritte zurück. Alle reckten sie die Hälse vor und zischten ihn böse an.

»Den Verdacht hatte ich gleich, als ich dich sah«, sagte Akka. »Und jetzt verschwinde schleunigst! Wir dulden keine Menschen unter uns.«

»Es ist doch wohl nicht möglich, dass ihr Wildgänse euch vor so einem Wicht fürchtet«, versuchte der Gänserich einzulenken. »Ihr müsst schon erlauben, dass er über Nacht bei uns bleibt. Niemand von uns kann verantworten, dass sich so ein armes Kerlchen nachts allein gegen Wiesel und Fuchs behaupten soll.«

Da kam die Leitgans wieder näher, aber es war ihr deutlich anzumerken, dass sie ihre Furcht nur mit Mühe bezwang. »Ich habe gelernt, mich vor allem, was Mensch heißt, ob groß oder klein, in Acht zu nehmen«, sagte sie. »Aber wenn du dich für den hier verbürgst, Gänserich, dann darf er heute Nacht bei uns bleiben. Ich glaube allerdings nicht, dass unser Nachtquartier dir oder ihm recht gefallen wird, wir wollen uns nämlich auf das schwimmende Eis zum Schlafen stellen.«

Sie hatte wohl gedacht, dass diese Nachricht den Gänserich bedenklich stimmen würde. Doch der ließ sich davon nicht anfechten. »Es ist sehr klug von euch, dass ihr euch einen so sicheren Schlafplatz wählt«, sagte er.

Dann hob Akka die Flügel und flog hinaus aufs Eis. Die Wildgänse folgten ihr eine nach der anderen.

Der Junge war traurig darüber, dass man ihn so feindselig aufgenommen hatte. »Es kommt wohl noch schlimmer, Gänserich«, sagte er. »Wir werden draußen auf dem Eis erfrieren.«

Doch der Gänserich war guten Mutes. »Das ist nicht so gefährlich«, sagte er. »Ich bitte dich nur, ganz schnell so viel altes Stroh und Gras zusammenzulesen, wie du tragen kannst.«

Als der Junge einen Armvoll trockenes Gras zusammengerafft hatte, packte der Gänserich seinen Hemdkragen, hob ihn empor und flog mit ihm aufs Eis, wo die Wildgänse schon schliefen, im Stehen und mit dem Schnabel unter dem Flügel.

»Jetzt breite das Gras aus, damit ich mich daraufstellen kann und nicht festfriere! Hilf du mir, dann helfe ich dir!«, sagte der Gänserich.

Das tat der Junge, und als er fertig war, packte der Gänserich ihn ein zweites Mal beim Hemdkragen und steckte ihn unter seinen Flügel.

»Ich glaube, da liegst du warm und gut«, sagte er und drückte ihn mit dem Flügel an sich.

Der Junge war so tief in Daunen eingebettet, dass er nicht antworten konnte, doch er lag warm und sicher und war müde, und im nächsten Augenblick war er eingeschlafen.

Die Nacht

Es ist eine Tatsache, dass Eis stets trügerisch ist und niemals zuverlässig. Mitten in der Nacht geriet die schwimmende Eiskruste des Vombsees in Bewegung und berührte an einer Stelle das Ufer. Da geschah es nun, dass Fuchs Smirre, der zu jener Zeit am östlichen Ufer im Park von Övedskloster wohnte, eben diese Stelle bei seiner nächtlichen Pirsch entdeckte. Er hatte die Wildgänse schon am Abend bemerkt und begab sich sofort aufs Eis.

Er war ihnen schon ganz nahe, als er ausrutschte, so dass seine Krallen über die blanke Fläche schurrten. Die Gänse erwachten, flatterten mit den Flügeln und wollten sich in die Luft erheben. Doch Smirre war schneller als sie. Wie ein Blitz stürzte er los, bekam eine Gans am Flügelknochen zu fassen und eilte in Richtung Land.

In dieser Nacht waren die Wildgänse jedoch nicht allein auf dem Eis, ein Mensch war bei ihnen, auch wenn er noch so klein war. Der Junge war davon aufgewacht, dass der Gänserich mit den Flügeln geschlagen hatte. Er war aufs Eis gefallen und schlaftrunken sitzen geblieben. Die Unruhe um ihn herum war ihm gar nicht zu Bewusstsein gekommen, bis er einen kleinen, kurzbeinigen Hund erblickte, der mit einer Gans in der Schnauze übers Eis davonlief.

Sofort rannte der Junge hinter diesem Hund her, um ihm die Gans wegzunehmen. Er hörte zwar den Gänserich hinter sich rufen: »Sieh dich vor, Däumling! Sieh dich vor!«, doch er glaubte nicht, dass er sich vor so einem kleinen Hund zu fürchten brauchte.

Die Wildgans, die Fuchs Smirre wegschleppte, wollte kaum ihren Ohren trauen, als sie die Holzschuhe des Jungen auf dem Eis klappern hörte. »Will dieser Knirps mich etwa dem Fuchs entreißen?«, fragte sie sich. »Als Erstes wird ihm passieren, dass er in eine Eisspalte fällt.«

Doch trotz finsterer Nacht erkannte der Junge alle Risse und Löcher im Eis genau und sprang kühn über sie hinweg, denn er besaß jetzt die guten Nachtaugen der Kobolde und konnte auch im Dunkeln sehen.

Als Fuchs Smirre die Stelle erreichte, wo das Eis ans Ufer stieß, sprang er an Land, und gerade als er sich den Hang hinaufarbeitete, rief ihm der Junge zu: »Lass die Gans los, du Strolch!« Smirre, der nicht wusste, wer da gerufen hatte, nahm sich zum Umblicken keine Zeit, sondern lief nur noch schneller.

Er eilte in einen großen, prächtigen Buchenwald, und der Junge folgte ihm, ohne an irgendeine Gefahr zu denken. Stattdessen dachte er unentwegt daran, mit welcher Verachtung die Wildgänse ihn vor ein paar Stunden empfangen hatten, und jetzt wollte er ihnen so gern beweisen, dass ein Mensch doch ein bisschen besser war als alle anderen Geschöpfe.

Immer wieder rief er dem Hund zu, er solle seine Beute loslassen. »Was bist du bloß für ein Hund, dass du dich nicht schämst, eine ganze Gans zu stehlen?«, sagte er. »Lass sie sofort los, oder du kriegst eine ordentliche Tracht Prügel!«

Als Fuchs Smirre merkte, dass er für einen Hund gehalten wurde, der sich vor Prügeln fürchtete, wurde er so vom Lachen gekitzelt, dass er die Gans fast verloren hätte. Smirre war ein großer Räuber, der sich keineswegs damit begnügte, auf den Feldern Ratten und Wühlmäuse zu fangen, sondern der sich auch bis auf die Höfe wagte und Hühner und Gänse stahl. Er wusste, dass er in der ganzen Gegend gefürchtet war. So etwas Verrücktes hatte er seit seiner Kinderzeit nicht mehr gehört.

Aber der Junge lief schnell genug, um gegen ihn aufzuholen. Endlich war er dem Fuchs so nahe, dass er seinen Schwanz erwischte. »Jetzt nehme ich dir die Gans doch weg!«, rief er und zerrte, was er nur konnte. Seine Kräfte reichten jedoch nicht aus, um Smirre aufzuhalten. Der Fuchs schleifte ihn hinter sich her, dass um ihn herum das trockene Buchenlaub aufwirbelte.

Doch jetzt war es Smirre wohl aufgegangen, wie ungefährlich sein Verfolger war. Er blieb stehen, legte die Gans nieder und stellte seine Vorderpfoten darauf, damit sie nicht wegfliegen konnte. Aber bevor er ihr die Kehle durchbiss, musste er diesen Knirps doch noch ein bisschen ärgern. »Nun lauf zum Herrn und beschwere dich, jetzt beiße ich die Gans nämlich tot!«, sagte er.

Als der Junge die spitze Nase des Hundes sah, den er verfolgt hatte, und seine heisere, böse Stimme hörte, konnte er sich vor Staunen erst gar nicht fassen. Doch als sich der Fuchs nun über ihn lustig machte, packte ihn eine solche Wut, dass er an Angst gar nicht dachte. Er griff noch fester zu, stemmte sich gegen eine Buchenwurzel, und gerade als der Fuchs den Rachen über der Gänsekehle aufriss, zog er mit aller Kraft an seinem Schwanz. Das kam für Smirre so überraschend, dass er sich ein paar Schritte rückwärtsziehen ließ und die Wildgans freigab. Sie bewegte sich schwerfällig, denn einer ihrer Flügel war verletzt und kaum zu gebrauchen. Hinzu kam, dass sie im nächtlichen Waldesdunkel nichts sah. Sie konnte dem Jungen deshalb nicht im Geringsten helfen, sondern schlüpfte durch eine Lücke im Geäst und flog hinunter zum See.

Smirre aber stürzte sich auf den Jungen. »Kriege ich die eine nicht, dann kriege ich eben den anderen«, sagte er, und seiner Stimme war anzuhören, wie groß sein Zorn war.

»Glaub bloß nicht, dass du das schaffst!«, sagte der Junge und war sehr vergnügt, weil er die Gans gerettet hatte. Er hielt den Schwanz noch immer fest, und als der Fuchs ihn zu fangen versuchte, schwang er sich damit hinüber zur anderen Seite.

Es gab einen Tanz im Wald, dass das Buchenlaub wirbelte. Smirre drehte sich fortwährend im Kreis, und sein Schwanz drehte sich mit, und der Junge hielt sich daran fest, und der Fuchs konnte ihn nicht fassen.

Zu Anfang lachte der Junge nur und machte sich über den Fuchs lustig, doch Smirre war ein alter Jäger und beharrlich, und es sah so aus, als sollte er den Jungen am Ende doch erwischen.

Da entdeckte der Junge eine kleine Jungbuche, die schmal wie eine Gerte in die Höhe geschossen war, um möglichst schnell in die freie Luft oberhalb des Daches zu kommen, das die alten Buchen mit ihren Ästen über sie ausgebreitet hatten. Blitzschnell ließ er den Fuchsschwanz los und kletterte an der Buche empor. Der Fuchs tanzte in seinem Übereifer noch lange Zeit seinem Schwanz hinterher. »Brauchst nicht mehr zu tanzen!«, sagte der Junge.

Für Smirre war es eine unerträgliche Schmach, dass er einen so winzigen Knirps nicht besiegt hatte, und deshalb legte er sich unter den Baum und lauerte ihm auf.

Der Junge saß auf einem dünnen Zweig, was nicht allzu angenehm war. Er konnte zu keinem der anderen Bäume klettern, und auf den Boden zu springen getraute er sich nicht.

Er fror so sehr, dass er fast erstarrte, und entsetzlich müde war er auch, doch aus Angst, er könnte dann hinunterstürzen, wagte er nicht einzuschlafen.

Es war grauenhaft, nachts draußen im Wald zu sitzen. Zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr der Junge, was Nacht eigentlich bedeutet. Ihm war, als sei die ganze Welt versteinert und könne nie wieder zum Leben erwachen.

Endlich dämmerte der Morgen, und der Junge freute sich, dass alles sich wieder ähnlich wurde, obwohl die Kälte jetzt noch grimmiger war als in den Nachtstunden.

Als schließlich die Sonne aufging, da war sie nicht gelb, sondern rot. Dem Jungen kam es so vor, als wäre sie böse – aber warum sollte sie böse sein? Vielleicht weil die Nacht, als sie nicht da war, die Erde so kalt und düster gemacht hatte.

Die Sonnenstrahlen jagten in großen Bündeln heran und wollten sehen, was die Nacht angerichtet hatte, und alles schien zu erröten, als hätte es ein schlechtes Gewissen. Die Wolken am Himmel, die seidenglatten Buchenstämme, die kleinen, ineinandergeflochtenen Zweige des Walddaches, der Raureif, der das Buchenlaub am Boden bedeckte – alles erglühte und wurde rot.

Immer mehr Strahlenbündel jagten durch den Raum, und bald war das Grauen der Nacht restlos vertrieben.

Die Versteinerung war aufgehoben, und es war seltsam, wie viel Lebendiges jetzt zum Vorschein kam. Der rotnackige Schwarzspecht hämmerte mit seinem Schnabel auf einen Baumstamm los. Das Eichhörnchen huschte mit einer Nuß aus dem Nest, setzte sich auf einen Zweig und begann sie zu schälen. Der Star kam mit einer Wurzelfaser geflogen, und im Wipfel des Baumes sang der Buchfink.

Nun wusste der Junge, dass die Sonne zu all diesen kleinen Wesen gesagt hatte: »Wachet auf und kommt aus euern Nestern! Jetzt bin ich hier. Jetzt braucht ihr euch nicht mehr zu fürchten.«

Vom See waren die Rufe der Wildgänse zu hören, die sich zum Flug vorbereiteten. Gleich darauf flogen alle vierzehn Gänse über den Wald. Der Junge versuchte sie anzurufen, aber sie flogen so hoch, dass seine Stimme sie nicht erreichte. Sicher glaubten sie, der Fuchs hätte ihn längst gefressen. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, nach ihm zu suchen.

In seiner Angst hätte der Junge fast geweint, doch jetzt stand die Sonne am Himmel, goldgelb und fröhlich, und erfüllte die ganze Welt mit Mut. »Du brauchst dich vor nichts zu fürchten oder zu ängstigen, Nils Holgersson, solange es mich gibt«, sagte die Sonne.

Noch eine Weile blieb alles im Wald unverändert, bald aber kam unter dem dichten Dach der Zweige eine einzelne Wildgans geflogen. Sie schien zwischen Stämmen und Zweigen umherzuirren und bewegte sich sehr langsam. Sowie Fuchs Smirre sie entdeckte, verließ er seinen Platz unter der Jungbuche und pirschte sich an sie heran. Die Wildgans wich ihm nicht aus, sondern flog ganz dicht an ihm vorüber. Smirre machte einen hohen Sprung, verfehlte sie jedoch, und die Gans flog weiter zum See.

Smirre kehrte zur Buche zurück, um den Knirps zu bewachen, doch als er in den Wipfel hinaufschaute, da war es dort leer. Der Knirps hatte die Gelegenheit genutzt und war geflohen.

»Heute Nacht hast du Pech, Smirre«, sagte der Fuchs zu sich selbst. »Aber diese Gänseschar wirst du sicher noch einmal treffen.«

Wildvogelleben

Im Park von Övedskloster

Dienstag bis Samstag

Am nächsten Morgen flogen die Wildgänse zum Herrensitz Övedskloster, der östlich des Vombsees in einem herrlichen Park gelegen war. Alles sah prachtvoll aus: das große Schloss, der schöne, von niedrigen Mauern und Pavillons umgebene Schlosshof und der vornehme, altertümliche Garten mit beschnittenen Hecken, geschlossenen Laubengängen, Teichen, Wasserspielen, herrlichen Bäumen und kurzgeschorenen Rasenflächen, deren Rabatten von bunten Frühlingsblumen leuchteten.

Als die Wildgänse den Herrensitz frühmorgens erreichten, war noch kein Mensch auf den Beinen. Nachdem sie sich davon gründlich überzeugt hatten, näherten sie sich dem Hundezwinger und riefen: »Was ist denn das für eine kleine Hütte? Was ist denn das für eine kleine Hütte?«

Sofort stürzte der Kettenhund heraus, außer sich vor Wut, und bellte in die Luft: »Nennt ihr das eine Hütte, ihr Landstreicher? Seht ihr nicht, dass es ein großes Schloss aus Stein ist? Seht ihr nicht die schönen Mauern, die vielen Fenster und die großen Tore und die prächtige Terrasse, wau, wau, wau? Nennt ihr das etwa eine Hütte? Seht ihr nicht den Hof, seht ihr nicht den Garten, seht ihr nicht die Gewächshäuser, seht ihr nicht die Marmorfiguren? Nennt ihr das etwa eine Hütte? Haben denn Hütten einen Park mit Buchengehölzen und Haselnusssträuchern und Wiesen mit Laubbäumen und Eichenwäldchen und Tannenwäldchen und einen Tiergarten, der voller Rehe ist, wau, wau, wau? Nennt ihr das etwa eine Hütte? Habt ihr schon einmal eine Hütte erlebt, die um sich herum so viele Wirtschaftsgebäude hat, dass es wie ein ganzes Dorf aussieht? Wie viele Hütten kennt ihr denn, die eine eigene Kirche und ein eigenes Pfarrhaus haben und über Herrenhäuser und Bauernhöfe und Pachthöfe und Landarbeiterkaten gebieten, wau, wau, wau? Nennt ihr das etwa eine Hütte? Zu dieser Hütte gehört das größte Gut von Schonen, ihr Lumpenpack! Jeder Zipfel Erde, den ihr seht, ihr Wolkenhänger, ist dieser Hütte untertan, wau, wau, wau!«

All das bellte der Hund in einem Atemzug heraus, und die Gänse kreisten währenddessen über dem Hof und hörten ihm zu, bis er eine Pause machen musste. Dann aber schrien sie: »Warum bist du denn so böse? Wir haben doch nicht nach dem Schloss gefragt, sondern nur nach deiner Hundehütte.«

Die Wildgänse flogen nun zu einem der großen Felder östlich vom Schloss, um Graswurzeln zu knabbern, und hielten sich dort mehrere Stunden auf.

Als sie endlich satt waren, zogen sie wieder hinunter zum See und spielten und vergnügten sich dort bis gegen Mittag. Sie forderten den weißen Gänserich zum Vergleich in allen möglichen Sportarten heraus und schwammen, liefen und flogen mit ihm um die Wette. Der große Zahme tat sein Bestes, wurde von den schnellen Wildgänsen jedoch stets geschlagen. Der Junge saß die ganze Zeit auf seinem Rücken und feuerte ihn an und hatte genauso viel Spaß wie die anderen. Alle schrien und lachten und schnatterten, und es war ein Wunder, dass die Leute vom Herrensitz sie nicht hörten.

Eines Tages sagte Akka zu dem Jungen, er laufe allzu leichtsinnig im Park herum. Ob er denn nicht wisse, dass er sich bei seiner geringen Größe vor vielen Feinden vorzusehen habe. Nein, davon hatte er keine Ahnung, und nun begann Akka, ihm alle diese Feinde aufzuzählen.