Noble Lügen - Christian Moser-Sollmann - E-Book

Noble Lügen E-Book

Christian Moser-Sollmann

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Beschreibung

Kampagnenmanager Frank Fischbach hat alles erreicht, was er wollte: Macht, einen ihm ergebenen Kanzler, eine erfolgreiche Freundin, ein rasant expandierendes Unternehmen. Doch Fischbach will mehr – er sucht die perfekte Wahlkampfformel. Ein ungeschminktes Sittenbild aus den Abgründen von Forschung und Politik. Der machthungrige Kanzlermacher Frank Fischbach liebt die Manipulation und das Spiel mit den Gefühlen und Hoffnungen von Politikern und der Bevölkerung. Als er für "seinen" Kanzler Bao Strauss zum dritten Mal die Wahl gewinnt, wird ihm der Erfolg schon fast selbst langweilig. Er will sein Genie weitergeben und plant ein Ausbildungszentrum für Leistungsträger, eine Schule der Gewinner: "Young Titans". Fischbach lernt die Zivilgesellschaftsikone und erfolgreiche Öko-Unternehmerin Sandra Kern kennen, ihr Geschäftsmodell ist Weltrettung; die zwei in ihrem Businessverständnis grundverschiedenen Workaholics beginnen eine Beziehung. Als Noble Lüge bezeichnete Platon einen in der politischen Rede notwendigen, aber falschen Mythos, um den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten. Sowohl Fischbach als auch Kern sind Meister der noblen Lüge. Ein guter Verkäufer muss immer abschließen, Frank lernt von Sandra Kern, dass zeitgemäßes Verkaufen auf Sinnhaftigkeit, Moral und Ethik setzen muss.

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© Betty Sieber

CHRISTIAN MOSER-SOLLMANN

geb. 1972 in Tirol, lebt und arbeitet als Autor und Wissenschaftler mit seiner Familie in Wien und Lienz. Seit 1994 ist Sollmann als Researcher, Journalist und Texter tätig. Der Kulturwissenschaftler kennt und beobachtet als verantwortlicher Redakteur des Österreichischen Jahrbuchs für Politik die Schnittstellen von Wissenschaft, Politik und Medien aus erster Hand. Sollmann veröffentlicht Romane (zuletzt: Ohne Wham und Abba!) und wissenschaftliche Texte (zuletzt: Der unsichtbare Text. Der erschöpfte Leser. Eine Methodenkritik der Inhaltsanalyse) in den Bereichen Ideengeschichte, Parteienforschung, Methodenlehre und Politische Philosophie.

CHRISTIAN MOSER-SOLLMANN

NOBLE LÜGEN

ROMAN MILENA

In einer Gesellschaft, die Denker und Krieger trennt,

wird von Feiglingen gedacht

und von Idioten gekämpft.

Charles George Gordon

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

1

DAS FESTZELT LEUCHTETE violett. Dank seiner Strategie war der Wahlsieg wie beabsichtigt auf den Prozentpunkt genau eingetreten. Endlich konnte Frank Fischbach durchatmen. Heute war sein Tag. Minutiöse Planung schafft Triumphe. Ruhig blickte er vom Regieraum in das Festzelt der Kanzlerpartei. Unten standen die Freiwilligen, die Funktionäre, die Politik-Schickeria, die Buffet-Abstauber und Kommentatoren, die auf die erste Hochrechnung warteten. Die »Veilchen«, wie die Unterstützer Omnia liebevoll nannten, waren auf dem Höhepunkt ihrer Macht. In einer Minute würde Franks persönlicher Assistent Michael Gurmani mit dem Countdown zur ersten Hochrechnung beginnen, das steigerte die Spannung ein letztes Mal. 34 Tage Intensivwahlkampf waren dann beendet.

Frank Fischbach liebte die Unschuld, die Freude und die Ahnungslosigkeit der Festgäste. Strahlende, erfolgshungrige Gesichter. Wahlkämpfe als Teil der Unterhaltungsindustrie funktionierten wie Fußballspiele und Pferderennen. Die Wähler fieberten mit ihrem Kandidaten mit. Wer wenig wusste, war leicht zu führen. Frank kannte das Wahlergebnis seit Stunden. Situationen vorwegnehmen, den Wahlsieg durch datengetriebenes Marketing erzwingen, das waren die Eckpfeiler seines Erfolgs.

Nach einem kurzen Dank von Michael an die Freiwilligen betrat der neue und alte Kanzler Bao Strauss das violette Pult. Bao Strauss verbeugte sich und schaute ergriffen in die Menge. Es folgten ein kurzes Schweigen und Senken des Blicks. Bescheidenheit selbst in der Stunde des Triumphs – so funktionierte Demokratie! Frank war mit seinem Skript zufrieden.

Bao Strauss, einer aus der Mitte des Volkes, ein Zuwandererkind, war der lebende Beweis, dass mit Fleiß, Beharrlichkeit und Ausdauer für jeden alles möglich war. In seiner leutseligen und vertrauenserweckenden Art forderte er alle Anwesenden und Zuseher vor den Bildschirmen auf, weiterhin ein Stück des Weges mit ihm gemeinsam zu gehen. Selbst Fünfjährige verstanden seine Sprachbilder. Politik in einfache Sprache zu verpacken, war ein Mosaikstein seines Erfolgs. Bao Strauss versteckte sich nicht hinter dem sonst üblichen Kauderwelsch der Politiker.

Zum Abschluss seiner 90-Sekunden-Ansprache, die Frank gemeinsam mit Michael in zwei Extraschichten geschrieben hatte, lud er die Mitbewerber zur Zusammenarbeit ein. Ein bisschen Schwulst, ein paar Gemeinplätze und einen Appell an das Gemeinwohl, das erwartete der Bürger. Von den vielen Krisen erschöpft, sehnten sich die Wähler nach einem, der Gräben schloss. Strauss lobte die Wähler der Opposition, er achte konkurrierende Weltbilder. Mit freundlicher Umarmung hatte er alles inhaliert. Omnia, die Sammelbewegung, war für alle da. Zentristisch, machtbewusst, volksnahe, bescheiden, global denkend und regional handelnd. Österreich sichtbarer, besser und erfolgreicher zu machen, war die Mission, zu der Bao Strauss sich verpflichtete.

»Wir haben wie Martin Luther King einen Traum, wir werden unser Land zu alter Stärke führen.«

Seine Stimme überschlug sich. Für die Dankesrede rief Fischbach Politiklegenden als Ahnherren an, verwertete alte Werbesprüche wieder und remixte seine Sätze per Zufallsgenerator. Mit Originalität verwirrte man Wähler nur; je mehr Journalisten dem Kanzler Substanzlosigkeit vorwarfen, desto größer fielen seine Wahlerfolge aus.

Die Zahlen logen nicht: »44 Prozent«, verkündete das Diagramm der Hochrechnung auf den Bildschirmen. Die Balken der Mitbewerber scheiterten an der vom Moderator »psychologisch« genannten 20-Prozent-Marke. Dieser historische Abstand musste auf allen Social-Media-Plattformen gepostet werden. Frank hatte dem Kanzler mit einem souveränen Start-Ziel-Sieg zur vierten Amtszeit verholfen. Ab sofort würden Meinungsbildner Bao Strauss’ Amtszeit als Ära bezeichnen. Mit Mitte vierzig war er körperlich und geistig noch fit genug, ein weiteres Jahrzehnt zu regieren und zum längstdienenden Kanzler zu werden.

»Liebe Freundinnen und Freunde, mit eurer Hilfe werden wir Kohl, Erdoğan, Adenauer, Merkel und Bruno Kreisky übertreffen. Das 20. Jahrhundert ist Geschichte …«

Frank war beschwingt; er hatte den Kanzlersessel verteidigt und die Konkurrenz zermalmt und gedemütigt. Diese Wahl spülte 400.000 Euro in seine private Kasse. Und Omnia war, hochgerechnet auf die nächsten vier Jahre, um hundert Millionen Euro reicher. Großspender standen Schlange, um sie finanziell zu unterstützen. Als Nebeneffekt galt Frank nun als Kampagnenguru, als Kanzlermacher, als Meisterstratege. In seiner Eigendarstellung war dieser Sieg sein sechzehnter Erfolg beim sechzehnten Antreten. Die zwei Niederlagen zu Beginn seiner Laufbahn verschwieg er, seine Aussagen wurden sowieso von keinem Journalisten überprüft. Die Lohnschreiber übernahmen seine Argumentationen aus Zeitgründen oder aus Faulheit ungeprüft zu mehr als 90 Prozent, das hatte er von seiner Strategieabteilung eigens nachrechnen lassen. Die Wahrheiten seiner PR-Abteilung glichen den Wahrheiten der veröffentlichten Meinung. Offiziell hatte Frank also eine blütenweiße Weste; er war der ungeschlagene Champion. Vier nationale Wahlen und zwölf Landtagswahlen hatte er für Omnia gewonnen.

Mit dem Sammeln von E-Mail-Adressen und dem Aufbau einer Datenbank hatte seine Firma Alpha Growth vor zehn Jahren klein begonnen. Wie ein Hamster hatten er und sein Geschäftspartner und technischer Direktor Bernhard Partik Daten gesammelt und mit jeder Interaktion neue Erkenntnisse über den Wähler – das damals noch unbekannten Wesen – gewonnen. Die Wissenschaft beklagte in ihren Studien nur das Abschmelzen von Stammwählern anstatt den zeitgenössischen Wählertyp, den unpolitischen Konsumenten, zu hofieren. Neun von zehn Wählern entschieden sich für eine Partei aus denselben Gründen wie beim Kauf von Schokoriegeln. Er hatte all die heimatlosen Wähler einfach eingesammelt. Anfänglich hatte Frank noch gestaunt, wie stümperhaft Parteien in Österreich arbeiteten.

Bevor Frank Bao Strauss’ Parteikommunikation umgekrempelt hatte, warteten in der – seinerzeit noch verschlafenen Funktionärspartei – Omnia nur die faulsten Mitarbeiter Daten. Ein Unternehmen war aber nur so erfolgreich wie seine Daten. Jede Gefühlsregung der Wähler aufzuzeichnen und nichts Zufällen, Launen oder Überzeugungen zu überlassen, war der einzige Weg, Wahlen zu gewinnen. Frank vertraute ausschließlich hohen Rechnerkapazitäten.

44 Prozent der Wähler unterstützten Bao Strauss’ Kurs der konsumorientierten Mitte. Bürgerinnen und Bürger, die an den Fortschritt glaubten, das System verbessern wollten oder sich mit ihm arrangierten. Gewinner und Menschen, die sich künftig als Gewinner sahen, hatten ihm ihre Stimme gegeben. Aber auch Ängstliche, Verarmte, die Unterschicht, Alte und Kranke hatten Strauss gewählt, weil er die Hoffnung auf ein besseres Morgen verkörperte. Mit direkter Ansprache erzählte er jedem, was er hören wollte. Frank Fischbach gewann Wahlen mit den Stimmen jener, die sich kaum für Politik interessierten, sondern aus staatsbürgerlichem Pflichtgefühl wählten.

Seine Kampagne hatte sich auf eine einzige Frage beschränkt: Wer soll unser Land führen? Die Kanzlerfrage war eine Entscheidungsfrage, die niemanden überanstrengte. Als Person verkörperte sein Kanzler Wandel, Stabilität, Hoffnung, Loyalität, Berechnung, Internationalität, Bodenständigkeit, Jugend und Erfahrung. Jeder Wähler projizierte etwas anderes in ihn hinein.

Warum wählten die Leute? Weil Frank ihnen einredete, dass ihre Stimme zählte. Und was wählten die Menschen? Kandidaten. Und wen wählten die Menschen? Gewinner! Die Wähler ignorierten Wahlprogramme, sie kannten keine Details von Pensionsreformen, Arbeitslosenzahlen oder der Inflation. Sie wählten jenen Kandidaten, der ihnen das Gefühl gab, zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Der direkte Kontakt mittels automatisierter Software, die jeden Wähler mit Vornamen ansprach, und Selfie-Stunden nach jedem Wahlkampfauftritt waren entscheidend. Hände schütteln, Präsenz zeigen, lachen, den Wähler duzen, Fotos machen, allen alles versprechen. Je weniger konkret Bao Strauss sich äußerte, umso unangreifbarer war er.

Eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und Befindlichkeiten waren die zwei auffälligsten Wählereigenschaften. Die Zeit politischer Weltanschauungen war vorbei. Mit der öffentlichen Meinung mitschwimmen und für die immer gleichen Inhalte – Klima, Migration, Grenzschutz, Pandemiebekämpfung, Überlastung der Energienetze, Arbeitsmarkt, Teuerung, Digitalisierung, Strukturwandel, Krieg – schöne neue Verpackungen zu finden, reichte für Siege. Fischbach kannte seine Wähler. Verdrossen von Krisen und Abstiegsängsten, gelangweilt vom Alltag, neidisch, gierig, triebgesteuert. Der moderne Staatsbürger war ein Einzelgänger in Einzelhaft. Austauschbar bevölkerte er überall in der westlichen Welt den Planeten. Die Menschen suchten Orientierung, einfache Antworten und Befreiung vom Denken.

Assistent Michael riss Frank aus seinen Gedanken. Eine Fernsehreporterin hatte sich spontan für ein Interview mit dem Kampagnenguru angemeldet. Noch in Siegerlaune, sagte er leichtsinnigerweise zu und ging vom Regieraum durch eine Menschentraube zur Bühne. Die 1.500 Festgäste jubelten ihm zu und tätschelten ihm die Schulter. Als er die Bühne erreichte, winkte Frank und verbeugte sich. Erst nach zwei Minuten stehenden Ovationen konnte die Dame ihre erste Frage stellen: »Dank Ihrer Kampagne hat Omnia erneut triumphiert. Mit wem wollen Sie regieren?«

Wie zuvor der Kanzler, spielte auch Frank den Demütigen: »Als kleiner Kampagnenmanager entscheide ich nichts. Das obliegt allein den Parteigremien. Außerdem ist es zu früh für Spekulationen. Ich möchte mich nur aufrichtig bei allen Wählerinnen und Wählern bedanken – bei allen Mitgliedern der Omnia-Familie, aber auch bei jenen, die uns nicht gewählt haben, da sie von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht haben. Wir sind überwältigt … wir werden die nächsten Jahre mit aller Kraft zum Wohle unserer Heimat arbeiten.« Frank strahlte die Reporterin an. Er spielte den Dynamisch-Versöhnlichen.

Bei nicht vorbereiteten Interviews musste er aufpassen, sich nicht zu verplappern. Der landesübliche Hang zur Selbstverzwergung war ihm fremd. Frank war nicht größenwahnsinnig, wie es der Tölpel von der Oppositionspartei während des Wahlkampfs oft behauptet hatte, nur selbstbewusst. Dieser Stümper war verbittert über seine kümmerlichen zwanzig Prozent und hatte in der Live-Zuschaltung wieder schwere Vorwürfe gegen Fischbach erhoben, er argumentierte noch immer in Kategorien einer untergegangenen Welt. Anstatt dem Verlierer diese schlichte Tatsache unter die Nase zu reiben, mahnte Frank eine Abrüstung der Worte ein: »Wir möchten unseren Sieg auch dazu nützen, um aktiv auf die Opposition zuzugehen. Deren haltlose Vorwürfe, welche die mündigen Wählerinnen und Wähler abgestraft haben, haben sich als falsch erwiesen. Lassen wir das Vergangene ruhen. Wir reichen allen konstruktiven Kräften die Hand und laden auch die Mitbewerber herzlich zur Zusammenarbeit ein.«

Heute gab Fischbach zum ersten Mal in seiner Laufbahn ein ungeplantes Interview. Normalerweise war das erste Interview dem Generalsekretär vorbehalten, aber jeder im Zelt wusste, wer der Vater des Wahlerfolgs war. Sprach Frank, jubelten die Gäste. Die Omnia-Anhänger huldigten ihm mit der »Welle«. Das waren charmante Bilder fürs Fernsehen. Stimmungen blieben länger im Gedächtnis als Einzelheiten zum Budget. Frank öffnete eine Flasche Premium-Champagner und spritzte damit ins Publikum. Die Reporterin strahlte. Ein wenig Bling-Bling gefiel ihr. Sie sprach von einem historischen Ergebnis, einer legendären Nacht. Frank genehmigte sich einen großen Schluck und schenkte ihr auch ein Glas ein.

Zurück im Regieraum, verfolgte er amüsiert die zugeschalteten Wortmeldungen der Mitbewerber. Die Linken und die Rechten hatten – wie von Bernhard errechnet – verloren und heulten rum. Die Linke warf Frank vor, postpolitisch zu agieren und gleichzeitig linke und rechte, progressive wie reaktionäre Inhalte zu vertreten. Die Rechte klagte Frank an, ihre Inhalte zu kopieren und mit ihren Überzeugungen Erfolge einzufahren. Auch Beleidigungen prasselten auf Frank ein; er sei ein Blender und Rattenfänger. Verlierer jammerten nach Niederlagen eben; ihren Neid hatte er sich redlich verdient. Er wurde noch einmal live in die Wahlkampfspezialsendung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zugeschaltet, um zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen. »Natürlich vertritt Omnia linke und rechte Positionen. Das ist die Grundlage unseres Handelns. Die Bevölkerung denkt in manchen Fragen rechts und in manchen Fragen links, und als Sammelbewegung berücksichtigen wir alle Anliegen. Nur die glücklosen Mitbewerber erheben sich über den Souverän …«

»Ist es nicht populistisch, mit Mehrheiten und Stimmungen Politik zu machen?«

»Das Volk ist weise. Wir sind nicht so vermessen, die Wählerinnen und Wähler dumm zu nennen, wie es die Opposition macht.«

Damit war das Interview beendet. Für heute hatte Frank genug improvisiert. Jetzt folgte wieder alles dem Drehbuch und der alte und neue Kanzler betrat erneut die Bühne. Frank und Michael hatten sämtliche Wortbausteine akribisch zusammengestellt. Mühsam beim Absolvieren des Interviewparcours war für Bao Strauss wie erwartet nur der sich selbst als Anwalt der kritischen Intelligenz ausgebende Politikexperte. »Ist Ihr Sieg ein Triumph des Apolitischen? Sind Sie ein Kanzlerwahlverein? Wie wollen Sie Ihre Wahlgeschenke finanzieren?«

Was sollte der Kanzler auf solche Dummheiten antworten? Am besten nichts. Lieber bedankte er sich einmal mehr bei den Wählern, die auf ihr Bauchgefühl und nicht auf die Meinung irgendwelcher Intellektueller vertrauten. Ständig verwendeten Experten veraltete soziologische Kategorien.

»Stört es Sie, dass die Nichtwähler nun die mit Abstand größte Wählergruppe sind?«

Nein, nur durch unsere Demobilisierung haben wir bestimmte Wählersegmente überhaupt von der Urne ferngehalten, dachte Frank, während Bao Strauss antwortete: »Ja, natürlich, es ist ein Jammer, dass so viele Wählerinnen und Wähler nicht von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen. Aber ich verstehe die Enttäuschung jedes Einzelnen. Wir werden uns bemühen, sie mit guter Arbeit zu überzeugen und wieder zu aktiven Wählerinnen und Wählern zu machen. Eine lebendige Demokratie braucht jede Stimme.«

Eine glatte Lüge. Je niedriger die Wahlbeteiligung war, desto mehr nützte es Omnia.

In der Stunde des Triumphs zeigte sich Bao Strauss großzügig; er sprach auf Anraten Franks mit linken und rechten Zeitungen. Mit schwierigen Zielgruppen ohne nennenswerte Reichweite redete der Kanzler sonst nie. Die TAZ kritisierte ihn als »Waschmittelverkäufer ohne moralischen Wertekompass«, als »machtverliebten Glücksritter«, die Jungle World beanstandete sein Festhalten an Begriffen wie »Volk«, »Leistung« und »Familie«. Gespräche mit solchen Nischenblättern waren sinnlos, denn 90 Prozent der Wähler lasen diese Titel nicht; in Franks strategischen Überlegungen spielten Zeitungen keine Rolle mehr. Wenn sich der Kanzler aus einer Siegerlaune heraus gnädig zeigte und Audienz gewährte, gewann er Sympathiepunkte. Dieser Menschenfreund half den Holzmedien, Auflage und Absatzzahlen zu steigern und dennoch belästigten ihn die Journalisten mit ihren falschen Einschätzungen.

»Sie haben den Wahlslogan aus 1970 eins zu eins wiederverwertet.«

»Ja, genau. Dieser Klassiker hat nichts an Aktualität eingebüßt.«

Frank war stolz auf die Worte, die aus dem Mund des Kanzlers so überzeugend klangen. Mit ihren Archiven lockten Journalisten weder den Kanzler noch seinen Chefstrategen aus der Reserve. Gerade in der Oberflächlichkeit lag das Geheimnis ihres Erfolgs.

»Ist Ihr Bekenntnis zu Diversität kein reines Lippenbekenntnis?«

»Natürlich nicht, Minderheitenrechte sind mir als Christen und Vater zweier Töchter ein zentrales Anliegen. Michael, mein Freund und Sprecher, ist Kriegsflüchtling.«

Frank nickte zustimmend. Plötzlich vibrierte sein Handy in seiner Hosentasche. Frank blickte auf das Display. Seine Mutter. Da musste er abheben.

»Warum hast du nicht die Absolute erreicht? Ihr hattet keine Gegner.«

Frank seufzte. Selbst wenn die vierte Gewalt sich vor ihm in den Staub warf und die Linke ihn den gefährlichsten Verführer seit Ronald Reagan und Jörg Haider nannte, für seine Mama war sein Erfolg zu wenig. Frank ärgerte sich, unterdrückte aber jede Gefühlsregung.

»Danke für dein Lob, Mama. Ich dachte, etwas ist passiert, weil du mich während der Wahlfeier anrufst. Ich kann gerade nicht reden. Ich melde mich …«

Frank holte Luft. Medien und der Bundeskanzler waren leichter auszurechnen als seine Erzeugerin. Er fokussierte seine Gedanken wieder auf die Wahlanalysen. Nach den investigativen waren jetzt handverlesene internationale Journalisten an der Reihe.

»Wir werden Österreich zum Vorreiter der digitalen Demokratie machen. Leistung muss sich lohnen.«

Der Fox-News-Mann strahlte beim Hochwertwort Leistung, und den chinesischen Fernsehjournalisten schenkte der Kanzler neben einer Packung Mozartkugeln eine Wortspende, die ihrem Nationalgefühl schmeichelte. »Wir schätzen China als langfristigen Partner und wollen den Technologietransfer Österreich–China beschleunigen.« Mit kritischen Fragen zu den Umerziehungslagern für Uiguren wurde das chinesische Staatsfernsehen nicht behelligt. Jedes Medium bekam den Acht-Sekunden-Soundbite, den es benötigte.

Frank Fischbach hatte Bao Strauss von Anfang an als internationale Marke entworfen und über die Bande groß gemacht. Mit geschickt positionierten Interviews in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem Guardian und der New York Times hatte er ihn zum international ernst zu nehmenden Politiker geformt. Wer im Ausland relevant war, galt daheim automatisch als Star. Inhaltsgetriebene Debatten vertrieben Wähler. Folgerichtig hatte Frank die Politik entpolitisiert. Der eine sah Abtreibung als Frauenrecht, der andere als Mord an Unschuldigen. Die einen trennten Müll, die anderen bewerteten das Sammelpfand als Einschränkung ihrer Bürgerrechte. Also sprach Bao Strauss über Fortschritt und Wohlstandsmehrung und nicht über Fristenlösungen, Leistungskürzungen, Arbeitslosenzahlen und Umweltkatastrophen. Ein bisschen Digitalisierung, ein bisschen Reform, ein bisschen Zukunft – das funktionierte immer. Je unkonkreter der Kanzler sprach, desto begieriger apportierten die heimischen Medien – trunken vor Nationalstolz – die internationalen Schlagzeilen, ähnlich wie der Kanzler seine Dossiers.

»Österreich als besseres Amerika? Wahrscheinlich nicht, aber wir agieren auf Augenhöhe.«

Vor der Weltmacht warf sich der Kanzler gerne in den Staub.

»Die USA sind die älteste Demokratie der Welt und brauchen von uns keine Ratschläge. Alles, was wir wissen, haben wir vom Mutterland der Demokratie und von Hollywood gelernt.«

Bei den Franzosen von Le Figaro baute der Kanzler eine französische Redewendung ein: »Mit klarer, einfacher Sprache haben wir gewonnen, clare et distincte, nennen Sie diese Tugend. Wir holen die Wählerinnen und Wähler dort ab, wo sie sind.«

Bao Strauss’ Wiederwahl war um zwei Prozent höher ausgefallen, als Bernhard es für die Publikumsmedien errechnet hatte. Intern hatte er das Ergebnis auf die Kommastelle exakt vorausgesagt. Nur Franks Mama hatte die Absolute erwartet. Für Die Zeit tauchte der Kanzler kurz in anstehende strategische Weichenstellungen ein; er generierte ein paar Binsenweisheiten aus Franks Argumentarien. »Wir werden unsere Volkswirtschaft zum klimaneutralen Leuchtturm der Welt ausbauen.« Frank dachte die Marke Strauss nicht in engen nationalen Grenzen. Bao Strauss war sein Geschenk für das nachpolitische Zeitalter. Quoten, Geschlechtergerechtigkeit, Förderung von Minderheiten, Reißverschlusssystem – Bao Strauss lebte den Fortschritt, ohne sich zu verstellen. Hauptsache, die Steuervermeidungskonzepte ihrer Wahlkampfspender blieben unangetastet. Frank nickte zustimmend bei Bao Strauss’ Sagern. Beim linksliberalen Guardian betonte dieser die Multiethnizität seines Teams, bei der konservativen Welt verwies er auf sein Arbeitsethos, bei kirchlichen und marxistischen Titeln hob er sein soziales Engagement für bildungsferne Kinder hervor. Damit war der Interviewreigen ohne groben Fehler beendet und Frank Fischbach atmete durch.

Sein Blick schweifte über die Besucher. Kanzlerinterviews zuzuhören langweilte Frank, weil er die Antworten alle kannte. Lieber dachte er an die anstehende Expansion seiner Firma Alpha Growth. Ab morgen würden neue Kunden Schlange stehen und er musste neue Wählerbindungsprogramme mit seinem Geschäftspartner Bernhard erfinden. Der stand ganz vorn im Zelt; neben ihm eine ungewöhnlich attraktive Frau. Bernhard redete auf sie ein, versuchte – für ihn untypisch –, charmant zu sein. Das war Sandra Kern, eine Zivilgesellschaftsikone und Kämpferin für soziale Gerechtigkeit. Kern hatte um einen Termin gebettelt, aber er hatte sie abgewimmelt. Leider, dachte Frank, als er sie jetzt mit seinem Kompagnon sah. Bei der schriftlichen Korrespondenz hatte er sie vorschnell als Kategorie-C-Kontakt abgespeichert. Mit Vertretern von nicht profitorientierten Organisationen traf Frank sich prinzipiell nicht. Die zahlten im Normalfall wenig oder wollten Pro-bono-Projekte. Aber dieser Look, dieses Lachen und diese Präsenz erzwangen seine Aufmerksamkeit. Die Dame stach aus den Festzeltbesuchern heraus. Bernhard genoss ihre Gesellschaft. Sie diskutierten angeregt. Bestimmt langweilte sein technischer Direktor sie mit endlosen Ausführungen über seinen neuen Superalgorithmus.

Bernhard schickte Frank eine Textnachricht. »Sandra Kern lässt sich nicht abwimmeln. Sie will dich persönlich kennenlernen. Bitte rede ein paar Sätze mit ihr. Sie ist witzig und keine Zeitdiebin.« So euphorisch formulierte sein nüchternes Technikgenie normalerweise Textnachrichten nie.

Als Frank sich vorstellte, wusste Sandra bereits alles über ihn – von Bernhard. »Glückwunsch, jetzt spielen Sie endgültig in der Oberliga, heute haben Sie einen Slam Dunk versenkt.«

»Oh, dankeschön«, grinste Frank, »ein Basketballfan, wie erfreulich, den Rekord von Michael Jordan kann ich noch nicht vorweisen, aber ist ja auch erst meine elfte Spielzeit. Wer weiß, wie viele noch vor mir liegen? Ich will schon noch ins Dream-Team kommen …«

»Die Aufnahme in die ewige Bestenliste gelingt nur Auserwählten. Aber Ihr Interview vorhin war eine krasse Ansage. 44 Prozent bei der dritten Wiederwahl – das ist nicht nichts. Aber Sie sind immer so bescheiden und tun so, als ob Sie ein Rookie wären.«

Sandra Kern sprudelte über vor Anglizismen. Sie trug ein kleines Schwarzes, eine silberne Clutch sowie rote High Heels. Frank trug, wie immer bei Wahlfeiern, seinen schwarzen Kniže-Dreiteiler, kombiniert mit einer grauen Kenzo-Krawatte, und Lederschuhe, schwarz und mit langen Spitzen vorne, schmal zulaufend und italienisch elegant, mit leichten Mafiafilmanleihen. Optisch harmonierten sie also, aber auch ihre Basketball-Anspielungen gefielen ihm. Für Frauen hatte er im Alltag wegen des Aufbaus seiner Firma kaum Zeit reserviert. Sandra bewegte sich anders als die Beraterinnen, die er kannte. Wie er war sie Amerika-Fan. Sie liebte die NBA und kleidete sich dennoch kontinentaleuropäisch.

Zweifellos hatte sie ihn – bevor sie Bernhard ausgefragt hatte – auch gegoogelt. Sie wusste viel, kannte seine Leidenschaften und seine Firma. Sie sprachen über Politiker, Bekannte, Projekte und schwammen auf einer Wellenlänge. Sandra sprach Privatschulen-Deutsch. Ihre Lippen erinnerten Frank an die Schauspielerin von »The Wolf of Wall Street«, deren Namen er sich nicht merkte. Sie war naturblond, mittelgroß, nicht zu magersüchtig schlank. Keine Frau, die nach jedem Essen kotzte. Und sie war gedanklich schnell.

Bernhard bemerkte das Knistern zwischen den beiden und drängte sich ins Gespräch.

»Mit unserem verbesserten Algorithmus werden wir alles gewinnen. Das ist so gut wie sicher. Kommen Sie uns doch am Mittwoch in unserer Zentrale besuchen.«

»Bernhard, vergiss den Technikkram, wir sind heute hier, um zu feiern.«

Frank musste sich zu einem Termin hinten im Festzelt entschuldigen, den Michael spontan organisiert hatte. Ein russischer Oligarch und ein indischer Investor wollten Kunden bei Alpha Growth werden. Das duldete keinen Aufschub. Für die geplante Internationalisierung ein absolutes Muss. Wenn Sandra auch eine Kundin werden wollte, sprach nichts dagegen. Sein Portfolio im nicht-gewinnorientierten Sektor war ausbaufähig.

Während Frank eine Zusammenarbeit mit den potenziellen Neukunden erörterte, lugte er in Richtung Sandra. Dass er sich mehr für eine Frau als für ein Geschäft interessierte, war ungewohnt. Aber es war so. Er konnte sich kaum auf das Gesagte konzentrieren. Nach ein paar vagen Versprechungen an die Wirtschaftsmagnaten ging Frank wieder zu ihr. Bernhard hatte seine Abwesenheit produktiv genutzt und machte sie an. Er versuchte witzig zu sein und vertraute ihr bereits. Sie sprachen wie langjährige Freunde und scherzten. »Nein, ich verlasse meinen Mann sicher nicht. Unsere Töchter brauchen beide Elternteile«, scherzte Sandra. Sie war also vergeben, dachte Frank. Sie war Mutter und Ehefrau und daher verzichtete er darauf, sie noch zu einer zweiten Feier ohne Fußvolk zu überreden.

2

PUNKT ACHT UHR saß Frank Fischbach an seinem Schreibtisch. Das angesehene, von Multiplikatoren und Entscheidern gelesene und renommierte Branchenmedium Politico wollte ihm eine fünfseitige Titelstory über sein geheimnisumwittertes Geschäftsmodell widmen. Eine Homestory hieß bei Frank ein Besuch in seiner Firma.

»Der Vater des modernen Politikermarketings« laute die geplante Schlagzeile, hatte ihn der Herausgeber, Kasper Anderson, im Vorgespräch geködert. Gemeinsam mit Anderson, der auch Chefredakteur war, durfte Frank seine Firmenphilosophie erörtern und einer international orientierten und bestens vernetzten A-Schicht-Leserschaft von Entscheidern seine Strategien exklusiv vorstellen. Vorab hatte er sich vertraglich zusichern lassen, nicht zu Verliererthemen wie Migration, Asyl, Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit oder Sozialpolitik befragt zu werden. Ausführliche Gespräche genoss Frank mehr als Schlagzeilen; lange Textstrecken boten die Gelegenheit, Verkaufsbotschaften unaufdringlich in einprägsame Geschichten zu verpacken.

Frank war erfolgsverwöhnt: Schulsprecher, erste Titelseite mit 21, Postgraduate-Studium beim Acton Institute mit anschließenden Stationen als Berater in Washington D. C. und London. Zwei Jahre lang unterstützte er als Freiwilliger die Bodenwahlkämpfe von Obama und Arnold Schwarzenegger. Parteiübergreifend hatte er das Beste aus allen weltanschaulichen Lagern abgegrast und für Bao Strauss’ Ziele adaptiert. Frank überließ nichts dem Zufall; er hatte Förderer gesucht und Freunde fürs Leben gefunden. Digitale Kommunikation hatte er in Amerika von der Pike auf gelernt. Politische Propaganda als geschlossenen Kreislauf zu denken und Zitate, Feedback, Quellen und Reaktionen mitzudenken war seine Handschrift. Sein Weltbild beruhte auf der Magie der Zahlen. Überzeugt von der Irrelevanz von Grundsatzprogrammen und Weltbildern modellierte er seine Wirklichkeit mit Excel-Tabellen. Mit frischen Fernsehformaten wie »Das Parlament sucht den Superpraktikanten« oder »Bürgermeister Jens hilft vor Ort« hatte er die als langweilig verrufene Politik gekonnt in die Unterhaltungsbranche eingegliedert und Inhalte konsequent durch Gefühle, Leidenschaften und Glamour ersetzt. Weltanschauungen, Zielgruppen, das Volk, all das waren überholte Kategorien. Frank sammelte Daten, Frank verkaufte Daten, Frank manipulierte Daten, Frank kontrollierte Daten. Berühmt hatte ihn sein Dreiklang – vom Sympathisanten zum Wähler zum Unterstützer – gemacht. Für die Omnia-Bewegung zogen Tausende Fußsoldaten von Haustür zu Haustür, riefen Wähler an und verteilten in Fußgängerzonen Kaltgetränke und Kugelschreiber.

Beim vergangenen Wahlsieg hielt sich Frank nicht lange auf. Lieber nutzte er seine Zeit für einen Ausblick. Dass Fischbach mit seinem Gerede tiefe Einblicke in seinen Charakter gewährte, schien er nicht zu bemerken, wie Kasper Anderson überrascht notierte. Erfahren wie Anderson war, ließ er seinen Interviewpartner reden, nickte zustimmend und unterbrach nur gelegentlich Fischbachs ausschweifende Gedankengänge, wenn er auf eine Enthüllung hoffte.

»Die Entpolitisierung der politischen Werbung war nicht meine Erfindung. Ich habe nur als Erster konsequent reagiert. Parteien spielen als Institutionen der politischen Willensbildung keine Rolle, es gibt ja keine weltanschaulichen Lager mehr; Parteien sind Tummelplätze für apolitische Karrieristen – ganz wertfrei betrachtet«, sprudelte es aus Frank heraus.

Anderson wunderte sich über die für einen Profi seines Kalibers unübliche Offenheit. Täuschte er sich, oder sprach Fischbach mit kaum verhohlener Verachtung über jene Branche, in der er sein Geld verdiente? Was Fischbach über den bedauernswerten Zustand Omnias vor seinem Engagement andeutete, entsprach durchaus der Wahrheit und beschränkte sich nicht nur auf das übliche Selbstlob von Wahlkampfleitern. Frank hatte die Zentrumspartei zu einem Unterstützerklub für Bao Strauss umgebaut. Zur Auflockerung erzählte er noch einmal die Höhepunkte der abgelaufenen Kampagne: wie ein Emu bei einem Besuch im Tiergarten zufällig zum Maskottchen der Bewegung wurde, wie er zehn Millionen Euro an Spendengeldern einsammelte, wie er Sportler, Wissenschaftler und Schauspieler als Förderer gewann, wie ein siebenjähriges Mädchen dem Kanzler geschrieben und ihr erstes Taschengeld gespendet hatte, wie der Kanzler ein Heim für Hochbetagte besuchte und gemeinsam mit den Bewohnern ein Gulasch aß, und wie Bao Strauss eine Werkstätte für muslimische Kinder gegründet hatte, um die Erwerbsquote von Kopftuchmädchen zu steigern. »Wenn es menschelt, freuen sich Wähler und Leser gleichermaßen«, grinste er Anderson verschwörerisch zu. »Wir arbeiten eben beide in der Unterhaltungsindustrie. Viele Parteien wollen Bürger noch immer missionieren, ihnen Dinge aufzwingen oder eine Weltsicht vermitteln. Das will ich nicht. Ich will gewählt werden.«

Als Nächstes plauderte er über seinen Einstieg in das wenig glamouröse Politikfeld. Die Vergangenheit bildete das Fundament seiner Legende: Frank hatte seinen gut bezahlten Job bei einer internationalen Beraterfirma aufgegeben und freiwillig auf viel Geld verzichtet, um dem Ruf seines Herzens zu folgen; er hatte den damals noch völlig unbekannten Jungpolitiker Bao Strauss zufällig bei einer Konferenz gesehen und diesen als das größte politische Talent seit Bruno Kreisky und John F. Kennedy wahrgenommen. Ihre unmittelbar danach beginnende Zusammenarbeit veränderte die Geschichte Österreichs.

Als Externer hatte Frank Fischbach eine klinisch tote Partei übernommen, die sich in Grabenkämpfen aufrieb. Innerhalb weniger Monate hatte er Omnia von Platz vier zur Nummer eins hochgejazzt und die früher notorisch fehleranfälligen »Veilchen« rundumerneuert. Altfunktionäre zu entmachten, polarisierende Verliererthemen einzudampfen und alle strategisch entscheidenden Stellen – Planung, Kommunikation, interne Organisation – mit Vertrauten zu besetzen, gelang ihm mit einigen Statutenänderungen. Mit der Neuaufstellung als progressiv-sozialliberal-konservative Zentrumsbewegung traf er den Zeitgeist.

»Natürlich bin ich Machiavellist, auch wenn Machiavelli in der Öffentlichkeit schlecht beleumundet ist. Seine Botschaft wird nur falsch verstanden. Macht ist gut, absolute Macht besser, weil sie Politikern die Möglichkeit gibt, die Gesellschaft positiv zu verändern. Als Machiavellis Meisterschüler weiß ich, was zum Erfolg führt. Die Spielregeln und die Anforderungen an die Politik haben sich geändert. Egoismus ist gut, Eigennutz kommt vor Prinzipientreue.«

Bei seinem Bekenntnis zu Niccolò Machiavelli nickte der Chefredakteur anerkennend. Frank Fischbach kommunizierte deutlich seinen Führungsanspruch und maskierte sich nicht. »Bao Strauss ist weder Charismatiker noch Alphatier. Geborene Führer passen auch nicht mehr in unsere technikdeterminierte Zeit«, diktierte er dem Starjournalisten ins Mikrofon.

Hier musste Anderson einhaken und nachfragen. »Heißt das, die Menschen wollen keine starken Männer mehr?«

»Ganz genau, was Justin Trudeau, Emmanuel Macron und Barack Obama so erfolgreich macht, ist ihr femininer Führungsstil. Moderne Spitzenpolitiker sind Teamspieler und keine Schottischen-Whisky-zum-Frühstück-trinkenden-Egomanen wie Winston Churchill.« Strauss’ herausragende Talente seien Fehlerlosigkeit und seine Fähigkeit, wie Michael Jordan auf Knopfdruck in entscheidenden Partien Punkte zu machen. Wenn Frank einprägsame Sprachbilder für die Arbeitsweise seines Kanzlers formulierte, nickte Anderson zustimmend. Auch Anderson musste den Leser abholen und durfte ihn nicht überfordern.

Bei diesem Gespräch wagte sich Frank Fischbach weit aus seiner Komfortzone. Er wollte zeigen, dass eine effiziente Kampagne wichtiger war als Kandidat, Partei und Inhalt. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, gewonnen hatte die Wahl Fischbach. Und niemand sonst. Bao Strauss war ein Mann ohne Eigenschaften. Er rauchte nicht, trank keinen Alkohol und ernährte sich vegan. Strauss war ein Skript-Papagei, der nur nachplapperte, was in seinen Briefings stand. Welche Werte er vertrat und ob er überhaupt politisch dachte, wusste keiner seiner Wähler. Genau in dieser Schwammigkeit lag Bao Strauss’ Stärke. Nur mit diesen geistigen Prädispositionen waren Wahlen im 21. Jahrhundert zu gewinnen.

»Der längst vergessene Altpolitiker Joschka Fischer hat bei seinem Abschied gesagt, mit seinem Rücktritt beginne das Zeitalter der Karaoke-Politiker. Joschkas Beobachtung stimmt. Die Ära der aufdringlichen Alphatiere ist vorbei. Niemand braucht mehr testosterongesteuerte Rambos. Der moderne Bürger ist sich selbst genug; für grundsatzpolitische Diskussionen haben die Wählerinnen und Wähler schlicht keine Zeit. Die Mehrheit verabscheut Politiker, Prinzipien und Positionen; auch Überzeugungstäter sind passé. Strauss gibt den Wählern, wonach sie dürsten – das Gefühl, für sie da zu sein. Nur mit dem Bauch und dem Herzen wird weise gewählt«, präzisierte Frank seine Überzeugungen über das Wesen des Elektorats.

Frank hatte in der Wählerkommunikation begonnen, auf jede Anfrage persönlich – oder zumindest automatisiert mittels Bots – zu antworten. »Wir Violetten sprechen mit allen 24/7«, hatte der Slogan gelautet. Wie der Möbelhersteller IKEA duzte er die Wähler. Diese vertrauten Bao Strauss, weil er viel, aber nicht zu viel versprach, weil er an ihren Ehrgeiz und ihre Schaffenskraft appellierte, weil er streng, aber nicht zu streng war – ganz so, wie es ihm von Fischbach eingetrichtert worden war: »Ein Wahlkampf ist wie ein Marathonlauf. Der Kandidat gewinnt, der am wenigsten Fehler macht, und Alpha Growth macht keine Fehler.« Je länger der Monolog Fischbachs dauerte, desto mehr entlarvte er sich. Kasper Anderson verzichtete auch bei kritikwürdigen Aussagen auf Nachfragen, um den selbstverliebten Pfau nicht zu stören.

»Bao Strauss hält sich sklavisch an meine Drehbücher. Niemals argumentiert er dialektisch oder denkt in Alternativszenarien; seine Argumente orientierten sich am dümmsten Wähler. Andere Politiker beflegeln das Wahlvolk als Modernisierungsverlierer und Abschaum oder pflegen Privatfehden mit Journalisten.« Fischbach nannte den Kanzler und die Wähler Schwachköpfe, schien diese Geringschätzung aber nicht zu bemerken, wunderte sich Anderson.

Als Kanzlermacher erfand Frank widerspruchsfreie und für alle Geschmäcker und Ideologien anschlussfähige Politiker. Von ihm betreute Politiker tranken nicht, rechneten Spesen korrekt ab und verzichteten auf Affären. Bao Strauss hatte seine erste und einzige Frau in einem Ferienlager der Pfadfinder kennengelernt. Tauchte er im Boulevard auf, streichelte er Tiere oder Kinder. Er urlaubte nur im Inland und trank am liebsten Ayran.

Beim Entwickeln seiner Kampagnen vermied Frank Abgründe, Tiefen, Doppeldeutigkeiten und Originalität. Seinen Slogan »Machen wir Österreich wieder groß!« hatte er von den USA, die violette Farbe von der katholischen Kirche abgekupfert. Fischbach verkauft eine Politiksimulation, dachte Kasper Anderson, und hatte keinerlei Hemmungen, dieses Faktum unverhohlen auszusprechen. Mit den überholten Instrumentarien des 20. Jahrhunderts hatte Fischbach gebrochen, er setzte auf die neuen digitalen Naturgesetzlichkeiten: Daten sammeln, Daten personalisieren, Daten skalieren. Jede Individualität galt es einzuebnen. Jede Verhaltensauffälligkeit bedeutete einen Stimmenverlust. Mit familienfreundlicher Unterhaltung und eigenen Medien flutete Frank die Wähler direkt und ungefiltert von Störgeräuschen der Mitbewerber.

»Wir sind skandalfrei wie Bambi. Wie Disney leben wir einen Traum.« Wie erwartet, entschied sich Anderson für den Bambi-Vergleich als Schlagzeile und nicht für seinen ursprünglich vorgeschlagenen Titel. Frank brachte Journalisten dazu, genau das zu schreiben, was Omnia weiterbrachte.

Beim zweiten Espresso bot er Anderson das Du-Wort an, welches Kasper gerne annahm. Frank zwinkerte: »Und Kasper, eines bitte noch off the Record: Wenn ich beim Reden irgendwo vergessen habe zu gendern, bitte das im Transkript ergänzen.« Nun präsentierte Fischbach seine Expansionspläne und weihte Kasper in vermeintliche Erfolgsgeheimnisse ein. Den Bürger verglich er mit dem modernen Fußballfan – er suchte als Konsument Unterhaltung und war kein prügelnder Fanatiker. In Fußballstadien gab es schon seit geraumer Zeit keine Klomänner mehr …

Die Stärke des datenbankgetriebenen Marketings lag im Rund-um-die-Uhr-Bespielen der Wähler ohne störende Filter. Jede Wortmeldung, jede Rückmeldung, jeder Kontakt – alles wurde aufgezeichnet und in Echtzeit ausgewertet. Mit jedem Tag wusste Frank mehr über seine Wähler, die er Familie nannte und was sie über Bao Strauss’ Krawatte dachten. Daten und Excel-Listen bildeten seine Entscheidungsgrundlage. Leider konnte er dem Herrn Chefredakteur den Quellcode des streng geheimen Algorithmus nicht verraten, aber dieser bildete das Fundament des Erfolgs von Alpha Growth. Mit jeder Wahl verstand die Agentur die Bedürfnisse der Wähler besser. Was jeder einzelne Bürger dachte, brauchte, fühlte und wollte, wusste Frank. Mit diesem Datenschatz und sanfter Dauerberieselung gewann er Wahlen.

Seinen Superalgorithmus hatte Bernhard Partik programmiert. Frank Fischbach verstand den Quellcode so wenig wie Kasper Anderson, aber dieser bildete die Grundlage seines Erfolgs. Ohne technische Details zu verstehen, verkaufte Frank sein Produkt; Journalisten, Mitbewerber, die öffentliche Meinung und er selbst glaubten an die Überlegenheit seines Produkts. Was genau Bernhard programmierte, interessierte Frank nicht. Journalisten fragten ebenso wenig nach technischen Details. Lieber erkundigten sie sich nach Manipulationsmöglichkeiten; auch Kasper faszinierten diese: »Verleitet dein geheimer Algorithmus nicht dazu, Wähler zu manipulieren?«