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Berlin: Eine junge Frau erzählt von ihrem neuen Job bei einem großen Fernsehsender, von ihrem neuen Chef, ihrem neuen Leben. Sie wirkt glücklich, beseelt, hoffnungsfroh, es klingt gut. Zu gut? In Los Angeles geht derweil eine Welt unter. Ein Mann, der damit prahlt, als Berühmtheit könne man sich gegenüber Frauen alles herausnehmen, wird Präsident der Vereinigten Staaten. Im Garten des legendären "Chateau Marmont", diesem Nachtspielplatz verwöhnter Hollywood Kids jeden Alters, vertreibt sich eine illustre Bande auf der Flucht vor der Realität die Zeit. Auch der Erzähler ist hier – und Rose McGowan, die Schauspielerin, der man nachsagt, neuerdings irgendwie anstrengend geworden zu sein. Kurz darauf erschüttert der Weinstein-Skandal Hollywood, und Rose McGowan ist eine der ersten Frauen, die sexuelle Belästigung durch den bis dahin von ganz Hollywood hofierten Filmproduzenten öffentlich gemacht hat. Rose verschwindet, aber sie hinterlässt dem Erzähler eine kryptische Nachricht – oder ist es vielmehr ein Auftrag? Wieso wendet sie sich ausgerechnet an ihn? Von Hollywood aus verbreitet sich die #MeToo-Bewegung um die ganze Welt. Doch die alten Machtstrukturen sind widerständiger, als man in der ersten Euphorie vielleicht denken mochte. Zurück in Berlin findet sich der Erzähler nicht mehr nur als Liegestuhlbeobachter, sondern nun als Akteur mitten in einem unübersichtlichen Geschehen wieder, das ihn in einen tiefen persönlichen Konflikt stürzt. "Noch wach?" ist ein Sittengemälde unserer Zeit, ein typischer Stuckrad-Barre. Literarisch brillant, humorvoll und kompromisslos erzählt dieser Roman von Machtstrukturen und Machtmissbrauch, Mut und menschlichen Abgründen.
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Seitenzahl: 477
Benjamin von Stuckrad-Barre
Roman
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Über Benjamin von Stuckrad-Barre
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zur Kurzübersicht
Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft – Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen – Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.
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Berlin: Eine junge Frau erzählt von ihrem neuen Job bei einem großen Fernsehsender, von ihrem neuen Chef, ihrem neuen Leben. Sie wirkt glücklich, beseelt, hoffnungsfroh, es klingt gut. Zu gut?
In Los Angeles geht derweil eine Welt unter. Ein Mann, der damit prahlt, als Berühmtheit könne man sich gegenüber Frauen alles herausnehmen, wird Präsident der Vereinigten Staaten. Im Garten des legendären „Chateau Marmont“, diesem Nachtspielplatz verwöhnter Hollywood Kids jeden Alters, vertreibt sich eine illustre Bande auf der Flucht vor der Realität die Zeit. Auch der Erzähler ist hier – und Rose McGowan, die Schauspielerin, der man nachsagt, neuerdings irgendwie anstrengend geworden zu sein.
Kurz darauf erschüttert der Weinstein-Skandal Hollywood, und Rose McGowan ist eine der ersten Frauen, die sexuelle Belästigung durch den bis dahin von ganz Hollywood hofierten Filmproduzenten öffentlich gemacht hat. Rose verschwindet, aber sie hinterlässt dem Erzähler eine kryptische Nachricht – oder ist es vielmehr ein Auftrag? Wieso wendet sie sich ausgerechnet an ihn?
Von Hollywood aus verbreitet sich die #MeToo-Bewegung um die ganze Welt. Doch die alten Machtstrukturen sind widerständiger, als man in der ersten Euphorie vielleicht denken mochte.
Zurück in Berlin findet sich der Erzähler nicht mehr nur als Liegestuhlbeobachter, sondern nun als Akteur mitten in einem unübersichtlichen Geschehen wieder, das ihn in einen tiefen persönlichen Konflikt stürzt.
»Noch wach?« ist ein Sittengemälde unserer Zeit, ein typischer Stuckrad-Barre. Literarisch brillant, humorvoll und kompromisslos erzählt dieser Roman von Machtstrukturen und Machtmissbrauch, Mut und menschlichen Abgründen.
Motti
Hinweis
Dann müssen sich die Frauen auch nicht wundern
City of Stars
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Grauzone
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Er sagt / Sie sagen (besser nichts)
Angstfreie Speak-up-Kultur
Verdachtsberichterstattung
Heute jedoch nicht
Songtextzitate
Im Mai 2021 hat »Der Standard« berichtet, dass ich zu K.W. geäußert hatte,
dass ich sie lieben würde;
ob ich in ihr Kleid »hinten reinschauen« und es »einmal kurz aufzippen« solle;
dass es gut für sie wäre, hätte sie einen Mann wie mich an ihrer Seite;
ich sie in Zukunft stärker in meinen »Schwitzkasten« nehmen werde.
Ich hatte dazu behauptet, dass K.W. diese meine Äußerungen frei erfunden hätte.
Das widerrufe ich hiermit.
Wolfgang Fellner
»It depends on what the meaning of the word ›is‹ is.«
Bill Clinton
Richter: »Waren Sie mit Wulff auf Sylt in einem Restaurant am Strand?«
Zeuge: »Strand ist relativ.«
Richter: »Erinnern Sie sich an Uhrzeiten?«
Zeuge: »Zeit ist relativ und spielt keine Rolle.«
Dieser Roman ist in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen, er ist jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte. Daher erhebt der Roman keinen Anspruch, Geschehnisse und Personen und ihre beruflichen und privaten Handlungen authentisch wiederzugeben. Vielmehr hat der Autor ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen.
Und dann fragt er dich, ob er dir den amerikanischen Botschafter vorstellen darf. Und dann machst du einen Knicks und schämst dich, aber der Botschafter ist total nett und spricht dich mehrmals mit deinem Namen an. In deinem Geburtsort habe er studiert – und sogar seine Frau kennengelernt. Sie müssen uns mal in Wisconsin besuchen! Er lobt dein Englisch, du lobst sein Deutsch. Da unten, sagt der Botschafter zu dir, schauen Sie, genau da unten ist Kennedy einst langgefahren, zu seiner berühmten Berliner Rede. Ganz unter uns: Ich war kein Fan, ich bin Team Reagan. Dessen Berliner Rede hat ja auch viel mehr gebracht. Darf man gar nicht laut sagen, aber Sie werden mich ja wohl nicht verpfeifen, nicht wahr?
Nein, um Himmels willen. Du bekommst einen Schweißausbruch, und der amerikanische Botschafter reicht dir sein Einstecktuch, unerträglich warm, nicht? Ihr lacht. Draußen auf der Terrasse sei es angenehm windig, sagt er. Es ist NULL CREEPY. Es ist einfach nur VOLL NETT! Er habe, sagt der Botschafter nun, leicht vorgebeugt, noch in der Limousine eben sein Hemd wechseln müssen, schon zum zweiten Mal heute, das neue aber sei auch schon wieder durch, seine Frau sage dazu SCHON GAR NICHTS MEHR, stimmt’s nicht, Darling? Sie nenne ihn immer den Weichkäse in der Sonne, sagt er. Seine Frau bestätigt das nickend.
Er fragt dich, ob du – wie auch seine Frau – seine Rede als zu lang empfunden hättest. Du warst bei der Rede draußen, rauchen, aber du sagst, nein, die Rede sei genau richtig gewesen. Das sei sehr höflich, sagt der amerikanische Botschafter – und dann schaut er seine Frau gespielt verzagt an und sagt, siehst du, man kann es auch höflich sagen! Die Frau des amerikanischen Botschafters sagt, dass sie deine Ohrringe mag.
Du bist jetzt immer dabei. Das ging schnell, du bist ja noch in der Ausbildung. In den ersten Wochen im Sender warst du komplett überfordert. DIREKT INS KALTE WASSER. Einmal hast du aus Versehen die BAUCHBINDEN vertauscht, das sind diese Texteinblendungen am unteren Bildschirmrand. Da war also das Kanzleramt zu sehen gewesen, du aber hast versehentlich die Erklärtexttafel für den darauffolgenden El-Arenal-Bericht eingeblendet, also stand da unterm Bild des Kanzleramts: »Die Deutschen entern wieder ihre Lieblingsinsel!«
Einen halben Tag lang hat sich darüber GANZ TWITTER lustig gemacht, das Hashtag hieß #ballaballamann (und es TRENDETE stundenlang). Dein direkter Vorgesetzter hat sehr geschimpft, deine Kolleginnen und Kollegen haben dich ausgelacht, nannten dich eine Weile lang Ballaballafrau und Königin von Mallorca – nur einer hat dich AUFGEFANGEN: er, der Chefredakteur. Er rief dich in sein Büro, du dachtest, jetzt fliegst du raus, aber er guckte sehr freundlich. Mach mal die Tür zu, setz dich – tja, sagte er, das war jetzt ein kleiner Vorgeschmack. So ist das, wenn du hier arbeitest. Das ist Fronteinsatz, jeden Tag. Und, hey, Fehler passieren, mir auch, jeden Tag, das ist MENSCHLICH. Wenn wir keine Fehler machen, können wir auch nicht besser werden. MACH DIR KEINEN KOPF! Es ist absolut OUTSTANDING, was du nach so kurzer Zeit hier schon leistest. Du bist im Game! Du wirst gehasst werden, so fühlt es sich zunächst an. Aber bald wirst du verstehen, das ist kein Hass, das ist Furcht. Respekt. Neid. That comes with it. Willkommen an Bord.
Ihr esst jetzt fast jeden Mittag zusammen in seinem Büro, Chicken Wings, für ihn ohne Soße, er will abnehmen. Für dich sowieso ohne Soße, du willst nicht zunehmen. Aber dann holt er Ketchup aus seiner Schreibtischschublade – und dann ist es fast wie eine Party, während draußen alle herumhasten, Terroranschlag, Krebswunder, Familientragödie, Superbingo, Todesrätsel, sie rennen und rufen, ihr aber esst in Ruhe Chicken Wings mit Ketchup. Wenn sein Telefon klingelt oder jemand zur Tür hereinkommt, sagt er: Jetzt nicht! Jetzt nämlich du. Das ist komisch irgendwie, aber es ist natürlich auch sehr aufregend. Anfangs denkst du noch, was du sagst, sei bestimmt dumm, aber er hört dir sehr aufmerksam zu, nickt viel, versteht dich, du ihn auch, ihr euch, es ist schön. Er sagt, er schätzt dich. Und dass es keine blöden Fragen gäbe, sondern nur dumme Antworten. Fragen, fragen, fragen – mehr könne einem in der Ausbildung gar nicht beigebracht werden. Und dann: Machen, machen, machen, sagt er. Einfach machen.
Er fragt dich, wo du hin willst im Leben, ihr sprecht kauend, es ist alles ganz vertraut, und du spürst von draußen die Augenwinkelbeobachtung der Vorbeieilenden, du siehst, wie sie dich beneiden und dich hassen. Es fühlt sich gut an, auf eine seltsame Art, alles ist plötzlich heller in deinem Leben, bunter, endlich passiert was.
Was dein Rosebud sei, fragt er dich dann. Du weißt nicht, was das sein soll, ein Rosebud. Kurz dachtest du, er wollte damit fragen, ob du ein florales Tattoo auf dem Arsch hast, aber dann erklärt er es dir. Du verstehst es immer noch nicht so ganz, aber es hat wohl etwas zu tun mit irgendeinem Kindheitsschlitten, der zum Schluss in einem Ofen verbrannt wird, aus einem ganz alten Film sei das, »Citizen Kane«, musst du nicht kennen, sagt er, aber könntest du kennenlernen. Du bist erleichtert. Schauen wir uns mal an, sagt er, wenn du magst. Natürlich magst du.
Ihr verabredet euch für übermorgen Abend, ich mache uns einen Tisch im Borchi klar, sagt er. Das hat noch nie jemand zu dir gesagt.
Andere warnen dich, aber sind die nicht einfach nur neidisch? Sie beachten dich jetzt. Du hörst Gerüchte, sogar Warnungen. Mit wem alles er WAS HABE und mal gehabt habe und so weiter, wie gefährlich er sei, und dass du dich in Acht nehmen sollest.
Frauen sagen, er wolle dich nur ausnutzen – Männer sagen, du wollest ihn nur ausnutzen.
Aber sie täuschen sich alle – du bist NICHT SO EINE, und auch er ist nicht so, so ist er wirklich nicht! Ihm geht es wirklich um DICH ALS PERSON. Silvester will er dich mitnehmen nach Jerusalem zur Klagemauer. Man müsse das einfach MIT EIGENEN AUGEN gesehen haben, sagt er.
Er zeigt dir Bilder von seinen Kindern. Er zeigt dir Bilder von seinem verstorbenen Hund. Die Halskette, die er immer trägt, ist geschmiedet aus einer Fahrradkette, die er in einem ausgebrannten Waisenhaus in Syrien fand, NACH DER SCHLACHT. Wie weich er ist, wie groß sein Herz, das hat dich am meisten überrascht. Er schaut dir die ganze Zeit in die Augen, er ist nicht das Monster, als das er oft beschrieben wird. Du lernst sein WAHRES ICH kennen. Er ist ganz anders. Er hat viele Zweifel, viel Angst. Er hat so viel Leid gesehen. Und deshalb hat er Überzeugungen. HALTUNG! Das imponiert dir. Er ist EINER VON DEN GUTEN. Er betet für Israel, er spendet für Menschen in Not, er hat sogar mal eine Geflüchtetenfamilie aufgenommen und ist mit ihnen zu allen möglichen Behörden gegangen, bis sie Arbeit und eine eigene Wohnung gefunden haben. Er weint, wenn er Bilder sieht von Kindern im Krieg. Er kümmert sich um Krankenhausplätze für Eltern von Mitarbeitern. Er vergisst keinen Geburtstag.
Er betet den Rosenkranz, ihr betet den Rosenkranz. Vielleicht, sagt er, kann er dich mal mitnehmen zu einer Papstaudienz. Du schreibst deinen Eltern, dass du dich SUPERSCHNELL eingelebt hast in Berlin.
Wenn du was sagst, guckt er dich an. Da sitzen FÜNFZIG LEUTE IM KONFI, jeder will angeguckt werden. Dich guckt er an. Manchmal fragt er dich sogar, was du zu irgendeinem Thema denkst. Du denkst dazu gar nichts, denkst du, aber da sprichst du auch schon, denkst also doch was, Hilfe, MACHT DAS ÜBERHAUPT SINN?
Offenbar schon, er nickt, macht sich eine Notiz – er schreibt auf, was du gesagt hast, und lobt dich. Er sagt, die anderen sollten sich ein Beispiel nehmen an dir. Sie hassen dich jetzt eigentlich alle, aber auf eine interessante Art: Sie grüßen dich auch außerhalb des Büros, sie fragen dich beim Kaffeetrinken oder wenn du mittags doch mal in der Kantine isst, ob neben dir noch ein Platz frei ist.
Er schenkt dir Bücher, viele Bücher. Du weißt gar nicht, wann du die alle lesen sollst, aber du versuchst es, nimmst Unterstreichungen vor und machst dir Notizen. Er ist dein MENTOR! Du hattest dir immer einen Mentor gewünscht. Aber er sagt, dass er auch von dir lernen will. Er fragt dich viel.
Männer fragen einen ja sonst oft gar nichts, die erzählen nur, wie unfassbar toll sie sind – statt es einfach mal zu SEIN. Du hast das so satt, Tinder, Raya, dann sitzt ihr da, und es funktioniert nicht, vom ersten Moment an ist einfach alles falsch. ES FÜHLT SICH EINFACH NICHT RICHTIG AN. Mit ihrem bescheuerten Bibelverkäufergrinsen sagen sie, du hast schöne Augen, ich mag deine Art, ich mag dein Lachen, Humor ist unheimlich wichtig für mich. Humor! Das sagen sie immer, alle – aber lustig sind sie nie. Du denkst dann immer an diesen holzdummen Satz, den du mal einen Typen bei »Love Island« hast sagen hören, nachdem er zwei Minuten mit einer von den Tanten da gesprochen hatte: »Wir haben voll viel gemeinsam – ob das Tattoos sind oder Ambitionen.«
[16]Du schaffst das leider nicht, bei solchen DATES einfach nach fünf Minuten zu sagen, pass auf, tut mir leid, das haut nicht hin. Schon nach zwanzig Sekunden weiß man das ja eigentlich, spätestens. Aber dann sitzt man das eben höflich ab, und er will sogar eine Vorspeise, und das dauert. Und es ist so sinnlos. Zwar sehen diese Typen alle gut aus, sind auch groß und so – und sagen, dass sie darunter fast ein bisschen leiden, IMMER SO AUF IHR AUSSEHEN REDUZIERT ZU WERDEN. Aber die leiden an gar nichts. Du bist auch FEIN DAMIT, aber es kommt dir alles NICHT ECHT vor. Sie KLICKEN JEDE BOX bei dir, das schon, ihr SEID EIN MATCH – aber es funktioniert trotzdem nicht!
Sie sind NICHT ZWINGEND AUF DER SUCHE.
Sie haben sich DIE HÖRNER ABGESTOSSEN.
Sie mögen es echt mittlerweile viel mehr, ZU HAUSE EINEN ENTSPANNTEN ZU MACHEN.
Sie lieben es, EINE FRAU ZU BEKOCHEN.
Aber du hasst diese immergleichen Dates. Andererseits, ICH MEINE: HEY! JETZT MAL OHNE SCHEISS, wo sonst lernt man denn bitte HEUTZUTAGE NOCH Männer kennen? Es ödet dich alles so an:
Ein gutes Buch, Weihnachten unbedingt supertraditionell, ein Häuschen im Grünen.
Ohne Work-out könnten sie nicht leben, das ERDET sie.
Sie wünschen sich Familie, IRGENDWANN.
Sie erzählen dir EINEN VOM PFERD, wenn’s passt auch von dem, das du als Kind nie haben durftest, aber SPÄTER IRGENDWANN MAL gern hättest. Sobald du das sagst, lieben auch sie Pferde.
Bei ihm, dem Chefredakteur, aber ist das alles anders. Da hast du, zum Beispiel, das Pferd nicht zuerst genannt, sondern er! Er ist nämlich mal in einem Kriegsgebiet mit einem Pferd davongeritten, kurz bevor ein Granateneinschlag das Café, in dem er einen INFORMANTEN getroffen hatte, DEM ERDBODEN GLEICHGEMACHT hat. Und er hatte also nur UM HAARESBREITE überlebt, indem er eben auf diesem Pferd DEM TOD ENTKOMMEN ist. Er hat dieses Pferd dann nach Deutschland ausfliegen lassen und auf einem Achtsamkeitsbauernhof VOR DEN TOREN DER STADT untergebracht, er besucht es mindestens zweimal im Monat – das Pferd, sagt er, heiße jetzt »Freedom Fighter«. Ob du mal Fotos sehen wollest von »Freedom Fighter«, oder nein, halt, findest du Pferde vielleicht doof?, hat er dich gefragt, total schüchtern plötzlich, VERLETZLICH, das fandest du – das musst du schon zugeben – ziemlich süß irgendwie.
Weil er halt zehn Minuten später schon wieder einen Bundesminister am Telefon zusammenscheißt.
Er ist eigentlich GAR NICHT DEIN TYP. Klingt vielleicht komisch, aber auch deshalb vertraust du ihm total. Deine letzten BOYFRIENDS haben immer nur sich selbst gesehen, waren krass eifersüchtig, zum Teil sogar aggro. Alles war Kampf, das hörte nie auf, auch lange nach Ende der Beziehung konnte da jederzeit noch mal eine Attacke kommen. Und plötzlich triffst du diesen Menschen, der dich sieht, der dich versteht, der dein Potential erkennt und an dich glaubt. In einer Nacht, in der du dich plötzlich wahnsinnig einsam fühlst und Angst hast, dass dein Ex, der immer noch einen Schlüssel zu deiner Wohnung hat und den einfach nicht wieder rausrückt, plötzlich in der Tür steht, da ruft dieser wunderbare Mensch dich an, er hat ein fast unheimliches Gespür für solche Momente, und er sagt dir, du könntest zu ihm kommen, auf seinem Sofa seiest du sicher. Und das ist nicht das erste Mal, dass du denkst: Er ist mein Retter. Nein, du glaubst nicht an Märchen und Barbie-Prinzen-Scheißdreck. Und du willst auch auf jeden Fall sehr PROFESSIONELL sein, und Grenzen sind wichtig und so. Aber das hier ist nicht so, wie es von außen vielleicht aussieht, dieses Klischee: Deutlich älterer Chef KÜMMERT SICH um die junge hübsche Auszubildende, knick-knack, haha. Null. Ihr habt etwas ganz Besonderes. Was die anderen für Geschichten über ihn erzählen, das ist egal, die kennen ihn eben einfach nicht richtig. Du hast ihn erkannt und er dich. Ihr müsst euch dafür nicht rechtfertigen.
Fast alle waren jetzt nackt. Und es war ja eh schon dunkel. Der ovale Pool leuchtete absinthfarben, ließ den Zitronenbaum schimmern, der sich über das Wasser beugte wie jemand, der nach einem schlafenden Kind sieht. Dampf stieg aus dem Pool auf, jemand drehte die Musik lauter, klirrende Gläser, Lachen – das Kind konnte oder wollte offenkundig nicht schlafen: Arschbombe, untertauchen und alles vergessen. Es waren die letzten Tage der Menschheit, wieder mal. Trump, Weinstein, der komplette Untergang zumindest dieser Welt hier stand zwar kurz bevor, aber wir wussten von all dem jetzt noch nichts, wobei, ein bisschen was wusste jeder, man hatte so dies und das mitbekommen, ZUMAL HIER IN LOS ANGELES, sehr viel mehr allerdings gehört als selbst bezeugen können, und ob man das jetzt gleich WISSEN nennen sollte – wir waren ja hier am Pool und nicht auf Twitter, hier verschwamm ja sowieso alles, deshalb genau war man ja hier; das Konzept war, unausgesprochen: Realität? Total überschätzt.
Wir ahnten vielleicht was, aber das lässt sich im Nachhinein immer sagen, einfach damit man dann nicht so dumm dasteht. Allerdings standen und liefen, lagen und laberten wir hier sehr gern offensiv dumm herum, solang man uns ließ, irgendwann würde das eh enden, bei mir zum Beispiel durch die unangenehme Realitätswindböe »Geld weg« – bald würde es so weit sein; bei anderen hier würde es bis zu dieser Klippe noch länger dauern, aber die lästige Gegenwart, sie würde sich schon auf die eine oder andere Art melden: ARBEIT!, VISUM!, LEBEN!, FAMILIE! Also im Grunde genommen: Mama kommt rein und macht das Licht an. Na ja. Das Einzige, das wir sicher wussten, war: dass es bald kühler werden würde. Und früher dunkel. Was aber ja gut war – ging die Nacht eher los, fing der Tag später an, wir freuten uns ein bisschen darauf, denn wir liebten die Nacht.
Ich kann nicht so gut rückenschwimmen, aber eine Weile lang klappt es immer. Ich sah zum Mond, der aufgestiegen war hinterm Chateau Marmont, Pool und Mond, dachte ich, bedeuten einander: I’m watching you. Aber da war ja auch noch die im Gebüsch unterm Zitronenbaum versteckte Überwachungskamera, die das alles aufzeichnete. Man konnte trotzdem immerzu machen, was man wollte. Jedenfalls taten wir das, und Ärger gab es fast nie, allenfalls wenn uns jemand IN ACTU erwischte, wie wir auf dem Ziegeldachfirst entlangbalancierten, auf den man aus meinem oberen Bungalowfenster steigen konnte, was immer so viel Spaß machte, weil dabei unter einem die Dachziegel so angenehm sanft knackend zerbrachen. Oder hin und wieder, wenn wir zum Sonnenaufgang den kleinen Holzsteg unterm Gucci-Billboard genau dann erklommen, wenn gerade Schichtwechsel war: von der vornehm großzügigen Nachtwache (mit einem von denen, Angelo hieß er, hatte ich mich angefreundet, und er sagte immer, er liebe es, unsere Poolnächte auf dem Überwachungskameramonitor zu verfolgen, für ihn sei das die beste Serie überhaupt) zum Tagessicherheitsdienst, der strenger war und sein musste, denn dann war ja alles hell, so wahnsinnig hell, als wohnten wir auf der Sonne.
Jetzt aber war das hier eben der Vorgarten des Mondes, und so bewegte ich langsam die Beine und ungelenk auch ein bisschen die Arme, damit ich nicht absoff, winkte vage Richtung Angelo – und schaute in den Nachthimmel.
City of stars
Are you shining just for me?
City of stars
There’s so much that I can’t see
Ist Rose schon weg?, fragte jemand. Sie habe ihr Buch am Pool liegen lassen. Ein dickes, fordernd aussehendes Buch. Ach, Rose, sagte ein Mädchen und machte so ein Hä?-Comicgesicht, als habe ein Außerirdischer sie gerade um Feuer gebeten. Rose ist doch immer nur tagsüber da, sagte ich, lass es einfach da liegen, die ist bestimmt morgen wieder hier.
Ich paddelte zum Poolrand und schaute, was Rose eigentlich gerade so las. Judith Butler, na, gute Nacht auch. Im Sommer war es wenigstens noch Joan Didion gewesen. Es schien zu stimmen, was die anderen immer sagten: Rose ist irgendwie ein bisschen ANSTRENGEND geworden. Ich kannte sie natürlich gar nicht PERSÖNLICH, aber das war hier normal, nachts dann kannte man immer irgendwen und damit gleich alle, man hatte keine Ahnung, wer die meisten waren, manche kannte man natürlich einbahnstraßig, weil sie berühmt waren, wie Rose ja auch, aber da konnte man sich, so oder so, auch sehr vertun, jedenfalls gab man sich dann immer so, als sei das alles ganz normal und man überhaupt nicht beeindruckt oder aufgeregt, und tat man das nur sorgfältig genug, war es bald darauf auch wirklich so, und dann ging alles einfach so weiter. Tagsüber nickte man einander dann leicht gedämpft zu: »Hi«. »Hi« sagte man immer, zu jedem. Und jeder – wir nannten das Pool-Sozialismus – erwiderte das »Hi« mit einem »Hi.«, wirklich jeder. Nur Rose nicht. Ich habe sie nur so kennengelernt (freilich, ohne sie kennenzulernen), klar, früher hatte sie ganz anders ausgesehen, Rose in ihrer, wenn man so will, ROLLE als Rose McGowan, als sie noch ein sozusagen AMTIERENDER Filmstar gewesen war, das war sie zumindest momentan gerade irgendwie nicht, wenn ich das richtig verstanden hatte, und sie hatte nun, anders als auf den FOTOS, DIE MAN VON IHR KANNTE, die gleiche Frisur wie ich, sehr kurz geschoren; ja, vielleicht war Rose wirklich irgendwie komisch GEWORDEN, was wusste denn ich. Irgendwie komisch zu sein, was war denn da auch groß dabei, also, mir war das sehr vertraut, als Haltung zur oder Bewertung durch die Welt um einen herum. Was denn auch bitte sonst?
Vor dem Mond zogen jetzt so schlierige schwarze Wolkentrümmer vorbei, er sah nun etwas schmuddelig aus, der süße Mond, unser Freund. Oh my god, looooooook!, rief die kaum je nicht hier seiende Foucault-Forscherin und hörte gar nicht auf zu lachen. Sie zeigte auf meine jetzt wieder der Poolmitte zustrebenden Schwimmarme und lachte und lachte. Du hast ja WIRKLICH blaues Blut, rief sie, bekreuzigte sich lachend und tauchte unter. Dann wieder auf: Das sei das Lustigste, was sie hier JEMALS gesehen hätte, looooooook!
Ouh. Immer wenn ich meinen rechten Arm bewegte, sonderte er dunkle Farbschwaden ab im beleuchteten Poolwasser, das wir »Das grüne Gatsby-Licht« nannten, wenn wir nachts durch den Garteneingang vom Sunset Boulevard hier in diese Arena traten, die der Garten des Chateau Marmont war, dieser Nachtspielplatz verwöhnter HOLLYWOOD KIDS (im Erwachsenenalter). Somewhere.
Tatsächlich, aber ziemlich dunkelblaues Blut, schwarz eigentlich, bei dir übrigens auch, und du weißt auch warum, gab ich zurück, und nun paddelten plötzlich alle im Pool zur Mitte hin und bildeten – wie bei einer ganz rätselhaften olympischen Disziplin – einen Kreis Im-Wasser-stehend-Paddelnder, alle schauten auf ihren rechten Arm und schrien begeistert durcheinander: Wir sind Vampire! Wir sind adelige Vampire! Und der Mond auch!, rief ich, schaut, der Mond, unser SPIRIT ANIMAL, der Mond macht auch mit! Alle schauten nach oben, bejubelten die durchlässig schwarzen Wolkentrümmer, die den Mond im Vorbeiziehen besudelten.
Das sind sie endlich, die Chemtrails, freute sich jemand, seht nur, es sind Gothic-Chemtrails! Black is the New Orange! Out of the Blue, into the Black!
Na, und so hatte also auch diese Nacht ein Thema, ein Thema war immer wichtig bei so Nächten, diesmal lautete es: Wir und der Mond – und irgendwas mit dunklen Spuren. Reicht doch. Moonriver and us.
Natürlich ließen sich die Farbabsonderungen sehr gut erklären, beim Mond waren es ebendiese sich vor ihn schiebenden Wolkenfetzen, und bei uns lag es an diesen Armbändern, die wir am frühen Abend in meinem Zimmer angefertigt hatten. Vom Geburtstag der Foucault-Forscherin noch hatte ich eine beinahe volle Spule von so weißem Seidenband, und einer von uns hatte herausgefunden, dass alle, die zu der geduldet illegalen Hyperexklusivparty eines wichtigen Film- oder Musikproduzenten (ich hatte nicht so genau zugehört) in die Hoteltiefgarage eingelassen wurden an diesem Abend, dem Türsteher schwarze Armbänder hatten vorzeigen müssen und erst dann reingelassen worden waren. Also hatten wir in meinem Zimmer das Geschenkband mit ein paar dicken Filzstiften schwarz eingefärbt und einander dann um das rechte Handgelenk gebunden – und wir waren damit auch tatsächlich hineingekommen in die Tiefgarage. Dort war ziemlich was los gewesen. Kanye West würde später auflegen, hieß es, und tatsächlich, da stand er auch schon, IM GESPRÄCH, gelehnt an einen Reifenstapel – er keepte up mit den Kardashians.
So war das manchmal HIER IN HOLLYWOOD, praktisch umgekehrtes »Purple Rose of Cairo«: In Woody Allens nämlichem Film stieg der LEINWANDHELD aus ebenjener Leinwand hinab in den Kinosaal und verliebte sich dort IN ECHT in die, die als Zuschauerin ja sowieso schon in ihn IM FILM verliebt gewesen war. In West Hollywood, also dem Stadtteil, und speziell im Chateau Marmont, lief es nicht selten genau andersherum: Unvermutet stieg man manchmal praktisch in die Leinwand hinein und bewegte sich dann ganz real selbst im, ja, Ausgedachten, in der SCHEINWELT, die aber ja real war, eine andere nämlich gab es hier eigentlich auch gar nicht. Der surreale Garten Eden des Hotels, in dem sich auch mein Bungalow befand, durch Palmen und eine hohe Bambushecke vom Pool getrennt, das war demzufolge eigentlich die Hinterbühne; allerdings war auch die schon in mehreren Filmen und Musikvideos die Vorderbühne gewesen, hinzu kam die permanente Beobachtung der Überwachungskamera unterm Zitronenbaum. Also, es war schon sehr verwirrend alles.
Hinter jeder Tür, HEISST ES IN HOLLYWOOD, befände sich grundsätzlich eine weitere Tür. Und das ist gar nicht so edgarallanpoeig oder sogar komplett esoterisch gemeint, wie man vielleicht denken mag – nein, dieser Türen-Leitspruch hatte, durchaus ortstypisch, überhaupt keine ZWEITE EBENE, er handelte recht eigentlich von, zum Beispiel, so Armbändchen, wie wir sie uns selbst vorhin gebastelt hatten. Und jede Hinterbühne kann jederzeit auch Vorderbühne sein; der SEHR DEUTSCHE Oberflächlichkeitstadel »Nichts dahinter« also ist zugleich wahr und dann doch auch wiederum nicht.
Und hinter tausend Scheinwerfern: noch mal tausend Scheinwerfer.
Die Tiefgaragenausfahrt des Chateau Marmont KENNT MAN von Fotos, Filmen, Geschichten, etwa als Startpunkt der nur ein paar Meter kurzen Todesfahrt von Helmut Newton – vor allem aber wohl aus aufgeregten Klatschportalwackelvideos, die ästhetisch der FRONTBERICHTERSTATTUNG aus ECHTEN Kriegen verwandt sind, diese Ausfahrt ist der scheinbar unergründliche Schlund, der regelmäßig TOPSTARS ausspeit, die zumeist nachts (very late check out) das Hotel verlassen und sich schützend einen Arm vor die Augen halten, um in den gleißenden Blitzsalven nicht zu erblinden:
CAMERON DIAZ & FRIEND LEAVING CHATEAU MARMONT!
BRITNEY SPEARS BANNED FROM CHATEAU MARMONT!
AMANDA SEYFRIED ALL SMILES WHILE LEAVING CHATEAU MARMONT!
LANA DEL REY LEAVING THE CHATEAU!
WILL SMITH LOSES WIFE JADA AFTER PARTYING AT CHATEAU MARMONT!
EVE DRAWS ATTENTION LEAVING CHATEAU MARMONT!
Nun ergründeten wir ihn, den Schlund. SCHEINBAR! Zwar hatte ich Fortschritte gemacht, zumindest erschrak ich nicht mehr, wenn ich zum Beispiel Ensemblemitglieder von »Modern Family« relativ regelmäßig in »Barry’s Bootcamp« oder im Kinofoyer des »Sunset 5« erkannte. Und doch hatte das mit dem So-tun-als-sei-das-alles-ganz-normal-für-uns und der eingeübten Selbstverständlichkeit im Auftritt indessen dann nicht gar so gut geklappt dort in der Tiefgarage an jenem Abend, nach gut einer Stunde schon waren die meisten von uns wieder rausgeflogen, weil nämlich auf unseren selbstgemachten Einlassarmbändern – das war plötzlich auf nicht durchweg angenehme Art nachgeprüft, festgestellt und geahndet worden – so ein goldenes Emblem gefehlt hatte. Und das war nicht das Einzige, was uns fehlte, nein, auch ich, ja wirklich JEDER hätte uns im Rahmen eines »Finde die Fehler«-Wettbewerbs (und nichts anderes war das ja: Security in West Hollywood) innerhalb kürzester Zeit ausgemacht und enttarnt. Na, und wenn schon, das Kurzreingekommensein und vor allem das Rausgeworfenwerden, das reichte doch absolut, um anderen davon zu erzählen später, und so waren wir keineswegs beleidigt ABMARSCHIERT, wobei die Fotografen am Ausgang REFLEXHAFT ihre Kameras hochzogen und sie aufgeregt mal auf Verdacht losblitzen ließen; sie merkten aber sehr rasch, dass wir sozusagen NIEMAND WAREN, und schon hörte es auf zu blitzen. Wir kauften nebenan beim Liquor Locker noch für die Nacht ein, Dealer wurden umbestellt, von der Garageneinfahrt zum Garteneingang, und dann ging es für uns eben im Garten weiter, später dann wahrscheinlich bei meinem Freund Brandon, der momentan den Belushi-Bungalow bewohnte und sein derzeitiges Leben durchaus detailbewusst dementsprechend angepasst hatte. Wo war eigentlich Brandon die ganze Zeit?
SPLASH!
Wir schraken auf, etwas offenbar Wuchtigschweres war in den Pool gefallen, jedoch kein Mensch, und ganz gewiss keine Zitrone, eher schon ein Kürbis, aber Halloween war ja erst – wann noch mal? Der Sommer war vorbei, das schon, das eindeutig, und der Rest würde sich irgendwie ergeben. War schon September? Oder noch? Hä, warte mal.
SPLASH!
Und noch mal. Da stand er, triumphierend am Poolrand: Brandon. Brandon sah aus wie Jesus, wirklich genau wie Jesus, Bart und Haare, Gesicht, Figur, alles, nur trug er andere Kleidung, heute zum Beispiel eine sehr enge Schlangenlederhose und eine Batikweste, weiter nichts, das war schon sehr unjesusig. Und Brandon war auch viel lustiger als Jesus. Brandon strahlte jetzt und rief nach mir, hier, schau nur! Er habe jetzt die Lösung FÜR ALLES gefunden, wir seien gerettet. Das klang doch gut. Brandon hatte zwei mechanische Schreibmaschinen dabei, unter jedem Arm eine. Ich blickte auf zu ihm, dann dorthin, wo es so gesplasht hatte, auf den Poolgrund. Es waren wohl vier Schreibmaschinen gewesen, zwei davon lagen nun unter mir, im Pool. Ja, ich hab’s, das ist es, jetzt können wir loslegen!, schrie Brandon, durchaus euphorisiert, wie eigentlich meistens. Brandon war so toll, ich liebte ihn.
Ich stieg aus dem Wasser und war froh, dass wenigstens ich eine Badehose trug. Dieses Nacktbaden, also, ich verstehe schon, was Menschen damit ZUM AUSDRUCK BRINGEN wollen, und ich freue mich für jeden, dem das Spaß macht, aber ich bin dafür zu verklemmt. Ich setzte mich mit Brandon zum Rauchen auf Liegestühle, deren Polsterauflagen jahrelang blauweiß gewesen waren, perfekt hatte das immer ausgesehen unter den grünen Palmen und im Kontrast zum roten Ziegelboden, wirklich einfach perfekt, kürzlich aber waren sie ausgetauscht worden gegen ziegelrote, also kaum vom Fußboden zu unterscheiden; zwar mit weißer Umrandung, aber das rettete es auch nicht – und dieser POLSTERAUFLAGENSKANDAL hatte uns im Sommer wirklich ungefähr zwei Wochen lang beschäftigt. Wir hatten eine Petition aufgesetzt und Unterschriften gesammelt am Pool, nächtelang, natürlich folgenlos, wie eigentlich alles hier, und doch, das war so eine Angelegenheit gewesen, an die wir alle uns – sollten wir Silvester nicht abermals verpassen, so wie im letzten Jahr, als plötzlich einfach Januar war – zum Jahreswechsel beim Bilanz- und Wasweißichnichtalles-Ziehen erinnern würden.
Ja, wirklich, solcher Art waren die Debatten, die wir am liebsten führten, in diesem Spätsommer (oder Frühherbst?), kurz bevor Hollywood und sogar ganz Amerika implodierte.
Oder explodierte?
Na ja, PERSPEKTIVFRAGE! Die meisten von uns waren gar keine Amerikaner, und die paar Amerikaner waren jedenfalls nicht GEBÜRTIG aus Hollywood. Rose vielleicht, das könnte sogar sein, allerdings, eben: Die kannte ich ja gar nicht. Ich ERKANNTE sie immer, das natürlich schon, aber weil sie nie auch nur »Hi« sagte, hatte ich das dann bald auch aufgegeben, ich nickte ihr immer zu, wenn ich sie sah, und ich formte den Mund zu einem stummen »Hi«. Diese Form der Begrüßung hatte sie zuletzt, fiel mir nun ein, ein paarmal in exakt derselben Form erwidert. Offenbar war das eine für sie gangbare Version davon, einander »Hi« zu sagen, ohne einander »Hi« zu sagen. Und, meine Güte, da hatte ich auch schon verrücktere Sachen hier bezeugen können oder selbst getan, ich fand das komplett in Ordnung: »Hi« ohne Ton, dazu nicken, wunderbar, so war es höflich, aber distanziert, und ich meinte, irgendwann bemerkt zu haben, dass Rose immer erleichtert wirkte, wenn auch ich ein Buch dabeihatte am Pool. Sie selbst las immer. Und sie schaute nie aufs Handy, ich habe überhaupt noch nie ein Handy an Rose oder um Rose herum gesehen, auch das war sehr speziell an ihr, wenn man so darüber nachdachte, ein absolut sympathisches ALLEINSTELLUNGSMERKMAL, neben all den anderen, die sie kennzeichneten, wie zum Beispiel auch das Lesen – Bücher hatten hier viele dabei, oft aber eher als Accessoire, muss man sagen, doch Rose las wirklich. Und ich manchmal auch. Das war so unsere Ebene, wir sind die Poolleser, und ich war froh, dass wir schließlich eine Begrüßungsform gefunden hatten, waren wir doch UNTER DER WOCHE hier tagsüber zumeist ganz allein am Pool, Rose und ich. Weitestmöglich voneinander entfernt, sie nahe der nach Sommerende immer unbesetzten kleinen Bar, hinter der – nur noch durch Gebüsch und Zaun getrennt – das Hin&Her des Sunset Boulevards summte; und ich, ich saß immer diagonal gegenüber, unterm Zitronenbaum, zwischen uns erstreckte sich oval der Pool, und selbst wenn ich nur ein bisschen herumdenken wollte da am Pool, nahm ich fortan immer ein Buch mit, eben weil Rose das jedes Mal auf eine Art leicht zu erfreuen, ja zu beruhigen schien: noch ein Mensch, aber wenigstens einer mit Buch, na gut, dann sei es so. Buch hieß, so begriff ich das: kein noch so smaller Talk. Das Buch war für Rose augenscheinlich so etwas wie ein IRON DOME im Gemetzel des allgemeinen Gelabers. Fand ich gut. Auch ich bin gern still – und höre einfach nur zu, was in meinem Kopf so diskutiert wird, da ist ja zumeist schon auch allerhand los. Ich sage immer, das gehört zu meinem Beruf dazu, zum Schreiben, aber, ehrlich gesagt, wünsche ich mir ganz schön oft auch, dass da oben endlich RUHE, VERDAMMT NOCH MAL herrscht. Deshalb mochte ich die Nächte hier so gern: Da war zwar vordergründig manches los (bei, natürlich, absolutem Stillstand), und obzwar sehr, sehr viel geplappert wurde, durchaus auch von mir selbst, das schon, so trat – dabei und dadurch – im Kopf dennoch das Ersehnte ein, eben: Ruhe. Ach, diese Ruhe. Absolutes Hirnschweigen. Endlich.
Das war, glaube ich, der eigentliche Grund für uns alle, hier zu sein, genau deshalb kamen wir alle immer wieder hierher, deshalb machten und redeten wir hier pausenlos einen solchen Superblödsinn: damit endlich Ruhe ist im Kopf. Dort, von woher wir geflohen kamen, jeder für sich, jeder anders schmerzmotiviert und auf seine Art, waren wir alle so gewesen wie Rose hier, irgendwie falsch, am Rand, unverstanden, gemieden wohl gar, Teil von gar nix, der Fehler. Also war es doch eigentlich TOTAL UNLOGISCH, dachte ich jetzt, dass wir Rose als IRGENDWIE KOMISCH bezeichneten und keiner damit meinte, dass sie eben dadurch genauso war wie wir alle. Irgendwie komisch sein, das war uns doch wirklich allen nicht nur EIN BEGRIFF, nein, das war die uns alle hier einende GRUNDERFAHRUNG.
Da ist sie ja!, rief nun Brandon enthusiasmiert und erlöste mich aus meinem nächtlichen ZUSAMMENHÄNGEBEGREIFEN-Schwachsinn – zwischen uns und dem Mond stand jetzt eine etwa zweimeterfünfzig große Frau.
Das, sagte Brandon, das sei Basketballs. Ihr kennt euch! Ohne euch zu kennen! Weißt du, wie ich meine?
Wusste ich nicht, aber es war weit nach Mitternacht, es war der Chateau-Garten, da war man nicht kleinlich. Ich sprang auf – und war noch immer einen guten, einen sehr guten Kopf kleiner als Basketballs.
Hi, Basketballs, sagte ich, und dass ich ich sei.
Weiß ich doch, du Blödi, sagte Basketballs auf Deutsch. Wir haben gemeinsame Freunde. Oder Feinde, was weiß ich. Außerdem haben wir schon mal zusammengearbeitet, indirekt.
Sie nahm mich in den Arm und flüsterte mir hinunter von da oben ins Ohr, dass es so gut sei, hier zu sein und nicht mehr in Berlin, oder etwa nicht?
Absolut, sagte ich. Hier sind wir sicher.
Basketballs lachte. Dann plingte ihr Telefon und meins auch, fast zeitgleich. Wir lösten unsere Umarmung und schauten auf unsere Telefone.
Ach du scheiße, sagte Basketballs, eher zu ihrem Telefon als zu uns.
Oh, wie nett, sagte ich zu meinem.
Jetzt kommen doch die ganzen Deppen hier rüber für ein paar Wochen, sagte Basketballs, sie sind gerade gelandet. Fuck.
Langsam begriff ich, wer Basketballs war. Und woher wir uns, sozusagen, nicht kannten. Berlin, der Fernsehsender. Jaja, richtig! Die Schokoriegel-Talkshow, die ich mal konzeptioniert und die Basketballs dann mit großem Erfolg moderiert hatte. Nur getroffen hatten wir uns nie.
Und nun hatte mir der Besitzer des Senders, für den ich eine Zeit lang gearbeitet hatte, eine Nachricht geschrieben. Ich war noch immer, auch lange nach dem Ende unserer Zusammenarbeit, sehr eng mit ihm befreundet, nur hatten wir uns zuletzt etwas AUS DEN AUGEN VERLOREN. Aber wenn wir uns trafen, schien sich nichts geändert zu haben zwischen uns. Wie das so ist mit den wirklich guten Freunden. Da ist es völlig einerlei, ob man mal ein Jahr lang oder so nix hört voneinander; sobald man sich trifft, ist alles wieder wie immer. »Landed. Freue mich auf Dich!«, hatte der Senderbesitzer mir geschrieben. Und jetzt freute ich mich auch.
Bei Basketballs verhielt es sich anders. Was für ein Horror, jetzt geht DAS wieder los, murmelte sie, und irgendwie schien sie gerade zu schrumpfen. Ihre Stimme wurde auch plötzlich viel leiser, und das vorherige Garten-Eden-Tremolo, der Überschwang, die Herzlichkeit, das vergnügungseinfordernde WAS GEHT? war einer modulationsfreien Automatenstimme gewichen. Ihr nämlich hatte einer aus derselben Reisegruppe geschrieben, aber nicht der nette Besitzer des Senders, der mein Freund war und den ich jetzt gern gleich hierherbestellt hätte, der war bei so Partys immer eine Verstärkung, ganz anders als der, der Basketballs nun leider geschrieben hatte: der OPERATIVE Chef, also der Chefredakteur des Senders, der nur einen ÜBER SICH hatte, und das war mein Freund. Er benahm sich trotzdem wie Gott. Aber kein cooler Gott, wie man hier am Pool sagte. Es war ein seltsames Gespann, mein so angenehmer Freund und dieser Krawalldödel, ich hatte diese Verbindung nie ganz begriffen. Meine Freunde sind deine Freunde – nein, nicht immer. Aber trotzdem war es natürlich zu akzeptieren, wenn ein Freund sich auch mit Leuten umgab, die man ablehnte. MEINUNGSFREIHEIT! Und eben auch: Deinungsfreiheit. Na jedenfalls, diesen Typen hatte ich immer schon unangenehm gefunden, dachte ich, aber was ich alles so fand, war gerade extrem egal, war doch hier jetzt gewissermaßen Erste Hilfe zu leisten, also ging ich Richtung Pooltelefon, denn daneben hing der Rettungsring mit der hinreißend blöden Aufschrift HOLLYWOOD. Ich pflückte ihn von der Wand, die Situation war unklar, die Stimmung könnte genau jetzt kippen, und da habe ich immer gern Requisiten zur Hand, um gegebenenfalls alles etwas AUFZULOCKERN. In solchen Situationen hatte mir der HOLLYWOOD-Rettungsring schon oft sehr geholfen. Man musste sich den bloß um den Kopf legen, schon lachten wirklich alle, immer, selbst wenn sie gerade von Selbstmordgedanken erzählten oder von ihren Eltern, meistens hing das beides eh zusammen, und sobald also dergestalt alles etwas schwer zu werden drohte, hängte ich mir diesen Rettungsring um, schon klarte die Stimmung verlässlich wieder auf.
Basketballs nun legte sich auf einen Liegestuhl, schloss die Augen, alle Luft, ja alles LEBEN schien aus ihr zu weichen, sie hielt mir ihr Telefon hin, auf dem die Nachrichten des Chefredakteurs leuchteten, eine ganze Kaskade, die Manier, in der sehr junge Menschen, zu denen auch er nicht mehr zählte, sich mitteilten – oder eben die ungeduldigen Aufdemsprung-TOP-ENTSCHEIDER, die absoluten Hammertypen, diese 24/7-Tyrannen, die funkspruchartig Befehle und Gedankenfetzen rausfeuerten, Grammatik oder Interpunktion galten als so was wie gewerkschaftsorganisiertes Schwächlingsgeplärre und wurden folglich vermieden, weil keine Zeit jetzt, niemals Zeit, immer Eile, es geht um Deutschland, mindestens, es geht nicht selten sogar um GEOPOLITISCHE WEICHENSTELLUNGEN und so weiter, na, dies war also, was ihm aktuell so durch die oftmals weiche Birne rauschte:
Noch wach?
Scheiß klimaanlage komm und wärm mich
Starke vermissung
Bin da
Körper an körper JETZT
Wo du?
Was für ein Typ. Gerade als ich Basketballs ihr Handy zurückgeben wollte, plingte es abermals, noch eine Nachricht. Ach klar, natürlich, das hatte noch gefehlt. Das war der Klassiker solcher Heinis überhaupt, da schwang das ganze Dienstwagengetue mit, dieser TOP-DOWN-Wahn, das AnrufenLASSEN, diese durchaus babyhafte Impulskontrolllosigkeit, wenn nicht innerhalb von Sekunden Befehlseingänge bestätigt wurden und Gehorsam versichert – dieses eine Zeichen, das ausreichte, um Angst und Schuldgefühle zu erzeugen und Sofortgeschufte auszulösen, es hatten aufgrund dieses einen Satzzeichens von ihm schon Väter, ja sogar Mütter Kreißsäle verlassen und Ehebetten, Einschulungen oder Beerdigungen, es waren Urlaube, Therapiesitzungen und Marathonrennen abgebrochen worden, dieses Zeichen fungierte als allgewaltiges Machtinstrument:
?
Einfach nur:
?
Und, was will er jetzt noch?, fragte Basketballs matt.
Unterwerfung, sagte ich und versuchte, es heiter klingen zu lassen, heiter und leicht. Klappte wohl eher so mittel.
Aaaaaaaaaah!, schrie Basketballs, ich kann nicht mehr!
Sie nahm eine von Brandons Schreibmaschinen und schmiss sie ins Gebüsch, biss in die Liegestuhlpolsterauflage und vergrub sich schließlich unter einem Handtuch.
Darf ich antworten, Basketballs?
Mach, was du willst, mir ist alles scheißegal. Dieser Wichser.
Ich schrieb los, pausierte aber nach jedem Wort und schloss die App kurz, damit bei ihm immer Schreibt … stehen würde, kurz, und dann wieder nix. Dann wieder von vorn: Schreibt … – und doch wieder nicht. So was machte Leute dieses Geisteszuschnitts wahnsinnig, und genau das hatte er jetzt verdient. Es machte Spaß. Schreibt … Schreibt doch nicht – Schreibt … Nee, schreibt nicht – Schreibt … Schweigt. Es war wie dieses Liebt-mich/Liebt-mich-nicht-Gänseblümchenblütenzerrupfen. Ich ließ mir richtig Zeit. Und es funktionierte: Immer wieder kommandierte er Fragezeichen in die Nacht.
Pling, Pling, Pling.
Ruhig, Brauner. Endlich passte diese eigentlich Pferden zugedachte Wendung mal, denn dieser Typ hatte sich politisch doch sehr unangenehm radikalisiert mit den Jahren, war direkt proportional dazu immer fetter geworden, und parallel zu seinem Haupthaar fielen auch seine Sicherungen immer schneller und großflächiger aus, er war so eine Art wirr faselnder Gartenzaunnazi geworden, der sich, ja UNS dauernd bedroht sah, was ihn zu allerlei Wutgeschäume animierte, und man hätte das einfach als kurios, sogar als recht amüsant abtun können, wenn er einfach nur ein weiterer urdeutscher Hausmeister gewesen wäre, aber er war nun mal Chefredakteur eines recht erfolgreichen Fernsehsenders, und offenbar mochten sich nicht wenige Menschen versammeln unter seinem WIR-Gebrülle, deshalb empfand man ihn als nicht gar so harmlos – jedenfalls passte das, auf ihn angewandt, also wirklich gut:
Ruhig, Brauner.
Aber das schrieb ich nicht. Als ich das Schreibt …-Schreibt-doch-nicht-Spiel abschloss, indem ich schließlich doch noch eine Antwort von Basketballs Handy absendete, stand da:
Danke, dass du mich betoniert hast. Darfst jetzt ein Bundesland aufhetzen.
Wieso eigentlich »Basketballs«?, fragte ich die noch immer unter dem Handtuch einen mittleren Nervenzusammenbruch Kurierende.
Sie schob sich das Handtuch vom Gesicht, es fiel auf Brandons Drink, der zwischen den beiden Liegestühlen gestanden hatte und sich nun ins Handtuch und auf den Ziegelboden ergoss. Brandons Drinks waren ein cocacolarezeptartiges Geheimnis, große, bauchige Gläser waren es immer, seltsamfarben, zweifellos eine Mischung aus so allerlei, eine gewiss verwegene Mischung, denn Brandon wollte es grundsätzlich, wie gesagt wird: wissen. Keiner, möglicherweise nicht mal Brandon selbst (der es oft versuchte, inmitten der imposanten Aufzählung dann aber stets irgendwann das Interesse verlor) konnte genau auflisten, was da alles drin war, in den Brandon-Drinks. Fest stand, dass sie wirkten. Brandon war eigentlich durchgehend auf die eine oder die andere – ja, man muss wohl sagen: auf die eine UND die andere Art – weggeschossen. Dabei aber der herzlichste, lustigste, originellste Mensch, der sich denken lässt.
Basketballs setzte sich auf, schüttelte Kopf und Oberkörper so, als ob sie fror oder aus einem unguten Traum erwachen wollte, eine Gedankenschleife beenden. Mit den Mittelfingern massierte sie sich dann beidseitig die Nasenwurzel, ihre Augen blinzelten dabei himmelwärts, als kämen da jetzt gleich Augentropfen rein. Sie räusperte sich und erzählte schließlich die Herkunft ihres Spitznamens:
Rose hat mir den gegeben, kennst du Rose?
Rose – DIE Rose? Von hier? Also Rose McGowan?
Genau, Rose. Die hat damit angefangen, mich Basketballs zu nennen – weil ich so groß bin.
Das ist aber sehr lustig. Ist Rose also lustig? Die sagt nämlich nie was. Die liest immer nur, die sagt nicht mal »Hi«! Tonloses Lippenbewegen ist das Maximum. Gar nichts sagt Rose, nie auch nur irgendwas. Nicht »Hi«, nicht »Bye« – nichts!
Tja (Basketballs zündete sich eine Zigarette an, bog einen Arm hinter ihrem Kopf zu einem spitzwinkligen Dreieck, als Nackenstütze, und lehnte sich zurück und rauchte den Mond an), ganz ehrlich, das würde ich an ihrer Stelle auch nicht tun, vor allem hier nicht. Sie hat ja so ’n NDA unterschrieben.
Ein was?
NDA – Non Disclosure Agreement.
Was heißt denn noch mal disclosure?
NDA heißt so viel wie Stillschweigevereinbarung. Schweigegeld, Maul halten – und dann versuchen, damit klarzukommen, sagte Basketballs auf eine Art geschäftig, abgeklärt; aber es schwang auch Verachtung darin mit, wie sie das sagte. Verachtung allerdings keineswegs für Rose, wenn ich es richtig verstand, sondern für die Gegenseite dieser Vereinbarung. Wer auch immer das sein mochte und um was auch immer es da wohl ging. Basketballs jedenfalls, das klang deutlich heraus, würde es mir nicht erzählen. Es klang ja auch fast ein bisschen gefährlich alles. Aber ich maß dem andererseits auch keine allzu große Bedeutung bei, das war eine der vielen intuitiv von allen hier befolgten Grundregeln im Zuge solcher Poolnächte: Man muss, ja man kann nicht mal alles verstehen, was im Laufe einer solchen Nacht so geredet wird, dafür sind dann, trotz aller Gemeinseligkeit, doch alle zu unterschiedlich UNTERWEGS in diesen Nächten. Auch das ist ja so angenehm daran. Noch im allergrößten TOHUWABOHU gilt doch für einen jeden:
Alone with everybody.
Und weil alle hier das ja wussten und, so verschieden wir waren, dies doch sowieso unser aller Grundgefühl war, kamen wir hier dauernd zusammen. Am folgenden Tag war es dadurch dann noch schlimmer, aber das war eben nachts egal und konnte zeitweise außer Kraft gesetzt werden durch unser sonderbares Treiben hier, lauter Lebensschiffbrüchige am Pool, die einander halfen, sich selbst und möglichst auch alles andere zu vergessen. Ich drehte den HOLLYWOOD-Rettungsring auf meinen Oberschenkeln hin und her, wie ein Lenkrad oder so.
Das soll sie dir selbst erzählen, sagte Basketballs, und dann fragte Brandon, der unterdessen die von Basketballs ins Gebüsch geworfene Schreibmaschine geborgen hatte, warum sein Drink leer sei – und ob wir jetzt bitte in seinen Bungalow gehen könnten. Basketballs Handy plingte. Sie atmete vernehmlich aus:
Oh, Leude, ich kann nicht mehr, was ist denn nun noch?
Ach, vergiss es, Basketballs, sagte ich, das ist doch eh nur wieder eines von diesen Jeff-Bezos-Fragezeichen oder sonst irgendwas Ekliges, komm einfach mit uns mit. Wir gehen erst kurz zu mir, dann zu dir, Brandon, los, kommt!
Wir gingen los, ich winkte traditionsbewusst Richtung Überwachungskamera, Angelo mal vorerst eine gute Nacht wünschen. Basketballs blieb kurz stehen, schaute sich noch mal um zu den Nachtnacktbadenden, schüttelte amüsiert den Kopf und untertitelte durchaus treffend das sich ihr bietende Bild der unterm dunkelweiß in die Nacht sich türmenden Schloss im Mondlicht Badenden, sehr elegant am Ende eines Zigarettenrauchausatmens, mit letzter Luft sozusagen:
Hippies!
Sie drehte sich um zu uns, Aufbruch.
Na ja, die ARBEITEN wenigstens nicht auch noch zusammen, fügte Basketballs an, aber sie sagte das mehr zur hoch aufschießenden Bambushecke, die die Bungalows vom Pool trennte, als zu uns.
Ich antwortete trotzdem: Na ja, arbeiten. Nee, hier arbeitet irgendwie niemand je. Also so im klassischen Sinne. Alle machen halt irgendwas, dauernd, klar – aber arbeiten, also jetzt wirklich ARBEITEN, nee.
Basketballs lachte: Ihr seid so fertig alle hier, I love it. Hast du Drinks und Kippen oben bei dir?
Ich habe alles, sagte ich – und hoffte, dass das auch stimmte. Hier im Hotel war ich gern ab und zu GASTGEBER, es war ja auch sehr leicht. Wenn was fehlte, rief man halt den NIGHT MANAGER an, kurz darauf war das Gewünschte da, man konnte wirklich ALLES bestellen, mit ein bisschen Übung und nach vertrauensbildenden Jahren des Hierwohnens.
Du kennst die Geschichte von der Nacht am See in Berlin, oder?, fragte Basketballs. Gibt natürlich wie immer bei so was zwei Versionen von der Story, mindestens. Aber was ich mir halt denke: Das hätte ja genauso gut bei uns sein können, weißt du, wie ich meine? Diese TYPEN, oh, mein Gott. Die können sich alles erlauben, wirklich alles. Deshalb bin ich ja dann hier rübergezogen, das wurde mir echt zu krass da alles. Aber selbst hier haben die ja noch Zugriff auf einen, und jetzt kommt der echt hierher – das fehlte ja gerade noch, dass der jetzt hier auftaucht. Ich meine – ECHT JETZT MAL!
Und wieder mal verstand ich kein Wort, sagte aber, wie hier üblich: Absolut.
Ich hängte mir den HOLLYWOOD-Rettungsring um den Hals, ein bisschen wie den Strick von Lucky in »Warten auf Godot«, dachte ich, sagte das aber natürlich nicht – ich hatte nun doch einige Erfahrung mit solchen Nächten und dem, was man währenddessen so zu denken denkt. Es war für alle angenehmer, wenn man dann ab und zu eine etwas strengere Tür pflegte bezüglich dessen, was aus dem wildwirren Synapsenzirkus man auch den anderen zumutete.
Brandon, mit den zwei verbliebenen Schreibmaschinen unter den Armen, ging voraus. Barfuß und schlingernd, Brandon eben. Man konnte gar nicht anders, als ihn zu lieben. Später würden wir sowieso zu ihm gehen, und die jetzt noch Badenden würden gewiss auch nahezu VOLLZÄHLIG dahin kommen, in den Belushi-Bungalow, denn bei Brandon war es immer am besten, war Brandon doch wirklich alles, alles komplett scheißegal, vom Tage seiner Geburt an, wie mir sein Bruder mal erzählt hatte, den ich lange für Zac Efron gehalten hatte und an dem mich immer so begeistert hatte, WIE NORMAL er sich dennoch verhielt – aber er war ja auch gar nicht Zac Efron.
Also, später zu Brandon, jetzt aber kurz zu mir, denn ich musste Brandon unsere Farbbandmanufaktur zeigen – vielleicht würde die uns nämlich anderntags helfen, die jetzt noch auf dem Poolgrund liegenden Schreibmaschinen 3 und 4 wiederzubeleben. Das war doch wirklich eine Perspektive, ich freute mich jetzt richtig darauf, dass Brandon sich gleich so freuen würde.
Hast du geantwortet auf die Nachricht von deinem Freund?, fragte Basketballs. Sie habe ECHT ZERO BOCK, dass DIE jetzt noch hierherkämen. Aber ich konnte sie beruhigen: Die Nachricht, die ich bekommen hatte, nein, die hatte ich ganz vergessen, lediglich die an sie hatte ich ja beantwortet. Und zwar auf eine Art, die viele Fragezeichenplings nach sich gezogen hatte. Dem hatte ich es ganz schön gegeben. Ein Erfolg! Solcher Art waren sie oft, die Triumphe dieser Nächte: komplett erratisch, sehr special interest, am nächsten Tag zumeist schon auch von einem selbst unbegriffen.
Nightswimming deserves a quiet night
I’m not sure all these people understand
It’s not like years ago
The fear of getting caught
A: 04:31 h: »What a beautiful early morning!«
B: »OMG – erstaunter Smiley – wann bist Du denn immer schon wach?«
A: »Noch …«
Ich hielt meinem Freund, dem Senderbesitzer, mein Telefon hin und zeigte ihm das Foto dieses ein paar Monate alten Posts, den ich ihm gerade vorgelesen hatte: im Vordergrund, dunkel noch, weiße Beetblumen, dunkle Wiese zum See hin, der IM ERSTEN LICHTE weißgülden strahlte, umsäumt von tiefdunklen deutschen Seelenbäumen, der Resthimmel wusste noch nicht so recht, ob Tag oder Nacht, befand sich indessen schon unweigerlich im Übergang: von Schwarz zu Blau.
Und am Ende des Abends steht ein Haus am See.
Kurz schaute mein Freund auf das Foto, aber er musste sich ja auf die Straße konzentrieren. Wir saßen in einem dieser grauenhaft SPORTLICHEN amerikanischen Männlichkeitskrisenautos (tief, fast auf der Straße sitzend, außen war das Auto lackiert mit einer Art Feuerschweif) und fuhren – vollkommen idiotisch! – von Los Angeles nach San Francisco. Aber daran war jetzt nichts zu kritisieren, das alles war ja TEIL DES KONZEPTS.
Mein Freund war mit einigen seiner FÜHRUNGSKRÄFTE hierhergekommen, und diese Reise war ein derart durchgeplanter Blenderunfug, es war zum Totlachen. Aber er war nun mal mein Freund, hatte mich gebeten, mitzukommen für ein paar Tage, und er wollte offenbar unbedingt, dass ihm selbst das alles sehr gut gefällt und WAHNSINNIG VIEL BRINGT, also machte ich mit. Das hätte er bei mir auch gemacht, ja das hatte er bei mir auch schon gemacht, oft sogar – wenn’s kipplig wurde und Zuspruch vonnöten war, dann konnte ich mich auf ihn verlassen, dann war er immer da gewesen und würde das auch künftig immer wieder sein. Noch in meinen groteskesten Lebenssackgassen hatte er auch meinen Irrtümern, wenn sie als solche für ihn als Nahe-, dennoch ja AUSSENSTEHENDEN zwar offenkundig waren, es aber aktuell eben nicht anders ging, applaudiert und mich unterstützt, weil er genau wusste, dass es nur so überhaupt eine Chance gab, mich zu erreichen. Und ich versuchte das umgekehrt genauso. Also war ich mitgefahren, obwohl ich Autofahren nicht mag und MÄNNERAUSFLÜGE noch viel weniger, aber das war jetzt aktuell eben sein Vorhaben, und so behielt ich meine Einwände für mich: Klar, gern!
Auf gar keinen Fall war es jetzt geboten, Scherze über seine seltsame Kleidung zu machen; er trug einen STANFORD-HOODIE aus CASHMERE, eine Sonnenbrille mit bunt changierenden Gläsern – und, anders als sonst, keinerlei Haargel, was bei seinem noch immer sehr kräftigen Haarwuchs eine wirklich seltsame Ananasfrisur erzeugte. Kurzum, er sah komplett verrückt aus. Seine Armbanduhr war auch neu, beziehungsweise neu alt: mit Stoffarmband, gekonnt abgeschrabbelt. Seine Kleidung und Aufmachung sollten fraglos bedeuten, dass sie ihm nichts bedeuteten. Und so ging es dahin, in die Neue Welt. Offensichtlich wünschte er sich dringlich, dass diese Fahrt (er sprach von UNSEREM TRIP) ein großes und dennoch auf jeden Fall erfolgreiches Abenteuer würde und dessen Dokumentation GLAUBWÜRDIG RÜBERKOMMEN – und ECHTE VERÄNDERUNGEN praktisch auf Befehl zeitigen. Also behielt ich meinen Spott für mich; wir alle waren ja lächerliche Figuren, und wenn man das nur wusste und großzügig war mit anderen wie mit sich, ging es einem einfach besser. Freundschaft, wirklich tiefe Freundschaft. Und insbesondere wenn es beim anderen gerade in einer Schussfahrt bergab geht (oder zu gehen scheint), ist es MÜSSIG UND WOHLFEIL, die Richtung infragezustellen – da schaut man halt, ob der Freund angeschnallt ist und ob man den Aufprall irgendwie abmildern kann.
Angeschnallt waren wir, trotz FREIHEIT. Freiheit war ja ganz wichtig; sein LEBENSTHEMA, wie mein Freund immer wieder überall betonte, er hatte geradezu eine Freiheitsobsession, was in sich irgendwie unfrei wirkte, aber auch dafür liebte ich ihn natürlich. Er zum Beispiel rauchte nicht, ich aber ja sehr gern, und es bereitete ihm immer die allergrößte Freude, mir dabei zu assistieren, irgendwo mal punktuell das Rauchverbot nicht gar so ernst zu nehmen – Freiheit, so begründete er das dann gern gegenüber anderen, die sich an meinem Rauchen störten, Freiheit sei immer auch die Freiheit der Andersdenkenden, Rosa Luxemburg! Auch wenn ihn selbst mein Zigarettenrauch eigentlich sogar ein bisschen störte, liebte er das immer sehr, zwang mich manchmal fast zum Rauchen, wenn wir uns irgendwo befanden, wo das besonders verboten war, denn es machte ihm einfach so viel Spaß, Regeln nicht zu befolgen. Und das dann auch noch mit einer Heiligen der LINKEN zu begründen, er!, also das sorgte jedes Mal für Aufsehen und Erstaunen, und deshalb liebte er das. Freiheit also, once again: Wir fuhren die Westküste entlang auf, natürlich, einem FREEWAY (der bald schon in einen Highway münden würde, den Highway 1 zwar immerhin, dennoch, das verordnete GEFÜHL war: Freeway) in einer Kolonne mittelalter Männer (Frauen waren keine dabei), die sich hier allesamt NEU ERFINDEN sollten, pardon, wollten – also, sie sollten, aber es ging jetzt darum, es allen (einem jeden für sich und mittels eines dabei gedrehten Werbefilms auch UNTERNEHMENSINTERN allen zu Hause gebliebenen Mitarbeitern und obendrein den KUNDEN und WETTBEWERBERN) als ureigenen Wunsch zu verscherbeln, ja, hier lässt sich sogar sagen: UNTERZUJUBELN. Horizont, wir kommen, ist das alles, was du draufhast, wir erweitern dich, wir geben Gas, haben Spaß, Land of the Free.
Es war eine Midlife-Crisis-Prozession ins Gelobte Land. DEMÜTIG wolle man sich nähern, war gesagt worden, LERNEN wolle man – und vielleicht ja auch wirklich, so dachte ich, wenigstens kurz: endlich mal die Fresse halten. Das alles wurde natürlich gefilmt, DOKUMENTARISCH BEGLEITET, allerdings von einer Werbeagentur. Und insofern würde es natürlich ganz genau kein Dokumentarfilm werden, denn der Plot stand ja schon fest, die Stimmung, der Verlauf, alles. Es war also das exakte Gegenteil eines Dokumentarfilms, die wirklich interessanten Dinge würden natürlich rausgeschnitten werden oder gar nicht erst gefilmt. Mir fiel Hitchcocks nützliche Formel ein: »In einem Spielfilm ist der Regisseur der Gott – und in einem Dokumentarfilm ist Gott der Regisseur.« Demgemäß wurde hier also ein Spielfilm im Gewand eines Dokumentarfilms gedreht. Ratlosigkeit würde nur gezeigt werden, wenn sie alsdann aufgelöst werden könnte, ein paar Sequenzen weiter, durch BEGEGNUNGEN und EINSICHTEN. Im Drehbuch hieß das »Learnings« – und das Phantastische an dieser vorgeblichen Forschungsexpedition war, dass nämliche Learnings vorher schon feststanden. Ein paar wohlkalkulierte Schein-Peinlichkeiten würden zwar (nachdem zig Zuständige diese ABGESEGNET und DURCHGEWINKT, ja GEGREENLIGHTET hätten) enthalten sein in dieser Selbstdarstellung, aber das würde ein Trick sein, DA MUSS ES DANN AUCH MAL MENSCHELN, hatte der Regisseur gesagt. Um dann – ja, was eigentlich? Das hatte ich noch nicht so ganz verstanden: Was das alles eigentlich sollte.
Hupend überholte uns jetzt ein nicht allzu humorbegabter Controller, der dabei irgendwelche Männlichkeitshandzeichen durchs Seitenfenster in unsere Richtung gestikulierte, es machte ihm vielleicht ja sogar wirklich Spaß, und er war jedenfalls schon ganz IN DER ROLLE, es war eine Klassenfahrt mittelalter Höchstverdiener, und er war GUT DRAUF und trug, wohl um das zu bekräftigen, nicht eben vorteilhafte kurze Hosen. Dieser pünktlich mit Betreten der USA