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Eine Geschichte von Heimatlosigkeit, von Erlebtem und Erstorbenem, von versehentlichem Zeugen und Morden, von einem dunklen Keller und vom Geheimnis des Runden und seinen Zwischenräumen. Ein alljährliches Austernmahl wird ihr zum Verhängnis: Nonna, die madonnenhaft verehrte und doch so ferne Mutter. Sitzt sie auch der Tafelrunde gottgleich vor, so werden die Geschicke der grossen Familie von den dienstbaren Geistern Certo und Mente geleitet, wobei sich die Fäden ihrer dunklen Vergangenheit immer tiefer in die Gegenwart hinein prägen. Pflichtbewusst und machthungrig betreuen sie Haus und Kinderschar, bis der jüngste unter den Söhnen aus der geheimnisumwitterten Atmosphäre der Kindheit Schlüsse zieht. »Nonna's Tafelrunde«, eine vielschichtige Erzählung um Liebe und Angst, Willkür, Sehnsüchte und das Geheimnis eines dunklen Kellers.
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Seitenzahl: 106
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Geschichte von Heimatlosigkeit, von Erlebtem und Erstorbenem, von versehentlichem Zeugen und Morden, von einem dunklen Keller und vom Geheimnis des Runden und seinen Zwischenräumen.
Ein alljährliches Austernmahl wird ihr zum Verhängnis: Nonna, die madonnenhaft verehrte und doch so ferne Mutter. Sitzt sie auch der Tafelrunde gottgleich vor, so werden die Geschicke der großen Familie von den dienstbaren Geistern Certo und Mente geleitet, wobei sich die Fäden ihrer dunklen Vergangenheit immer tiefer in die Gegenwart hinein prägen. Pflichtbewußt und machthungrig betreuen sie Haus und Kinderschar, bis der jüngste unter den Söhnen aus der geheimnisumwitterten Atmosphäre der Kindheit Schlüsse zieht.
»Nonna's Tafelrunde«, eine vielschichtige Erzählung um Liebe und Angst, Willkür, Sehnsüchte und das Geheimnis eines dunklen Kellers.
Hans von Holt wurde im Jahr 1946 im weitgehend ausgebombten Hamburg geboren. Sein Spielplatz waren die Trümmer, die eine frühe Prägung hinterlassen haben. Er studierte Musik in Hamburg, Amsterdam und Salzburg. Er kam 1972 ein erstes Mal in die Schweiz. Hier entstand aus der Leidenschaft zur Fotografie ein zweiter Beruf. Audiovisuelle Tätigkeiten führten ihn in die Welt von Film und Fernsehen. Berufsbegleitend ergänzte er seine Ausbildung zum Tonmeister. Als Filmtonmeister arbeitete er während fünfundzwanzig Jahren in Zürich und Köln. Nebenbei engagierte er sich im Musiktheater der »Mixt-Media«, Basel mit vielen Auftritten in Deutschland, der Schweiz, Italien und Griechenland. Bisher wurden veröffentlicht: Die Erzählung »Nonnas Tafelrunde«, der Roman »Die Wolken von Esopotamien«, Kurzgeschichten »Geschichten der Welt«, das Theaterstück »Sisyphos oder das Ende der Ewigkeit«, der Roman »Mein Name sei Sisyphos«, der Thriller »inject«.
Prolog
1.
Kapitel
Der Einstieg
2.
Kapitel
Mente, Messer und Cornelia
3.
Kapitel
Rosina
4.
Kapitel
In die Fremde / Helena
5.
Kapitel
In die Berge
6.
Kapitel
Der Keller
7.
Kapitel
Der Wanderer
8.
Kapitel
Traum
9.
Kapitel
Das Picknick
10.
Kapitel
Mentes Gesang
11.
Kapitel
Traum
12.
Kapitel
Die Grube
13.
Kapitel
Die Austern
14.
Kapitel
Finalmente
15.
Kapitel
Im Zug
16.
Kapitel
Bei Stella
17.
Kapitel
Das Ende des Wanderns
Die Personen
Danksagung
Vom gleichen Autor erschienen
Eine graue Wolkendecke hing am Himmel und schien alle Farben aus der umliegenden Landschaft zu saugen. Eine fahle Sonne mit einem diffusen Licht erhellte den Tag mit einem trägen Grau. Es herrschte eine trübe Stimmung. Giovanni Ligneo stand unbeweglich am Brunnen. Das Wasser floss über Hände und Unterarme, frisch und kühl. Je länger er verweilte, umso mehr drang die Gewissheit in seine Wahrnehmung, dass er dem dunkelsten Schatten seines Lebens begegnet ist. Instinktiv versuchte er, ihn abzuwaschen. Nur langsam löste sich seine innere Erstarrung. Er formte unbeholfen die Hände zu einem Gefäß, sammelte das Wasser und goss es sich über sein Gesicht. Das kühle Nass brachte ihm keine Erleichterung. Das Blut, wenn auch nicht mehr sichtbar, blieb ihm auf seiner Haut spürbar, solange er sie auch wusch.
Ständig schaute er sich um, kontrollierte, ob ihn jemand sah. Es beruhigte ihn nur oberflächlich, dass niemand den nahen Weg entlang kam. Die Felder erstreckten sich menschenleer bis zum Wald, der in trostloser Einsamkeit das Dorf begrenzte.
Hinter dem Fenster des kargen Holzhauses starrten zwei leere Augen zu ihm herüber. Er spürte sie im Rücken, obwohl es ungewiss war, ob sie ihn ansahen oder ob sich der starre Blick, in dem sich namenloses Entsetzen spiegelte, im Nichts verlor, dort, wo der stumme Schrei am Wahnsinn vorbei in ein dumpfes Schweigen abgleitet.
Giovanni hatte den Krieg überlebt. Er hatte es zustande gebracht, unbeschadet dieses gewaltige Werk der Zerstörung mehr oder weniger als Zaungast an sich vorüber ziehen zu lassen. Er hatte es geschafft, all das Sterben um ihn herum verdrängen zu können. Doch auf dem Weg nach Hause, auf dem die Hoffnung der Gewissheit zu weichen schien, alles überstanden zu haben, hatte ihn der blutige Wahnsinn eingeholt. Und der Wahnsinn fand sein Spiegelbild in der einzigen Form, die er nicht ausblenden konnte: Er stand da hinter diesem Fenster in Erscheinung einer jungen Frau. Und dagegen war Giovanni wehrlos.
Warum hatte er das Mädchen vor zwei Tagen am Waldrand angesprochen? Gut, er hatte lange nichts gegessen. Das war er im Krieg gewohnt. Sie war eine Gelegenheit. Denn Giovannis Hunger hatte viele Ebenen. Er liebte nicht das Brot allein. Sie war jung, strahlte eine schlichte Schönheit aus und war von einer naiven Furchtlosigkeit, die ihn magisch anzog.
Er nannte sie Babuschka, denn er verstand weder ihre Sprache noch ihren Namen. Er wußte nicht, ob die Laute, die sie von sich gab, ihren Namen hätten bedeuten sollen. Der Name Babuschka gefiel ihm, und war das Einzige, was er in der Landessprache kannte. Das klang nach seinem Sinn.
Was hatte sie ihm sagen wollen? Dass sie nicht allein in der Hütte wohnte, wie er glaubte? Hätte er nicht hellhöriger sein müssen? Seine selbstgefällige Interpretation des Verhaltens anderer ihm gegenüber durch kritische Vorsicht ersetzen? Achtsamer sein und wahrnehmen, was nicht durch gewohnte Sprache ausgedrückt wurde. Er war noch in Feindesland, wenn auch der Krieg so gut wie zu Ende war.
Jetzt, im Nachhinein, hatte er keine Zeit. Er musste weg von hier. Aus dem Trog blitzte es ihm entgegen, mahnte ihn zur Eile. Das Bajonett spiegelte sich im Wasser. Es war wieder blank, das Blut abgewaschen. Trotz des fahlen Lichtes schien es ihn zu blenden. Er nahm es an sich, steckte es in seinen Gürtel. Er durfte es nicht hier lassen. Das wusste er instinktiv.
Dass sie Angst gehabt hatte und ihn aus Angst in ihrem Haus duldete, ihn gewähren ließ, kam ihm nicht in den Sinn. Und dass es die nackte Angst war, weshalb sie ihn den ganzen nächsten Tag, wie er meinte, umsorgte, duldete seine Einbildung nicht. Er überlegte, nahm das Bajonett vom Gürtel - es durfte nicht nach außen sichtbar sein - und steckte es in die innere Jackentasche, eine zivile Jacke, die gestern einem anderen gehörte.
Plötzlich, heute früh, als es bereits dämmerte, ging die Tür auf und der Mann kam herein. Funkelnde Augen. Sie sprang vom Lager auf, zog die Decke an sich und wich vor Entsetzen zurück an die Wand. War es ihr Mann, ihr Bruder, ein Nachbar? Giovanni wusste es nicht. Eines wurde ihm blitzartig klar, der Ausdruck des Mannes war unmissverständlich: von ihnen beiden würde nur einer die Hütte aufrecht verlassen.
Während der Mann einen gewaltigen Satz auf Giovanni zu machte, hatte dieser sein Bajonett gezückt. Instinktiv, eine mechanische Reaktion, die Geste der Angst, sich den Kampf vom Leibe zu halten. Es gab keinen Kampf. Das Blut floss über Giovannis Hand, den Arm, tränkte das Bett, während der Mann kurz zuckend auf ihm lag, um leblos über ihm hängenzubleiben. Die Arme, die zum Würgegriff ausgestreckt ihm entgegenkamen, pendelten langsam an seiner Seite aus. Dann trat einen Moment Stille ein. Eine Zäsur in der Zeit. Sie wurde in einem rasenden Crescendo zum unhörbaren Dröhnen, das ein Schrei durchschnitt, der die Pforten des Wahnsinns öffnete.
Daran wollte er nicht mehr denken. Er dachte an die nahe Grenze, nicht an die, die er gerade überschritten hatte, nein, an die Demarkationslinie dachte er, die der Krieg hinterlassen hatte. Er ging nicht mehr in die Hütte hinein. Er hatte die Jacke gewechselt und eine zivile Hose gefunden. Er sah sich nicht um zu den Augen hinter dem Fenster. Er würde niemals wissen, ob sie ihm nachschauten oder ob die Leere des Wahnsinns sich ihrer endgültig bemächtigt hatte.
Giovanni ging seines Weges, die Zukunft im Auge und einen feinen Filter des Vergessens im Innern, der ihn ruhig schlafen lassen würde. Er hatte ja nichts getan. Es war geschehen. Und von diesem Geschehen entfernte er sich nun auch äußerlich.
Zum Zeitpunkt meiner Geburt, der Krieg hatte sich wieder einmal in sich selbst erschöpft, lag die Welt – meine Welt – sichtbar in Trümmern.
Hier stock' ich schon, denn so ein Satz, arglos hingeschrieben, zwingt zum Nachdenken. Es geht um meinen Einstieg in diese Welt, um das, in was ich mich als Erstes hinein begeben habe. So gesehen genügt es nicht, sich mit den Trümmern der Häuser um das unsrige herum, welches zufällig stehenblieb, zu beschäftigen, sich mit ihrem Wiederaufbau zu begnügen. Die Frage nach den Trümmern auf anderen Ebenen schwingt mit. Das zwingt mich, tiefer zu gehen, Zufälle in Frage zu stellen und mich in der Betrachtung auf Geschehenes festzulegen, so subjektiv die Betrachtung auch sein mag. Und diese Subjektivität scheint mir unvermeidlich, je länger ich versuche, das Innere in die feste Form der Worte zu gießen und dabei viel Raum zwischen den Zeilen zu öffnen. Das Festlegen ist eine Beschäftigung, die nicht zu meinen Liebsten gehört. Darum lasse ich die Wurzeln, so weit es möglich ist, im Dunkel – wobei sich die Frage auftut, ob sie da nicht hingehören – und wende mich der Erinnerung zu. Hier lege ich mich nicht auf Objektives fest. Auch die Zeit und die Reihenfolge bleiben subjektiv und frei von einer linearen Abfolge. Erinnerung mag eine ähnliche Struktur wie Träume ihr eigen nennen. Man kann sich frei in der Zeit bewegen.
Erinnernderweise kann ich mich an meiner italienischen Abstammung erfreuen, die zu beweisen ich mich nicht herablassen werde. Der geneigte Leser möge sich mit meiner Versicherung an Wahrheit statt zufrieden geben und mir vertrauen.
Als zentrales Element der Erinnerung (sie verzeihe mir diesen Terminus) tritt unsere Nonna in die volle Größe ihrer Erscheinung: Das Bild der Mutter, dessen Prägung die Zeiten überdauert. Sie hält zeitlos Vorsitz an der üppigen Tafel, die sich in ihrem Eichenholzdunkel in ebenbürtigem Gewicht vor ihr ausbreitet. Überhaupt meine ich diesen Raum immer in einem gewissen Dämmerlicht wahrgenommen zu haben. Nonna strahlte ein mondiges Silber aus, welches hin und wieder üppiges Kerzenlicht in feierlichen Sternstunden matt vergoldete. Das Mondene wurde durch das freundlich thronende Rund ihres Gesichtes unterstrichen, das sich in ihrer vollen Erscheinung fortsetzte und keinen Beisitz an der Stirnseite ihrer Tafel duldete, die sie vollständig ausfüllte. Das ganze Bild hatte für mich immer etwas Unverrückbares. Es war ein statischer Pol, ein eigener Raum, von dem unsichtbar und nach außen unbemerkt alle Bewegung ausging.
Die ersten sichtbaren Anzeichen von Betriebsamkeit um sie herum waren Certo und Mente, die dienstbaren Geister, ohne die unser praktisches Leben kaum möglich gewesen wäre.
Das waren nicht ihre tatsächlichen Namen. Diese wurden nie verwendet. Das hatte einen einfachen Grund. Giovanni war unser guter und beflissener Geist, der schier unermüdlich für die Nonna – und nicht nur für sie – rührig war und jeden ihrer Befehle mit einem »certo« quittierte. Dieses »certo« ließ in seiner leichten Dehnung bei aller Freundlichkeit eine kaum spürbare Andeutung mitschwingen, die dem Hellhörigen vermittelte, dass er lange wisse, was zu erledigen sei, ohne darauf hingewiesen zu werden. Es war ein auf die Dienstbarkeit aufmodulierter Oberton eines gewissen Dünkels, der den meisten Menschen unbemerkt blieb. Bei Gesellschaften strahlte er eine unumstrittene Souveränität aus, die von Gästen, die den Gefilden der Konversation nahe standen, geschätzt wurde.
Mente kam auf die gleiche Weise zu ihrem Namen. Sie hatte die Eigenart, Silben zu verschlucken und die Worte abzukürzen, um einer angeborenen Wortkargheit Genüge zu tun und sich der wenigen unumgänglichen Reden zu entledigen. Es wurde aus ihrem beflissenen und aus Höflichkeit kaum vermeidbaren »naturalmente Signora« ein verbleibender Klang, der als »Mente« identifizierbar war. Wir Kinder befanden diesen Laut zur Namengebung für mehr als tauglich. Nur Nonna blieb dabei, sie mit »Nella« anzusprechen. Das kam selten vor und wirkte dann eher aufgesetzt.
Mente war ein rechter Gegenpol zu Certo, der allgemein einen ruhigen und zufriedenen Eindruck machte. Sie schien immer auf ihre eigene Weise gehetzt zu sein. Etwas Unsichtbares schien sie zur Eile anzutreiben, unterstrichen von zwei tiefgefurchten Falten zwischen den Augenbrauen, die die ohnehin nicht kurze Nase noch länger und schmaler erscheinen ließen. Ihr Blick schweifte immer ein Stück in die Zukunft, was sie ihrem Gegenüber entrückte, ihr etwas Unangreifbares gab. Die einzigen Befehle, die sie akzeptierte, waren die von Nonna. Im Übrigen verlieh sie ihrer Überzeugung Ausdruck, ihre Herrin vertreten zu müssen, was sie allen zu spüren gab.
Das wurde besonders deutlich, nachdem unsere von allen verehrte Köchin Rosina uns verlassen hatte. Wir hätten ihr gerne Lebewohl gesagt, aber der Abschied vollzog sich während der Ferien, die wir Kinder am Meer bei Onkel Carlo verbrachten. Über ihren Fortgang gab es keine Erklärungen. Das war immer so, wenn etwas die Gefühle berührte. Die Küche wurde Mentes alleinige Domäne, was ihr sichtlich nicht ungelegen kam.