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Hans von Holt

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Beschreibung

Es beginnt auf einer Südseeinsel in der schönsten Umgebung. Ein scheinbar harmloses Seminar endet mit einem schrecklichen Erwachen. Es bleiben von Mirella nur verzweifelte Aufzeichnungen in Ihrem Tagebuch. Das Ende eines Menschen wird zu einem Anfang, der alles bisherige verändern soll. Vaclav Santini spielt die erste Geige in seinem Prager Orchester. Die Entfremdung zu seiner Frau Mirella hatte sich eingeschlichen wie ein Dieb in der Nacht. Sie war in einen Sog gewisser Kreise geraten, der ihr zum Verhängnis werden sollte. Anneke Vermeer aus Amsterdam meldet sich unerwartet und kommt für einen Besuch nach Prag. Das Wiedersehen mit Vaclav gestaltet sich völlig anders als erwartet. Der Tod Mirellas wirft Widersprüche auf, die Vaclav und Anneke in den Strudel der Ereignisse ziehen. Kommissar Jasinski in Prag tappt zunächst im Dunkeln. Spuren führen nach Amsterdam. In Amsterdam setzen sich langsam Bruchstücke zusammen. Es ergibt sich ein roter Faden, der Experimente an Menschen offenlegt, deren Anwendung unvorstellbare Folgen haben wird. Ein Szenario aus Verschleierung und Manipulation macht die Spurensuche fast unmöglich. Ein Konzern gerät ins Zentrum der Ermittlungen. Die Ergebnisse übertreffen alles bisher Denkbare. Kann dem geplanten Albtraum Einhalt geboten werden?

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Für alle, die schon den einen oder anderen Weg zurückgehen mussten, weil Abgründe, Sackgassen und sonstige Hindernisse das Weitergehen unmöglich machten.

Handlung, Unternehmen, Ensembles und Personen sind frei erfunden. Jegliche Übereinstimmung mit Namen, Orten oder Ereignissen ist rein zufällig, nicht beabsichtigt und hat keinerlei Bezug zu realen Gegebenheiten.

Leserkommentare

»In allen Ebenen ist dieser Roman mehr als gelungen, von der Spannung her, der psychologischen Tiefe, der Beobachtung und Aussage. Er ist wirklich viel mehr als ein Krimi und sollte gelesen werden und vor allem zum Nachdenken anregen.«

»Das vorliegende Buch hat mich absolut begeistert! Die „Geschichte“ an sich, die eigentlich eher eine Wiedergabe der Jetztzeit abbildet. Wie der Autor es fertig gebracht hat, jede Person, jede Handlung mit so viel Leben und Fachwissen auszustatten, dass es fast schon ein Sachbuch sein könnte, ist genial. Üblicherweise übergehe ich bei einem Krimi oder sonst spannenden Buch Beschreibungen, um schneller an die „Lösung“, ans Ende zu kommen. Nicht so in diesem Buch von Hans von Holt. Keinen Satz wollte ich auslassen, da jeder etwas hätte enthalten können, das schade gewesen wäre, es zu verpassen.«

»Ein überaus spannender Aufbau der Geschichte, meisterhaft ausgestaltet und hält einen in Atem bis zum Ende. Der Humor hat wenigstens noch im kalten Kaffee Platz. Ein gelungener Kriminalroman mit erschreckendem Hintergrund, man darf gar nicht daran denken. Ich freue mich auf das Konzert des neuen Quartetts in der Hoffnung, dass Anneke auch dabei sein wir.«

Inhalt

Leserkommentare

Mirellas Erwachen in Tahui

Bohemia

Swamis Spaziergang

Das Gastspiel in Prag

Der Tauchgang

Vaclavs Erwachen

Frühstück in Tahui

Kommissar Watanubi

Campingplatz auf Bohunal

Anneke Vermeer fährt nach Prag

Der Kommissar und der Swami

Anneke Vermeer kommt in Prag an

Happy Landing in Köln

Anneke & Vaclav

Kommissar Jasinski

Das letzte Konzert

Miller in Amsterdam

Gandria

Mirellas Beerdigung

Die Anstalt

Das Schließfach

Bert aus dem Gefängnis

Die Mikrofilme

Nora

Mirellas Tagebuch

Die Spritze

Noras Handy

Hendersen

Der Test

Das Konzept

Eugenie

Jasinski überlegt

Verknüpfungen

Vaclav kommt in Prag an

Eugenies Beerdigung

Seldwyla ist überall

Annekes Weg

Vaclavs Weg

Jasinskis Abschied

Die Personen

Danksagung

Vom gleichen Autor erschienen

Sisyphos

Nonnas Tafelrunde

Geschichten der Welt

Kapitel 1

Mirellas Erwachen in Tahui

Es wehte ein lauer Wind, der die Kühle der Nacht vertrieb. Ein Hauch des Meeres, der behutsam mit den Vorhängen spielte. Draußen herrschte Stille. Das Rauschen der Wellen drang sanft in ihr Zimmer. Mirella lag reglos hingegossen auf dem durchwühlten Bett. Die geschlossenen Augen gehörten nicht einer Schlafenden. Der Ausdruck von Abwesenheit glich einer Statue, die zufällig liegengelassen wurde. Achtlos, vergessen. Seelenlose Nacktheit. Nur langsam gelang es dem Sonnenlicht, durch ihre Augenlider weiter in die Tiefe zu dringen. Eine Tiefe, in die sie hineingestürzt war. Die freundlichen Farben der aufgehenden Morgensonne hatten bisher vergeblich versucht, ein Stück Wachheit zurückzuholen. Das unendliche Dunkel in ihrem Innern, fern jeden Gewahrseins, war zu dicht, um dem Tageslicht Raum zu geben.

Langsam bekam die Finsternis einen unmerklichen Riss. Die undurchdringliche schwarze Wand hielt nicht mehr stand. Unhörbare Töne eines schmerzlichen Aufbrechens. Im Dunkel des Abgrundes, in dem sie versunken war, kündete sich ein dünner Strahl von Licht an. Er kam aus der Ferne. Unendlich langsames Auftauchen. Erste Gedanken – körperlos – versuchen sich behutsam tastend zu formen. Ein diffuses Sich-Selber-Wahrnehmen. Impulse, die wie schwere Wolken von weit her an einem entlegenen Himmel vorüber ziehen. Bleiern, zäh, fühlbar und unnahbar zugleich. Innere Dämmerung gegen ein helles Außen – ein Dämmergleißen. Schmerzhaftes Eindringen von Licht wie Lanzen in dumpfe Finsternis geschleudert. Der Rückweg ins Dunkel versperrt, der Weg ins Licht unerträglich.

Mirella kämpfte sich in eine zähe Wahrnehmung, heraus aus diesem Zwischenraum aus schwarzer Ohnmacht und gleißendem Erwachen.

Eine Ahnung von Arm – liegt – reagiert nicht – Lähmung – ferner Atem – weit weg, näher, schneller, tiefer – ein Laut. Da wieder der Arm. Eine Hand. Bewegung. Zäh, langsam. Der Arm bewegt sich. Die Hand fällt wie etwas Fremdes über die Augen. Das stechende Gleißen ist gemildert. Ein Gefühl von Körper – Ungewissheit – auf der Schwelle zur Übelkeit. Wenig die Augen geöffnet und gleich wieder bereut. Das Licht ist zu grell.

Noch immer lag sie ausgestreckt auf dem Rücken, der Kopf hing über das Fußende des Bettes. Es war bereits heiß und die Hitze nahm zu. Sie spürte die stehende Luft auf ihrem nackten Körper, der sich zu den Beinen hin in Dumpfheit verlor. Wo war sie? In ihrem Inneren drehte sich alles. Übelkeit, dann wieder Stillstand – Lähmung. Es dauerte eine Zeit, bis sie sich auf die Seite drehen konnte. Langsam, Stück für Stück, meldete sich der Körper zurück. Sie spürte ihn wieder, versuchte, die Beine zu bewegen. Es war klebrig zwischen den Schenkeln. Woher? Es war kein Schweiß, so viel konnte Mirella fühlen. Dumpfer Ekel. Erinnerung? Nebel. Nichts.

Wieder spürte sie diese Nahtstelle zwischen dem unendlichen Dunkel, aus dem sie kam, und dem gleißenden Tag, den sie kaum erreicht hatte. Ein klaffender Zwischenraum, aus dem ein breit gähnender Abgrund drohte. Die Müdigkeit, oder war es Erschöpfung, zog sie sehnsüchtig ins Dunkle. Der Tag mit seinem Licht und der aufsteigenden Übelkeit zerrte an ihren Sinnen, ließ den Weg zurück nicht zu.

Mirellas erwachendes Bewusstsein zog unerbittlich weitere Kreise. Das Zimmer? Ja, das war ihr Zimmer. Das wusste sie. Das schien klar zu sein. Das war alles. Dann kamen Bruchstücke an die Oberfläche. Ferien. Meer. Südsee. Und dieses Gefühl – zäh und klebrig. Da war es wieder, das Klebrige an den Schenkeln. Nicht denken! Toilette!

Sie kämpfte sich mühsam auf und schaffte den Weg ins Bad. Endlos pissen, als wollte es nicht mehr aufhören. Und dann eins: Wasser, unendlich viel Wasser, ein Meer von Wasser. Sich auflösen. Sie stand unter der Dusche, abfließen, leer werden, sich weg duschen. Das Wasser floss über sie, und es hüllte sie ein, wie ein klarer Fluss aus milder Barmherzigkeit, der ihre Seele langsam auftaute.

Eine Ewigkeit später saß sie an dem kleinen Schreibtisch ihres Zimmers. Es war ihr innerlich kalt und sie hatte sich eng in einen Bademantel eingehüllt. Ihr Tagebuch lag vor ihr. In der ganzen letzten Zeit hatte sie ihre Erfahrungen aufgeschrieben. Ihre täglichen Gedanken, die Begebenheiten. Alles begann Bedeutung zu bekommen. Alles, was früher achtlos vorbeifloss.

Was war in den Seminaren geschehen? Was hatte sie zu diesen Seminaren geführt. Was hatte sie erwartet? Die eigentliche Frage brannte immer mehr auf den Nägeln: Was war am Ende dabei heraus gekommen? Was hatte sie gesucht, und vor allem, was hatte sie am Ende gefunden?

Die Bilanz an diesem Morgen war niederschmetternd. Sie wollte weiter schreiben, die letzten Ereignisse, alles, was sie erinnerte und was in diesem entsetzlichen Erwachen gipfelte. Mirella versuchte, sich zu konzentrieren, die Details aufzufrischen, es aufzuschreiben, um Klarheit zu bekommen.

Allmählich kam eins nach dem anderen zurück. Sie schrieb. Alles, wie sie es erlebt hatte. Die letzten Übungen und die Hinführung zu dieser sogenannten Einweihung, die ihr immer absurder vorkam. Nein! Absurd war nicht das richtige Wort: Suspekt war es. Auch das traf es nicht. Es war ein tonloser Schrei in ihrem Inneren. Ekel kroch in ihr hoch. Es war schwierig, in Worte zu fassen, den roten Faden darin zu finden.

Immer wieder tauchte er auf, dieser Kopf, rund, glatt und mächtig wie ein Dröhnen. Es war ihr, als fuhr sie unaufhörlich durch diese runde Form hindurch. Als wäre es ein Tunnel aneinander gereihter Köpfe. Gewölbe aus Schädeln, in die sie unablässig hineinfuhr, einer nach dem anderen, eine Fahrt ohne Ende, und eine Bewegung, die lautlos dröhnend auf der Stelle stand, aus der Zeit gelöst, sich in sich selbst wiederholte, fremd und gnadenlos. Ihr wurde schlecht. Übelkeit, die aus der Tiefe in ihr aufstieg, sich wie eine Kugel ausbreitete, sich entfernte und wieder kam. Ein zähes Pulsieren eines tiefen Tones oder eines dunklen Sternes, der sich erbarmungslos nähert. Es wollte ihren eigenen Schädel sprengen. Sie brauchte Wasser, mehr Wasser. Die Dusche war nicht genug. Sie wollte ganz ins Wasser eintauchen, alles auflösen.

Mirella schrieb die letzten Zeilen: »Ich muss in die Badewanne, alles auflösen – und wegspülen!« Dann verstaute sie ihr Buch in der Reisetasche, ließ Wasser in die Wanne ein, schenkte sich einen großen Whiskey mit viel Eis ein und kippte ihn herunter. Es würgte sie kurz. Sie schüttelte sich, hielt gleich wieder inne, denn der Kopf schmerzte bei jeder Bewegung. Und das Licht war noch immer zu hell.

Sie schenkte nach mit mehr Eis. Eis tat gut. Eiswürfel an die Schläfe. Und ein großer Schluck. Ein Kopf zum Zerspringen. Wo waren die Tabletten. Zerstreut tappte sie herum. Nachttisch, Schubladen, Tasche. Da, das Röhrchen. Gefunden, geöffnet, eine Tablette genommen. Ein Schluck. Runtergespült. Der Kopf ... Noch eine Tablette. Schluck. Das Röhrchen wieder verlegt. Beim Nachschenken vergessen. Sie stand vor der Badewanne, das Glas fest umklammernd, die Flasche daneben. Das Rauschen des Wassers milderte die Wogen ihrer Gefühle.

»Hassu Dir das so vorgestellt«? begann sie mit sich zu hadern. Der Alkohol tat seine Wirkung. Sie stieg in die Badewanne, vorsichtig das Glas balancierend. Die Eiswürfel klingelten im schwappenden Whiskey.

»So richtich aufräumm’ mipm Lebn, jawoll! Ha«! Ein zynisches Lachen machte sich breit, gefolgt von einem Tränenschub. Sie stellte das Wasser ab. Mit der Ruhe kam ein Stück Schwere zurück. Ein Gedanke an zu Hause, an Prag, an Vaclav – und weggespült. »Scheiße! Scheiße! Scheiße! Was für eine Selbschverwirklichhh ... verficklichhhh... verfick dich«!

Die Worte erstickten in leisem Schluchzen. Das Salz der Tränen vermischte sich mit dem Whiskey. Sie lehnte sich zurück, das Glas fest umklammernd, die Flasche daneben. Der Versuch, die Gedanken zu ordnen, die wie aufgescheuchte Krähen in ihrem Kopf herum flatterten. Die Suche nach einem letzten Strohhalm, den Boden wieder zu finden.

Der Weg, den sie gesucht hatte, war unversehens zur Sackgasse geworden. Der Blick zurück schmerzhaft. Der Blick nach vorn zeigte einen Abgrund. Gedanken glitten ab, waberten ineinander. Bilder kamen und gingen. Die Unschärfe nahm wieder zu. Noch ein Schluck. Schritte wurden hörbar, kamen näher. Mirella erschrak. Die Türwurde geöffnet. Nein! Nicht jetzt! Nicht Du! Sie setzte sich mühsam auf.

»Mirella?! Bist Du wach«?, tönte es fröhlich durch die offene Tür. Nicht diese Stimme! Bitte! Nicht jetzt! Nie mehr! Als sie seinen kahlen Schädel sah, fühlte sie ihre Übelkeit, als wollte sich ein Vulkan aus ihrem Innern erbrechen: »Hau ab! Ich hab’ genug«!

Das Lächeln der Erwartung in seinem Gesicht erstarrte. Es war die Überraschung, die ihn kalt erwischte. Eine Situation, die weit außerhalb dessen lag, was er für möglich hielt. Er verriet plötzliche Unsicherheit, als habe er unvermittelt einen falschen Raum betreten. Ein Gefühl, das er kannte, und welches er lange abtrainiert hatte. Wie sehr er sich auf falschem Terrain bewegte, sollte ihm erst später bewusst werden.

»Lass’ mich in Ruhe!« brach es weiter aus Mirella hervor, »verfickter Guru! Verpiss Dich! RAUS«!

Sie machte eine abrupte Geste, und wollte das Glas nach ihm werfen. Der Swami wich zurück, stieß dabei einen Stuhl um und stolperte in den Flur. Einen Moment lang stand er da – vor Schreck wie angewurzelt, da wehte ein Windhauch die Zimmertüre zu. Das Echo klang nach.

Kapitel 2

Bohemia

Ein angenehmer frühabendlicher Wind wehte zur Stube herein. Ein sanfter Hauch, der zum Ausgehen lockte. Vaclav Santini saß am Tisch in seiner Wohnung in Prag. Durch die weit geöffneten Fenster sog er die Sommerluft ein. Das tat gut. Er sortierte die Post. Seine Geige lag auf einem Stuhl neben ihm, wo er sie nach der Orchesterprobe abgelegt hatte. Er würde sie heute nicht mehr spielen. Der Abend war frei. Draußen kündigte sich ein lauer Sommerabend an, dessen rötliches Licht immer mehr in der Dämmerung versank. Er mochte diese Tageszeit, die den Abend ankündigte, wenn die Farben des Tages nahtlos in das warme Licht der Lampen übergingen. Die Menschen wurden ruhiger, die Hektik des Tages ebbte ab, und das Leben zeichnete weichere Konturen. Seinen Händen entglitt die Post und fiel zurück auf den Tisch. Vaclav schaute aus dem Fenster und ließ seine Gedanken treiben, als wären sie schwerelose Wolken am Horizont eines Sommerhimmels. Ein Vorbeiziehen, das in der Ferne bleibt.

Er freute sich darauf, ins ›Bohemia‹ zu gehen, Vaclavs Insel im Alltag der Stadt, der Ort, an dem er abschaltete, wo er Freunde traf. Freie Abende wie dieser waren eher selten und kamen meist dann vor, wenn wie heute ein anderes Orchester ein Gastspiel gab.

Sein Blick kehrte vom offenen Fenster zum Tisch zurück. Die Post lag ungeöffnet da. Zuoberst lag eine Karte von Mirella aus Tahui, einer dieser Inseln mitten in der Südsee. Sie war allein zu einem ihrer Seminare gefahren. Kurse, die Vaclav nicht verstand. So hatte sie es ihm gesagt. Sie hatte recht. Er verstand diese Dinge nicht. Auch Mirella schien er immer weniger zu verstehen, je mehr sie in diese Esoterik eintauchte. Das machte ihn zunehmend ratloser. Ihr schien es gut zu gehen in diesem Südseeparadies: »Strahlende Sonne, strahlend blaues Meer, strahlend weißer Strand«. Es war nichts Persönliches in den wenigen Zeilen. Ein paar Sätze, aus deren Zwischenraum ihm Leere entgegen starrte. Das irritierte ihn, machte ihn nachdenklich. Woher kam diese Leere, die er früher nie gekannt, und die er mit Mirella zu Anfang nie gespürt hatte. War es die Abwesenheit des Persönlichen in diesen Zeilen, was diese Leere vermittelte? War es ein Stück von ihm, sein Nicht-Verstehenkönnen, das sich in den Raum zwischen die Zeilen schob, ihn daraus anstarrte?

Dieses sprühende Leben, das er von seiner Mirella kannte, hatte sich in der letzten Zeit verändert. Was war geschehen? Was war es, dass sich seiner Aufmerksamkeit entzogen hatte? Er wachte eines Tages auf, und das Leben war über Nacht anders geworden. Unbemerkt. Übergangslos. Kein Anfang ersichtlich. Es erschien ihm, als wäre Mirella in wachsendem Maße durch einen unsichtbaren Vorhang von ihm getrennt. Hatte das mit dieser Leere zu tun, die Vaclav spürte, die er vergeblich zu füllen versuchte? Und die ihn aus den Zwischenräumen der wenigen Zeilen auf der Postkarte anstarrte?

Schade! Wäre sie da, sie gingen heute Abend zusammen aus. Früher taten sie das immer gerne. Seitdem sie diesen Guru, Swami, weiß nicht, wie er sich nannte, kennengelernt hatte, veränderte sie sich.

Dort praktizierte sie in eigenartigen Sitzungen, wie man angeblich in vergangene Leben zurückging. Vaclav konnte sich das nicht vorstellen. Nachher saß sie dann stundenlang da, schrieb und malte, bekam traurige Augen. Sie fand das alles für ein sinnvolles Weiterleben unumgänglich. Auf Grund dieser Geschichten wurde sie sich immer sicherer, dass ihr Platz in ihrer ursprünglichen Heimat im Tessin wäre. Sie wollte zurück zu ihren Wurzeln, wo sie etwas zu erledigen hätte, wie sie meinte, ohne zu wissen, was es denn sei. Solche Gedanken vergrößerten die Entfernung zwischen ihnen. Er lebte gerne in Prag, er war hier zu Hause, er hatte sein Orchester, und es gab keinen Grund, es zu ändern.

Hätte er ihr nur nicht die Geschichte seiner Vorfahren erzählt, dass die Seinen einst aus dem Tessin ausgewandert waren. Sie waren Baumeister und Architekten, die zu Hause keine Arbeit fanden, und die seinerzeit der fürstliche Hof und die kaiserlichen Bauten mit ihren verlockenden Aufträgen nach Böhmen zogen. Da war sie sich sicher, auch er müsse an seinen Ursprung zurück. Kein Argument war dem gewachsen. Ihr Wissen bekam kosmischen Stellenwert. Das machte ihn immer hilfloser. Die Entfernung zu Mirella nahm weiter zu.

Was sollte er im Tessin, außer in den Ferien, wo er ihre gemeinsame Wohnung in Gandria genoss. Der Ort war etwas Besonderes, der Blick auf den See einmalig. Die in der Ferne funkelnden Lichter von Lugano Paradiso am Abend, und die Berge, die ringsum zu Ausflügen an malerische Orte einluden, das waren immer wieder Momente der Erholung. Doch er war Musiker. Für seinen Alltag brauchte er die Großstadt, sein Orchester, den Konzertsaal mit der knisternden Spannung, die ein Publikum verströmt. In Gedanken vertieft vergaß er, den Rest der Briefe zu öffnen. Es war Zeit für ihn. Das ›Bohemia‹ rief. Der Weg zu seinem Gasthaus war kurz. Vaclav nahm den Schlüssel, die Zeitung, nein, die brauchte er heute Abend nicht. Er legte sie wieder hin und machte sich auf den Weg zu seinem Stammlokal.

Draußen hatten inzwischen die leuchtenden Straßenlaternen und die Kandelaber, die sich an den altehrwürdigen Fassaden behaupteten, den Tag endgültig vertrieben. Die Wärme lockte die Menschen aus den Häusern auf die Straßen und Plätze. Die Fenster der Wohnungen standen offen, von irgendwoher kam Musik. Das Leben des Abends umwogte Vaclav wie das Meer eine in sich selbst entrückte Insel.

Er schlenderte die Nerudova hinab. Der Himmel zeigte noch einen Streifen der Dämmerung. Die untergegangene Sonne zog den Rest des Lichtes mit sich in die Nacht. Vaclav ging vorbei an vollbesetzten Tischen und bog links in die Zámecká ein und ein kurzes Stück die schmale Gasse hinauf. Er stand in der Thunovská. Vor ihm lag die Treppe zum Palais und links winkten ihm die leuchtenden Fenster mit dem vertrauten Eingangstor entgegen. Vaclav beflügelte die Schritte, trat durch die offene Tür ins ›Bohemia‹ und blieb kurz stehen. Wie so oft nahm er für einen Augenblick die Atmosphäre in sich auf, das Draußen innerlich abschüttelnd und sich auf seine soeben betretene Insel einlassend. Sein Blick schweifte in die Runde und fand sogleich, was er suchte. Hinten zum Gartendurchgang sah er den Kollegen Pavol in friedlicher Eintracht mit seinem frischen Pils sitzen. Pavol wollte das Glas ansetzen, als ihre Blicke sich trafen.

»Ahoi Vaclav, komm her, den freien Abend genießen«!

Vaclav setzte sich zu ihm. Sie waren seit Jahren Pultnachbarn im Orchester. Ihre Freundschaft reichte weit zurück. Früher planten sie, gemeinsam ein Streichquartett zu gründen. Vaclav fehlte im letzten Moment der Mut zum Sprung in die Selbständigkeit. Zwischen ihnen spielte die Anziehung der Gegensätze. Vaclav war – außer, wenn es um die Musik ging – der introvertierte, oft schweigsame Typ, während Pavol die ganze Urwüchsigkeit und das Temperament seiner slawischen Vorfahren geerbt hatte.

Anuschka, die wusste, was ihre Gäste wünschen, hatte ein weiteres Glas dieses schaumkronenbewährten Gebräus aus Pilsen gebracht. Sie prosteten sich mit ihrem gewohnten Zeremoniell der ersten Runde zu: Jeder hielt sein Glas vor sich in die Höhe, fixierte es mit den Augen, eine Sekunde der Stille. Dann sahen sie sich an:

»Herr Kollege!«

»Herr Kollege!«

Dann ein kräftiger Zug mit dem abschließenden: »Ahhh...!« Und Blick auf das Glas, das seinen Inhalt weitgehend eingebüßt hatte. Danach wurde es gemeinsam wieder abgestellt und gab sich verdunstend dem Hang hin, nach einem weiteren Ausschau zu halten.

»Schön, so ein Gastspiel!«, meinte Pavol, und grinste vor sich hin, »und noch schöner ist es, wenn es die andern geben!« Pavol hob sein leeres Glas in die Höhe zur Theke zeigend.

»Und am schönsten ist es, wenn es vorbei ist, und wir mit den Kollegen feiern!«, ergänzte Vaclav. Es klang entfernt und mechanisch, der obligatorische Reim, ohne den der Vers nicht fertig sein wollte.

Pavol sah ihn musternd an. »Und Du? Vaclav?« Er wusste, was seinen Freund beschäftigte. »Was von Mirella gehört«? Fragte er vorsichtig.

»Strahlende Sonne, strahlend blaues Meer, strahlend weißer Strand«, zitierte Vaclav, »ja, das ist das Einzige, nichts Persönliches. Südsee. Eine Postkarte. Sonst nichts«.Pavol wartete. Er wusste, dass Vaclav manchmal Zeit brauchte, um seine Worte zu finden.

Vaclav, in seine Gedanken verstrickt, streckte sein ebenfalls leeres Glas der nahenden Anuschka entgegen. Ein Arm, der wie losgelöst im Raume hing. Sie nahm es ihm ab, stellte beiden die frischen Biere hin, und balancierte ihr Tablett zu den übrigen Gästen. Bei der heutigen Hitze war ständiger Nachschub gefragt.

»Tja«! Vaclav nippte am Schaum, »ich habe stundenlang darüber nachgedacht. Was hat sie verändert? Hat Mirella eine Depression bekommen, die sie wehrlos zum Opfer dieser esoterischen Leute gemacht hat, dass sie sich alles mögliche einreden ließ, alles glaubte, um aus ihrer Traurigkeit heraus zu kommen? Oder ist es umgekehrt: Dieses ganze Wühlen im Sumpf vermeintlicher Leben aus der Vergangenheit hat sie in eine Depression gestürzt«?

Pavol schüttelte langsam aber stetig den Kopf. Ein Zeichen dafür, dass er angestrengt nachdachte. Für seine erdige Natur waren solche Gedanken nicht das tägliche Brot.

»Weißt Du, Vaclav«, gingen Pavols Kopfbewegungen in Worte über, »ich glaube, Du solltest Mirella gegenüber bestimmter auftreten, ihr Deinen Weg klarer zeigen«. Sein Gesicht spiegelte höchste Konzentration wieder: »Sie ist der Typ, der Halt braucht. Statt dessen bist Du wie ein Planet, der in gebührendem Abstand um sie herum kreist, weit genug entfernt, um nicht zu stören, und nahe genug, jederzeit auf ihre Regungen und Wünsche einzugehen. Das ist kein klarer Halt für sie. Diese ganzen Kurse, die sie macht, ist das nicht eine einzige Suche nach einem Halt?«

Pavol trank einen Schluck, um das Konzentrat, das er von sich gegeben hatte, zu verdünnen. Solche Dinge waren nicht oft von ihm zu hören, und wuchsen nur auf dem Boden langjähriger Freundschaft. Er hatte sich seine Gedanken über alles gemacht, was Vaclav ihm erzählte und was er mitbekommen hatte.

Vaclav war es, als höre er das Reissen eines Vorhanges vor sich, durch den er für einen Bruchteil einer Sekunde lang hindurchzuschauen vermeinte, ohne das Gesehene festhalten zu können. Wie in einem Traum, der sich der Erinnerung entzogen hat, bevor man ihn beschreiben kann. Pavol hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Das mit der Bestimmtheit konnte er nachvollziehen, da hatte er recht. Meist war Vaclav in seine Musik eingebunden, dass er die Welt außerhalb der Töne nicht genug wahrnahm, sich nicht auf sie einlassen konnte. Im Tempel der Töne war ihm die alltägliche Welt oft zu gewöhnlich, zu wenig wirklich, sie zog ihn nicht an.

»War es mit dem Eingehen auf Mirella doch nicht so weit her?«, überlegte Vaclav murmelnd vor sich hin, »wenigstens für sie nicht? Sie schien sich nicht verstanden zu fühlen. Und es stimmt. Ich hab sie ja immer weniger verstanden.«

Es war einer dieser Momente, in dem etwas in ihm klar zu werden versuchte, was noch nicht greifbar war. Das einzig Greifbare im Moment war das Bierglas, das er, zum Prosten erhoben, nachdenklich hielt. Oder stand es, ein vergessener Gegenstand, schwerelos über dem Tisch. Er hielt sich daran fest wie an einer Stange in der Straßenbahn, die unvermittelt den Kontakt zu den Schienen verloren hatte und den Raum zu erobern versuchte.

Vaclav setzte das Glas unverrichteter Dinge wieder ab, während Anuschka seine Geste als den Wunsch nach einer neuen Runde deutete, dem sie immer gerne nachkam.

»Verdammt, Pavol! Du hast Recht. Wenn Mirella zurück kommt ...«, wollte er seine neuen Vorsätze erklären, aber dieses ›wenn ...‹ blieb im Raume hängen und statt der Vollendung seines Satzes sah er erstaunt Anuschka vor sich stehen, die volle Gläser vor ihnen abstellte. Er starrte auf die Gläser, in seine Gedanken verknotet, als sähe er etwas Außerirdisches. Anuschka und Pavol blickten gebannt auf sein Gesicht. Es entstand eine kurze Generalpause, dann lachten sie herzlich über seinen Ausdruck, dass er endgültig den Faden verlor.

Wie so oft, wenn Pavol lachte, drehten sich einige Gäste spontan nach ihm um. Pavols Lachen war wie ein Naturereignis. Wer ihn nicht kannte, reagierte darauf wie auf ein solches.

Vaclav wurde aus seinem melancholischen Bann gelöst. Dann lachte auch er, kam zurück aus suchender Dämmerung seiner Gedanken, war wieder ganz da, aufgetaucht aus des Hirnes Labyrinth, aus dem ihn Ariadne in Gestalt von Anuschka mit dem Faden ihres erfrischenden Lachens befreit hatte.

Pavol gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Seine Hand verweilte einen Moment, ums sich gleich darauf zu einem winkenden Gruß zu erheben. Er erblickte ein bekanntes Gesicht, das sich suchend durch die offene Eingangstür geschoben hatte.

Kapitel 3

Swamis Spaziergang

Die Wellen des Flusses glitzerten im rotgoldenen Gegenlicht der schrägstehenden Morgensonne. Ein sanfter Wind bewegte die Fächer der Palmen von Tahui. Die frühen Sonnenstrahlen kündigten die Hitze des Tages an. Der Ort lag verschlafen da. Die Insel Bohunal war von einer frühmorgendlichen Stille umhüllt, die das Erwachen ahnen lässt.

Das war die Zeit, die er am meisten liebte. Swami Cupidharma1 alias Jeff Miller stand auf der Uferstraße, genoss den Anblick des Wassers und der tanzenden Wellen mit dem hellen Plätschern am Strand. Er sah den Fluss hinab auf die sonnenvergoldete Mündung, die die unendliche Weite der Südsee freigab, bis hin zu der dünnen Linie des Horizontes, an dem sich der Morgendunst langsam auflöste und klare Konturen entstehen liess. Er trieb noch ganz auf den Wellen der letzten Nacht mit Mirella, seiner Schülerin. Diese sich öffnenden Ufer wurden ihm zum mystischen Kelch, Symbol des Weiblichen. Unter dem Arm hielt er das Brevier seines Meisters Anadeva Marananda2 Yogi, das er immer bei sich trug. Es war ihm der stete Leitfaden für seine Lektionen und sollte ihm Führung im eigenen Leben sein. Er setzte sich auf die Reste einer Mauer und schlug das Buch auf. Dort las er zum wiederholten Male die Zeilen über die Verwirbelung des zweiten Chakras3 aus den tantrischen4 Versen des Meisters nach. Es war alles, wie es Anadeva Marananda Yogi beschrieben hatte. Jeff Miller alias Swami Cupidharma hatte bei der Einweihung seiner Schülerin die richtigen Nervenpunkte getroffen, und, durch sein ausgiebiges Training der entsprechenden Beckenmuskulatur die Ausdauer, seine Adeptin in die, wie er meinte, Ekstase des siebten Zustandes zu stossen, den bisher so wenige erreicht hatten – er selber eingeschlossen.

Er liebte ihr Stöhnen, welches, zwischen Lust und Schmerz schwingend, zweideutig, sich über eine Phase des Winselns in Schreie verwandelnd, eher dem Leid näher kam als der Lust. Ihre anschließende Ohnmacht gegen Ende der Zeremonie, in die er sie versetzte, deutete er selbstgefällig als Glückseligkeit. Für ihn war diese Frau zur Vollendung des Empfangenden transformiert. Da lag sie, ausgebreitet, willenlos, einladend offen und in jeder Faser bereit, so meinte er. Sie war seine heilige Höhle, in die er sich stöhnend ergoss. Er konnte mit sich zufrieden sein. So würde es auch der Meister sehen. Er wusste nicht, dass seine Interpretation dem Wunsche anstatt der Wirklichkeit entsprang. Die Zeit sollte ihn eines Besseren belehren.

Er hatte ihr Zimmer verlassen und eine Dusche genommen, um sich dem Ritual seines frühmorgendlichen Spaziergangs zu widmen. Er genoss die frische Luft zur Zeit der aufgehenden Sonne, wobei ihn sein Glied die vergangenen Übungen bei jedem Schritt mit einer wohligwehen Prallheit spüren ließ.

Er machte sich auf den Weg zurück, um mit dieser Frau die höchste Krönung der Einweihung zu feiern, wie sie vom Meister beschrieben war.

Er freute sich darauf, langsam in sie einzudringen und in absoluter Regungslosigkeit durch den Druck seines Gliedes und den Uddiana-Mulhakrana-Griff ihren Orgasmus zur letzten Höhe zu katapultieren. Eine tantrische Weise pfeifend, nahm er beschwingten Schrittes und leicht breitbeinig die drei Stufen zur Hotelhalle.

Sabuto, der Portier sah ihm mit einem milden Lächeln nach. Jeff Miller war hier kein Unbekannter. Seine wechselnden Bekanntschaften, so das Erscheinungsbild, stellten in dieser Gegend nichts Ungewöhnliches dar. Die amerikanischen und besonders die europäischen Touristen hatten die Urlaubsvariante ihres Lebensstils überzeugend zum Ausdruck gebracht.

Sabuto hörte, wie sich oben die Gangtüre schloss, dann war es still. Er sortierte Rechnungen. Der Morgen war jung, er hatte keine Eile. Er ordnete seine Utensilien auf dem Schreibtisch, spitzte einen Bleistift an und tippte zwei neue Buchungen, die per E-Mail gekommen waren, in sein Terminal. Dann wurde die Ruhe, die die zunehmende Hitze des vorrückenden Morgens verstärkte, jäh unterbrochen.

»...genug!!!...hab' genug!«, verstand Sabuto aus dem lauter werdenden Geschrei im ersten Stock.

»Lass mich in Ruhe!«

Das musste Mr. Millers Begleiterin sein.

»Verfickter Guru!«

Irgendetwas fiel dumpf zu Boden. Eine Tür wurde zugeschlagen.

›Diese Touristen!‹ dachte Sabuto. ›Die ganze Nacht wilde Liebe, dann den ganzen Tag Streit!‹

»Ich bring Dich um!«, war das Letzte, womit die sich überschlagende Frauenstimme den Morgen zerschnitt. Dann kehrte wieder Stille ein, so plötzlich, wie sie durchbrochen worden war. Einen Moment lang lauschte Sabuto. Es war vorbei, und es schien stiller zu sein, als zuvor.

›Na ja! Ist gut! Geht immer auf und ab. Wie Liebe machen!‹ Sabuto lachte vor sich hin und nahm den Telefonhörer, um seine Bestellungen durchzugeben. Dann war wie immer die morgendliche Kaffeepause in der Küche dran, ausgiebig und mit den üblichen Geschichten über Hotelgäste, Marktpreise, Familie, Gerüchte und was der örtlichen Vorkommnisse mehr waren.

1 Der Name Cupidharma ist eine freie Kombination von lat. Cupido (= Eros, Liebesgott) und Sanskrit: Dharma, Prinzip, Lehre.

2 freie Ableitung von «Anathema Maranata» (Apokalypse des Johannes), jede Ähnlichkeit mit existierenden Personen oder anderen Bezeichnungen ist unbeabsichtigt und rein zufällig.

3 Chakra: Sanskrit, Energiezentrum, Hauptnervenknoten. Die «Verwirbelung» in dieser Form ist erfunden.

4 Tantra: oft als indische Liebeskunst missverstanden, ein meditativer Weg zum göttlichen SELBST.

Kapitel 4

Das Gastspiel in Prag

Die kleine Gruppe hatte das ›Bohemia‹ durch die offene Tür betreten. Jupp, der Konzertmeister des Kölner Orchesters, der sie auch hier anführte, nahm seine Geige vor den Bauch, um weniger Platz einzunehmen. Er schlängelte sich mit spähendem Blick an den vollen Tischen vorbei nach hinten, gefolgt von einigen Musikern. Der Durst trieb sie an, sie hatten ein langes Konzert hinter sich und freuten sich auf die Entspannung und die Geselligkeit am runden Tisch mit den Prager Kollegen. Pavols Lachen, das bekannte, war von weitem zu hören. Es schallte ihnen als Wegweiser entgegen und war Auftakt zu vergnüglichen Stunden.

So saßen sie da, Pavol in der Mitte, an einer Seite Vaclav, an der anderen Jupp, und um sie herum die anderen Kollegen des Kölner Gastspiels. Es war ein fröhliches Wiedersehen, man hatte sich viel zu erzählen. Doch zuerst hatten alle Hunger.

Da war Hermann, der Cellist, glatzköpfig, untersetzt mit leicht gekrümmtem Rücken, der Mineralwasser trank und sofort zu essen begann. Er war schweigsam, auch über das Mahl hinaus. Man wusste nie, ob er zuhörte, oder ob er auf einer Wolke seines Innenlebens schwebte. Daneben saß Oskar, der Bratscher, der selten allein mitkam. Fast immer gelang es ihm, eine Begleiterin aufzutreiben. Für den heutigen Abend hatte er sich eine der beiden Sängerinnen des Konzertes auserkoren, eine gut gebaute Altistin namens Galina mit einem mächtigen Zwerchfell, das nicht nur beim Singen, sondern besonders beim Lachen die Zuhörerschaft erschütterte.

Bratscher scheinen es mit den Frauen zu haben. Vielleicht liegt es daran, dass ihnen die Tonlage ihres Instrumentes zu wenig Gelegenheit gibt, sich solistisch zu beweisen, sodass die weiten Felder der Weiblichkeit einen befriedigenden Ausgleich zu bieten vermochten. Inwieweit diese Zusammenhänge der Altistin den Vorzug vor der Sopranistin gegeben hatten, oder ob es die Gunst der Gelegenheit war, mag in diesem Moment schwer zu entscheiden sein. In einer solchen Situation kam Oskars Neigung, Vorträge zu halten, nicht zum Zug. Das lag nicht an der Stimmgewalt von Galina, es lag auch an seiner angeborenen ›Zuhörerschaft‹ dem Weiblichen gegenüber, welche ihm eine unendliche Modulationsfähigkeit gab, ein intuitives Mitschwimmen in der Stimmung der jeweiligen Situation. So voll des Hörens und mit einem verbindlichen Lächeln im Gesicht, hinter dem sanft glimmend die Erwartung einer ›virtuosen Kadenz des Abends‹ stand, wie er das horizontale Ende eines solchen nannte, so eingenommen von weiblichen Rundungen und dem unergründlichen Dunkel ihrer Stimme, rückte er der Bastion Galinas näher, wobei sein Stuhl eines jener zweideutigen Geräuschemachte, welches Jupp spontan unterbrach, der seinem Freunde Pavol das Rezept des rheinischen Sauerbratens in einer neuen Variante erzählte.

Es gab schallendes Gelächter. Aller Augen waren auf Oskar gerichtet, der in seiner Verlegenheit nicht recht wusste, ob er das Geräusch erklären sollte. Der Gedanke war müßig, denn sofort nahm Galina die Gelegenheit wahr, ihre Lieblingsgeschichte zum Besten zu geben.

»Dieser Ton ...«, begann sie, das Lachen bezwingend, »dieser Ton hatte früher seine eigene Berufsgattung. Ja! Ob ihr’s glaubt oder nicht, das gab es einmal: Die Berufs-Furzer«.

Wieder Gelächter, sogar Hermann schmunzelte vernehmlich.

»Veramente! Die konnten ganz verschiedene Töne produzieren, ja, richtige Melodien furzen«. Sie kam langsam in Ekstase, es war, wie gesagt, ihre Lieblingsgeschichte. »Laute und leise, harte und weiche, wie ... eine Bratsche ...«.

Sie grinste mit einem offenen Seitenblick zu Vaclav hinüber, der von ihren großen, auf ihn gerichteten Augen überrascht wurde. Oskars hörende Fähigkeit machte kurzfristig einen Sprung zum ›Über-hören‹, um gleich wieder ›ganz Ohr‹ zu sein.

»Und dann konnten die«, versuchte Galina Vaclav zu begeistern, der ihr zu still gegenüber saß, »die konnten gezielt Kerzen ausblasen. Hose runter, puff, aus!«

Dabei sah Vaclav ihre glänzend dunklen Augen über den großen weißen Zähnen, und für einen Moment ein Feuer dahinter. Dann hob Galina, sich umschauend, das leere Glas in die Höhe.

Pavol tat es ihr gleich, ebenfalls sein Glas hochhaltend: »Anuschka! Und für unsere Gäste: Eine Runde Becher dazu!«

»Ahhh!« Jupp strahlte. Becherovka, dieser wunderbare Kräuterschnaps. Prag ohne Becher, das durfte es nicht geben.

»Also, je zwei Lorbeerblätter mit Nelken an die Zwiebeln stecken«, griff Pavol das Rezept wieder auf. Er wollte sich das genau merken, um nicht die Anzahl Lorbeerblätter mit der Anzahl Becher zu verwechseln. Der Abend war fortgeschritten und nicht mehr auf allen Ebenen klar.

»Und die Wacholderbeeren«, ergänzte Jupp, »die sin janz wichtich! Und zwölf müssen dat sein, wie die Apostel«.

Anuschka brachte die neue Runde und stellte die grün glänzenden Gläser neben das schaumige Gold der frischen Biere.

»Und dat is der Clou: Nach sechs Stunden musste sieben davon wieder raus nehmen und in ‘ne Wodkaflasche tun. ‘Ne volle, natürlich! Prost Becher!«

Allgemeines Kippen, gemeinsames: »Ahhhh!«

»Tja und dann lässte dat janze über Nacht stehen ...«.

Er spülte mit Bier nach.

»Und dann haste wat janz feines für de Verdauung nach’m Braten«. Pavol nickte begeistert.

»Is’n Rezept von mei‘m alten Freund Bert, weißt Du, der aus’m Kochkurs. Ha! Schwirrt gerade in der Südsee ‘rum, der alte Gourmet. Immer die Harpune dabei, könnt ihm ja ‘n dicker Leckerbissen entgehen. Mann, der kann Fisch kochen!«

Und schon waren sie bei Lachs und Hecht, Karpfen und Seeteufel, Knoblauch, Dill, Estragon, kamen über Jeera, Kurkuma, Ingwer und Garam Masala zu Curry in allen Varianten, und hatten am Ende alles aufgezählt, was ihnen zwischen Frankreich und Sibirien, dem Nordkap und Südafrika heilig war.

Vaclav hatte aufgehorcht. Südsee ... Mirella war in der Südsee. Sein Blick traf den Galinas, die wieder von der Bühne erzählte, nach Publikum suchend. Mit ihrer tiefen, vollen Stimme verdrängte sie die Rezepte. Wieder dieses Feuer in den Augen. Was hatte er gerade gedacht? Weg. Vorbei. Vaclav wusste es nicht mehr. Die Augen. Die Samtstimme. Es zog ihn mehr und mehr in ihren Bann. Er hörte zu.

Hermann war über seinem Mineralwasser eingeschlafen, Oskar hing mit leicht geöffneten Lippen an Galinas Mund, Jupp und Pavol sangen ›Fisches Nachtgesang‹ in der Notation von Kochrezepten, Galina sprach zu Vaclav, und Vaclav war verwirrt.