Not Worth Keeping - Marie Niebler - E-Book

Not Worth Keeping E-Book

Marie Niebler

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Beschreibung

Some secrets are not worth keeping...
Brookes Leben liegt in Scherben. Zurück in Auckland fühlt sie sich so allein wie noch nie, denn sowohl der Streit mit ihrem Bruder als auch der mit Noah machen ihr zu schaffen. Obwohl sie versucht, das Geschehene hinter sich zu lassen, sucht sie immer wieder die Schuld bei sich selbst. Und als die Vergangenheit sie einholt und plötzlich ungebeten vor ihrer Tür steht, ist es trotz allem Noah, den sie um Hilfe bitten muss. Noah, der erst alles besser und dann so viel schlimmer gemacht hat. Brooke will ihm nicht die Gelegenheit geben, noch einmal ihr Herz zu brechen. Doch was, wenn er gleichzeitig der Einzige ist, bei dem es wirklich heilen kann?

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Seitenzahl: 343

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Originalausgabe

© 2024 by reverie in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung von Bildlizenzen von Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783745704235

www.reverie.de

Liebe Leserinnen und Leser,

diese Reihe enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser Geschichte.

Euer Team von reverie

Für alle, die immer noch Scherben aufsammeln.

PLAYLIST

Cat Burns – alone

Tate McRae – uh oh

Omido, Silent Child – Me & My Demons

The Weeknd, Lily-Rose Depp, Ramsey – Fill The Void

BANKS – 27Hours

Halsey, SUGA – Lilith

Elley Duhé – PIECES

228k – Stranger

RY X, Felsmann + Tiley – Crawl

BANKS – Godless

Bea and her Business – Never Ever Love a Liar

228k – Dead

Winona Oak – Jojo

BANKS – The Fall

Flume, Vera Blue – Rushing Back

FLAVIA – Blue

Labrinth – The Feels

BANKS – Lovesick

Cassie Marin – Take Care of Me, Pt.1

Britton – if this is goodbye

Bastille, The Chamber Orchestra of London – Another Place

Grace Davies – testosterone

Isabel LaRosa – 16Candles

Billie Eilish – What Was I Made For?

KAPITEL 1

noah

Ich komme nicht über ihr Lächeln hinweg.

Der leicht amüsierte Zug um Brookes Lippen bringt jedes Mal aufs Neue mein Herz zum Flattern. Sie schaut mich an, mit diesen graublauen Augen, die mich selbst im Schlaf verfolgen, und mein ganzer Körper setzt aus. Ihr goldener Nasenring glänzt im Licht der Abendsonne. Hinter ihr zeichnen sich die Klippen des Waihi Beachs ab. Der Wind weht ihr die roten Locken ins Gesicht.

Sie ist perfekt.

Zu perfekt für mich.

Und trotzdem schaffe ich es nicht, mich von ihr zu lösen. Bin weiterhin wie gebannt von dieser Frau. Hänge an ihren Lippen, meine Gedanken immer nur einen Moment der Unaufmerksamkeit von ihr entfernt. Ich weiß nicht mal, warum ich schon wieder so auf sie fokussiert bin. Warum ich es keine fünf Minuten schaffe, sie aus meinem Kopf zu verbannen.

Ich schätze, ich bin einfach ein hoffnungsloser Fall. Aber das wusste ich ja schon.

»Mr. Fleming!«

Die Stimme meines Profs lässt mich zusammenfahren. Erschrocken reiße ich den Blick von Brookes Profilbild los und schaue auf. Professor Lewis steht vor dem Whiteboard, auf dem eine Folie gezeigt wird, die mir nicht im Entferntesten bekannt vorkommt. Er funkelt mich durch den kleinen Seminarraum hinweg an.

»Würden Sie uns vielleicht auch die Ehre Ihrer Aufmerksamkeit erweisen?«, fragt er harsch. Er bedenkt mein Smartphone mit einem Naserümpfen und fährt dann damit fort, mich mit seinem Todesblick zu durchbohren. Irgendwie hatte ich ihn als entspannter eingeschätzt, als er vorhin hier reinkam. Er ist höchstens Mitte vierzig – ein Alter, in dem die Leute normalerweise noch etwas Verständnis für uns arme Studierende haben. Aber ich schätze, sein teurer Anzug und die Krawatte hätten mich eines Besseren belehren müssen.

»Verzeihung«, murmle ich und schalte eilig das Display aus. »Kommt nicht wieder vor.« So was direkt im ersten Seminartermin zu bringen, ist auch reichlich unhöflich. Aber irgendwie konnte ich dem Stoff nicht so ganz folgen, dann wollte ich auf die Uhr schauen, und kaum dass ich michs versehe, ist Brookes Chat offen.

Professor Lewis schnaubt abfällig. »Das will ich hoffen, Mr. Fleming. Immerhin beanspruchen Sie einen Platz in meinem Kurs, für den es – wohlgemerkt – eine Warteliste gibt.« Er mustert mich, als wäre ich eine tote Qualle, die ihm das Meer vor die Füße gespült hat. Dann richtet er seine Krawatte, und ich werde das Gefühl nicht los, dass er mir damit etwas sagen will.

Ich spüre die Blicke meiner Mitstudierenden auf mir kleben, und Hitze steigt mir unter die Haut. Im Gegensatz zu den meisten anderen in diesem Raum trage ich kein sauber gebügeltes Hemd und erst recht keinen Anzug. Ich sitze in kurzer Jogginghose und T-Shirt an meinem Tisch und habe mein Basecap vor mir über meine Wasserflasche gehängt.

Der Kleidungsstil meiner Kommilitonen hat mir längst deutlich zu verstehen gegeben, dass ich in Professor Lewis’ Seminar falsch bin. Aber auch das ist nichts Neues. Ich bin in diesem ganzen Studiengang falsch …

»Verzeihung«, sage ich wieder und stecke das Handy zur Versöhnung in meinen Rucksack. Der Chat mit Brooke bleibt leer. Unverändert. Seit Wochen prangen dort dieselben irrelevanten Nachrichten von … vorher. Und seit Wochen lese ich sie mir trotzdem immer wieder durch. Suhle mich in den Erinnerungen an das, was wir hatten. Oder eher das, wovon ich mir eingeredet habe, dass wir es haben könnten.

»Möchten Sie dann vielleicht die Aufgabe lösen, Mr. Fleming?«, drangsaliert Professor Lewis mich weiter.

O Mann, offenbar habe ich seinen Stolz verletzt. Ich wusste nicht, dass sein beschissenes Seminar so begehrt ist. Ich habe mich einfach für irgendwas eingetragen, das machbar klang. Offenbar habe ich dabei genau die falsche Wahl getroffen, denn schon jetzt weiß ich, dass dieser Kerl mir das Semester zur Hölle machen wird.

»Klar«, sage ich trotzdem, um ihn nicht noch weiter zu beleidigen. Ich mustere die Präsentation auf dem Whiteboard und verziehe ratlos den Mund. Zahlen. Und nun? Widerwillig schaue ich zurück zu Professor Lewis. »Könnten Sie vielleicht …?«

»Die Aufgabe wiederholen?«, faucht er, sein Gesichtsausdruck auf einmal wutverzerrt, und ich glaube fast zu sehen, wie dabei ein paar Spucketropfen durch den Seminarraum fliegen. »Wissen Sie was, Mr. Fleming?«

Aus seinem Mund klingt mein Name wie eine Beleidigung. Gute Voraussetzungen.

»Nein. Das kann ich nicht. Wenn Sie möchten, dass ich Ihnen etwas beibringe, hören Sie mir gefälligst zu, und verschwenden Sie nicht unser aller wertvolle Zeit. Mr. Turner.« Er wendet sich einem Kerl einen Platz weiter zu, der schon übereifrig seine Hand gehoben hat. »Erlösen Sie uns bitte.«

~

Als ich die WG betrete, schlägt mir der Duft von frisch gebrühtem Kaffee entgegen. Bis vor Kurzem war dieser Geruch positiv behaftet. Jetzt legt sich sofort ein schwerer Stein in meine Magengrube.

Grey ist zu Hause. Und ich komme unmöglich unbemerkt an ihm vorbei. Erst recht nicht mit unserer neuen Alarmanlage …

Noch bevor ich die Wohnungstür ganz hinter mir geschlossen habe, ertönt ein Kläffen und ein zotteliger weißgrauer Blitz kommt um die Ecke gerauscht. Ich werde angesprungen und stolpere rückwärts gegen die Tür, wodurch sie ins Schloss fällt. Die Klinke drückt sich schmerzhaft in meine Hüfte, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, Columbos Zunge von mir fernzuhalten, um mich groß darum zu scheren. Er hat sich auf die Hinterläufe gestellt, lehnt sich mit seinem vollen Gewicht gegen mich und versucht, mein Kinn abzulecken.

»Ganz ruhig, Kumpel.« Ich tätschle ihm den Kopf und schiebe ihn dabei von mir. Man sollte meinen, bei so viel Fell bleibt nicht viel Gewicht übrig. Aber seine vierzig Kilo haben dann doch eine ganz schöne Wucht, wenn er sich ungebremst auf einen stürzt.

Als Grey vor zwei Wochen aus Hāwera zurückkam, hat er Columbo mitgebracht. Sein Vater ist zwar nach der Reha wieder auf den Beinen und zurück auf dem Hof, aber sich um den Clown hier zu kümmern, wäre in seiner Verfassung trotzdem zu viel gewesen. Also wohnt Columbo jetzt für ein paar Wochen bei uns. Allerdings merkt man ihm an, dass er sein Zuhause vermisst. Den Auslauf, die Hühner, die Abwechslung. Und wenn wir in der Uni sind, langweilt er sich zu Tode, weshalb er bei unserer Rückkehr jedes bisschen Aufmerksamkeit einfordert, das er kriegen kann.

»Ist ja gut«, beschwichtige ich ihn. »Ich bin wieder da. Mach Sitz. Ich kann ja nicht mal meinen Rucksack absetzen, du Held.«

»Columbo, runter.« Greys Stimme hallt durch unseren kleinen Flur. Er steht im Türrahmen zur Küche und beobachtet das Geschehen mit harter Miene.

Auf ihn hört Columbo sofort. Er lässt von mir ab, reibt noch mal den Kopf an meinem Bein und trottet dann an Grey vorbei in die Küche.

»Du darfst ihn nicht streicheln, wenn er das macht«, belehrt dieser mich jetzt.

»Sorry«, murmle ich und reibe mir den Nacken.

Grey antwortet nicht mehr. Er verzieht nur leicht die Lippen, wendet sich ab und lässt mich allein im Flur zurück.

Was für eine herzliche Begrüßung …

Ich ziehe meine Schuhe aus und spiele mit dem Gedanken, mich direkt in mein Zimmer zu verziehen. In den letzten zwei Wochen bin ich Greysen so gut wie möglich aus dem Weg gegangen. Ich habe noch nicht den Mut aufgebracht, mich seiner Wut zu stellen. Werde es vielleicht auch nicht mehr tun. Jedes Mal, wenn ich ihn anschaue, muss ich wieder daran denken, wie er Brooke und mich im Bett erwischt hat. An den Ausdruck auf seinem Gesicht, diese Mischung aus Entsetzen, Hass und Verletztheit. Ich habe ihn verraten. Und trotzdem habe ich die nicht sterben wollende Hoffnung, dass Grey vielleicht doch mal normal mit mir redet. So tut, als wäre nichts. Mir eine Tür zurück zu unserer Freundschaft aufhält, die ich gar nicht verdient habe.

Zögerlich folge ich ihm in die Küche.

Er steht mit dem Rücken zu mir vor der Kaffeemaschine und hantiert mit dem Milchaufschäumer. Columbo liegt neben ihm auf dem Boden und beobachtet resigniert, wie ich reinkomme und mir ein Glas aus dem Schrank nehme.

»Wie war die Uni?«, frage ich und schenke mir ein Wasser ein.

Grey schaut nicht mal zu mir rüber. Und das Gewicht auf meiner Brust wird sekündlich schwerer.

Immer wenn ich denke, der Schmerz müsste endlich besser werden, schnürt er mir noch unerbittlicher die Luft ab.

»Kurse sind vielversprechend«, antwortet er knapp. »Ich denke, es klappt mit dem Abschluss dieses Jahr.«

»Das freut mich.«

Grey nickt abwesend, macht seinen Kaffee fertig und setzt sich damit an den kleinen Esstisch, wo er seine Uniunterlagen ausgebreitet hat. Columbo trottet zu mir rüber und schmiegt sich winselnd an mein Bein. Ich kraule ihn hinter den Ohren und trinke in Zeitlupe mein Wasser.

Doch Grey fragt nicht, wie mein Tag war. Entweder interessiert ihn wirklich nicht mehr, was bei mir los ist, oder er ist einfach noch zu wütend, um normal mit mir zu reden.

Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich in den letzten Wochen versucht habe, mich bei ihm zu entschuldigen. Er wollte es nicht hören. Dabei ist es ja nicht mal so, als würde ich erwarten, dass er mir verzeiht. Ich will nur, dass er vielleicht aufhört, mich zu hassen.

Ich will mich nicht mehr wie diese verdammte Enttäuschung fühlen, die ich schon mein ganzes Leben bin.

»Heute Abend hab ich noch eine WG-Besichtigung«, lasse ich ihn wissen.

Vielleicht lockert wenigstens das seine Stimmung. Die Tatsache, dass ich immer noch hier wohne, gefällt uns beiden nicht besonders. Ihm nicht, weil er mich loshaben will, und mir nicht, weil ich das weiß. Aber es ist fast unmöglich, bei meinem Budget zum Semesterstart etwas Neues zu finden. Der Andrang ist riesig. Die Einzelwohnungen sind zu teuer, und die WGs entscheiden sich lieber für jemanden in ihrem Alter. Oder zumindest rede ich mir ein, dass das der Grund für die vielen Absagen ist. Vielleicht stimmt mit mir auch einfach irgendwas nicht.

»Alles klar«, brummt er nur. »Viel Glück.«

Okay. Ich gebe auf. Dieses Gespräch. Alles.

»Soll ich mit Columbo raus?«, schlage ich vor.

Hauptsache weg von hier.

Weg von dieser Schuld, die Grey mich täglich spüren lässt.

Weg von der Reue darüber, meinen einzigen Freund verloren zu haben.

Weg von dem Wissen, dass ich endgültig allein bin, sobald ich hier ausziehe.

»Klingt gut«, sagt Grey nur, und ich atme tief durch.

»Na dann. Ich zieh mir noch eben meine Laufsachen an«, verkünde ich. Dabei war ich heute Morgen erst Sport machen. Aber zusammen mit dem Schlagzeugspielen ist es gerade das Einzige, was mich von meinem Leben ablenkt, also nutze ich jede Gelegenheit, die ich kriege. Eine abendliche Joggingrunde mit Columbo am Strand wird uns beiden guttun.

KAPITEL 2

brooke

Ein Koffer, zwei Kisten.

Schon merkwürdig, wie wenig man braucht, um ein ganzes Leben zu verschieben. Von einer Wohnung in die nächste. Von einem Zuhause ins Unbekannte.

Leah stellt ihren Karton auf meinem winzigen Küchentisch ab und streicht sich erschöpft die langen dunklen Haare aus dem Gesicht. Ich habe sie letztes Semester in meinem Mathekurs kennengelernt und den letzten Monat auf dem Sofa ihrer WG verbracht. Auch wenn wir uns noch nicht lang und auch nicht unbedingt gut kennen, ist sie hier in Auckland meine engste Freundin. Und obwohl ich diese Freundschaft in den vergangenen Wochen sicher schon überstrapaziert habe, war sie so lieb, mir beim Umzug zu helfen und mit mir gemeinsam den Rest meiner Sachen aus Mums Wohnung zu holen.

Mum selbst war nicht da. Die Kartons standen fertig gepackt im Flur vor ihrer Wohnungstür, wo sie jeder hätte mitnehmen können. Deutlicher hätte sie nicht sagen können, wie dringend sie mich und jede Erinnerung an meine Existenz loshaben will. Und als wäre das nicht schlimm genug, mussten wir die Sachen anschließend mit den Öffis durch die halbe Stadt transportieren. Ein krönender Abschluss für die beschissenen zweieinhalb Jahre, die ich bei meiner Mutter gelebt habe. Oder sollte ich eher sagen: die sie mich geduldet hat.

»Danke«, murmle ich und reibe mir die schmerzenden Arme. »Du hast mich echt gerettet, Leah.«

»Keine Ursache.« Sie lächelt mich an, aber ich weiß, dass auch sie ein bisschen froh ist, mich los zu sein. In der ersten Woche nach meiner Rückkehr nach Auckland war das Zusammenleben noch kein Problem, aber dann kam Leahs Mitbewohnerin aus den Semesterferien zurück, und es hat sich schnell gezeigt, dass die winzige Wohnung nicht für drei gedacht ist. Noch dazu ist meine Laune seit der Sache mit Grey und Noah furchtbar. Ich war also keine gute Gesellschaft.

»Wie lang kannst du hier noch mal bleiben?«, will Leah wissen und schaut sich in der Wohnung um.

Ich habe das Apartment von einer Kommilitonin, die ein Austauschsemester macht, zur Zwischenmiete übernommen, weshalb es auch etwas günstiger ist als die anderen Wohnungen in der Stadt. So bleibt die Miete innerhalb des Budgets, das Dad mir netterweise zur Verfügung stellt, seit Grey ihm von der Sache mit Mum erzählt hat. Und ich brauche keine Möbel, weil alles schon da ist.

»Bis Ende des Semesters«, antworte ich. »Bis dahin hab ich bestimmt was Neues gefunden.«

»Bestimmt«, bestätigt Leah hoffnungsvoll. »Brauchst du Hilfe beim Einräumen?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein danke. Ist ja nicht viel.«

»Okay. Dann sehen wir uns morgen, oder?«

»Auf jeden Fall.«

Morgen Abend findet die Party zum Start des neuen Semesters statt. Das größte Wohnheim der Uni verwandelt sich dabei in eine XXL-Hausparty. Alle, die dort leben und Lust haben, lassen ihre Türen offen, sodass man nach Belieben durch die kleinen Wohnungen streunen und sich betrinken kann.

Es ist der perfekte Abend, um endlich den Sommer hinter mir zu lassen und mich wieder auf die Zukunft zu konzentrieren. Um wieder ich selbst zu werden. Denn seit einigen Wochen fühle ich mich völlig losgelöst von der Person, die ich eigentlich sein will. Die Zeit in Hāwera hat alte Wunden wieder aufgerissen, und Noah hat ein paar neue hinterlassen. Weil ich mich nicht an meine eigenen Regeln gehalten habe. Kaum zu glauben, wie tief ich die letzten Wochen in Selbstmitleid versunken bin – alles wegen irgendeines dahergelaufenen Kerls. Das muss aufhören. Ich habe mir damals geschworen, dass nie wieder irgendein Mann Macht über mich haben wird. Und die Tatsache, dass ich seit Wochen nur noch an Noah und seine beschissenen grünen Augen denke, ist definitiv schon mehr, als ich je zulassen wollte.

Wenn er nicht aus meinem Kopf rauswill, muss ihn eben jemand rauswerfen. So einfach ist das. Nur müsste dieser Jemand wohl ziemlich gut gebaut sein, wenn er es mit Noah aufnehmen will …

»Brooke? Hallooo?«

Ich blinzle erschrocken und drehe mich zu Leah um, die bereits zur Tür gegangen ist. Sie mustert mich mit einem fast schon resignierten Blick – vermutlich, weil sie es mittlerweile von mir gewohnt ist, dass ich mitten in der Unterhaltung wegtrete. Leider hatte ich bis heute nicht mal die Kraft, ihr zu erklären, warum.

»Sorry, was hast du gesagt?«, frage ich deshalb nur.

»Ob es passt, wenn wir uns um sieben treffen?«

»Ja«, erwidere ich hastig. »Klar. Ich bring den Wein mit, du das Bier?«

»Klingt gut. Dann frohes Einräumen.« Sie lächelt mich an und lässt mich allein.

Seufzend lasse ich den Blick durch die kleine Wohnung schweifen. Neben mir befindet sich eine schmale weiße Küchenzeile, nur ein paar Meter weiter stehen vor dem Fenster ein Sofa und ein Fernseher. Ein kleiner runder Esstisch trennt den Wohnbereich von der Küche. Auf der rechten Seite des Raumes führt ein kurzer Flur zum Schlafzimmer und dem gegenüberliegenden Bad.

Meine Vormieterin, oder wohl eher Vermieterin, hat all ihre Sachen ausgeräumt und nur die Möbel und Küchenutensilien zurückgelassen. Dadurch wirkt die Wohnung ziemlich leer, aber mit einer Lichterkette und einer Pflanze wird es hier sicher gleich viel wohnlicher. Hoffe ich zumindest. Ich habe kein Geld, um mir großartig Deko zu kaufen, und außerdem keine Lust, beim nächsten Umzug die doppelte Menge Kisten zu transportieren.

Ich atme tief durch und öffne einen der Kartons, die Mum für mich gepackt hat. Entgegen meiner Erwartung hat sie nicht einfach alles reingeschmissen, sondern die Sachen ordentlich zusammengelegt. Vermutlich wollte sie nicht noch mehr Umzugskartons besorgen müssen.

Unter einer Schicht Klamotten finde ich einige meiner Unisachen, den Schuhkarton, der unter meinem Bett stand und den sie hoffentlich nicht geöffnet hat, sowie einigen Krimskrams aus meinen Schreibtischschubladen. Außerdem hat Mum meine Wände abgehängt, denn ganz am Boden liegt das Batman-Filmposter mit Robert Pattinson, das im letzten Jahr über meinem Bett hing. Dann muss auch irgendwo meine Lichterkette sein.

Im zweiten Karton werde ich fündig. Und es ist nicht nur die Lichterkette darin, sondern auch das gerahmte Bild von Columbo, das immer auf meinem Schreibtisch stand.

Sein Anblick sticht. Eigentlich hatte ich mich längst daran gewöhnt, ihn zu vermissen, immerhin hatte ich ihn über zwei Jahre lang nicht gesehen. Aber jetzt ist auch diese Wunde wieder frisch, und noch dazu erinnert er mich an den Sommer auf dem Hof. An Grey, an Dad, an Kaia. Und vor allem an Noah.

Einen Moment lang starre ich das Bild an und sehe stattdessen ihn.

Mach’s nicht, versuche ich, mir selbst zu sagen, doch irgendwie hat mein Unterbewusstsein sich schon anders entschieden.

Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und scrolle durch meine Chatliste, bis mein Daumen neben einem nur allzu vertrauten Gesicht liegen bleibt. Ich tippe nicht darauf. Trotzdem kann ich es vor meinem inneren Auge sehen – weil ich es nächtelang angestarrt habe.

Er hat es nicht geändert, seit ich ihn kenne. Der Ausschnitt ist klein gewählt, aber man kann erkennen, dass Noah lässig auf einer Art Sofa sitzt, ein Lächeln auf den Lippen. Seine Haare fallen ihm leicht in die Stirn, und sein Blick geht direkt in die Kamera. Direkt in mein beschissenes Herz.

Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, das mich jetzt schon wieder überkommt.

Es ist irgendwo zwischen Wut, Enttäuschung und bitterem Vermissen. Aber allem voran ist es schmerzhaft. Und wie schon so oft in den vergangenen Wochen frage ich mich, ob ich ihm nicht doch schreiben sollte. Irgendwas. Und sei es nur, dass ich ihn dafür hasse, dass er mich nicht liebt.

Plötzlich verschwindet Noahs Gesicht von meinem Display. An seiner Stelle taucht der Anrufbildschirm auf, und ich lasse erschrocken das Handy fallen. Es landet klappernd auf dem Küchentisch, wo es dank des Vibrationsmodus einen furchtbaren Lärm veranstaltet. Jedes Surren dringt mir bis in die Knochen. Ich starre auf die Telefonnummer, die dort aufleuchtet, und versuche vergeblich, mein rasendes Herz zu beruhigen.

Mittlerweile kann ich sie auswendig. Seit diesem ersten Mal kurz nach meiner Abreise aus Hāwera, als ich nichts ahnend drangegangen bin. Seit ich anschließend gut eine halbe Stunde lang zitternd auf das Display gestarrt habe, auf dem immer und immer wieder ein neuer Anruf angekündigt wurde. Seit Talons Stimme am anderen Ende der Leitung erklang und meine pseudoheile Welt noch weiter zerschlagen hat.

Ich frage mich, wann er damit aufhören wird.

Vielleicht, wenn alles endgültig in Trümmern liegt. Wenn ich nicht mehr die Kraft habe, die Anrufe abzulehnen oder zu ignorieren. Wenn er endlich seinen verdammten Willen bekommt und ich wieder ihm gehöre.

Ich schätze, ich werde es herausfinden. Er lässt mir ja gar keine andere Wahl. Ich habe sofort aufgelegt, als sein tiefes »Hey« aus meinem Handy drang. Trotzdem belästigt er mich seitdem nonstop. Ein paar Tage lang habe ich mich gefragt, woher er meine Nummer hat. Dann wurde mir klar, dass es noch dieselbe ist wie früher. Ich habe damals nur seine damalige Nummer blockiert, meine jedoch nie geändert. Rückblickend war das naiv von mir. Aber vielleicht hat ein Teil von mir damals schon gewusst, dass ich ihm ohnehin nicht entkommen kann. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ich seine neue Nummer immer noch nicht blockiert habe. Oder vielleicht bin ich auch einfach kaputter, als ich dachte, und nicht annähernd so stark wie erhofft.

Endlich hört das Vibrieren auf. Doch mein Herz rast weiter. Wie jedes Mal dauert es nicht lang, bis ein kurzes Surren eine Nachricht ankündigt. Dann kehrt Ruhe ein.

Ich brauche noch ein paar Minuten, um mich zu sammeln. Dann nehme ich mit zitternden Fingern wieder mein Handy auf.

Wie bereits die Male zuvor ziehe ich das Benachrichtigungsfenster herunter und wische Talons Nachrichten dann weg, ohne sie zu lesen. Zurück bleibt wieder meine Chatliste. Noahs Bild. Und diesmal tippe ich darauf. Schaue in sein vertrautes Gesicht und versuche, meine Atmung zu beruhigen.

Verdammt, warum lasse ich das mit mir machen? Warum lasse ich zu, dass er mich weiter belästigt? Warum hat die alte Brooke auf einmal wieder so viel Macht über mich?

Das. Muss. Aufhören.

Ich schlucke, öffne meine Anrufübersicht und wähle Talons Nummer aus. Dann blockiere ich sie auf alle erdenklichen Weisen, bevor ich sowohl die Anrufhistorie als auch seine ungelesenen Nachrichten lösche.

Er soll dahin zurück, wo er hingehört. In meine Vergangenheit. Zu Mum. Zu Greysen. Und auch zu Noah.

Der Gedanke, dass die beiden sich jetzt diese Gemeinsamkeit teilen, treibt mir Tränen in die Augen, doch ich blinzle sie weg.

Keiner von ihnen wird mich je wieder zum Weinen bringen. Das schwöre ich mir.

Ich durchquere den Raum, stecke mein Handy ans Ladekabel und wühle dann in den Umzugskisten nach dem Rest meiner kleinen Make-up-Sammlung.

Es wird wohl nicht schwierig sein, morgen Abend jemanden abzuschleppen. Mich abzulenken. Meine alten Muster aufleben zu lassen, die Mauern neu hochzuziehen.

Vielleicht fühle ich mich danach endlich wieder wie ich selbst.

KAPITEL 3

noah

»Es ist ein bisschen was zu tun«, meint Mr. Wilson ungerührt. Er lässt es klingen, als ginge es nur darum, eine Wand zu streichen und ein paar Bohrlöcher in den Wänden zuzuspachteln, während wir in Wahrheit in einer völligen Bruchbude stehen. Direkt vor mir an der Wand zeichnet sich ein übler Wasserschaden ab. Der Linoleumboden sieht aus, als wäre jemand darauf gestorben. Überall sind Macken und komische Flecken, es riecht muffig, die Türen sind verzogen, das Badezimmer ist ein Gesundheitsrisiko.

Dreißig Quadratmeter hat die Wohnung. Die Lage ist nicht die schönste, aber die Anbindung an die Uni ist gut. Eigentlich also ideal für Studierende mit schmalem Budget. Ich hätte wissen müssen, dass es einen Haken gibt. Einen ziemlich großen, denn gefühlt wird der Wasserschaden an der Wand größer, je länger ich ihn anstarre.

»Und ab wann könnte ich einziehen …?«, frage ich widerwillig.

»Sobald du willst. Ist alles fertig.«

Fertig … Wenn man es so nennen will.

»Kannst dich hier voll austoben«, fügt Mr. Wilson hinzu. »Wenn du gern ’nen anderen Boden hättest oder so. Ist alles in Ordnung.«

Klar. Als ob jemand, der ernsthaft darüber nachdenkt, in dieses Drecksloch zu ziehen, Geld für einen neuen Fußboden hätte. Aber ich war schon auf so vielen Besichtigungen, dass mir allmählich die Hoffnung ausgeht, jemals irgendwas Passendes zu finden. Und jeden Tag Greys Wut zu ertragen, macht mich langsam, aber sicher kaputt.

Etwas unentschlossen schaue ich mich erneut in dem Zimmer um. Das Fenster blickt auf ein Hochhaus, und ich glaube, jede Gefängniszelle wäre gemütlicher. Aber wenn ich alles streiche und einen Teppich kaufe …

Von welchem Geld denn, Noah?

Vielleicht kann ich mich ja auch so damit arrangieren. Ich sollte ohnehin mehr Zeit in der Uni verbringen. Irgendwie dieses Semester bestehen.

»Gibt’s noch andere Bewerber?«, frage ich deshalb. Ich habe die Anzeige auf einer eher unbekannten Seite entdeckt, wo sie schon seit Wochen online ist.

»Grade nicht. Wenn du sie willst, gehört sie dir. Kaution sind zwei Wochenmieten.«

»Ah …« Fuck, davon stand aber nichts auf der Seite. »Kann ich mir das noch ein paar Tage überlegen?«

Mr. Wilson zuckt mit den Schultern. »Klar. Solang sie noch frei ist. Nummer hast du ja. Willst du noch irgendwas sehen? Noch was wissen?«

Ich schüttle den Kopf. Davor, das Bad noch mal zu betreten, graust es mir ehrlich gesagt. »Nein, danke. Ich melde mich dann noch mal.«

»Alles klar.«

Mr. Wilson führt mich durch das Treppenhaus nach draußen. Vor dem Gebäude verabschieden wir uns. Er schüttelt mir die Hand und steigt in seinen Wagen, der am Straßenrand parkt. Ich mache mich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Es ist nicht weit. Das Wetter ist gut, die Luft angenehm warm. Und dieser Stadtteil von Wellington hat mit seinen überwiegend niedrigen, altmodischen Gebäuden, bunten Fassaden und Werbeschildern einen eigenen Charme. Nicht so grau und trostlos wie einige der anderen Viertel, dafür angenehm ruhig. Am Straßenrand wachsen große Laubbäume, und mir kommen einige gut gelaunte Passanten entgegen. In dieser Gegend zu leben, wäre sicher schön. Die Wohnung jedoch …

Seufzend ziehe ich mein Smartphone aus der Hosentasche und öffne im Laufen meine Banking-App. Zwei Wochenmieten … Das ist bei der geringen Miete zwar nicht viel, aber trotzdem deutlich mehr, als ich auf dem Konto habe. Wenn mein monatlicher Unterhalt kommt und ich die Miete für den ganzen Monat davon abziehen würde, würde es immer noch nicht reichen. Mal ganz abgesehen davon, dass ich auch noch irgendetwas essen muss.

Es war schon längere Zeit knapp mit dem Geld. Aber ich hatte zumindest ein kleines Sicherheitspolster. Das ging allerdings drauf, als ich allein von Hāwera zurück nach Wellington musste, statt mit Greysen zu fahren. Und dass ein Umzug ansteht, war auch nicht eingeplant. Grey und ich hatten eigentlich vor, die WG noch mindestens bis zu unserem Abschluss bestehen zu lassen – vielleicht sogar länger …

Es führt wohl kein Weg daran vorbei, mir einen Job zu suchen. Auch wenn ich so schon überfordert mit der Uni bin. Billiger als diese Absteige hier wird es einfach nicht mehr, und Greys Freundschaft habe ich nachhaltig verspielt.

Ich bin wieder auf mich allein gestellt.

Diesmal endgültig.

Denn der vergangene Sommer hat mir mal wieder deutlich gezeigt, dass ich nicht dafür gemacht bin, irgendjemandem nahezustehen.

Ich dachte, Grey wäre meine Ausnahme. Die eine Person, die ich nicht enttäusche. Dabei steuerten wir die ganze Zeit nur auf eine umso größere Katastrophe zu.

damals

Ich habe das Gefühl, als hätte ich mich verlaufen. Als wäre ich irgendwann im Verlauf der letzten Wochen falsch abgebogen, ohne es zu merken – und nun finde ich mich an einem Ort wieder, an den ich gar nicht hingehöre. Nicht, dass das etwas Neues wäre. Das Fremdkörpergefühl ist allgegenwärtig, war es auch schon, während ich meinen Schulabschluss nachgeholt habe. Aber hier ist es noch tausendmal schlimmer. Ich stehe mitten in der Mensa, ein Tablett mit Essen in der Hand, vor mir ein brechend voller Speisesaal voller Studierender, die mit Sicherheit ihr Leben besser im Griff haben als ich. Die alle irgendwie erfolgreicher, disziplinierter, glücklicher sind als ich.

Gelächter dringt zu mir durch. Stimmengewirr. Der Geruch von Essen hängt schwer in der Luft. Unsicher lasse ich den Blick über die Tische schweifen. An jedem von ihnen sitzen bereits Leute. Selbst die neuen Studierenden haben sich in den ersten Veranstaltungen heute Morgen schon in Grüppchen zusammengefunden, die nun gemeinsam die Uni erkunden. Nur ich bin außen vor geblieben. Und vielleicht ist es besser, wenn das so bleibt.

Am liebsten würde ich wieder gehen. Wäre da nicht die ungeöffnete Nachricht auf meinem Smartphone, in der Ellie mich gefragt hat, wie der erste Tag läuft. Und die Tatsache, dass David und sie Geld dafür bezahlen, dass ich hier herumstehe und mein Leben hinterfrage.

Seufzend trete ich auf einen der Tische zu, der zumindest ein kleines bisschen leerer ist. Ganz am Rand sitzt ein Typ allein und isst. Er hat dasselbe bestellt wie ich: irgendeine Art Nudelauflauf mit Brokkoli. Der Platz gegenüber von ihm ist frei.

»Sorry?«, spreche ich ihn an, und er schaut zu mir hoch. Graue Augen, braune kurze Haare, glatt rasierte Wangen. Ich schätze ihn auf ein bisschen jünger als mich. »Kann ich mich dazusetzen, oder wartest du no…«

»Klar«, antwortet er bereits, und ich lasse den Rest des Satzes verklingen. Der Fremde deutet auf den leeren Stuhl, und ich stelle zögerlich mein Tablett ab, lasse mich auf den Platz sinken.

»Danke«, murmle ich und widme mich meinem Essen, um ihn nicht weiter zu stören. Doch ich habe kaum die Gabel aufgenommen, da schiebt er ein kleines Tablett mit einem Salz- und Pfefferstreuer in mein Sichtfeld. Verwirrt hebe ich den Blick.

»Falls du brauchst«, sagt er. »Mich persönlich überzeugt der Auflauf noch nicht.«

Ich probiere einen Bissen und nicke verstehend. »Hm«, mache ich und greife nach dem Salzstreuer. »Luft nach oben, ja. Sind die anderen Gerichte denn besser?«

»Hatte gehofft, du könntest mir das sagen. Oder bist du auch neu hier?« Er spießt ein Stück ziemlich zerkochten Brokkolis auf seine Gabel und mustert mich interessiert.

»Erster Tag«, verkünde ich. »Sorry. Deiner also auch?«

»Jap. Was studierst du?«

»Wirtschaft. Und du?«

»Security and Defence.« Er grinst und wirkt dabei ziemlich stolz. »Ich will zur Polizei.«

Ich atme tief durch und spüre, wie ein Teil meiner Anspannung von mir abfällt. Er studiert zwar etwas völlig anderes als ich und hat dementsprechend sicher auch ganz andere Kurse, aber wenigstens muss ich nicht allein essen. »Klingt, als hättest du schon sehr konkrete Pläne«, stelle ich fest.

»Ach«, macht er und zwinkert mir zu. »Erst seit ich drei bin. Ich bin übrigens Greysen. Und du?«

KAPITEL 4

brooke

»Könnt ihr endlich mal was treffen?«, johle ich, als der Pingpongball, den Hemi eben geworfen hat, schon wieder unsere Becher verfehlt. Ich fange ihn, werfe ihn zurück, und er landet zielsicher im drittletzten gegnerischen Becher. Mein Kommilitone stöhnt auf, streicht sich die langen schwarzen Haare zurück und ext ihn. Das gesamte Zimmer feuert ihn dabei an. Leah steht hinter ihm und klopft ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Dürfen wir auch einfach so trinken?«, fragt Marc neben mir. »Ich krieg langsam Durst.«

»Das wird sonst auch keine faire Runde mehr«, stelle ich fest und nehme zwei unserer Becher vom Tisch. »Hier.« Ich reiche Marc einen davon und stoße mit ihm an. »Auf das beste Beerpong-Team.«

Während wir das Bier exen, höre ich, wie der Ball auf der Tischplatte aufkommt und dann in einem der übrigen Becher landet.

»Ha!«, ruft Leah triumphal. »Fast Gleichstand!«

Ich wische mir mit dem Handrücken den Mund ab und drehe mich wieder zu ihr um. »Du warst gar nicht dran!«, lache ich.

Marc legt mir unterdessen einen Arm um die Taille, stapelt seinen leeren Becher in meinen und greift dann nach dem, den Leah eben getroffen hat. Er fischt den Ball heraus, wirft ihn ziemlich schief zurück und trinkt.

Ich lehne mich an seine Seite und lasse zu, dass er die Hand an meiner Hüfte in meine vordere Hosentasche schiebt. Ich schätze, es ist sehr offensichtlich, wo das hier heute noch endet. Aber ich lasse mich mehr bitten als sonst. Normalerweise bin ich gerne diejenige, die erste Schritte macht. Heute muss ich mich an jede verdammte Berührung erst gewöhnen. Dabei will ich doch Sex haben. Und Marc ist mehr als geeignet, um mich heute Nacht abzulenken und mir die verdammten Gedanken an Noah aus dem Kopf zu vögeln. Das hat er mir schon letzten Winter bewiesen, als wir uns auf einer Hausparty kennengelernt haben. Dass er mir heute direkt in die Arme gelaufen ist, als ich das Gebäude betreten habe, sehe ich als Zeichen.

Hemi fängt den Ball, den Marc so großartig versemmelt hat, wirft ihn zurück und trifft. »Gleichstand!«, johlt Leah, hüpft freudig auf und ab und zieht das Gesicht ihres Freundes zu sich herunter, um ihn abzuknutschen. Wieder werden sie dabei von den Umstehenden angefeuert. Unsere Beerpong-Partie hat einige Zuschauer, von denen der Großteil vermutlich darauf wartet, selbst spielen zu dürfen. Die Wohnung hier ist eine der wenigen im Wohnheim, die offenbar kein Problem damit haben, wenn die Leute literweise Bier verschütten.

Ich spüre Marcs Blick auf mir und schaue zu ihm hoch. Er nickt in Richtung von Leah und Hemi, die das Spiel für den Moment offenbar vergessen haben. »Willst du nachziehen?«, fragt er und nimmt mir die leeren Becher ab. Er stellt sie auf den Tisch, und seine Hand findet an meinen Ellbogen, bevor er sie langsam zu meiner Taille wandern lässt.

Ich wende mich ihm ganz zu und lege meine Hände auf seine Brust. »Womit genau?«, frage ich frech und grinse ihn an.

»Du bist dran mit Trinken«, stellt er fest. »Aber ich würde mich vielleicht überreden lassen, das für dich zu übernehmen.«

Er zieht mich näher an sich. Ein Schauder läuft durch meinen Körper, aber ich schiebe es darauf, dass das Fenster offen ist und ich seit Monaten niemanden mehr abgeschleppt habe. Zumindest niemanden, der nicht Noah ist.

Sein verdammter Name in meinem Kopf frustriert mich so sehr, dass ich kurzerhand die Hände in Marcs Nacken lege und mich auf die Zehenspitzen stelle. Ich spüre seinen gesamten Körper an meinem. Sein Atem riecht nach Bier, und als er sich zu mir herunterbeugt, zieht sich etwas in mir zusammen, doch ich schließe einfach nur die Augen. Marcs Lippen streifen meine und …

»Brooke!«

Leahs Stimme lässt mich zusammenzucken, und Marc unterbricht den Kuss, bevor es überhaupt einer werden kann. Genervt drehe ich den Kopf. »Was?«

Sie steht am anderen Ende des Tisches und hält mein Smartphone hoch, das sie in ihrer Handtasche hatte. »Jemand ruft dich an.«

In mir gefriert alles zu Eis.

»Wer denn?«, will ich wissen und kralle meine Hände wohl etwas zu fest in Marcs Nacken.

»Keine Ahnung, irgend so eine Nummer«, meint sie. »Vier, sieben ganz hinten. Soll ich range…«

»Lehn ab«, unterbreche ich sie. Ich hatte ihn doch blockiert. Wie kann er schon wieder …

»Ex-Freund?«, will Marc wissen, und ich verziehe das Gesicht.

»Und wenn?«, frage ich ihn, meine Stimme schärfer als beabsichtigt.

Er zuckt mit den Schultern. »Nichts. Juckt mich nicht. Ich stehe auch gerne für Racheaktionen zur Verfügung.« Er zwinkert mir zu, mit seinen blauen Augen, die das genaue Gegenteil von Talons sind, und auf einmal beginnt es in meiner Brust zu lodern. Da ist so viel Wut. So viel Hass. Wird er mich einfach mit neuen Nummern bedrängen, bis ich daran zerbreche?

Das kann er vergessen.

»Leah?«, frage ich.

Sie war gerade dabei, mein Handy wieder wegzupacken. »Ja?«

»Film mal bitte.«

Sie runzelt die Stirn, hebt aber doch mein Smartphone und richtet es auf mich. »Okay? Soll ich schon?«

»Ja.« Ich drehe mich wieder zu Marc um, ziehe sein Gesicht zu mir heran und küsse ihn. Er stockt erst, doch dann scheint er sich an seine eigenen Worte eben zu erinnern. Und zu meiner Erleichterung hat er sie wohl ernst gemeint, denn er verschlingt mich förmlich, zieht mich enger an sich und schiebt seine Hände dabei in die hinteren Hosentaschen meiner Jeans. Ohne meine Lippen von seinen zu lösen, strecke ich einen Arm aus und zeige der Kamera den Mittelfinger.

Die anderen Studierenden im Zimmer johlen.

Mein Puls rast. Adrenalin und eine seltsame Euphorie rauschen mit einem Mal durch meine Adern. Oder vielleicht ist es auch der Alkohol, der endlich seine Wirkung zeigt und mich alles verdrängen lässt, was mir die letzten Wochen im Hinterkopf saß.

Ich löse mich von Marc, grinse ihn an und wende mich dann Leah zu. Sie hat bereits aufgehört zu filmen und hält mir mit gehobenen Brauen und einem leicht amüsierten Zug um die Mundwinkel das Smartphone hin. Das Johlen ist in ein Anfeuern übergegangen. Das halbe Wohnheim fordert mich unter rhythmischem Klatschen dazu auf, das Video abzuschicken.

Mit zitternden Fingern öffne ich den Chat mit der Nummer, die mich eben angerufen hat. Es ist tatsächlich Talon. Das beweist die Nachricht, die er mir vor zwei Minuten geschickt hat.

Du kannst mich nicht ignorieren, Brooke.

Watch me.

Ich tippe auf das kleine Icon, das die Galerie öffnet. Zwanzig Sekunden Video. Marc und ich sind mittig im Bild, und die kurze Vorschau zeigt mir, dass Leah den perfekten Zeitpunkt erwischt hat, um die Aufnahme zu starten. Ich ziehe gerade Marcs Gesicht zu mir heran. Alles, was danach kommt, sehe ich nicht mehr, weil ich die Nachricht bereits abschicke.

Es lädt. Und in der Sekunde, in der es fertig ist, blockiere ich auch diese neue Nummer.

Erst in den Messengern, dann für Anrufe.

Hinter mir ertönt ein Pfeifen. Ich drehe mich um und bemerke Marc, der mir offenbar über die Schulter geschaut hat. »Dem hast du’s gezeigt«, meint er.

»War das Noah?«, will Leah mit großen Augen wissen.

Der Name schnürt mir aufs Neue die Kehle zu. »Geht dich nichts an«, entwischt es mir, und sie stutzt.

»Hey«, mischt sich jetzt auch Hemi ein. »Bleib mal locker, Brooke. Du musst außerdem noch dein Bier trinken.«

Schnaubend wirble ich zu den Bechern herum, exe einen davon und packe Marcs Hand.

Die Enge in meiner Brust wird mit jeder Sekunde schlimmer. Ich stecke mein Smartphone in meine Hosentasche und ziehe Marc kurzerhand weg von dem Beerpong-Tisch. Weg von Leah und Hemi. Weg von den Erinnerungen, die eben wieder in mir hochkamen und jetzt versuchen, mich zu ersticken.

Marc folgt mir bereitwillig. Erst als wir die Wohnung verlassen haben und damit auch den Großteil der neugierigen Blicke, drehe ich mich zu ihm um und schiebe meine Hände wieder in seinen Nacken. »Du wohnst hier, oder?«, frage ich atemlos und lasse zu, dass er mich mit seinem Körper gegen die Wand des Flurs drückt.

»Dritter Stock«, raunt er.

»Bist du noch offen für Racheaktionen?«, flüstere ich und lasse meine Hände über seine Brust nach unten wandern.

Ihm entweicht ein leises Lachen. »Komm mit«, fordert er dann, und diesmal ist er es, der meine Hand nimmt und mich durch das Wohnheim zieht. Wir bahnen uns unseren Weg zwischen betrunkenen Studierenden hindurch, bis wir ein Stockwerk weiter oben vor einer geschlossenen Tür ankommen. Marc zieht einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und sperrt sie auf. Drinnen macht er das Licht an und offenbart ein kleines Gemeinschaftswohnzimmer. Bis auf uns ist es leer und vergleichsweise still. Nur der Bass eines der angrenzenden Zimmer wummert noch durch die dünnen Wände, dazu vereinzeltes Johlen und schiefer, besoffener Gesang.

Marc legt die Hände an meine Taille, lehnt seine Stirn an meine und schiebt mich rückwärts zu einer weiteren Tür.

Sein Schlafzimmer.

»Mein Mitbewohner ist unten saufen«, erklärt er mir atemlos, während er mich ins Zimmer drängt. Der Lichtschein aus dem Wohnzimmer erhellt ein schmales Wohnheimbett und einen ordentlichen Schreibtisch. Ich kralle die Finger in den Stoff von Marcs Shirts. Er senkt unterdessen den Kopf, seine Nasenspitze streift meinen Hals, sein Duft hüllt mich ein.

Er riecht fremd.

Gut, irgendwie.

Aber nicht so gut wie Noah.

Wieder ein Stich in meiner Brust. Ich lege den Kopf in den Nacken, während Marc meinen Hals küsst, und hake meine Finger in seinen Gürtel, um ihn noch näher an mich zu ziehen. Seine Hände an meiner Taille schieben mein Top hoch. Ich spüre seine rauen Finger auf meiner nackten Haut, doch da ist keinerlei Erregung. Aus der Euphorie, die eben noch durch meinen Körper geströmt ist, ist bittere Frustration geworden. Ein stechender Schmerz.

Das darf alles nicht wahr sein.

»Küss mich«, stoße ich aus, und Marc kommt der Aufforderung nach. Er legt seine Lippen auf meine, schiebt seine Zunge in meinen Mund, und ich erwidere es. Drängend. Verzweifelt. Weil sich mein Herz mit jeder Sekunde, die ich hier verbringe, mehr zusammenzieht. Und ich will jetzt verdammt noch mal nicht aufhören.

Ich will es genießen. Ich will, dass es sich gut anfühlt, nicht falsch. Ich will, dass er mich vergessen lässt, dass mich eben mein toxischer Ex angerufen hat, während sich der Typ, den ich liebe, seit Wochen nicht mal meldet.

Aber gerade sind wir leider weit weg vom Vergessen. Vielleicht sollten wir gleich zum Sex übergehen. Das hier ist furchtbar.

Es ist nicht so, als würde Marc nicht gut küssen.

Nur nicht so gut wie Noah.

Seine Lippen sind nicht so weich. Seine Arme halten mich nicht so, wie sie sollten. Seine Haare sind zu lang, sein Kinn zu kantig, sein Atem geht in der falschen Frequenz, und nichts hieran fühlt sich richtig an.

Ich blinzle eine unerwartete Träne weg und lege noch mehr gespielte Leidenschaft in den Kuss. Mit brennendem Herzen schiebe ich Marc rückwärts in Richtung des Bettes. Er lässt es mit sich machen, setzt sich auf die Bettkante, zieht mich auf seinen Schoß. Ich knie über ihm, küsse ihn weiter, während er meine Hose öffnet. Und auf einmal entweicht mir ein Schluchzen.