Novalis - Wolfgang Hädecke - E-Book

Novalis E-Book

Wolfgang Hädecke

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Beschreibung

Friedrich von Hardenberg, der sich selbst Novalis nannte, war das junge Genie unter den deutschen Romantikern. Er studierte Jura und Bergbau, begeisterte sich für die Französische Revolution, dichtete, schrieb Romane und entwarf philosophische Abhandlungen über Fichte und Kant. Wolfgang Hädecke erzählt sein kurzes und intensives Leben zwischen den Bergwerken im Herzen Deutschlands und den europäischen Ideen von Aufklärung und Idealismus. Vieles, was damals zum Verständnis von Natur und Gesellschaft gedacht, gelebt und geschrieben wurde, besitzt heute wieder große Aktualität.

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Das ist das Cover des Buches »Novalis« von Wolfgang Hädecke

Über das Buch

Friedrich von Hardenberg, der sich selbst Novalis nannte, war das junge Genie unter den deutschen Romantikern. Er studierte Jura und Bergbau, begeisterte sich für die Französische Revolution, dichtete, schrieb Romane und entwarf philosophische Abhandlungen über Fichte und Kant. Wolfgang Hädecke erzählt sein kurzes und intensives Leben zwischen den Bergwerken im Herzen Deutschlands und den europäischen Ideen von Aufklärung und Idealismus. Vieles, was damals zum Verständnis von Natur und Gesellschaft gedacht, gelebt und geschrieben wurde, besitzt heute wieder große Aktualität.

Wolfgang Hädecke

Novalis

Biographie

Carl Hanser Verlag

Prolog

Das Porträt-Bildnis hängt an einer weißen Wand; es zeigt einen jungen Mann. Er hat den Kopf leicht nach rechts gewandt und schaut uns nicht an; er blickt aus dem Bild heraus. Wache Augen mit auffallend dunklen Pupillen und halbrunden Brauen unter einer hellen, hohen Stirn beherrschen ein feines Gesicht mit sanften, faltenlosen Zügen. Die vollen Lippen sind rot, die Wangen rosig; braunes, leicht gewelltes Haar fällt bis auf die Schultern; es scheint, als habe der junge Mann eben noch still gelächelt. Er trägt eine fast schwarze Jacke mit rotem Reverskragen und V-förmig angeordneten Knöpfen, darunter eine nur am Silberrand erkennbare Weste und ein weiß-graues, mehrfach geknotetes Halstuch, das die obere Brust bedeckt und mit dem dunklen Rock wirkungsvoll kontrastiert. Die Statur des jungen Mannes läßt sich allenfalls erahnen: Er ist schlank, feingliedrig und hochgewachsen, insofern auffällig unter seinen Zeitgenossen.

Das Ölgemälde, über dessen Schöpfer Uneinigkeit herrscht, ist das einzige aus seinen Lebzeiten überlieferte Erwachsenenbildnis des Georg Friedrich Philipp Freiherrn von Hardenberg, der sich als Dichter Novalis nannte. Geboren 1772 im südlichen Harz als Landadliger aus uraltem Geschlecht, dort und später in der Saalestadt Weißenfels aufgewachsen als zweites von elf Kindern eines religiösen und strengen Verwaltungsfachmanns und einer feinfühligen, bescheidenen Mutter, nach Jura- und Bergbaustudium bei der Salinenverwaltung tätig, für wenige Jahre im Mittelpunkt der literarischen und philosophischen Frühromantik, jung gestorben mit knapp 29 Jahren.

Sein Leben ist getragen von einer ganz eigenen Spannung: Einerseits teilt er fundamentale Erfahrungen mit der großen Mehrheit seiner Altersgenossen gleicher oder ähnlicher Herkunft: Regionale Begrenztheit des Lebensraumes, gesicherte gesellschaftliche Stellung, familiäre Einbindung, Schulbildung, Studium, Sorge um die Gesundheit, Streben nach »Brautnacht, Ehe und Nachkommenschaft«, wie er 22jährig dem Dichter-Freund Friedrich Schlegel gesteht. Andererseits ersehnt, erfährt und schafft er Außerordentliches, nicht nur in der Dichtung, die ihn postum berühmt macht, sondern auch auf dem Feld der praktischen und administrativen Berufstätigkeit.

Noch nicht neunjährig erkrankt er lebensgefährlich an Ruhr, ist monatelang ans Bett gefesselt, hat schmerzhafte Behandlungen durchzustehen — und gesundet, erstarkt körperlich, wird der geistige Lenker seiner Geschwister. Weniger exakt datierbar, dafür aber weittragend und Voraussetzung für den späteren Ruhm: Der Junge beginnt zu schreiben. Dafür muß er, lernend, enorm gelesen haben. Die Novalis-Forschung hat inzwischen den sogenannten Jugendnachlaß Hardenbergs aufgearbeitet, in der Historisch-kritischen Ausgabe ediert und kommentiert — über dreihundert Gedichte, Übersetzungen klassischer Lyrik und Epik aus dem Griechischen und Lateinischen, Prosatexte erzählender und essayistischer Art und lose Dramen-Szenen. Nachweislich hat Hardenberg schon als Gymnasiast fast die gesamte zeitgenössische Literatur studiert und Vorbilder in eigenen Versuchen umgesetzt. Die Basis für das Werk ist damit gelegt. Wie viele und welche Leute bereits zu dieser Zeit wissen, daß er dichtet, ist nicht bekannt: immerhin begegnet er 1789 in Weißenfels erstmals einem bekannten Dichter: Gottfried August Bürger, der ihn übrigens vor der wohl schwierigsten Gedichtform warnt: vergebens — der Jüngling huldigt dem Poeten mit einem Sonett.

Ein Jahr später gelangt Friedrich von Hardenberg in die unmittelbare Nähe eines Genies. Ende Oktober 1790 auf Weisung des Vaters als Student der Jurisprudenz in der angesehenen Universität Jena immatrikuliert, aber mit diesem Fach eher beiläufig befaßt, lauscht er hingerissen den historischen Vorlesungen Friedrich Schillers, des nur dreizehn Jahre älteren Vorbilds, dessen erste dramatische Werke bis zum »Don Karlos« er gelesen hat und bewundert.

Die Briefe aus diesem ersten Studienjahr bezeugen Hardenbergs enthusiastische Verehrung, man kann auch sagen: Vergötterung des berühmten Dichters wie auch des heroisch um seine Gesundheit ringenden Schwerkranken; zugleich sind sie aber auch das Dokument einer Sprache gewordenen Selbstfindung.

Nach dem Jurastudium in Jena, Leipzig und Wittenberg überzeugt ihn der Vater von Sinn und Notwendigkeit einer gründlichen Verwaltungs-Ausbildung und -Praxis. Die überraschendste, schönste, geheimnisvollste Begegnung seines Lebens, die über seinen Tod hinaus weiterwirken wird, widerfährt ihm am 17. November 1794, wo eine Viertelstunde ausreicht, daß er dem bezaubernden Gesicht der jungen Sophie von Kühn verfällt, die an diesem Tage genau zwölf Jahre und acht Monate alt ist, seine Zuneigung bald erwidert und sich zwei Tage vor ihrem 13. Geburtstag mit ihm verlobt.

Zugleich zeigt sich, daß Friedrich von Hardenbergs ganze Lebenswirklichkeit in dieser euphorischen Zeit auch noch von anderen Seiten her reich und vielfältig bestimmt wird: Denn er versinkt nicht, blind für alles andere, in dieser Liebe. Gleichzeitig mit ihr entfalten sich gewichtige Phänomene, Tätigkeiten, Bestrebungen, Innovationen samt den entsprechenden Personen: Neue poetische Produktionen, vor allem Lyrik; die Vertiefung des Anfang 1792 begonnenen Verhältnisses zu Friedrich Schlegel und damit das Fortschreiten in frühromantischen Spuren, auch zur Dichtungstheorie; die intensive Auseinandersetzung mit dem schwierigen Philosophen Johann Gottlieb Fichte, den er im März 1795 persönlich kennenlernt; schließlich der Eintritt in die kursächsische Salinenwirtschaft als erste Berufsstellung.

Diesen Schritt vollzieht Hardenberg jedoch erst Anfang 1796 nach einem schlimmen Schicksalsschlag: Sophie erkrankt an einer schmerzhaften Leberentzündung; das von ihr mit größter Tapferkeit ertragene Leiden erweist sich als unheilbar. Der über sechzehn Monate währende Kampf des außergewöhnlichen, seelenstarken Mädchens gegen eine Krankheit, vor der die Ärzte die Waffen strecken müssen, endet zwei Tage nach Sophies 15. Geburtstag. Während ihrer langen Leidenszeit gelingt es Hardenberg, am Mit-Leiden nicht selbst zu zerbrechen und seine Tätigkeiten fortzusetzen; neun Tage vor ihrem Tod aber weicht er aus: »Es war über meine Kräfte, die entsetzlichen Kämpfe der blühenden Jugend, die fürchterlichen Beängstigungen des himmlischen Geschöpfes ohnmächtig mitanzusehen.«

In der Trauerzeit nach Sophies Tod führt er mit dem »Journal« ein schonungsloses Tagebuch, in dem er die Fragen des Todes umkreist und seinen »Entschluß« ihr nachzusterben formuliert. Ab hier ist sein ganzes dichterisches Hauptwerk geprägt von der Vision des Todes als Tor zum ewigen Leben.

Auch in den düstersten Tagen, da die Geliebte stirbt, hat Novalis niemals die Sprache verloren. Und weder vor noch nach dem schwersten Verlust in seinem selbst noch jungen Leben hat er je erwogen, als freier Schriftsteller zu arbeiten wie seine Romantiker-Freunde Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck. Das Montanwissenschafts-Studium, das Hardenberg in der unglaublich kurzen Zeit von knapp anderthalb Jahren mit Bestnoten absolviert, erlegt ihm eine riesige Arbeitslast auf, unter anderem durch die Praktika unter Tage und die breite naturwissenschaftliche Stoff-Bewältigung bis zur modernsten Chemie, zur Mineralogie und zur theoretischen und praktischen Geognostik.

Um so erstaunlicher, daß er zur gleichen Zeit seine literarische Laufbahn mit zwei größeren Publikationen unter dem nun stets verwendeten Namen »Novalis« beginnt: Den Brüdern Schlegel übergibt er die Fragmentensammlung »Vermischte Bemerkungen«, die um Ostern 1798 unter dem Titel »Blüthenstaub« im ersten Heft ihrer neu gegründeten Zeitschrift »Athenaeum« erscheint; im Sommer desselben Jahres veröffentlichen die »Jahrbücher der Preußischen Monarchie unter der Regierung von Friedrich Wilhelm III.« auf Vermittlung Friedrich Schlegels die zweite Fragmentensammlung »Glauben und Liebe oder Der König und die Königin«, die beträchtliches Aufsehen erregt.

Von diesem Zeitpunkt an steht die Persönlichkeits- und Schaffens-Struktur von Novalis fest: Er ist zugleich Dichter und Techniker, zugleich Philosoph und Naturwissenschaftler. Das wird ein Jahr nach den beiden ersten Publikationen unvermittelt deutlich: Nach glänzend bestandenem Examen kehrt er aus Freiberg nach Weißenfels zurück, wo er Mitglied des Salinendirektoriums wird. Parallel zur beruflichen Karriere entstehen bis zu seinem frühen Tod 1801 die dichterischen Hauptwerke: Die »Geistlichen Lieder« und die »Hymnen an die Nacht«, der Essay »Die Christenheit oder Europa«, die Romane »Die Lehrlinge zu Saïs« und »Heinrich von Ofterdingen« gleichzeitig mit den sogenannten »Salinen-Schriften«, mehrere hundert Seiten Beschreibungen, Schilderungen, Berichte, Gutachten, Protokolle, Gesuche, Appelle, Forderungen und Warnungen, Texte, die in ihren besten Stücken Modelle nichtfiktionaler Poesie darstellen.

Im Jahr 1930 gab die Familie von Hardenberg alle in ihrem Besitz befindlichen veröffentlichten und unveröffentlichten Novalis-Handschriften zur Versteigerung frei. Die Berliner Staatsbibliothek erwarb den Jugendnachlaß und die Salinenschriften; sie wurden im Zweiten Weltkrieg ausgelagert und galten nach 1945 als für immer verloren. 1983 aber geschah das Unvorhersehbare: Nach langer Suche fand der Mitherausgeber der Historisch-kritischen Ausgabe Hans-Joachim Mähl beide Handschriften-Konvolute so gut wie vollständig und unversehrt in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau wieder. Der Fund hat in der Tat einen symbolischen Charakter, umspannt er doch die frühesten und die spätesten Schriften des Dichters.

Die Krakauer Wiederentdeckung erforderte und ermöglichte eine umfangreiche und wertvolle Erweiterung der Historisch-kritischen Ausgabe, die bereits vor dem Fund in zwei Bänden unter dem etwas vereinfachenden Titel »Das philosophische Werk« Hunderte von Seiten mit thematisch enzyklopädischen Aufzeichnungen, beginnend mit den »Fichte-Studien« über »Das Allgemeine Brouillon« bis zu den »Fragmenten und Studien 1799—1800«, aufgenommen hatte.

Oberwiederstedt, der Geburtsort, heute mit Novalis-Museum und Forschungsstätte für Frühromantik im Familien-Schloß, und Weißenfels mit Novalis-Schätzen im Stadtmuseum/Schloß Neu-Augustusburg, mit dem Literaturkreis Novalis und einer Dauerausstellung im Wohn- und Sterbehaus des Dichters sind die wichtigsten Orte im Leben Hardenberg. Seine Studien-Städte waren Jena, Leipzig, Wittenberg und Freiberg, oft besucht wurde Dresden. Wichtig die Salinenstandorte Artern, Kösen und Dürrenberg, die Bauten der beiden letzteren sind erhalten. Tennstedt und Grüningen gehören zu Kursachsens Thüringischem Kreis. Punktuell erscheinen Giebichenstein bei Halle, Schulpforta, wo Hardenbergs Vater, sein Bruder Erasmus und Fichte lernten, Gut Schlöben bei Jena und Siebeneichen bei Meißen. Die »entlegensten« Plätze sind Schloß Lucklum im Braunschweigischen, wo der herrschsüchtige Onkel Friedrich Wilhelm von Hardenberg residierte, und Teplitz, einziger Auslandsort von Novalis mit einmaligem Kuraufenthalt.

Die Aufzählung macht Fundamentales deutlich: Der Lebens-, Arbeits- und Schaffens-Raum Hardenbergs ist regional und lokal klar eingegrenzt, ohne weite Reisen, ohne Besuche und Aufenthalte in Metropolen, ohne Erfahrungen mit nicht-deutschen Sprachgebieten — bei übrigens exzellenten eigenen Fähigkeiten im Griechischen, Lateinischen und Französischen. Kontakte zum Landesherrn und zur Regierung entstehen nur durch die Berufsarbeit und ausschließlich in Kursachsen. Zur Regionalität und zur festen Verankerung im Lokalen gehört unbedingt die Hingabe an die Familie in einem sehr persönlichen Sinne, vor allem als liebevolle Fürsorge für die Geschwister.

Es gehört zur ganz eigenen Spannung dieses besonderen Lebens, daß Novalis seiner Regionalität eine unbegrenzt weite, alle Schranken überschreitende, wahrhaft außergewöhnliche geistig-künstlerische Universalität gegenüberstellt. Inmitten deutscher Klein- und Mittelstädte errichtet Novalis Denk- und Dichtungs-Gebäude mit Welthorizont; in der Beschäftigung mit dem holländischen Philosophen Hemsterhuis stellt er der privaten lokalen Familie eine seiner feinsten Wortschöpfungen zur Seite: »Die Poesie bildet die schöne Gesellschaft oder das innere Ganze — die Weltfamilie — die schöne Haushaltung des Universi.« Die Poesie, die er schuf, hob ihn, freilich erst postum, in die Weltfamilie derer, denen für ihr Werk die höchste Ehrung zuteil wird: Unsterblichkeit.

Erstes Kapitel

Das Salinenamt in Weißenfels — Streng-religiöser Vater, sanfte Mutter — Krankheit, Genesung, Hochbegabung — Moderner Unterricht in alten Sprachen — Porträts

Am 9. November 1784 bewirbt sich der 46jährige Gutsherr, Jurist und Berghauptmann Heinrich Ulrich Erasmus Freiherr von Hardenberg aus Oberwiederstedt, Grafschaft Mansfeld, in einem Handschreiben an den Kurfürsten Friedrich August III. von Sachsen um die »Gnädigste Conferirung des vacanten Salzdirectoriats« der Salinen Artern, Kösen und Dürrenberg. Bereits am 18. Dezember erhält er positiven Bescheid. Hardenberg, der Vater des künftigen Dichters Novalis, der in Artern bereits Salinenerfahrungen gemacht hat, wird Nachfolger des Kammerherrn Leopold Grafen von Beust als Direktor des 1763, nach Ende des Siebenjährigen Krieges begründeten kursächsischen Salinenamtes. Er erhält ein festes Jahresgehalt von 650 Talern, dazu ein jährliches Deputat von 24 Klaftern Holz und 2 Pfennigen Einzel-Nebeneinnahmen für maximal 100.000 Stück verkauften Salzes; zugleich wird er verpflichtet, »seinen beständigen Aufenthalt in der Nähe von Dürrenberg zu nehmen.«

Das Gut Oberwiederstedt, mit seinem kleinen Schloß im Tal des Flüßchens Wipper am südlichen Harzrand gelegen, konnte die vielköpfige Familie — das Ehepaar Hardenberg hatte 1784 bereits drei Töchter und vier Söhne — nicht dauerhaft ernähren. Ohnehin hatte der Freiherr als jüngster von vier Brüdern die Landwirtschaft nur übernommen, weil die drei älteren kein Interesse dafür zeigten.

Die Hardenbergs sind ein uraltes, seit dem 12. Jahrhundert bezeugtes Adelsgeschlecht. Ihr Stammsitz war die seit dem späten 17. Jahrhundert unbewohnbare, als Ruine heute noch erhaltene Burg Hardenberg bei Nörten nördlich von Göttingen. 1694 hatte Georg Anton von Hardenberg, der Urgroßvater des Dichters, das säkularisierte Wiederstedter Marienkloster für Nonnen bezogen. Der künftige Salinendirektor soll übrigens 1779 jegliche Bemühung um den Grafentitel verworfen haben: Der alte Freiherr sei ihm lieber als der neugebackene Graf.

Adelsstolz, so scheint es, konnte in mancherlei Gestalt auftreten; nach außen glänzend wie sein zehn Jahre älterer Bruder Gottlob Friedrich Wilhelm zeigte sich der angehende Salinendirektor zwar nie, aber er übte eine strenge und starrsinnige, zuweilen tyrannische Herrschaft über seine engere Familie aus. 1738 geboren, von 1752 bis 1756 in der berühmten, durch Moritz von Sachsen begründeten Fürstenschule Schulpforta ausgebildet, wo seine lateinische Valediktionsarbeit mit der Unterschrift »Henricus Ulricus Erasmus ab Hardenberg, Mansfeld« aufbewahrt ist, studierte er Rechte und Montanwissenschaft in Göttingen, war Praktikant der Mansfelder Silber- und Kupferbergwerke, danach Auditor an der Hofkanzlei Hannover und 1761—63 Offizier der Hannoverschen Legion im preußischen Kriegsdienst, bevor er das ererbte Landgut übernahm.

Seit 1764 führte er eine kinderlose Ehe mit Caroline Friederike von Olshausen; Sophie von Hardenberg, seine Enkelin, schreibt dazu 1873 in ihrem Buch »Friedrich von Hardenberg (genannt Novalis). Eine Nachlese aus den Quellen des Familienarchivs«: »Er liebte seine Gattin über Alles und die kluge Frau übte einen sehr günstigen sänftigenden Einfluß auf sein lebhaftes leidenschaftliches Temperament; ihr Tod ward der Wendepunkt seines Lebens.« Sie starb 1769 in einer Blatternepidemie. Ihr Tod stürzte den Witwer in eine schwere seelisch-moralische Krise, die sich in bitteren Selbstanklagen und tiefer Zerknirschung niederschlug und zu einer dichten Annäherung an Spenersche und Zinzendorfsche Religiosität führte. »Nach einem wüsten wilden Leben«, so überliefert es ein einzelnes autobiographisches Blatt, »erwachte ich im Ernst 1769 durch eine heftige Erschütterung bei dem Tode meiner Frau, u. empfand eine heftige Unruhe meines Herzens, über den Zustand meines Herzens. Die fromme Erziehung meiner seeligen Mutter, hatte mir principia eingeflös’t, welche mir schon in meinen zarten Jahren starke Eindrücke in meiner Seele gemacht, u. diese hatte mir der langmüthige Gott auch in dem Wust von Lastern erhalten, welchen ich mich so lange überlassen.«Hardenberg deutete den Tod seiner Frau als Strafe Gottes für sein Lasterleben und versprach, sich zu bessern. Seine Enkelin Sophie, die Tochter von Novalis’ jüngerem Bruder Anton, wird ein Jahrhundert später in ihrem Buch »Nachlese« diese radikale Selbstanklage, wohl aus Scham für ihren Großvater, an mehreren Schlüsselstellen abmildern. Der schloß am 11. Februar 1770 ein schriftliches Bündnis mit Gott, das zwar absurde Züge trägt, dessen subjektive, emotionale Aufrichtigkeit aber nicht anzuzweifeln ist: »Ich weiß es wohl«, schrieb der Bekenner, der das Bündnis zwischen 1772 und 1778 achtmal schriftlich erneuerte, »wie unwürdig ein solcher sündiger Wurm ist, vor der Allerheiligsten Majestät des Himmels, dem König aller Könige, und Herrn aller Herren zu erscheinen, besonders bey einer solchen Gelegenheit, wie diese ist, da ich mit Dir eben einen förmlichen Bund errichten will.«

Auf der einen Seite steht also die tiefe Demut des Bittenden vor Gott; auf der anderen Seite erscheint ein dem Schreibenden womöglich gar nicht bewußter Hochmut, ein auf Du-und-Du-Stehen mit Gott, eine per Handschlag bekräftigte Gegenseitigkeit, wo beide Paktierende gleichermaßen in die Pflicht genommen werden.

Inmitten der zerreißenden Gewissenskonflikte ging der Vater eine zweite Ehe ein. Er hatte Auguste Bernhardine von Böltzig im Geraer Haus seiner Mutter kennengelernt, wo man sie verarmt aufgenommen hatte. Auguste von Hardenberg, Jahrgang 1749, gebar dem Gatten elf Kinder. Sie stehen hier mit Geburts- und Sterbejahren; mit Ausnahme des berühmten Sohnes sind nur die Rufnamen der Geschwister verzeichnet. Es sind Caroline (1771—1801), Georg Friedrich Philipp/Novalis (1772—1801), Erasmus (1774—1797), Karl (1776—1818), Sidonie (1779—1801), Anton (1781—1825), Auguste (1783—1804), Bernhard (1787—1800), Hans (1790—1814), Amalie (1793—1813) und Christoph (1794—1816). Die Mutter brachte also den jüngsten Sohn mit 45 Jahren zur Welt, nur drei Söhne überlebten den 1814 verstorbenen Vater, und nur Anton starb nach der 1818 heimgegangenen Mutter. Mit Ausnahme von Bernhard erreichten zwar alle das Erwachsenenalter, starben allerdings jung, zwischen 20- und 34jährig.

Die wenigen erhaltenen Abbildungen von Novalis’ Mutter, auf denen sich ein feines, stilles, zurückhaltendes Gesicht unter Ponyfrisur und verhüllendem Kopfschmuck zeigt, lassen von den Strapazen vielfacher Mutterschaft nicht unbedingt etwas erkennen. Eine Ausnahme bildet ihr abgehärmtes, trauriges Antlitz auf einem Gemälde mit Enkel Erasmus, Carolines Sohn, auf dem Schoß. Und man weiß auch, daß die Freifrau nach der vorzeitigen Geburt der Tochter Auguste in Depressionen abstürzte, so daß für längere Zeit Caroline den Haushalt führen mußte. Immer wieder ist vermutet worden, daß der herrische Ehemann eine Mitschuld daran trug, das ist aber nirgends belegt und auch wenig wahrscheinlich: Welchen Grund sollte der Patriarch gehabt haben, eine fromme, gehorsame, ihn bewundernde und hingebungsvolle Frau zu demütigen?

Völlig sicher ist allerdings, daß die aus Schuld, Scham, Selbstbestrafung und der Überzeugung von der menschlichen Sündhaftigkeit entsprungene Herrschaft des Dichter-Vaters die gesamte Familie traf. Vielleicht entsprach die asketische Härte, der er verfallen war und mit der er auch seine Kinder zu erziehen suchte, gar nicht seiner innersten Natur: Das Porträt, das der geniale Menschen-Maler Anton Graff von ihm schuf, zeigt einen eher weichen, furchtsamen, verlegenen und gar nicht starken Mann.

Infolge der väterlichen Strenge war die Bindung der Kinder an die Mutter um so inniger und zärtlicher. Das galt ganz besonders für »Fritz« — so hieß der älteste Sohn und Bruder in der Familie, so unterzeichnete er in Briefen auch selbst —, der am 2. Mai 1772 in Oberwiederstedt zur Welt gekommen war. Im Kirchenbuch von Oberwiederstedt steht:

Georg Philipp Friedrich, des Hochwohlgeb. Herrn, Hl. Heinr. Erasms Ulrich von Hardenberg, Hauptmann unter der Cavallerie Sr. Königl. Majt. von Großbritannien, Inhabers des hies. Amts Oberwiederstedt,wie auch Erb, Lehns und Gerichtsherr auf Mockritz, Döschütz, Jesnitz, Schlöben, Rabiß u. Möckern mit deßen Fr. Gemahlin, Frauen Bernhardina Augusta gebohrene von Bölzig erzeugtes Söhnlein ist geboren d. 2. May früh um 10 Uhr, getauft d. 3. ejusd.

Die frühen Kinderjahre des Söhnleins waren von Zartheit, ja: Schwächlichkeit bestimmt, wenn auch nicht eigentlich von Krankheit. Deshalb hing die Mutter besonders an ihm; für den Vater wird sein erster Sohn eher enttäuschend gewesen sein. Die Mutter schrieb für ihn Gedichte — »für« im doppelten Sinn — : Einerseits richtete Auguste von Hardenberg wohl gegen 1780 ein Gedicht »An den kleinen Fritz zu seinem Geburtstag, worin der Sohn in einem Traum den schwachen alten Eltern als musterhafter junger Mann einen Berg hinaufhilft; andererseits verfaßte die Mutter Gedichte wie »Der kleine Fritz an seinen Vater«, von dem dieser glauben sollte, der Sohn habe ihm huldigen wollen — die Mutter »bestach« den Vater sozusagen zugunsten des Sohnes. In ihren schlichten Texten läßt Auguste von Hardenberg liebevoll-naiv ihren Liebling auch schon als gefühlten Musensohn erscheinen.

Zeugnisse aus den ersten Lebensjahren, biographische oder gar autobiographische Dokumente fehlen fast ganz. Das hängt auch mit der ländlichen Abgeschiedenheit zusammen: An die sechzig kleine strohgedeckte Häuser, eine unbefestigte Straße, die bei Regenfällen verschlammte, ein kleiner Park mit Teich und dicken Mauern, eine Lindenallee, die der Gutsherr zu seiner Hochzeit hatte pflanzen lassen, ein Renaissance-Turm mit Wendeltreppe, eine niedrige, wenn auch ausgedehnte Eingangshalle prägten das unscheinbare Orts- und Schloßbild.

Allerdings war die Gegend um Oberwiederstedt von alters her beherrscht durch den Mansfelder Bergbau, der seit dem Mittelalter ganz Europa mit Kupfer, Silber und Zink versorgte. Das war das Arbeitsfeld, das dem Berghauptmann und späteren Salinendirektor näher lag und wichtiger erschien als Ackerbau und Viehzucht. Fritz lernte schon früh Bergbau und Bergleute kennen und spielte mit ihren Kindern. Wie viel von der Welt draußen nach Oberwiederstedt drang, ist schwer abzuschätzen. Der Gutsherr unterband jedenfalls, wo es nur anging, Geselligkeiten und Kontakte zu anderen Familien und Orten der Umgebung.

Achtjährig erkrankte der Junge lebensgefährlich an der Ruhr, mußte monatelang das Bett hüten und schmerzhafte Behandlungen aushalten. Aber er überwand die Krankheit schließlich und erlebte eine ans Wunderbare grenzende Genesung und Befreiung. Er erstarkte körperlich und wurde das geistig-künstlerische Oberhaupt und Vorbild der Geschwister. Die Sprachen flogen ihm zu, Latein und Griechisch, später das Französische, das er bald glänzend beherrschte. Er leitete und inspirierte die Spiele der nächstfolgenden Brüder, wovon Karl später, nach Fritz’ Tod, berichtet: »So ist es vielleicht bemerkenswerth, daß die 3 Brüder« — gemeint sind Fritz, Erasmus und der Erzähler selbst — »nach seiner Angabe folgendes Spiel sehr liebten; Jeder war ein Genius des Himmels, des Wassers, oder der Erde, und alle Sonntagabend erzählte Nov. seinen Brüdern neue Begebenheiten aus ihren Reichen, die er auf das anmuthigste und mannigfaltigste zu ergänzen wußte, und das Spiel wurde 3—4 Jahr ununterbrochen fortgesetzt.« Der schlichte Rückblick des trauernden Bruders, der selbst unter dem Pseudonym Rostorf Texte publizierte und 1799 beim berühmten Jenaer Frühromantiker-Treffen am Rande mitwirkte, verweist auf zwei hohe, frühzeitig hervortretende Begabungen des Dichters: seine exzessive Phantasie und die schon zu Kinderzeiten blühende Sprachfähigkeit. Dahinter stand selbstverständlich ein immenses Lese-Pensum, zum Beispiel von Geschichtswerken sowie von Mythen und Märchen, denen seine besondere Zuneigung galt.

Im übrigen lagen, da der Vater oft beruflich reiste, Bildung und Erziehung hauptsächlich in den Händen der Mutter. In späteren Kinderjahren gab es auch die damals üblichen Hofmeister, Hauslehrer also; 1781/82 war das der zwanzigjährige Carl Christian Erhard Schmid, Philosoph und Theologe, enger Freund Schillers, den er 1790 traute, und ab 1793 Professor der Philosophie in Jena. Er schrieb 1805 rückblickend über seinen Schüler: »Zuerst lernte ich den schönen, leben- und geistvollen, für Alles regen und Aller Herzen gewinnenden Knaben in seinem zehnten Lebensjahr kennen. Es war von meiner Seite der erste Versuch eines Jünglings im Geschäfte der Erziehung, und ich will es offen bekennen, daß ich der zweckmäßigen Leitung eines so empfänglichen, selbsttätigen, originellen und Phantasiereichen Knaben mich nicht gewachsen fand; doch war es vielleicht das mir einzig mögliche negative Verdienst, welches ich mir dadurch erwarb, daß ich mehr den Begleiter, den aufmerksamen Beobachter, den unmerklichen Leiter und Beschützer vor physischer und sittlicher Gefahr, als den bestimmten Lehrer und strengen Führer meines Zöglings machte.«

Schmid war auch Reisebegleiter, als Vater und Sohn den Patenonkel des Jungen besuchten, Gottlob Friedrich Wilhelm von Hardenberg (1728—1800), im Siebenjährigen Krieg Adjutant des Herzogs Ferdinand von Braunschweig, seit 1775 Statthalter und Landkomtur des Deutschen Ordens der Ballei Sachsen, eines Deutschritter-Ordens in Schloß Lucklum bei Braunschweig. Fritz wird bei seinem dortigen Aufenthalt, dessen Zeitpunkt und Dauer nicht exakt zu klären sind, nichts Sicht-, Hör- und Deutbares entgangen sein: Den Onkel »Großkreuz«, den er bisher nur aus Wiederstedt, ihrer beider Heimat kannte, erlebte er nun in seinem damit verglichen prunkvollen Schloß inmitten seiner Ordensgefährten auf hochlehnigen Stühlen im Rittersaal, an dessen Wänden dicht an dicht Ritter-Porträts hingen. Das Gesamtbild des Neffen vom Onkel ist komplex und zwiespältig. Fast zwei Jahrzehnte später wird Novalis in einem stark autobiographischen Brief an seinen hochadligen Gönner und Vorgesetzten Oppel eine Doppelcharakteristik von Vater und Onkel zeichnen, konfrontierend und fair, und dabei den zeitweilig massiven Einfluß des Landkomturs auf sich als Jungen schildern:

Meines Onkels Charakter ist unerschütterliche Rechtschaffenheit und die strengste Anhänglichkeit an seine Grundsätze. Sein Verstand hat die Cultur eines alten Weltmannes, aber auch dessen Eingeschränktheit. Von jeher verzog ihn das Glück, Dürftigkeit fühlte er nie … Er gab mir von Jugend auf Gelegenheit, meine Eitelkeit zu befriedigen und versprach sich von meiner Lebhaftigkeit einen glänzenden Erfolg. Er schmeichelte mir mit den angenehmsten Hoffnungen eine Rolle in der Welt zu spielen und gewiß hätt er mich auf einer solchen Laufbahn auf das wärmste unterstüzt. So ergeben mein Vater auch übrigens meinem Onkel war, so ähnlich auch in manchen Gesinnungen, so wich er doch in diesem Stück sehr von ihm ab und brachte uns durch Beyspiel und Reden eine Verachtung des äußren Glanzes bei. Er ermahnte uns zum Fleis und zur Genügsamkeit und äußerte seine Freude, wenn wir unserm Herzen folgten, ohne Rücksicht auf die Meynung der Welt zu nehmen. Er pries uns das Glück einer stillen, häuslichen Lage und bat uns oft nie aus Rücksichten des Interresses und der Ambition zu handeln und zu wählen. Mein Onkel hieng an den Vorzügen des Standes und der Geburt und mein Vater lächelte über beides.

Der Brief wird heute gewöhnlich auf Ende Januar 1800 datiert; der Onkel starb, wohl überraschend und für den Vater schockierend, am 4. März. Da waren die Versuche des Herrn auf Lucklum, den Neffen zum glänzend-erfolgreichen Weltmann zu »erziehen«, längst beendet. Es gibt sogar eine Absage des Landkomturs an solche Pläne, die fast einer Warnung an Fritz gleichkommt — überaus klar, obwohl nur Bruchstück eines Briefes an den Bruder: »Es ist mir lieb, daß sich Fritz wieder findet und in’s Gleis kömmt, aus welchem ich ihn gewiß nicht wieder herausnehmen will. Mein Haus ist für seinen jungen Kopf zu hoch gespannt, er wird zu sehr verwöhnt, und ich sehe zu viele fremde Leute und kann nicht verhindern, daß an meinem Tische viel gesprochen wird, was ihm nicht dienlich und heilsam ist.« Vermutetes Schreibjahr ist 1787; das beträfe also den Fünfzehnjährigen.

Da aus dieser Zeit keine persönlichen Notate erhalten sind, wird hier wieder ein späteres Dokument herangezogen: In einem Brief an den Vater vom 9. Februar 1793, wo es um Friedrichs absurden Wunsch geht, Offizier zu werden, wird der 21jährige klug und delikat aufarbeiten und formulieren, was er in der Kindheit empfunden hat: »So freundschaftlich und warm Du zuweilen bist, so eine hinreißende Geste Du so oft äußerst, so hast Du doch auch sehr viel Augenblicke, wo man sich Dir nur mit schüchterner Furchtsamkeit nähern kann und wo Dein feuriger Charakter Dich zu einer Theilnahme treibt, die zwar Ehrfurcht aber nicht freyes, unbefangnes Zutraun gebietet. Nicht gerade Deine Hitze mein ich sondern auch jene tiefe, erschütternde Empfindung, die Dich ergreift, wenn Du auch in einer anscheinenden Ruhe und Kälte bist. Und dis fürchte ich am meisten. Nichts ist mir unerträglicher und peinlicher als Dich kalt und verschlossen zu sehn«, schreibt der Student aus Leipzig. In den überlieferten Dokumenten findet sich keine Antwort, keine Zurückweisung, kein Übelnehmen des kritisierten Vaters: Er hat das Charakterbild, das der Sohn von ihm zeichnet, offenbar hingenommen.

Der Vorwurf der Kälte drückt wohl auch den zunehmenden Widerstand des Heranwachsenden gegen den starren Glaubensrigorismus des Vaters aus. Von Jahr zu Jahr festigte sich bei Fritz die Abwehr dagegen, und es bereitete sich bei ihm der Ausbruch aus jeglichem religiösen Dogmatismus vor.

Zurück ins Jahr 1785: Die Anordnung des Kurfürsten, als Salinendirektor seinen beständigen Aufenthalt in der Nähe von Dürrenberg zu nehmen, befolgte der Freiherr mit dem Umzug ins 14 Kilometer entfernte Weißenfels. Das Saale-Städtchen, an der Pforte nach Thüringen gelegen und nach dem kursächsischen Städteverzeichnis immerhin als Mittelstadt eingeordnet, hatte entschieden stärkere landschaftliche Reize als der näher an Dürrenberg gelegene Flachland-Ort Merseburg, der wohl ebenfalls zur Wahl stand. Die Weißenfelser Hügellandschaft mit blühenden Weinbergen auf beiden Ufern war auf dem rechten, dem Altstadtufer oben teilweise bewaldet und fiel dort, vom Schloß gekrönt, felsig-steil ab zum Ort und ins Flußtal; vielleicht erinnerte Weißenfels die Hardenbergs an die heimatliche Vorharz-Natur. Das kleine Dürrenberg, Ort der neuesten Saline, wurde als Hauptsitz der Salinenverwaltung, als Wohnsitz der noch wachsenden Familie, als Ort von Schule, Kirche, Kultur wohl gar nicht erwogen.

Der Sprung vom abgelegenen, wenn auch bergbaunahen Heimatdorf zur »Mittelstadt« war zweifellos beträchtlich, besonders auch für die Kinder. Die Stadt, die Karl von Hardenberg einmal witzelnd als »Mons Blanc« bezeichnete, hatte um die 4000 Einwohner — und schon bessere Tage erlebt: Das kleine Sekundogenitur-Herzogtum Sachsen-Weißenfels hatte seit 1656/57 unter fünf Herzögen immerhin 90 Jahre bestanden, länger als Sachsen-Zeitz (bis 1718) und Sachsen-Merseburg (bis 1738). Es fiel 1746, nach dem Tod von Herzog Johann Adolf II., zurück ans kurfürstliche Zentrum in Dresden, zum Nachteil der ehemaligen Residenz — tatsächlich hat ein nicht geringer Teil der Bevölkerung beruflich-sozial vom Hofe gelebt, wo nicht selten Verschwendung und Prunksucht herrschten. Das zeigt auch das überdimensional große, klotzige Schloß Neu-Augustusburg, das teuer, aber jahrzehntelang auch ein bedeutendes Kunst- und Kulturzentrum war. Davon zeugen, als Meisterwerke barocker Baukunst, die 1682 eingeweihte wunderbare Schloßkapelle und das 1685 eröffnete »große Theatrum«, der Komödiensaal im Südflügel, eine der ersten Bühnen, die deutsche Opern aufführte. Davon zeugten herausragende Künstler, die in Weißenfels lebten oder auftraten: Der Dichter, Komponist und Sänger Johann Beer, der seit 1680 in Weißenfels wohnte und am 6. März 1700 durch einen unglücklichen Schuß beim Schützenfest ums Leben kam; die mutige und großartige Patronin und Schauspielerin Caroline Friederike Neuberin, die seit 1717 mehrmals und 1727 mit eigener Truppe im Schloß gastierte; und Johann Sebastian Bach, der 1713, als er vermutlich dem jagdliebenden Herzog Christian die ihm gewidmete Kantate »Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd« uraufführte, und 1729 wiederum in Weißenfels gastierte. An den Außenmauern des Schlosses verzeichnen heute noch Inschriften die Namen der großen Künstler.

In den schriftlichen Äußerungen von Novalis fehlen sie; die Glanzlichter des frühen 18. Jahrhunderts scheinen zur Spätzeit erloschen, wozu die katastrophalen deutschen Verhältnisse beitrugen: Schwer gelitten hat Weißenfels im Siebenjährigen Krieg. Ständig wechselnde Besatzungstruppen, Kontributionen, Geld- und Naturalienforderungen, Plünderungen, Geiselnahmen und zeitweilig auch Kampfhandlungen beschädigten die Stadt, so im November 1757 vor der Schlacht bei Roßbach, als die später geschlagenen Franzosen die hölzerne Saalebrücke abbrannten und die Stadt von Norden her beschossen, ehe sie von den Preußen unter General von Seydlitz samt der Reichsarmee besiegt wurden. Erst 1780 wurde eine neue Brücke freigegeben, so tief saßen die Wunden; 23 Jahre lang gab es nur Fährverkehr. Schließlich dezimierte 1776 ein Großfeuer die Innenstadt, das im Restaurant »Nelkenbusch« ausbrach und 54 Häuser sowie 6 Scheunen vernichtete. Weißenfels war wohl eher still und unansehnlich, als die Hardenbergs dort einzogen; die künstlerischen Hochzeiten lagen weit zurück.

So erklärt sich eine der berühmtesten bruchstückhaften Briefäußerungen des jungen Mannes, der seine Schulzeit beenden und den Studienbeginn vorbereiten will: »Sie leben«, schreibt er im Februar 1790 an den befreundeten Jurastudenten Christian Friedrich Brachmann nach Leipzig, »in Pleis-Athen, aber wir an den Ufern der Saale leben wie in Boeotien fern von den Musen und ihren Tempeln.« Böotien, eine griechische Landschaft nordwestlich von Attika, und ihre Bewohner standen im Altertum für »Blödheit, Derbheit und Schwerfälligkeit« — Fritz scheint da freilich ungerecht über Weißenfels zu urteilen, allerdings fragt man sich, ob die immer wieder angeführte Nähe von Leipzig, Jena und Weimar, dreier künstlerisch-wissenschaftlicher Zentren also, wirklich inspirierend für die Hardenbergschen Junioren und ihre Freunde waren, denn sie mußten ja doch stundenlange Fahrten dorthin in Kauf nehmen — es gibt auch keine Berichte über Theater- oder Konzertbesuche und andere kulturelle Unternehmungen der Weißenfelser Jung-Intellektuellen in den genannten Musen- und Geistes-Zentren.

Glänzend getroffen hat es die Familie von Hardenberg in bezug auf Wohnung. Wann und wo wer genau 1785 einzog, ist unklar: Der Salinendirektor könnte allein vorausgezogen sein; die Familie oder Teile von ihr könnten ein Zwischen-Quartier bezogen haben — der große Kauf-Akt passierte erst am 23. Januar 1786: Vater Hardenberg schloß an diesem Tag einen Kaufvertrag über 1625 Reichstaler für ein geräumiges, äußerlich schmuckloses achtachsiges Hauptgebäude mit einem hufeisenförmig angelegten Hofensemble samt einem Lustgarten mit Pavillon; die Gebäude stehen heute noch äußerlich unverändert. Die Wohnräume der Familie und des Personals sowie das Salinenamt waren offenbar mühelos im Haus Clostergasse 24 unterzubringen.

Nach dem Vertrag von 1786 »umfaßte der Kaufgegenstand ein amtssässiges Hauß, Hoff, Scheune, Ställe, Seiten- und Hintergebäude, Garten und Gartenhauß nebst Stande in der Kloster Kirche mit allem was darinnen Wand, Band, Nied, Clammer, Nagel und Wurzelfeste ist.« Hinzu kam die Freiheit, »fremde Weine u. Biere zum Tischtrunke ohne Entrichtung einiger Niederlag-Gleits u. Spundgeldes, einzulegen sowohl auch Landweine, welche in der Stadt Weißenfels Weichbilde erwachsen an sich zu handeln und zu verzapfen.« Als »amtssässiges Hauß« oder »Freihaus« unterstand das Gebäude keiner städtischen Gerichtsbarkeit und war von allen »Diensten, Abgaben und Lasten« sowie jeglicher Einquartierung befreit; auch mußte der Hauseigentümer nicht das Weißenfelser Bürgerrecht erwerben.

Das frühbarocke Haus war 1680 anstelle einer alten Scheune des früheren St. Klarenklosters erbaut worden. 1694 erwarb Johann Adolf I., der zweite Herzog von Sachsen-Weißenfels, das Grundstück für seine Gemahlin Christiane Wilhelmine geborene von Bünau. Um diese Zeit entstand wohl der Lustgarten mit dem Rokoko-Pavillon, der heute in intimem Rahmen Autorenlesungen, Fachvorträgen, Konzerten und ähnlichen Veranstaltungen dient.

Die Rolle der Adelsfamilie Hardenberg in der Stadt war zunächst durch die Verlegung eines wichtigen kursächsischen Wirtschafts- und Technikamtes dorthin bestimmt. Der Weißenfelser Novalis-Forscher Ingo Bach spricht mit Recht von der Standortwahl als einem kleinen Investitionsvorhaben, das mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze verbunden war.

Wir greifen voraus ins Todesjahr des Dichters 1801, um das Wirken der väterlichen Berufsarbeit festzumachen. Bald nach Beginn des neuen Jahrhunderts erschien bei dem Novalis wohlvertrauten Buchdrucker, Verleger und Buchhändler Severin eine Schrift mit wahrhaft barockem Titel: »Opfer der weltbürgerlichen Gesinnung und des Patriotismus bey dem Eintritte des neunzehnten Jahrhunderts nach Christus Geburth, der Gottheit, der Menschheit, dem Vaterlande und seinem vielgeliebten Fürsten gewidmet von den Bewohnern der Stadt Weißenfels. Nebst einer Denkschrift auf einen bey dieser Gelegenheit verunglückten, würdigen und allgemein geliebten Mann, entworfen von Karl Heinrich Heydenreich.« Der Verfasser, der übrigens noch im gleichen Jahr starb, war Professor der Philosophie in Leipzig; Novalis macht in seiner Sammlung »Blüthenstaub« eine sarkastische Bemerkung zu Heydenreichs dichterischen Texten als Muster von Langeweile. Die eingebaute Denkschrift galt dem Dr. Traugott Otto, der in der Silvesternacht durch eine von ihm selbst geladene explodierende Böllerkanone getötet wurde. Das für uns und die Hardenbergs interessante Schlußstück des Buches wird gesondert angekündigt: »Als Anhang folgt eine kurze Darstellung des dermahligen Zustandes der Stadt.« Sie umfaßt 22 Seiten und stammt von einem Doktor C. W. Schröter. Er gibt eine beinahe übergenaue Präsentation von Einwohnerschaft, Wirtschaft, Handwerk, Verwaltung, Garnison, Stadtrat, Schulwesen, Kirchen mit geradezu spitzfindiger Auflistung des jeweiligen Personals. Der Salinendirektor erscheint darin zweimal: in der Rubrik »Charakterisirte, graduirte« Personen und als ratgebender Rohstoff-Experte: »Bey dem seit einigen Jahren eingetretenen Mangel an Brennholze sind durch den Herrn Salinendirektor von Hardenberg und Herrn Amtsverwalter Kayser Viele der hiesigen Einwohner auf die Torferde oder Erdkohlen aufmerksam gemacht und zu deren Gebrauch ermuntert worden.« Novalis erscheint in der Bilanzierung weder als Dichter noch als Salinenassessor, obwohl in seiner Berufsarbeit die Auffindung und Erschließung von Braunkohle eine herausragende Rolle gespielt hat — was Heydenreich nicht wissen mußte!

Im übrigen haben die Hardenbergs, auch die Kinder, mancherlei Spuren in Weißenfels hinterlassen, zum Beispiel in den Kirchbüchern der Stadtkirche St. Marien und der Klosterkirche nahe beim Wohnhaus. Die früheste Angabe über die Anwesenheit von Fritz in der Saalestadt meldet am 26. Oktober 1786 für ihn und seine Schwester Sidonie Patenstellen beim Töchterchen einer Bedientenfamilie Coye; das Kind starb freilich schon am 3. November 1786. Die Kirchbücher verzeichnen bis 1790 die Taufen der Geschwister Bernhard (1787) und Hans (1790); deren Mutter ihrerseits übernahm 1788 die Patenschaft beim Kind eines Leutnants der Garnison.

Soweit es in Weißenfels ein gesellschaftliches Leben gab, waren die Hardenbergs sicher väterlicherseits etwas weniger abgeschirmt als in Oberwiederstedt; die Bitte seiner Frau, die Geselligkeit zu erweitern, lehnte der Freiherr jedoch ab. Immerhin ergaben sich mehrere bis ans Lebensende von Novalis reichende Beziehungen: zur Familie des Geleitskommissars des Thüringischen Kreises Christian Paul Brachmann, zu dessen schon erwähntem Sohn, dem promovierten Juristen Christian Friedrich und seiner mit Sidonie von Hardenberg eng befreundeten Schwester Louise, deren Gedichte Novalis 1798 Schiller empfehlen wird.

Zwei literarische Liaisons bahnen Wege zu eigenem poetischen Schaffen. Der Primaner nähert sich im Mai 1789 dem damals berühmten Lyriker Gottfried August Bürger in Langendorf südlich Weißenfels bei dessen Schwester Louise Müllner, der Mutter des späteren Weißenfelser Autors Adolf Müllner. Erstmals zeigt sich in dieser Begegnung die über Jahre hinweg beibehaltene Neigung des jungen Mannes zu älteren Vorbild-Männern.

Dem Literaturbetrieb rückt er auch noch praktisch näher. Der Weißenfelser Buchdrucker, Buchhändler und Verleger Friedrich Severin, dessen Gymnasial-Druckerei im ehemaligen Klaren-Kloster zur bedeutendsten Thüringens aufsteigt, bringt mehrere erfolgreiche Zeitschriften heraus: »Almanach für Prediger, die lesen, forschen und denken« (1785—93), die Wochenschrift »Wahrheit und wahrscheinliche Dichtung« (1788, ab 1791 als »Wahrheit und Dichtung«), ab 1789 »Chronik der vornehmsten Weltbegebenheiten«. Der angehende Poet wird die Journale studiert haben. Er schrieb auch, da Severin zum Vorlegen von Texten eingeladen zu haben scheint, Texte für ihn, vor allem das Briefgedicht »An Friedrich Severin«, worin er die Vielschreiberei deutscher Jünglinge selbstironisch beklagt. Gedruckt hat Severin aber offenbar nichts von dem jungen Poeten, mit dem er sich wohl sogar duzte. Severins gut gehende Leihbibliothek wird Fritz wohl ständig benutzt haben; Bücherkäufe bei dem umtriebigen Kaufmann sind belegt.

Fritz war dreizehn, als er in Weißenfels ankam und Wohnung nahm. Von Hauslehrer Schmids Tätigkeit abgesehen, wissen wir über die Schulzeit im ehemaligen Residenzstädtchen nur wenig. Wann und wie lange er das »Gymnasium illustre Augusteum«, eine Lateinschule mit Hochschulcharakter besucht hat, ist unklar. Die Schule war 1664 gegründet und in den vorderen Räumen des ehemaligen Klosters untergebracht worden; sie hatte zeitweilig berühmte Lehrer, so den Dichter-Romancier Christian Weise (1642—1708). Sie war aber, als die Hardenbergs nach Weißenfels zogen, schon im Niedergang, worin sich die allgemeine Krise der Stadt widerspiegelte; 1794 wurde mit den letzten drei Gymnasiasten als Schülern ein Lehrerseminar eröffnet.

Die Nachrichten über Hardenbergs Zeit an der Lateinschule sind dürftig. Glücklicherweise gilt das nicht für die Krönung seiner Schullaufbahn am Luther-Gymnasium Eisleben vom 17. Juni bis Anfang Oktober 1790, unter der Obhut eines außergewöhnlichen Altphilologen und Pädagogen, der leider am 5. Oktober 1790 einer schweren Krankheit erlag: Der Rektor Christian Daniel Jani (1743—1790) hatte den Unterricht der klassischen Sprachen reformiert und von schematischer Paukerei befreit, indem er den Schülern die berühmten Autoren in Ganz-Lektüren vorsetzte und nicht mehr in sogenannten Chrestomathien, den lange üblich gewesenen Auswahlsammlungen.

Auch die Eislebener Überlieferung ist nicht lückenlos und fehlerfrei; im Schularchiv wurde anscheinend unpräzise gearbeitet, manches Dokument ging verloren. Dennoch gibt es wertvolle Hinweise auf Bildungsgang und Bildungsstoff. Eine Schulordnung, wie sie seit 1773 für die drei kursächsischen Fürstenschulen Meißen, Grimma und Schulpforta galt, begründete Jani ähnlich in Eisleben. Erhalten sind Lektionspläne in der Form von Wochen-Tabellen; so gibt es eine »Übersicht der sämmtlichen Lektionen« von 1789, dem das Programm Hardenbergs von 1790 weitgehend entspricht. Die Auflistung der Dichter- und Philosophen-Namen ist imposant, wobei einige von ihnen an mehreren Tagen vorkommen: Es erscheinen Ciceros Werk »Über den Redner«, Ovids »Metamorphosen«, Senecas Tragödien, wir finden Homer und Pindar, Livius und Tacitus, »Griechische und Römische Alterthümer« und Mythologie werden werden behandelt, ferner Xenophon, Sallust, Virgils »Aeneis« und Horaz, der im Frühwerk Hardenbergs als übersetzter Poet eine große Rolle spielt. Die antiken Klassiker dominieren in Janis Programm, doch tauchen auch allerlei andere Fächer auf: Theologie und Bibelerklärung selbstverständlich, Physik nach Johann Christian Polycarp Erxleben, bearbeitet von Georg Christoph Lichtenberg, allgemeine Welt- und Völkergeschichte, Philosophiegeschichte, aber auch von Jani selbst unterrichtete Mathematik, alte und neue Geographie.

In den Schulordnungen ist zu lesen, daß »die alten Sprachen und die alten Schriftsteller in dreifacher Absicht mit der Jugend getrieben werden: erstlich, um zu verstehen und auszulegen, zum andern im Reden und Schreiben, und zwar nicht nur in der lateinischen, sondern auch in den lebendigen Sprachen, mit Einsicht und Geschmacke nachzuahmen, und drittens allerlei nötige und nützliche Sachen daraus zu lernen.« Schulordnungen wie die der Fürstenschulen und des Eislebener Gymnasiums befürworten also »das Ineinandergreifen von Deutsch- und Lateinunterricht« wie auch das Studium »der besten Werke der Nationalschriftsteller« — insofern ist das Programm von Jani, der Friedrich aber auch in häuslichem Privatunterricht förderte, dem Weißenfelser Gast-Primaner und Jung-Dichter auf den Leib geschrieben.

Was für ein Glücksfall dieser Philologe und Pädagoge für den kommenden Poeten war, zeigt auch der Nekrolog auf Carl Wilhelm Ernst Heimbach, einen Jani-Schüler, mit einem wunderbaren Porträt des Eislebener Rektors: »Außer den nöthigen gelehrten Erklärungen waren es vorzüglich die schönen Entwickelungen des lyrischen Ganges, die Darlegung des Zweckmäßigen in den Bildern, des Starken und Erhabenen in einzelnen Empfindungen des Dichters, was diese Vorlesungen so anziehend machte. Dabey theilte Jani immer mehr als eine Übersetzung mit, fügte sein Urtheil darüber bey, zeigte, welcher deutsche Ausdruck dem Lateinischen am angemessensten sey, und bewirkte dadurch, daß das Schöne nicht blos dunkel von dem Schüler empfunden, sondern auch passend in unsre Sprache übertragen werden konnte.«

In Weißenfels fand sich der junge Intellektuelle wie die ganze Familie gleichermaßen exponiert und leicht isoliert. Die berufliche Sonderstellung des Freiherrn gebot Respekt, seine Zurückhaltung bei gesellschaftlichen Kontakten wurde gewiß akzeptiert, die Hinwendungen der heranwachsenden Kinder zu einzelnen Familien wie den Brachmanns wurden wohlwollend aufgenommen. Ingo Bach bezweifelt eine wirkliche Verbundenheit des jungen Dichters, Juristen und Technikers mit der Stadt und sieht dafür Beweise: Novalis war die halbe Zeit der Jahre 1786 bis 1801 nicht in der Saalestadt; Stadtbeschreibungen von ihm fehlen ganz; die landschaftlich anziehende Umgebung erscheint nur — oder immerhin? — in einigen Dokumenten. Die sogenumwobene Rudelsburg hat der junge Eleve wohl im Mai 1789 mit dem bewunderten Bürger besucht. Auf Schloß Goseck am hügeligen Nordufer der Saale zwischen Naumburg und Weißenfels war er ein paarmal Gast der befreundeten Familie von Eckart. Hier schrieb er nach dem ersten Studienjahr am 5. Oktober 1791 einen seiner bedeutendsten Briefe: den Bericht an den Jenaer Philosophieprofessor und Kantianer Reinhold über seine Beziehung zu Schiller. An diesen selbst richtete er zwei Tage später eine Huldigung, die eigenwillig früh-thüringische, ja: früh-romantische Impressionen der Weißenfelser Flur einfängt:

Ich leb’ und webe in der frischen Herbstluft, und neue Ströme von Lebenslust fließen in mich mit jedem Athemzuge. Die schöne Gegend, und eine gutmüthige Harmlosigkeit, in die ich aufgelöst bin, zaubern mich in die blühenden Reiche der Fantasie hinüber, die ein ebenso magischer dünner Nebel umschwimmt, als die ferne Landschaft unter meinen Füßen: Ich freue mich mit dem letzten Lächeln des scheidenden Lebens der Natur und dem milden Sonnenblick des erkaltenden Himmels. Die fruchtbare Reife beginnt in Verwesung überzugehn, und mir ist der Anblick der langsam hinsterbenden Natur beynah reicher und größer als ihr Aufblühn und Lebendigwerden im Frühling. Ich fühle mich mehr zu edeln und erhabenen Empfindungen jezt gestimmt als im Frühjahr, wo die Seele im unthätigen, wollüstigen Empfangen und Genießen schwimmt und anstatt sich in sich selbst zurückzuziehn, von jedem anziehenden Gegenstande angezogen und zerstreut wird.

Trotz Friedrichs offenkundiger geistig-künstlerischer Verselbständigung, insbesondere der Ablösung vom Vater, blieb die Familie seine Heimat, und zwar, ungeachtet mehrerer kräftiger Ortswechsel, in Weißenfels, Klostergasse 24. Hier war die geliebte Mutter, hier wuchsen die jüngeren Geschwister auf, die Fritz unter seine Fittiche nahm und für die er vorausschauend Pflichten übernahm, die auch den Vater entlasteten. Etliche Male fuhr dieser mit ihm, mit dem Onkel »Großkreuz« und Geschwistern ins ein wenig verwaiste Oberwiederstedt und mehrmals auch ins kleine, von einem Verwalter besorgte Gut Schlöben unweit Jena, das der freiherrlichen Linie 1768 zugefallen war und der Erbfolge nach Fritz als dem ältesten Sohn gehörte.

Wie sah der junge Mann aus, wie wurde er wahrgenommen und dargestellt? Zeitgenössische Abbildungen sind ebenso rar wie autobiographische Dokumente; immerhin sind es vier Porträts. Davon sind zwei Schattenrisse: der eine zeigt den elfjährigen Jungen im Linksprofil, er war lange verschollen und ist heute im Besitz der Biblioteka Jagiellońska in Krakau; der andere gibt den vergleichsweise jüngeren Knaben mit der Unterschrift »Der liebe Fritz« und hängt im Museum Weißenfels; beide sind reine Kinderporträts.

Das erste »sprechende« Bildnis, die undatierte Blei- oder Silberstift-Zeichnung eines unbekannten Künstlers im Oval auf Papier, ist ein Blatt von meisterhafter Qualität; das Original hing zunächst in Oberwiederstedt, bis 1939 in Berlin und ist seitdem leider verschollen. Die Zeichnung gibt den etwa Fünfzehnjährigen im Linksprofil: »Der jugendliche Novalis«, schreibt Ingo Bach alias Ivo Weißenberger, »blickt freundlich, aber auch fest in die Ferne, die feingeschnittenen Züge werden von einem Lächeln umspielt. Markant … die lange, etwas spitze Nase und die hohe Stirn. Das Haar fließt in Wellen bis zu den Schultern hinab. Hardenberg ist mit einem bis an den Hals geschlossenen, mit einem hohen steifen Kragen versehenen Jackett bekleidet.«

Das einzige zu Lebzeiten entstandene große Porträt von Novalis ist das Ölgemälde, das ihn etwa achtzehnjährig zeigt. Es entstand höchstwahrscheinlich im Winter 1799/1800; als seinen Schöpfer ermittelte Ingo Bach den Dresdner Maler Franz Gareis (1775—1803), eine Vermutung, der inzwischen ausgiebige Detail-Untersuchungen aus Oberwiederstedt widersprechen, die in dem Band »Die Bildnisse des Novalis« gesammelt sind, freilich keinen anderen Urheber vorschlagen können. Dieses Bild ist — auch in Form des verfälschenden Kupferstichs von Eduard Eichen (1845) — mit dem Werk des Dichters um die Welt gegangen.

Zweites Kapitel

Der dichterische Jugendnachlaß — Busen, Helden und Erze — Daktylen, Oden und Hexameter

»Die rund 480 Manuskriptseiten, die zum überwiegenden Teil aus den Jahren 1788 bis 1790 stammen, enthalten über dreihundert Gedichte, mehrere Prosatexte (darunter Fabeln, z.T. unvollendete Aufsätze, ein ebenfalls unvollendetes Märchen und der Anfang eines Romans), dramatische Versuche sowie Dichtungspläne und Lektürenotizen. Von keinem anderen Autor des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist ein Jugendnachlaß in dieser Vollständigkeit überliefert. Anregungen und Vorbilder bezog der damals 16—18jährige von nahezu allen literarischen Strömungen, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nebeneinander behaupteten: Rokoko und Anakreontik, die Vertreter der Empfindsamkeit, Klopstock und die Dichter des Göttinger Hains, Ramlers vaterländische Oden, Bürgers und Schillers Gedichte, aber auch die poetae minores der Musenalmanache und die Gebrauchslyrik protestantischer Gesangbücher.« So beschreibt Hans-Joachim Mähl den dichterischen Jugendnachlaß Friedrich von Hardenbergs, ein Konvolut in 23 Mappen, das er 1983 in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau wiederentdeckt hat. Der Fund hat die These von der großen Aufnahmefähigkeit und Belesenheit des jungen Hardenberg gestützt, der ganz offensichtlich eine ungeheure Menge Stoff extrem schnell, genau und tiefgründig zu bewältigen vermochte. Es ging ihm, wie er in einer Anmerkung zu Wielands Verserzählung »Balsora« schrieb, um »Uebung der leichten Versification«, also um Übungen eines die eigene Sprach-Kraft nach vielen Seiten erprobenden jungen Dichters, der »das breite Spektrum poetischer Ausdrucksformen« fast wie ein Geschenk der Götter vor sich sah. Mähls Urteil, Hardenbergs Jugendwerk dokumentiere »den Werdegang dieses Autors in einer Zeit, die Dichten noch weitgehend als lehr- und lernbare Fähigkeit betrachtete«, trifft zu, verweist aber auch auf die Grenzen des dichtenden Weißenfelser und Eislebener Primaners: Den vorwiegend lyrisch experimentierenden Jüngling erreicht, merkwürdig genug, die kühnste und progressivste Novität der seinerzeitigen Lyrik zunächst nicht: Goethes Erlebnis-Dichtung.

Gerhard Schulz hat diesen Mangel durch eine bemerkenswerte »Defensio poetae« erklärt, wenn auch nicht aufgehoben: Hardenbergs Jugendgedichte seien nicht Ausdruck eines starken Empfindens einer einzelnen Persönlichkeit in einer bestimmten Situation, sondern Gesellschaftsdichtung, die bewußt ein Gegenüber, einen Empfänger einbeziehe. Sehen wir davon ab, daß der Begriff Gesellschaftsdichtung unscharf und Goethes Erlebnis-Poesie selber stark empfängerorientiert ist: Hätte er auf dieser Position verharrt, wäre er dauerhaft in Konventionalität und Abhängigkeit von überholten Vorbildern stecken geblieben, und Friedrich Schlegel hätte mit seinem Urteil vom Januar 1792 über das Frühwerk seines eben gewonnenen Freundes länger als wünschenswert Recht behalten: Er kritisierte ja im Brief an seinen Bruder August Wilhelm primär die Schwächen der künstlerischen Form von Hardenbergs Texten; ihm mißfielen »die äußerste Unreife der Sprache und Versification, beständige unruhige Abschweifungen von dem eigentlichen Gegenstand, zu großes Maaß« und üppiger »Überfluß an halbvollendeten Bildern.« Diese Kritik hinderte Schlegel aber nicht, in dem kongenialen dichtenden Leipziger Studien-Freund das »zu wittern, was den guten vielleicht den großen lyrischen Dichter machen kann — eine originelle und schöne Empfindungsweise, und Empfänglichkeit für alle Töne der Empfindung.« Sehen wir auch davon ab, daß Schlegel in seiner eigenen Lyrik nie über Konventionalität von »Sprache und Versification« hinausgelangte: Seine witternde Prophezeiung für den Freund wurde noch im gleichen Jahrzehnt Wirklichkeit: Novalis schuf mit den »Geistlichen Liedern« (1799) und den »Hymnen an die Nacht« (1799/1800) geniale poetische Verwirklichungen einer einzelnen Persönlichkeit in einer bestimmten Situation, und der als Kritiker und Aufspürer dichterischen Neulandes großartige Friedrich Schlegel verkündete das: Vom berühmten Frühromantiker-Treffen in Jena berichtete er Mitte November 1799 an Schleiermacher in Berlin über Novalis: »Auch christliche Lieder hat er uns gelesen; die sind nun das göttlichste was er je gemacht.« Schlegels Feinsinn rückte diese Lieder genau dorthin, wo der stärkste frühromantische Lyriker inzwischen höchst eigenwillig und selbstbewußt angelangt war: »Die Poesie darin hat mit nichts Aehnlichkeit, als mit den innigsten und tiefsten unter Goethens früheren kleinen Gedichten.«

Dieses subtile Urteil und die repräsentative Veröffentlichung der »Hymnen« im letzten »Athenaeum«-Heft vom August 1800 dürfen den späteren, auch den heutigen Betrachter nicht zur pauschalen künstlerischen Herabsetzung des Jugendnachlasses verleiten: Ohne die umfangreichen Übungen in »Versification« und die Arbeit an Übersetzungen und Nachdichtungen antiker Literatur wäre Hardenberg niemals der führende frühromantische deutsche Poet geworden.

Wir überblicken zur Einführung in dieses Jugendwerk zunächst die hauptsächlichen Themen, Stoffe und Motive. Die Gedichte sind an Freunde und Freundinnen, Verwandte und Bekannte adressiert; sie rufen Dichter und Philosophen, Anreger und Vorbilder auf; sie sprechen Fürsten an, Kaiser (Joseph von Österreich) und Könige (Friedrich II. von Preußen), wobei sich der junge Dichter nicht nur als bewundernd-ehrfürchtiger Panegyriker, sondern auch als Kritiker und Ratgeber von Monarchen präsentiert. Hardenberg singt nach, was einst Anakreon sang: von Liebe und Wein; er feiert Göttinnen und Götter, Cythere und Aphrodite, Apoll und Jupiter. Er erinnert sich lyrisch an Oberwiederstedt und die Kindheit im Wippertal, nimmt auch Weißenfels und das Saaletal auf. Die ernstesten Poeme handeln von Christus und Kirche, Leiden und Altern, Sterben und Tod, von Jenseits und Unsterblichkeit; es gibt auch lyrische Nekrologe. Vereinzelt kritisiert der Primaner politische und soziale Mißstände und fordert Freiheit und Gerechtigkeit ein. Der Jugendnachlaß enthält eine bedeutende Anzahl erotischer Gedichte; sie singen von Liebe und Lust, heißen Küssen und weißen Busen in Bädern und Hainen, Bächen und Lüften; sie lassen Schäferinnen und Schäfer tanzen. Besonderes Gewicht hat die Naturlyrik im weitesten Sinn; es erscheinen Bäume und Blumen, Gebirge und Wälder, Ströme und Seen, Sonne und Wolken, Monde und Sterne und selbstverständlich Tiere, zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Vielleicht das Schönste und das Freimütigste im Konvolut sind die Lieder, die Natur und Erotik verbinden. Friedrich von Hardenberg gibt auch mehrmals Witziges und Freches — das lyrische Ich des 16—18jährigen tritt in vielen Rollen, Masken, Kostümen, Frisuren, Einkleidungen und Verwandlungen auf.

Gleichzeitig mit den eigenen Dichtungen schafft der Weißenfels-Eislebener Gymnasiast eine erstaunliche Serie kraftvoller Versübersetzungen, vereinzelt nach französischen, überwiegend aber nach lateinischen und griechischen Vorlagen, kostbare Belege für die frühe sprachliche Begabung des jungen Mannes, dem es gewiß leichter fiel, ein weißbusiges lockendes Rokoko-Mädchen deutscher Zunge in poetischen Versen aus dem Wasser zu fangen als Hektors Abschied von Andromache in geschmeidigen Hexametern aufzubauen.

Der Nachlaß ist im Band 6.1 der Historisch-Kritischen Ausgabe (HKA) komplett gedruckt. Hardenberg hat zum Glück seine frühen Gedichte sorgfältig aufbewahrt, auch wenn er an einer Stelle des Konvoluts einige Textstücke mit dem Verdikt »mißlungenes Schofelzeug« belegt. Die Herausgeberin des Jugendnachlasses, Martina Eicheldinger, stellt zutreffend fest, daß für den jungen Poeten die Möglichkeiten der Variation vorgefundener Muster nahezu unerschöpflich gewesen seien. Ein anderes Resultat ihrer Untersuchungen wird man mit von ihr selbst angedeuteter Vorsicht aufnehmen müssen: Sie gibt eine Liste von über 60 vermeintlichen Vorbildern Hardenbergscher Texte mit jeweiligen Belegen nach HKA-Nummern und urteilt, es könnten Einflüsse dieser alphabetisch aufgezählten Autoren nachgewiesen werden. Da bleiben Zweifel offen. Hans-Joachim Mähl weist auf den Haupt-Schwerpunkt inmitten dieser Fülle hin: Der Jüngling aus der Weißenfelser Klostergasse sei nämlich nicht nur gelehriger Schüler zeitgenössischer Autoren wie Wieland, Gotter, Gleim gewesen, sondern auch durchaus »eigenständiger Vertreter der Gesellschaftsdichtung des Rokoko« — jener literarischen Richtung also, die nach wohlvertrauter Charakterisierung als zierlich-graziöse, spielerisch-frivole, galante Poesie galt und auftrat. Sie leitete vom Barock zum Klassizismus über, wobei unter Einspielung anakreontischer Wein- und Liebeslieder, von Geßnerscher und Gleimscher Empfindsamkeit, von Schäfer-Versatzstücken Wieland als Oberhaupt erschien, dessen Zeitschrift »Neuer Teutscher Merkur« im April 1791 Hardenbergs erste Publikation, das leicht larmoyante vierstrophige Gedicht »Klagen eines Jünglings« ermöglichte.

Im folgenden werden einige der schönsten, feinsten und bewegendsten Frühwerke des produktiven Primaners zitiert und erläutert.

Das motivisch unscheinbarste Beispiel, das sechsstrophige Gedicht »An ein fallendes Blatt«, worin ein spätherbstliches Eichenblatt in drei einfühlsamen Anfangsstrophen wie ein Mensch vom Wintersturm angegriffen wird, beschwört eine verschneite lyrische Schönheit herauf:

Es nahet sich der Winter wieder

Mit seinem Schnee und Sturm und Eis

Aus dürren Haynen fliehn die Lieder

Es kleidet sich die Flur in Weiß,

Von Eichen wehn die Blätter nieder

Nicht mehr belebt vom Vögelfleiß,

Der Sturm mit traurigem Gefieder

Durchhaußt sie auf der Zeit Geheiß.

Entreißet ihr das Blatt gewaltsam

Das ganz allein noch an ihr hieng

Und spielt damit nun unaufhaltsam

Und wirft es, daß ers wiederfieng.

In den drei folgenden Vierzeilern wird dies glanzloser, verstreuter auf späteres menschliches Leben symbolhaft transponiert. Das angeredete Blatt steht sinnbildlich für kräftige Pflanzennatur, die freilich zuletzt dem Winter unterliegen muß. Die Feinheit und Kleinheit des über sechs Strophen geführten Gegenstands läßt sich mit zwei einstrophigen, stofflich-thematisch aber geradezu gigantischen Gedichten kontrastieren, worin sich auch die bereits bemerkenswerte Wendigkeit des Experimentierenden zeigt: Ein Fünfzeiler und ein Achtzeiler, eine Stanze, beide titellos, geben hochkonzentrierte, schlaglichtartige Naturaufnahmen in unterschiedlich langen jambischen Versen, mit Kreuzreim und in der Stanze glänzend modellierten Enjambements. Beide Texte haben die dichterbiographischen Hintergründe von Harzimpressionen und offerieren scharf gezeichnete Abbildungen davon. Der Fünfzeiler steht, mit Ausnahme der Fügung »dies wunderschöne Thal«, in kühler Genauigkeit, ohne subjektive Einfärbung und ohne lyrisches Ich da: zentrales Motiv ist das Gebirge mit einer hart erfaßten schroffen Felswelt im letzten Vers:

Rundum bekränzt von tausendjährgen Eichen

verbargen leicht dies wunderschöne Thal

Gebirge, die bis in die Wolken reichen

Und selbst den Kühnsten Blick des Wanderers verscheuchen

Aus Schlacken aufgethürmt und jäh und rauh und kahl.

Dagegen wirkt die Stanze (»Schon stieg empor …«) sanft mit Traubenhügeln, rosigerem Glanz, strahlenheller Nacht, »Silberspiegel des Sees, Tanz von Elfen und Sylfiden und »romantischem« Schluß des lyrischen Ichs:

An einen Quell gegossen lag ich ganz

Umnebelt von Genuß im wolkenlosen Frieden.

Die ruhend-lockende Lage des jungen, hier wohl männlichen lyrischen Ichs wiederholt sich in einem dreistrophigen Poem, das eindeutig mit einer liegenden Schönen beginnt und hier die Doppel-Thematik von Natur und Eros eröffnen soll:

Da lag sie sanft vom Ahornbaum umschattet

Der ihrem Reiz noch größre Reitze lieh,

Indem der Schatten sich mit Alabaster gattet

Und der erhitzten Phantasie

Was zu errathen gab …

Das Motiv der schlafenden Schönen war in der erotischen Rokokolyrik populär; es kam bei Gleim, Matthisson, Gerstenberg, Lessing und Gotter vor, von dessen — insgesamt schwachem — Lied »Das schlafende Mädchen« Hardenberg sogar das Schlüssel-Bild »vom Ahornbaum umschattet« übernahm.

Sanft hob der Busen sich entflammt von losen Träumen,

Die ihn mit weichen Morgenroth

Hold übergoßen.

Der Busen taucht an etlichen Stellen des Jugendnachlasses auf; er gehört zu den Topoi der lyrischen Dichtung der Zeit. So finden wir ihn in schöner weißer Freiheit beim daktylischen »Badelied«, wo Freunde »das heiße Gewand … in kühlende Flut« tauchen und sich dann tagträumend junge weibliche Nacktheit vorspiegeln:

Vielleicht daß sich hier auch ein Mädchen gekühlt

Mit rosichten Wangen und Mund,

Am niedlichen Leibe das Wellchen gespielt

Am Busen so weiß und so rund.

Hier wie auch in weiteren naturwarmen Erotica bewundert und präsentiert Hardenberg nur den jungen, den mädchenhaften Busen. Im Jugendnachlaß erlaubt sich Novalis keine naturalistischen Freiheiten, so wie die gesamte Rokoko-Lyrik nicht. (Daß im breiten Wortfeld »Busen« das Nomen auch, jenseits aller Erotik, metonymisch für »Herz« und »Seele« steht und seinerzeit häufig so verwendet wurde, macht der lyrische Jugendnachlaß ebenfalls deutlich.)

In einem Poem, das die Einbettung der erotischen Szenerie ins Natur-Ambiente meisterlich vollzieht, schimmert vielleicht auch eine ansonsten nicht belegbare biographische Erfahrung des jungen Mannes mit verlockenden Mädchen durch: im Hexameter-Fragment »Der abendliche Schmaus«, wo beinahe überdeutlich Menschengruppen, das lyrische Ich einbezogen, in den Weißenfelser Weinbergen auftreten und durch die metrische Extravaganz reizvolle epische Anklänge entstehen:

Hier sind Schattenalleen von früchtetragenden Bäumen

Unter denen sich üppiges Gras zum Lager uns anbeut.

Den Wein umschatten »Plantagen von Pflaumen und Kirschen …«

Hieher wanderte jüngst am Freytag große Gesellschaft

Mädchen, betagte Matronen und bärtige Männer und Kerlchen

Meines Gelichters,

wie das scheinbar knabenhafte lyrische Ich selbstironisch formuliert; es fährt fort:

Sieh! ich führte Louisen mit funkelnden bläulichen Augen

Und so kerzengerad und schlank wie die duftende Maye.

Goldene Locken umschwebten das Mädchen im hüpfenden Fluge

Und ungeduldig hob der knospende Busen das Flurtuch …

Hinter uns drein kam Wilhelm mit seinem feurigen Mädel

Schwarz von Augen und Haar und mit kleinen silbernen Füßchen

Rosige Seide umschlang ihr wallendes Leibchen und schüchtern

Blickte der Busen erröthend aus seinem zu engen Gefängniß.

Witz und Spaß, Ironie, Selbstironie und Pointen-Schärfe kennzeichnen mehrere Texte mit dem Doppel-Thema Natur und Erotik. Deftig erotisch, wenn auch ohne Busen-Zauber, mit einem lyrischen Ich, das sich ahnungslos-unwissend gegenüber dem Liebesspiel von Lorettchen und Filidor stellt, wartet die Spaß-Ballade »Ich weiß nicht was« auf. Indem der Ich-Lauscher dem Leser oder Hörer kommentierend versichert, er wisse nicht, was da passiere und wie »es« geschehe, macht er nur zu deutlich, daß er alles weiß und auf alles wissende, mitgenießende Zuschauer rechnet; gleichzeitig aber läßt er durchblicken, daß er, der Aufschreibende, keinesfalls der »es« selbst Treibende sei, da der Schreiber ja ohnehin nicht der Agierende sein muß. Zwar bekommt das selbstironische Ich keinen weißen Busen zu sehen, er übermittelt aber dem Publikum ein halb-sexuelles Detail des Pärchens, denn Filidor »umschlang ihr weiches weißes Knie«.

Die Selbstironie des sich dumm stellenden und so die Heiterkeit des Lesers erweckenden lyrischen Ichs ergreift im Poem »An Lycidas« die Dichter-Zunft insgesamt, die hier sozusagen als lyrisches Wir in beinahe satirischen Versen fein ausgetüftelte Selbstverspottung treibt — die beiden ersten Strophen gehören zum Besten, was der Jugendnachlaß für uns aufbewahrt hat:

Wir armen Musensöhne sind

Wie Platos Amoretten,

Wir leben nur von Luft und Wind

Behängt mit Blumenketten;

Wir küssen manchen schönen Mund

Doch nur in unsern Reimen

Und manchen Rosenbusen wund

In veilchensüßen Träumen.

Die in violetten Träumen wundgeküßten Rosenbusen dürften in der deutschen, ja vielleicht europäischen erotischen Lyrik einzigartig dastehen: in singulärer, fein gewählter Frechheit, wobei der Jani-Schüler zweifellos wußte, daß Amoretten kleine geflügelte Erosfiguren hellenistischer Herkunft waren, die Vorbilder für die Putten der Renaissance wurden — es fragt sich, ob Hardenberg, der 1788 erstmals in Dresden war, die Putten der Sixtinischen Madonna gesehen und die Amoretten von daher ins Gedicht genommen haben könnte: zehn Jahre vor dem berühmten Dresdner Frühromantiker-Treffen, als Raffaels wunderbares Gemälde wohl noch eher unauffällig im Johanneum hing — ausgeschlossen ist es jedenfalls nicht, daß mit der wunderbaren Gottesmutter und dem einzigartigen Jesus-Kind auch die beiden weltberühmten engelsflügligen und pausbäckigen Putten in den Blick des staunenden jungen Dichters kamen.

Im übrigen enthält der Jugendnachlaß noch ganz andere, streng sachliche, reflektierend-philosophische und auch politische Gedicht-Versuche. In der hochkonzentrierten Kürze den beiden zitierten Natur-Abbildungen ähnlich, bedient sich der Siebenzeiler »An Agathon« einer dem Erotisch-Naturhaften fernen Überlegung und Anrede:

Wenn Könige mit Gunst dich überhäufen

Rund um dich Gold in hohen Haufen lacht,

Und zwanzig Schiffe dir durch alle Meere streifen

Und für dein Wol Fortuna treulich wacht

So rühmet jedermann dein Glück; doch stets vergebens

Denn hast du nicht dabey Filosofie des Lebens

So hast du nichts.

Den Schlüssel-Begriff »Filosofie des Lebens« wird Hardenberg schon bei Herder, Wieland oder Uz vorgefunden haben; er steht »für genügsamen Genuß und heitere Lebensweisheit« und hat sein Vorbild in Horaz, Hardenbergs meistübersetztem antiken Dichter.

Zumindest einmal, im Gedicht »An meine Freunde« vollführt er einen politisch harschen Ausbruch: Gegen Tyrannen, die »unser Wohl und Leid« beherrschen, gegen »stolze Priester«, die »uns gebieten, was unsre Seele glauben soll«, gegen Kriege, die »ganze Nationen ins Unglück stürzen«, setzt der Gymnasiast eine seinerzeit aufgekommene, Enthusiasmus erregende Vision:

Nein! Freunde kommt, laßt uns entfliehen

Den Fesseln, die Europa beut,

Zu Unverdorbnen nach Taiti ziehen

Zu ihrer Redlichkeit.

Dort gilt es einen Staat zu errichten,

Wo nur Natur den Scepter führet,

Durch weise Künste unterstützt,

Und jeder in dem Staat, der ihm gebühret,

Dem Vaterlande nüzt.

Das Gedicht ist eine freie, aktualisierende Nachdichtung der 16. Epode von Horaz; an die Stelle der seligen Inseln des antiken Mythos ist als Zufluchtsort das durch Reiseberichte, unter anderem von Forster, in den 1770er Jahren populär gewordene Tahiti getreten.

Nicht nur der weitaus geringeren Anzahl wegen fallen die dramatischen, erzählerischen und essayistischen Fragmente des Frühwerks gegenüber der Lyrik ab. Die Fabeln sind zumindest lesbar; eine Apologie der Schwärmerey deutet vielleicht auf den Frühromantiker voraus; wir zitieren aber, auch als Vorankündigung des reichen Übersetzungs-Fundus im Jugendnachlaß, eine schöne Passage aus dem Französischen, ein Fragment des Autors Billardon de Savigny, Teil der Einleitung zu seinen »Odes anacréontiques« von 1762, von Hardenberg fein betitelt: »Ueber Anakreon und seine Dichtungsart«: